8. Kapitel
Ein bemerkenswertes Vorhaben
In dem Zimmer, das sie einst mit Anna geteilt hatte, saß Lizzie auf dem Bett. Es war noch immer ihr Schlafzimmer, aber sie fühlte sich hier nicht geborgen. Nicht mit den beiden gleich aussehenden Betten, den rosa-weiß bedruckten Tapeten und der alten Kommode, an der sie jeden Morgen mit Anna gestanden und sich frisiert hatte. Jetzt empfand sie die vertraute Umgebung eher als Gefängnis. Ein Gefängnis, in das sie sich freiwillig begeben hatte. Sie zog die Knie an den Körper, während Ned auf dem Boden herumkrabbelte und unter Lizzies wachsamen Blicken seine neue Umgebung erkundete. Sie war bedrückt.
Was sollte sie nur tun? Sie hatte das schreckliche Gefühl, dass sie und Ned auf Raven Hall nicht willkommen waren.
Tyrell erschien ihr im Geiste und mit ihm der unwillkommene Gedanke, dass er ihr helfen würde, wenn sie ihn darum bat. Obwohl sie sich auf die Lippe biss, bis es blutete, kamen ihr schließlich die Tränen. Ihre Familie war wütend auf sie, sogar Georgie hatte sich gegen sie gewandt. Und niemals würde sie sich Tyrell auch nur nähern.
Aber es gab ja noch Glen Barry und das Haus am Merrion Square.
Lizzie presste ihre Knie fester an sich. Vermutlich hatte sie die Gastfreundschaft ihrer Tante jetzt genug strapaziert. Sie verfügte weder über Vermögen noch über Einkommen. Lieber Gott, wenn sie zu Hause nicht willkommen war, dann würde sie als Vagabundin auf der Straße leben müssen.
Es klopfte leise an der Tür.
Lizzie richtete sich auf. „Wer ist da?“
„Ich bin es“, erwiderte Georgie und öffnete die Tür. Herein kam sie nicht, ihre Miene drückte Schmerz, Enttäuschung und sogar so etwas wie Zorn aus.
Lizzie begann zu weinen.
Georgie blieb stehen. Auch ihr traten die Tränen in die Augen. „Warum hast du mir nichts gesagt?“, wollte sie wissen.
Lizzie schüttelte nur den Kopf. Sprechen konnte sie nicht, und sie wischte sich die Tränen ab.
„Ich dachte, wir würden einander vertrauen. Aber du hast mir vom wichtigsten Ereignis in deinem Leben nichts erzählt – dafür aber Anna!“, rief Georgie von der Türschwelle her.
Endlich nahm Lizzie sich zusammen. Selbstmitleid half weder ihr noch ihrem Sohn. „Ich wollte es dir in Dublin erzählen.“ Und das stimmte sogar. „Aber du wolltest ja nicht mitkommen. Und selbst du musst einsehen, dass ich so etwas nicht in einem Brief schreiben konnte. Wenn Mama davon gelesen hätte?“
Georgie kam herein und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Sie blickte zu Ned hinüber, und ihr Gesicht verlor ein wenig von der Anspannung, die sich darin gezeigt hatte. „Ich hätte euch zu Tante Eleanor begleiten sollen, dich und Anna. Dann hätte ich helfen können. Ich habe dich so lieb. Ich würde alles für dich tun.“
Lizzie sprang auf und lief zu ihrer Schwester, um sie zu umarmen. Zuerst machte Georgie sich ganz steif, doch als Lizzie sie festhielt und flüsterte: „Ich wollte dir niemals wehtun“, da entspannte sie sich.
„Ich weiß“, flüsterte Georgie, und die beiden lösten sich voneinander. „Verzeih mir, dass ich nur an mich selbst gedacht habe, Lizzie. Ich wage kaum, mir vorzustellen, was du durchgemacht haben musst.“
„Wir hatten solche Angst“, gestand Lizzie. „Wir wussten ja nicht einmal, ob Tante Eleanor uns überhaupt hereinbitten würde – geschweige denn, ob sie uns dort behalten hätte, wenn sie erst einmal die Wahrheit erfuhr. Georgie, ich brauche dich jetzt. Ich fürchte mich so. Mama wird mir das nie verzeihen, und Papa ist so wütend. So habe ich ihn noch nie gesehen! Ich habe nicht das Gefühl, hier willkommen zu sein. Verzeih mir, wenn ich dir Unrecht getan habe, das war nie meine Absicht. Bitte, du musst meinem Sohn und mir jetzt helfen!“
Georgie nahm ihre Hand. „Lizzie, du bist hier zu Hause. Niemand wird dich hinauswerfen.“ Ihre Blicke begegneten sich, dann sah Georgie zu Ned hinüber. „Und er ist ein Fitzgerald. Sie werden sich daran gewöhnen. Es braucht eben seine Zeit. Der Schock war einfach zu groß.“
Lizzie nickte und hoffte verzweifelt, dass Georgie recht haben möge, obwohl sie es nicht wirklich glauben mochte. Erschöpft ließ sie sich auf das Fußende des Bettes sinken. „Was soll ich jetzt tun?“
„Warte, bis die Krise vorüber ist“, sagte Georgie. Sie kniete sich vor Ned hin. „Hallo. Ich bin deine Tante Georgie.“
Ned hatte einen von Lizzies Schuhen entdeckt und untersuchte ihn jetzt sehr sorgfältig, aber er begegnete Georgina mit einem strahlenden Lächeln. „Ned“, erklärte er und klopfte mit dem Schuh auf den Boden. „Ned!“
Georgie lächelte. „Ja, du bist Ned, und ich bin Tante Georgina.“
Ned hörte auf zu lächeln und sah sie sehr ernsthaft an.
„Er versucht, dich zu verstehen“, erläuterte Lizzie.
„Er hat wirklich auffallend blaue Augen“, meinte Georgie und erklärte dann: „Tante Georgie!“
„Ja“, sagte Ned entschieden. „Ja!“, rief er noch einmal, ließ den Schuh los und klatschte in die Hände.
„Mein kluger Junge“, flüsterte Lizzie stolz.
„Er ist sehr klug“, bestätigte Georgie und stand auf. „Ich habe mich noch nicht von dem Schreck erholt“, sagte sie und musterte das Kind gründlich.
Lizzie hatte das unbehagliche Gefühl, dass ihre Schwester auf den Schreck wegen Neds Vater anspielte. Sie stand ebenfalls auf. „Wie du schon sagtest – die Krise wird vorübergehen.“
Georgie griff nach ihrem Arm. „Liz, ist Tyrell de Warenne der Vater?“
Lizzie fühlte sich wie betäubt. Nie hatte sie damit gerechnet, dass jemand die Wahrheit erahnen könnte, wenn sie mit Ned nach Hause zurückkehrte, aber ihrer Schwester war genau das gelungen – wenige Minuten nachdem sie Ned erblickt hatte. Wenn Georgie so leicht Tyrells Züge in Ned erkannte, würde das auch jemand anderem gelingen?
„Nein, tu das nicht!“
„Ich bin kein Dummkopf. Ned sieht dir nicht im Geringsten ähnlich. Und wie viele schwarzhaarige Iren kennen wir? Vor allem wenn man bedenkt, dass du schon dein ganzes Leben lang in Tyrell de Warenne verliebt warst.“
Der Küfer hat schwarzes Haar, erinnerte sich Lizzie, verzichtete aber auf diese überflüssige Bemerkung. „Ist es so offensichtlich?“
„Für mich ist es offensichtlich, weil ich deine Geschichte kenne. Er ist ein so dunkler Typ, und seine Augen sind von diesem ganz besonderen Blau.“
Lizzie setzte sich wieder. „Wenn er jemals die Wahrheit erfährt, dann wird er ihn mir wegnehmen. Georgie, ich würde es leugnen. Ned gehört mir!“ Dabei hatte sie Angst, dass ihre Lüge jetzt schon entdeckt worden sein könnte.
Georgie legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß, dass er niemals unter seinem Stand heiraten würde. Es geht das Gerücht von einer bevorstehenden Verlobung mit einer reichen Engländerin, die eine rmächtigen Whig-Familie entstammt. Du hast recht. Er würde dir Ned wegnehmen.“ Sie sah Lizzie fragend an. Und Lizzie wandte sich ab.
„War es in jener Nacht an Allerheiligen? Du sagtest doch, du wärst nicht zu dem Stelldichein mit ihm gegangen.“
Lizzie holte tief Luft. „Ich kann nicht darüber reden, Georgie. Ich kann es nicht.“ Sie zögerte und sah Georgie an. „Es ist zu schmerzlich.“ Sie wollte ihre Schwester nicht weiter anlügen. Glücklicherweise konnte sie zuweilen genauso entschlossen sein wie Georgie.
Georgie musterte sie. „Du willst ihm also wirklich das Kind vorenthalten? Und Ned allein aufziehen?“
Georgie hatte noch nichts dazu gesagt, dass sie Ned sein Geburtsrecht vorenthielt – ein Umstand, der Lizzie jetzt, da sie zu Hause und damit so nahe an Adare war, mehr peinigte denn je. „Eines Tages, wenn er älter ist, werde ich ihm die Wahrheit sagen.“
Damit schien Georgie sich zufriedenzugeben. „Vielleicht wird Tyrell nie einen anderen männlichen Erben haben“, sagte sie endlich, „sodass es ihm leichter fällt, Ned zu akzeptieren.“
„Ich weiß genau, dass das wieder eine gewaltige Krise heraufbeschwören wird, aber ich muss mich auf eine Sache zurzeit konzentrieren.“
Georgie legte den Arm um sie. „Natürlich musst du das. Und ich will dir helfen.“
„Danke“, flüsterte Lizzie. Sie wollte sich nicht so weit der Lächerlichkeit preisgeben, dass sie dem Schmerz nachgab, den sie jetzt empfand. „Er wird sich also bald verloben?“
„So sagt man, ja. Überall in Limerick erzählt man sich davon. Die fragliche Dame ist wohl die Tochter des Viscount Harrington.“
Lizzie schloss die Augen. Selbst sie, die von Politik so gut wie nichts verstand, hatte von dem mächtigen Lord Harrington gehört. Früher hatte er dem Kronrat angehört und war noch immer Vorsitzender des Oberhauses. Er war ein sehr bekannter und sehr reicher Engländer. Wenn die Gerüchte stimmten, dann wäre das für die de Warennes eine sehr vorteilhafte Verbindung.
„Lizzie, du wusstest immer, dass er nicht für dich bestimmt ist …“
„Ich weiß! Georgie, es wäre am besten, wenn er heiratet und noch mehr Kinder bekommt. Ich will, dass er glücklich wird“, sagte Lizzie.
Georgie lächelte traurig. „Ich weiß, dass du das willst.“
Einige Tage später hatte der Haushalt sich noch immer nicht von der Krise erholt. Mama blieb weiterhin in ihren Gemächern, offensichtlich zu bekümmert, um nach unten zu kommen. Papa grübelte in seinem Arbeitszimmer und nahm schweigend an den Mahlzeiten teil. Es war genauso, als wäre jemand gestorben und der gesamte Haushalt trüge Trauer, bemerkte Eleanor. Doch dieser Satz trug weder dazu bei, Lizzie die Furcht zu nehmen, noch heiterte er sie auf. Georgie versuchte, lustig zu sein, und verhielt sich Ned gegenüber einfach wundervoll, aber das half auch nicht. Niemand, nicht einmal Eleanor, konnte Mama dazu überreden, herunterzukommen, und Papa schien es egal zu sein.
Es war fast mehr, als Lizzie ertragen konnte. Im vergangenen Jahr hatte sie sich bemüht, nicht darüber nachzudenken, was passieren könnte, wenn sie Ned mit nach Hause nahm. Wenn sie es doch einmal wagte, dann hatte sie versucht, sich einzureden, dass es schon irgendwie gehen würde. Jetzt musste sie der Tatsache ins Auge sehen, dass sie ihre Eltern zutiefst verletzt hatte – und das war erst der Anfang. Wenn ihre Familie schon so schockiert war, wie würden erst deren Bekannte reagieren? Lizzie fürchtete, dass sie einen weitaus größeren Skandal verursachen würde, als sie sich jemals vorgestellt hatte.
Lady O’Dell war die Erste, die zu Besuch kam. Lizzie war gerade mit Eleanor, Georgie und Ned im Salon, als die schöne schwarze Kutsche vorfuhr. Lady O’Dell war mit Mama befreundet und Lizzie gegenüber immer sehr freundlich gewesen, während sie sich für Anna nie interessiert hatte. Allerdings war ihre eigene Tochter Helen ebenfalls sehr hübsch, hatte aber nie so viel Aufmerksamkeit erregt wie Anna, und das hatte Lady O’Dell gestört. Sie war eine derjenigen, die Anna hinter ihrem Rücken als „leichtfertig“ bezeichnet hatten.
Als Lady O’Dell aus der Kutsche stieg, blickte Lizzie aus dem Fenster. Ned lag schlafend in seinem Babykörbchen, und Eleanor saß am Kartentisch, wo sie mit Georgie Gin Rommee gespielt hatte. Lizzie wurde flau im Magen, als sie sah, wie Mamas Freundin das Haus betrat.
Georgie stellte sich neben sie. „Es ist Lady O’Dell! Was willst du jetzt machen?“
Obwohl ihr nicht wohl war, zögerte Lizzie nicht. „Ich habe wohl kaum eine Wahl. Früher oder später wird sie sowieso erfahren, dass ich ein gefallenes Mädchen bin. Vielleicht ist es am besten, wenn ich es möglichst schnell hinter mich bringe.“
„Ach Lizzie, du hast schon so viel durchgemacht! Ich wünschte, der Skandal würde dir erspart bleiben!“
Lizzie zuckte die Achseln. „Er wird sich nicht vermeiden lassen.“
„Nein, das wird er wohl nicht.“ Georgie versuchte, sie zu beruhigen, indem sie sie anlächelte. „Vielleicht wird es gar nicht so schlimm. Lady O’Dell hatte sich über Helens Hochzeit letzten Herbst so gefreut, sie war nie besserer Stimmung.“
Lizzie wandte sich ab. Margaret O’Dell würde schockiert sein, egal, ob ihre Tochter gerade geheiratet hatte oder nicht, und sie würde ihre Missbilligung äußern. Wenn sie heute Raven Hall verließ, würde in der guten Gesellschaft niemand mehr Lizzie empfangen. Aber Lizzie zweifelte nicht daran, dass ihr Sohn das alles wert war. Es ging um sein Wohlergehen, nicht um ihres.
Die kräftige Matrone wurde von Betty in den Salon geführt. Sie strahlte alle an. „Elizabeth! Es ist schon so lange her, mein liebes Mädchen. Wie gut du aussiehst! Und Lady de Barry! Wie reizend, Sie wiederzusehen!“ Eilig betrat sie das Zimmer.
„Wie geht es Ihnen, Lady O’Dell?“ Lächelnd erhob sich Eleanor. „Aber muss ich diese Frage überhaupt stellen, so gut wie Sie aussehen?“
Lizzies Herz schlug schneller, und sie sah hinüber zu Georgie. Früher hatte sich Eleanor in Limericks guter Gesellschaft niemals so höflich gegeben, aber Lizzie wusste genau, warum sie es diesmal tat.
„Oh, vielen Dank. Ich habe gehört, dass Sie krank gewesen sind, aber Sie sehen aus, als wären Sie jetzt wieder vollkommen genesen“, sagte Lady O’Dell. Sie bemerkte das schlafende Kind in seinem Körbchen und schien ein wenig verwundert, widmete ihre Aufmerksamkeit dann aber wieder ganz Eleanor.
„Bitte, nennen Sie mich doch Eleanor, schließlich kennen wir uns seit … wie viele Jahre sind es jetzt? Und meine Glückwünsche, Margaret. Ich habe gehört, Helen hätte sich sehr vorteilhaft verheiratet.“
Margaret O’Dell strahlte. „Er bekommt im Jahr sechshundert Pfund! Ja, es war eine großartige Heirat!“ Wieder warf sie einen Blick auf Ned. „Was für ein hübsches Baby! Es ist ein Junge, oder?“
Mit zitternden Knien ging Lizzie an ihrer Tante und Lady O’Dell vorbei. „Ja, es ist ein Junge.“ Sie wollte Ned nicht wecken, daher zupfte sie nur die leichte Decke zurecht. Dann strich sie einmal behutsam über seine Wange. Als sie sich wieder aufrichtete, sah Margaret O’Dell sie neugierig an.„Ein Verwandter?“, fragte sie.
Es gelang Lizzie, ihrem Blick standzuhalten. „Er ist mein Sohn.“
Von nun an kamen immer mehr Besucher, denn jeder Nachbar wollte einen Blick auf Lizzie und ihren Sohn erhaschen. Wann immer unten eine Kutsche vorfuhr, war Lizzie so aufgeregt, dass sie beinah in Ohnmacht fiel. Übermäßig beliebt war sie nie gewesen, aber man hatte ihr stets Herzlichkeit und Respekt entgegengebracht. Plötzlich stand sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – und zwar in der denkbar peinlichsten Weise. Lizzie wusste, dass jeder darüber Vermutungen anstellte, wer wohl der Vater sein mochte. Und fast jeder äußerte seine Überraschung über die Tatsache, dass ausgerechnet „die schüchterne Elizabeth Anne“ so enden musste.
Jedes Mal, wenn Lizzie jemanden sagen hörte, dass eigentlich die leichtfertige Anna diejenige sein sollte, die in Schande geraten war, zuckte sie zusammen.
Es war Georgie, die darauf bestand, einen nachmittäglichen Einkaufsbummel in der Stadt zu unternehmen.
„Du kannst dich nicht immer verstecken, und das Schlimmste ist vorbei“, sagte sie, als sie gemeinsam die High Street hinunterschlenderten. Beide Schwestern trugen bestickte weiße Kleider und seidene Pelerinen. Der Kinderwagen mit Ned wurde von Rosie geschoben.
„Sie sehen mich an, als wäre ich eine Hure“, sagte Lizzie und presste ihr Retikül an sich. Der Morgen war noch wunderschön gewesen, aber jetzt wurde das Wetter windig und grau, und Regenwolken sammelten sich am Himmel. Es war ihr egal. In ihrem Leben war das Unterste zuoberst gekehrt worden, und sie hätte gern wieder alles gerichtet. Sie hasste es, so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und einen Skandal verursacht zu haben. „Ich fühle mich schon beinah wie eine Hure.“
„Aber du bist keine!“, rief Georgie. „Diese Frauen kennen dich schon dein ganzes Leben lang, und sie wissen, wie gut du bist. Ich habe gehört, wie jemand sagte, dass du sicher verführt wurdest – dass du verliebt warst. Vermutlich sind sie einfach schockiert, dass ihrer schüchternen kleinen Lizzie so etwas passieren konnte.“ Georgie lächelte ihr zu. „Sie werden darüber hinwegkommen. Kein Skandal dauert ewig.“
Lizzie bezweifelte, dass sie diesen überstehen und auch nur einer ihrer früheren Freunde jemals wieder zu ihren Bekannten zählen würde. Selbst jetzt, als sie an den Geschäften vorübergingen, die die High Street säumten, bemerkten die Ladenbesitzer sie, und Lizzie wusste, dass man über sie redete. „Ich weiß nicht, ob ich hierbleiben sollte, Georgie“, sagte sie schließlich. „Vielleicht wäre es besser für Papa und Mama, wenn ich fortgehe.“ Noch immer fürchtete sie, im Hause ihrer Tante nicht willkommen zu sein, wenn sie Raven Hall verlassen müsste.
„Unsinn! Mama macht wie immer ein Drama aus allem. Papa ist zwar traurig, aber er wird sich erholen, denn du warst immer sein Liebling. Lizzie, die Zeit heilt alle Wunden. Wir werden das überstehen“, sagte Georgie, nahm ihre Hand und drückte sie fest. „Ich verspreche es dir.“
„Wenigstens redet er mit mir“, sagte Lizzie. Sie fragte sich, ob Papa sie jemals wieder so lieben würde, wie er es einst getan hatte, so vollkommen und mit absolutem Vertrauen.
Plötzlich blieb Georgie stehen.
Lizzie war so sehr in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht auf die anderen Fußgänger geachtet hatte. Jetzt folgte sie der Blickrichtung ihrer Schwester.
Tyrell der Warenne kam auf sie zu.
Er war noch einen halben Block weit entfernt, aber seine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt war unübersehbar. Selbst jetzt, nach anderthalb Jahren, hätte Lizzie ihn überall wiedererkannt. Er war zu Fuß unterwegs und in Begleitung eines anderen Gentleman. Sie schienen in ein Gespräch vertieft, und er hatte sie noch nicht bemerkt.
Voller Panik drehte Lizzie sich um. „Rosie! Nimm Ned mit zum Bäcker, und komm nicht heraus!“, rief sie entsetzt. Ihre Angst war grenzenlos. So oft hatte sie sich eingeredet, dass es vollkommen unwahrscheinlich war, Tyrell hier zu begegnen, wenn er sich doch so häufig in Dublin aufhielt. Aber jetzt war er hier, nur wenige Schritte von ihr entfernt!
Rosie erbleichte. Wortlos machte sie kehrt und wandte sich mit dem Kinderwagen dem Bäckerladen zu.
Es war Lizzie unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte Tyrell den Rücken zugekehrt und hoffte, er würde die Straße überqueren oder in die Bierschänke gehen, die im selben Block lag. Doch noch während sie das dachte, sah sie sein schönes, dunkles Gesicht vor sich, seine glänzenden Augen, seinen muskulösen Körper. Ihr wurde heiß, und sie schloss die Augen, doch das Bild blieb, wo es war. Es war so lange her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte.
„Oh! Sie kommen hierher! Ich glaube, sie kommen direkt auf uns zu!“, rief Georgie ungläubig.
„Das kann nicht sein“, stieß Lizzie hervor.
Und da hörte sie eine vertraute Stimme rufen: „Lizzie? Lizzie? Bist du das?“
Das ist Rory McBane. Ungläubig wandte Lizzie sich um, begegnete seinem freundlichen Blick und wagte es nicht, den Mann in seiner Begleitung anzusehen.
„Du bist es!“, rief er. Ganz offensichtlich freute er sich. Nachdem er Georgie einen raschen Blick zugeworfen hatte, wandte er sich wieder Lizzie zu und verneigte sich tief. „Aber ich vergaß, du wohnst ja hier in Limerick. Aus irgendeinem Grund dachte ich, du würdest bei Tante Eleanor in Glen Barry bleiben.“
Lizzie wusste, sie musste etwas antworten. Errötend knickste sie. Und endlich blickte sie hinüber zu Tyrell.
Er sah sie mit großen Augen an – als würde er sie wiedererkennen! Aber das war natürlich völlig unmöglich – oder nicht? Nie war er ihr männlicher erschienen. Er trug einen makellos geschnittenen dunklen Mantel und eine Hose aus Rehleder mit hohen, glänzenden Reitstiefeln. Lizzie fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube erhalten. Sie war vollkommen verwirrt.
„Lizzie …?“, fragte Rory.
Lizzie erwachte aus ihrer Benommenheit. Sie sah ihn an, wohl wissend, dass ihr Gesicht, ihr Hals, ihr Dekolleté dunkelrot geworden waren, und zum ersten Mal, seit sie von Annas schrecklichem Verrat erfahren hatte, fühlte sie sich wieder lebendig. „Hallo“, stammelte sie. Es war ihr nicht möglich, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. „Es … es freut mich, dich zu sehen, Rory.“
Besorgt sah er sie an. „Ist alles in Ordnung mit dir?“
Es gelang ihr zu nicken, und sie wagte es, Tyrell anzusehen. Seine Züge wirkten wie in Stein gemeißelt, sein Blick war nicht zu deuten. Seltsamerweise schien er sehr ärgerlich zu sein.
Rory sagte: „Wo sind nur meine Manieren geblieben? Lizzie, dies ist Tyrell de Warenne, ein guter Freund von mir. Tyrell, das ist Miss Elizabeth Fitzgerald.“
Lizzie hoffte, nicht in Ohnmacht zu fallen. Rory und Tyrell waren miteinander befreundet? Sie war verdammt.
„Meine Schwester“, flüsterte sie. „Miss Georgina May Fitzgerald.“
Vage nahm Lizzie war, dass Georgie knickste und Rory sich höflich lächelnd verneigte, wie es nun einmal seine Art war. „Es ist mir ein Vergnügen, Miss Fitzgerald“,sagte er.„Ich kann nur sagen, wie leid es mir tut, dass wir nicht schon letzten Sommer auf Glen Barry Bekanntschaft geschlossen haben. Ich habe die Gesellschaft Ihrer Schwestern so sehr genossen. Sie haben eine sehr amüsante Zeit verpasst.“
Georgie errötete leicht und sah dabei unglaublich anziehend aus. Sie war beinah so groß wie er und blickte ihm direkt in die Augen, während sie sprach. „Es tut mir leid, letzten Sommer habe ich mich um unsere Eltern gekümmert. Lizzie hat … sie hat Sie gar nicht erwähnt.“ Sie errötete noch mehr, als ihr bewusst wurde, dass sie gerade etwas sehr Unhöfliches gesagt hatte.
Rory murmelte: „Was muss ich für einen Eindruck hinterlassen haben!“ und lächelte Georgie zu. „Wie selbstlos, sich um die Eltern zu kümmern. Ich hoffe, keiner von ihnen ist ernsthaft erkrankt?“
Georgie wandte sich ab. „Es geht allen gut. Danke, Sir.“
Georgie wirkte sehr verlegen, was ihr so gar nicht ähnlich sah, aber darüber konnte Lizzie jetzt nicht nachdenken. Tyrell sah sie noch immer unverwandt an. Sie versuchte, ruhig weiterzuatmen, aber es fiel ihr sehr schwer.
Seit sie von Annas Betrug gehört hatte, hatte sie an ihn nur noch als an Neds Vater denken wollen. Sie hatte sich geweigert, von ihm zu träumen, vor allem von ihm als Liebhaber. Und über keinen der sinnlichen Träume, die sie dennoch gehabt hatte, hatte sie nachdenken wollen.
Und jetzt sah sie ihn an und dachte nur daran, wie er sich auf dem Ball an Allerheiligen so verführerisch an sie gelehnt hatte.
Tyrell trat vor und verneigte sich. „Aber wir sind einander bereits begegnet, nicht wahr, Mylady?“ Seine Stimme klang bedrohlich ruhig.
Lizzie war alarmiert. Warum erkannte er sie wieder? Sie musste anonym bleiben und sich so weit fern von ihm halten wie möglich. „Sir, ich fürchte, Sie täuschen sich“, erwiderte sie.
„Oh, aber meine Erinnerung trügt mich selten, schon gar nicht, wenn es um so viel Schönheit geht“, sagte er und sah ihr in die Augen.
Lizzie war sprachlos. Fand er sie wirklich noch immer anziehend? „Sir, ich fürchte, dieses Gespräch ist äußerst unpassend. Solche Schmeicheleien gehören in einen Ballsaal.“ Als ihr auffiel, was sie da gesagt hatte, zuckte sie zusammen.
Er lachte freudlos. „Ich schmeichle jemandem dann, wenn es mir angemessen erscheint.“
Sie holte tief Luft. „Ihr Scharfblick lässt Sie im Stich, Sir.“
Einen Augenblick lang blieb alles still, während er sie musterte. „Haben Sie noch nie gehört, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt?“
Lizzie schluckte. Hielt er sie für schön? „So sagt man. Aber meine Schwester und ich sind in Eile.“ Sie knickste und wäre am liebsten davongelaufen. Doch dazu erhielt sie keine Gelegenheit.
Er nahm ihre Hand. „Warum tun Sie so, als würden wir einander nicht kennen?“, wollte er wissen.
Seine Berührung fühlte sich an, als würde er sie verbrennen, genau wie vor fast zwei Jahren. „Hätte man uns einander vorgestellt, so würde ich mich daran zweifellos erinnern.“
„Also bin ich wohl unvergesslich?“
Sie suchte nach einer passenden Antwort.
Er lächelte. „Ihr Schweigen muss ich wohl als ‚ja‘ deuten. Sie spielen ein gefährliches Spiel, Mylady“, sagte er. „Und es ist eine gefährliche Jagd.“
Er flirtete mit ihr, genau wie an Allerheiligen, und noch immer war ihr das vollkommen unverständlich. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden, und ebenso wenig durfte sie zugeben, dass sie einander bereits begegnet waren. „Sie verwechseln mich offensichtlich mit jemand anderem“, meinte sie schließlich. „Ich bin kein Fuchs, der sich durch die Wälder hetzen lässt.“
„Ich erkenne es, wenn jemand ein Spiel spielt“, sagte er.
„Dann spielen Sie wohl selbst gern, Sir?“, entgegnete Lizzie.
„Und wer macht es wem nach?“, fragte er. „Ich spiele niemals allein.“
Ihr Herz schlug zu heftig. In diesem Spiel ging alles viel zu schnell viel zu weit voran. Und am schlimmsten war, dass es ihr fast Spaß machte. „Verzeihen Sie bitte, Mylord.“
Aber nun scherzte er nicht mehr. „Wir sind einander begegnet, Madam. In Sherwood.“
Lizzie überlegte. Was sollte sie nun machen?
„Leugnen Sie es nicht“, warnte er.
Noch immer fühlte Lizzie sich unwohl, andererseits aber war sie auch erleichtert. Er wusste, dass sie Maid Marian gewesen war. Der Maskenball war nun gut anderthalb Jahre her, doch er erinnerte sich nicht nur an ihre Begegnung, sondern er erkannte sie sogar ohne die Verkleidung wieder. Tausend lange unterdrückte Empfindungen brachen sich jetzt Bahn. Strahlende Bilder sah sie vor sich, und in jedem davon lag sie in Tyrell de Warennes Armen.
„Ihr beide seid euch in Sherwood begegnet?“, fragte Rory, und jetzt erst bemerkte Lizzie, dass sie nicht allein war mit Tyrell. Tatsächlich standen sie mitten auf der High Street zwischen lauter Händlern, die Maiskuchen und Fleischpasteten verkauften. „Sherwood Forest?“
Tyrell sagte: „Wir trafen uns auf dem Ball an Allerheiligen. Miss Fitzgerald war als Maid Marian verkleidet.“
Lizzie öffnete den Mund, um das zu leugnen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Was auch immer sie jetzt sagte, er würde ihr kein Wort glauben, so fest war er überzeugt davon, sie zu kennen.
Rory hob die Brauen und blickte von einem zum anderen. „Ah. Das erklärt alles“, sagte er.
Erschüttert in beinah jeder Hinsicht, holte Lizzie tief Luft. Noch immer spürte sie das Verlangen nach diesem Mann, der ihr nicht bestimmt war. Dann hörte sie ein fremdes Baby weinen und wurde sofort an Ned erinnert. Tyrell ist gefährlich für mich – nie habe ich einer größeren Gefahr gegenübergestanden. Dies hier musste ein Ende haben – endgültig. „Ich fürchte, Sie verwechseln mich.“
„Ich fürchte, Sie irren sich. Ich verwechsle Sie nicht, oh nein, Miss Fitzgerald. Und damit stellt sich die Frage: warum?“
Lizzie biss sich auf die Lippen. Was sollte sie dazu sagen? Instinktiv wusste sie, dass sie mit dem Feuer spielte, wenn sie so weitermachte.
Eilig trat Georgie neben sie und schob ihren Arm unter Lizzies. „Mylord, Sie irren sich, fürchte ich. Wissen Sie, Lizzie hat den Kostümball Ihrer Familie im Kleid einer Witwe besucht. Aber sie sieht unserer Schwester Anna sehr ähnlich. Anna trug das Kostüm der Maid Marian.“
Lizzie hätte am liebsten gestöhnt. Fest drückte sie Georgies Hand, obwohl die natürlich nicht verstehen konnte, warum sie in diesem Zusammenhang nicht über Anna sprechen sollte. Aber Tyrell beachtete Georgie gar nicht. Er sah nur Lizzie an, als er sagte: „Dann gebe ich mich geschlagen. Sie haben gewonnen, Madam. Ich entschuldige mich bei Ihnen, Miss Fitzgerald.“
Lizzie wusste, dass er sich über sie lustig machte. Er wusste, dass sie in diesem Kostüm auf dem Ball gewesen war, und er würde sich niemals vom Gegenteil überzeugen lassen. „Wie großzügig von Ihnen“, murmelte sie.
Er sah sie warnend an und wandte sich plötzlich an Rory. „Wie kommt es, dass du Miss Fitzgerald kennst?“, wollte er wissen.
„Lizzies Vater ist der Bruder meiner Tante Eleanor Fitzgerald de Barry“, sagte Rory. „Durch diese Ehe sind wir Cousine und Cousin, und wir begegneten uns vor gut einem Jahr.“
Tyrell verschränkte die Arme vor der Brust und sah Lizzie an. „Sie sind also Rorys Cousine?“, stellte er fest. „Wie interessant.“
Lizzie zögerte. Worauf wollte er hinaus? Sein Tonfall gefiel ihr nicht. Hilfe suchend sah sie ihre Schwester an.
Georgie sagte: „Es war ein Vergnügen, meine Herren, aber wir haben eine Verabredung.“
Rory verneigte sich vor ihr. „Dann entschuldige ich mich. Bitte lassen Sie nicht zu, dass wir Sie von Ihren Verabredungen fernhalten. Und das Vergnügen war ganz auf meiner Seite.“ Er lächelte.
Aber Tyrell war offensichtlich noch nicht bereit zu gehen. „Wo wohnen Sie?“, fragte er Lizzie.
Ihr Herz setzte aus. „Wie bitte?“
„Rory sagte, Sie seien von hier. Hier gibt es ein halbes Dutzend Fitzgeralds. Wo wohnen Sie? Wer ist Ihr Vater?“ Er sprach sehr schnell und wartete offenbar ungeduldig auf die Antworten.
Lizzie blinzelte und errötete. Während sie darüber nachdachte, wie sie es vermeiden konnte, ihm zu sagen, wo sie zu finden war – wo sie und sein Sohn zu finden waren –, ergriff Rory das Wort. „Sie wohnen in Raven Hall.“
Sehr zu seiner Verwirrung warf Lizzie ihm einen vernichtenden Blick zu.
„Sie wohnen in Raven Hall“, wiederholte Tyrell langsam, und sie sah, dass er über etwas nachdachte, auch wenn sie nicht verstand, warum. Er kniff die Augen zusammen. „Dann sind Sie also die Tochter von Gerald Fitzgerald.“ Das war eine Feststellung.
„Ja“, sagte sie angstvoll. Leugnen konnte sie es nicht, aber jetzt kannte er ihren Namen, ihre Familie und wusste, wo sie und Ned wohnten.
Wieder verschränkte er die Arme vor der Brust und wirkte seltsam zufrieden.
„Darf ich euch einen Besuch abstatten?“, fragte Rory, und sie erkannte, dass der Wortwechsel ihn verwirrt hatte.
Lizzie war entsetzt. Schlimmer hätte es kaum werden können. Sosehr sie Rory auch mochte, er durfte nicht nach Raven Hall kommen.
Georgie trat vor und versuchte zu retten, was noch zu retten war. „Leider ist unsere Mutter sehr krank. Seit Tagen schon hat sie ihre Zimmer nicht mehr verlassen. Es wäre jetzt sehr unpassend.“
Rory war irritiert, Tyrell aber schien nur belustigt. „Also werden wir Ihnen Ende der Woche unsere Aufwartung machen“, sagte er und senkte die Lider, sodass sie seine Augen nicht sehen konnte. Dann verbeugte er sich. „Guten Tag.“
Es war Lizzie unmöglich, etwas zu erwidern.
Rory verbeugte sich ebenfalls, und ohne sich noch einmal umzudrehen, gingen die beiden Männer davon.
Mit großen Augen sah Lizzie Georgie ungläubig an. „Er will bei uns vorsprechen?“
Zuerst schien Georgie sie nicht zu hören. Sie blickte den beiden Männern nach, und es dauerte einen Moment, ehe sie erwiderte: „Ja. Er will bei uns vorsprechen, und wenn ich mich nicht irre, wird nichts und niemand ihn daran hindern.“