13. Kapitel

Erste Eindrücke

„Miss Fitzgerald, ich bin nicht sicher, ob wir hier sein sollten“, meinte Rosie. Ihre Sommersprossen hoben sich überdeutlich von ihrem blassen Gesicht ab.

Es war nicht leicht gewesen, die Küche zu finden, die einen ganzen Flügel einnahm und weit hinten auf der Rückseite des Hauses lag. Lizzie, Ned und Rosie waren an der Tür zu dem großen Raum stehen geblieben. Die Größe beeindruckte Lizzie. In der Mitte sah sie vier Arbeitsbereiche, wo das Küchenpersonal emsig ein mehrgängiges Mahl vorbereitete. An einer der Zwischenwände befanden sich zwei große Öfen und vier kleinere, gegenüber vier Herde. Unter den Fenstern, von denen aus man über Stallungen und Scheunen bis zu den Hügeln blicken konnte, auf denen Schafe und Rinder weideten, gab es ein halbes Dutzend Spülbecken. Von der Decke hingen Töpfe und Pfannen, dazwischen Gewürze aller Art. Ein wenig unglücklich erkannte Lizzie, dass es nicht so leicht werden würde, hier Baldrian zu finden.

Die Gespräche in dem Raum, die bis eben noch sehr lebhaft gewesen waren, wurden plötzlich leiser. Lizzie bemerkte, dass sie auffielen und man sich nach ihnen umdrehte.

Aus der entferntesten Ecke des Raums kam eine Frau in schwarzem Kleid mit einer weißen Schürze auf sie zu. Dabei musterte sie Lizzies Garderobe. Als sie erkannte, dass sie es mit einer Lady zu tun hatte, knickste sie und fragte: „Kann ich Ihnen helfen, Miss?“

Vor einer Stunde waren Lizzies Koffer eingetroffen. Sie trug ein helles, rosa und grün gemustertes Kleid und lächelte der Frau zu, die etwa im mittleren Alter war und wahrscheinlich die Haushälterin. „Ich bin Miss Fitzgerald, und wir sind gerade hier eingezogen. Ich schlafe nicht sehr gut, und ich wollte mir ein Schlafmittel brauen.“

„Ja, man hat mich von Ihrer Ankunft unterrichtet. Ich bin Miss Hind, die Haushälterin. Es wäre mir ein Vergnügen, Ihnen einen Trank zu brauen, Miss Fitzgerald. Bitte erlauben Sie es mir.“

„Das wäre großartig“, sagte Lizzie, ganz erstaunt darüber, wie einfach das ging. Es gelang ihr kaum, die Haushälterin anzusehen, so sehr faszinierte sie das Treiben in so einer Küche. An einem Tisch bereiteten mehrere Küchenmädchen Forellen zum Braten vor. Lizzie zählte zwei Dutzend Fische. An einem anderen Tisch wurde Rinderbraten geschnürt, außerdem gab es ein Dutzend gefüllte Hühner. Ein paar Küchenjungen schalten Erbsen aus und schnitten Karotten und Kartoffeln klein, während einige ältere Frauen Pastetenteig kneteten. Hinter dieser letzten Gruppe stand ein stämmiger Mann in der weißen Kleidung des Küchenchefs, die Hände in die Hüften gestemmt. Er hatte sich umgedreht und sah Lizzie an.

„Was benötigen Sie?“, fragte Miss Hind.

Lizzie wandte sich wieder der grauhaarigen Haushälterin zu. „Nur ein wenig Baldrian“, sagte sie. „Außerdem würde ich gern etwas Rotwein mitnehmen auf mein Zimmer, wenn es Ihnen recht ist, das hilft mir auch beim Einschlafen.“

„Natürlich. Und brauchen Sie auch etwas für das Kind?“

„Etwas Obst wäre schön, das isst Ned sehr gern, wenn es Ihnen nicht zu viel ist.“

„Natürlich nicht.“

Lizzie konnte nicht anders. Sie ging an der Haushälterin vorbei und blieb neben dem Mann in der Kochkleidung stehen. „Machen Sie Apfelpastete?“, fragte sie.

„Die Countess mag alles, was mit Äpfeln zu tun hat“, erwiderte er.

„Haben Sie ihr schon einmal eine Apfeltarte bereitet?“

„Natürlich“, erwiderte er empört.

Lizzie lächelte. „Ich backe so gern. Darf ich Lady Adare eine Tarte machen? Sie war so freundlich zu mir!“

Dieser Vorschlag schien den Mann zu überraschen, und er zögerte. „Sie sind hier zu Gast. Ich bin nicht sicher, ob das passend wäre, Miss.“

Inzwischen war Lizzie ganz erfüllt von der Vorstellung, die beste Tarte, die sie jemals gebacken hatte, für Lady Adare zu bereiten. „Man hat mir aber gesagt, dass jeder meiner Wünsche erfüllt würde“, sagte sie. „Und jetzt würde ich gern Apfeltarte backen.“

Alle Aufmerksamkeit im Raum war jetzt auf sie gerichtet, und Miss Hind stand neben ihnen. Sie wirkte hilflos und verlegen.

Der Koch, der ebenso hilflos schien, zuckte die Achseln. „Ich hoffe nur, Sie wissen, was Sie tun“, sagte er.

„Oh ja!“, rief Lizzie und eilte zum Backtisch. „Darf ich?“, fragte sie einen pickeligen Jungen, der sie mit offenem Mund anstarrte.

Er bekam einen roten Kopf und nickte.

Lizzie griff nach dem Teigklumpen. Sofort merkte sie, dass er sich nicht gut anfühlte.

„Jimmy wird für Sie den Boden kneten!“, rief der Küchenchef.

Lächelnd ging Lizzie an mehreren Jungen vorbei zu einem Sack voll Mehl. „Niemand macht den Boden so gut wie ich“, rief sie über die Schulter. „Ich mache es lieber selbst, und ich fürchte, ich muss ganz von vorn anfangen.“

Hinter ihr erklang überraschtes Gemurmel, aber das war Lizzie egal. Summend verteilte sie ein wenig Mehl auf der Platte und begann zu arbeiten.

Lizzie ging die Halle entlang, die die Küche mit dem Flügel verband, in dem ihre Gemächer lagen. Rosie war in der Küche geblieben, wo sie mit dem Personal zu Abend aß. Lizzie hielt Ned an der Hand und ging langsam, damit er mit ihr Schritt halten konnte.

Plötzlich zögerte sie. In dem Salon, an dem sie gerade vorbeigekommen war, standen ein Pianoforte, ein Harpsichord und ein Cello, und sie war fest davon überzeugt, dass sie an dem hübschen malvenfarbenen Raum mit den drei Reihen vergoldeter Stühle bisher noch nicht vorbeigegangen war. Oder doch?

„Mama?“, fragte Ned, der etwas Mehl auf der Nase hatte.

Es hatte nur eine Abzweigung gegeben, dessen war sie sicher. Sie war rechtsherum gegangen, nicht linksherum, und das hätte sie zum Gästetrakt zurückführen müssen.

Sie lächelte Ned zu und wischte ihm mit der Fingerspitze über die Nase. „Wir zwei sehen schrecklich aus“, sagte sie leise und war sehr glücklich. Er hatte ihr geholfen, die Tartes zu bereiten und viel Spaß dabei gehabt. Jetzt war er über und über mit Mehl bedeckt, genauso wie sie selbst. Außerdem prangte auf seinem Hemd ein Schokoladenfleck, denn der Küchenchef hatte ihm ein kleines Stück Kuchen gegeben, das vom Vortag übrig geblieben war.

„Na ja, wir können uns ja nicht verirren“, sagte sie zu ihrem Sohn. Sie wollte nur nicht gern jemandem aus der Familie begegnen, nicht wenn sie so aussah wie jetzt. „Komm, mein Liebling, lass uns die unbekannte Gegend erkunden.“ Sie hatte beschlossen, die Sache von der heiteren Seite zu nehmen.

Mit Ned an der Hand wollte sie gerade weitergehen, als sie einen Stiefel vor sich entdeckte.

Erschrocken blickte sie auf und sah direkt in ein Paar dunkle Augen in einem Gesicht, dessen Züge ihr schmerzlich bekannt vorkamen. Lizzie trat zurück und glaubte einen Moment lang, Tyrell vor sich zu haben, doch dann erkannte sie, dass sie seinem Bruder Rex gegenüberstand.

Er stützte sich auf eine Krücke, denn von seinem rechten Bein war nur noch ein Stumpf übrig, unter dem das Hosenbein zusammengenäht war. Aus seinen dunklen Augen blickte er sie sehr prüfend an und deutlich unverhohlener, als es zum guten Ton gehörte. Jetzt erkannte sie, dass seine Augen braun waren und nicht blau. Außerdem war er muskulöser gebaut als Tyrell, obwohl das schwer vorstellbar war. Stumm sah er erst sie an und dann Ned.

Lizzie lächelte, doch er lächelte nicht zurück. Stattdessen musterte er sie vom Scheitel bis zur Sohle.

Lizzie war zu irritiert, um gekränkt zu sein. Sein Blick war weder missbilligend noch lüstern, mit einem Anflug von Furcht stellte sie fest, dass er einfach nur kühl und sachlich wirkte.

Dass er auf Adare weilte, hatte sie nicht gewusst. Natürlich hatte sie von seiner unglücklichen Verwundung auf dem Schlachtfeld gehört und auch, dass er zum Ritter geschlagen worden war und nun in Cornwall lebte, wo ihm der Prinzregent ein Anwesen geschenkt hatte.

„Guten Tag“, sagte er schließlich. „Mrs. Fitzgerald, wie ich vermute?“

Es gelang Lizzie, sich von ihrer Überraschung zu erholen. „Ja. Ich glaube, ich habe mich verlaufen“, sagte sie und sah ihm direkt in die Augen, wobei sie sich außerordentlich unbehaglich fühlte. Sie zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sie gewogen und für zu leicht befunden worden war. „Ich muss einen falschen Gang gewählt haben. Wir waren in der Küche“, versuchte sie zu erklären.

„Das sieht man. Sie sind überall mit Mehl bedeckt.“

Jetzt erinnerte sich auch Lizzie daran und wurde sehr verlegen. „Wir haben Apfeltarte gebacken“, sagte sie. „Ich backe so gern und wollte der Countess eine Freude machen.“ Er runzelte die Stirn. „Es tut mir leid. Bitte entschuldigen Sie uns.“ Sie machte kehrt und wollte davonlaufen.

Er streckte den Arm aus und packte sie am Handgelenk. Dabei schwankte er und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Rasch griff Lizzie nach seiner Hand, voller Angst, er könnte stürzen und sich verletzen, doch sofort löste er sich von ihr.

„Ist alles in Ordnung, Sir?“, fragte sie besorgt.

„Natürlich“, gab er knapp zurück. Er stützte sich mit dem rechten Arm wieder auf seine Krücke und verbeugte sich, so gut er es konnte. „Ich bin Tyrells Bruder, Sir Rex de Warenne of Lands End.“

„Das weiß ich“, gelang es Lizzie zu antworten. „Ich habe Sie oft auf den Gartenfesten am St. Patrick’s Day gesehen. Ich bin Miss Elizabeth Fitzgerald, und dies ist mein Sohn Ned.“

Er ließ seinen Blick zu Ned gleiten. „Mein Neffe“, sagte er.

Sie nickte, wobei ihr Herz heftig schlug. „Ja.“

Kühl betrachtete er Ned, der in derselben Weise zurückstarrte. Rex bewegte sich nicht und Ned ebenso wenig. Schließlich sagte Rex: „Er sieht genauso aus wie mein Bruder, als er ein Junge war.“

Da sie nicht recht wusste, was sie darauf erwidern sollte, schwieg Lizzie.

Rex blickte wieder zu ihr. „Ich werde Sie zum Westflügel begleiten.“

„Wir finden den Weg allein, haben Sie vielen Dank“, erklärte sie. Rex misstraute ihr, und sie konnte ihm keinen Vorwurf deswegen machen.

„Ich werde Sie zum Westflügel begleiten“, wiederholte er.

Diesen Tonfall kannte Lizzie. War er genauso bestimmend und fordernd wie sein Bruder? Es hatte beinah den Anschein. Da ihr keine andere Wahl blieb, als zu gehorchen, neigte sie leicht den Kopf und sagte so höflich wie möglich: „Danke schön.“

Mit der linken Hand bedeutete er ihr, sich umzudrehen und den Weg zurückzugehen, den sie gekommen war. Lizzie war der Meinung, sie wäre schneller, wenn sie Ned auf dem Arm trug, daher hob sie ihn hoch. Sofort verlangte er: „Runter, Mama. Runter! Ned gehen.“ Sein Ton war unmissverständlich. Ned wollte allein gehen und würde sich nicht davon abbringen lassen.

„Jetzt nicht“, flüsterte Lizzie. „Gleich darfst du wieder allein gehen, aber jetzt werde ich dich tragen.“

„Ned gehen!“, verlangte Ned im Befehlston eines Königs.

Lizzie blickte Rex an und sah, dass er sie beide beobachtete. Offensichtlich wartete er ab, wer diese Schlacht gewinnen würde, die Mutter oder das Kind.

Lizzie zögerte nicht. „Eines Tages wirst du ein sehr mächtiger Mann sein“, sagte sie. „Aber jetzt bin ich deine Mutter, und du wirst das tun, was ich dir sage. Wenn wir unseren Flur erreicht haben, darfst du gehen, aber bis dahin nicht.“

Offensichtlich wütend, sah Ned sie böse an. Dann richtete er denselben bösen Blick auf seinen Onkel, als wollte er sagen: Daran bist nur du schuld!

Um Rex’ Mundwinkel zuckte es, als hätte er um ein Haar gelächelt, wollte es aber nicht zulassen. „Miss Fitzgerald?“

Lizzie lief an ihm vorbei, und er hinkte hinter ihr her.

Tyrell war in die Bibliothek gerufen worden, und dort angekommen, schloss er die Tür hinter sich. Sein Vater stand vor der Feuerstelle, an den Kaminsims gelehnt. Die Bibliothek war ein sehr großer Raum mit zwei Wänden voller Bücher. Vor dem Kamin stand ein Sofa, an der gegenüberliegenden Wand bot ein kleineres Sofa eine weitere Sitzgelegenheit. Mehrere französische Türen führten hinaus auf eine Terrasse und in die Gärten. Tyrell sah, dass sein Vater tief in Gedanken versunken war.

Er trat näher. Er ahnte, worum es bei diesem Gespräch gehen würde, und er hatte wegen seines Benehmens am Nachmittag bereits ein schlechtes Gewissen. Die Gründe, warum er weder Harrington noch dessen Tochter beleidigen durfte, waren ihm nur zu bewusst. Und wenn er sich an die Lust erinnerte, die er am Nachmittag nicht hatte im Zaum halten können, so wusste er, dass er Elizabeth Fitzgerald fortschicken sollte. Nicht nur stand er kurz vor der Eheschließung mit Blanche Harrington, Blanche lebte auch noch hier in diesem Haus. Niemandem brachte er mehr Respekt entgegen als seinem Vater, und er respektierte auch Harrington und seine Tochter. Doch sein Verhalten an diesem Nachmittag schien anzudeuten, dass er nichts und niemanden respektierte, schon gar nicht die Traditionen, in denen er erzogen worden war. Immer hatte er sich selbst als Gentleman gesehen – ein Mann von Ehre, Treue, Edelmut und Moral. Und jetzt hatte er nichts davon an den Tag gelegt.

Elizabeth Fitzgerald hatte eine heftige Wirkung auf ihn, und es war ihm egal. Selbst jetzt, viele Stunden nachdem er in ihrem Bett gewesen war, konnte er an kaum etwas anderes denken als daran, wieder zu ihr zu gehen, mit ihr zusammen zu sein. Es fiel ihm unendlich schwer, an etwas anderes als an sie zu denken, als wäre er ein pickeliger Jüngling, der seine erste Liebe erlebte.

Aber er war kein grüner Junge mehr. Es gab weder Erklärungen noch Rechtfertigungen für sein Verhalten.

Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Der Earl of Adare sah ihn an und unterbrach seine Überlegungen. „Lord Harrington hat mich wegen Miss Fitzgerald befragt.“

Tyrell erstarrte. Es war ihm bewusst, dass in jedem Haus, selbst in einem, das so groß war wie Adare, geklatscht wurde. Zweifellos hatte in demselben Augenblick, da er Elizabeths Kind als das seine anerkannt hatte, diese Neuigkeit sich wie ein Lauffeuer im ganzen Haus ausgebreitet. Ein paar Dienstboten hatten gelauscht, oder vielleicht hatte auch das Kindermädchen mit dem Hausmädchen geplaudert. Eigentlich spielte es keine Rolle. Ein solches Geheimnis konnte nicht allzu lange gewahrt bleiben. „Möchtest du, dass ich ihm versichere, mein illegitimes Kind wird meine Pflichten gegenüber seiner Tochter nicht beeinträchtigen?“ Er hatte nicht vor, irgendjemandem, schon gar nicht seinem Vater, von seinem moralischen Dilemma zu erzählen.

„Das habe ich ihm schon gesagt.“ Der Earl musterte Tyrell sehr gründlich. „Er bewundert dich sehr, Tyrell, und das aus gutem Grund, und so wie es aussieht, macht er sich keine Sorgen wegen deines unehelichen Kindes. Schließlich hat fast jeder, den wir kennen, ein oder zwei Bastarde. Aber es gefällt ihm nicht sehr, dass wir Miss Fitzgerald hier im Haus aufgenommen haben.“

„Hast du ihm nicht gesagt, dass ich es für das Beste halte, meinen Sohn nicht von seiner Mutter zu trennen?“ Tyrell fragte sich, wie lange diese schwache Ausrede wohl genügen könnte. Unter ähnlichen Umständen würde eine adlige Familie meist den illegitimen Nachwuchs bei sich aufnehmen, die leibliche Mutter aber mit einer Entschädigung außen vor lassen. Wäre Ned tatsächlich sein Sohn und seine Mutter nicht gerade Elizabeth, sondern irgendeine ehemalige Geliebte, dann hätte er auch genau das getan.

„Doch, das tat ich, aber er widersprach, und er hat recht. Seiner Meinung nach könnte ihre Gegenwart eine Beleidigung für seine Tochter darstellen, und ich muss ihm zustimmen.“

Vor Tyrells innerem Auge erschienen Bilder des heutigen Nachmittags, und beinah glaubte er, ihre Lippen wieder zu schmecken und ihre vollen Brüste unter seinen Händen zu spüren. Der Gentleman in ihm stimmte mit seinem Vater und seinem zukünftigen Schwiegervater überein, aber in ihm gab es auch eine dunkle Seite, die Elizabeth Fitzgerald zu wecken verstand. Denn keineswegs hatte er die Absicht, sie fortzuschicken, dazu war er zu selbstsüchtig. Aber bestimmt war ein Kompromiss möglich?

Es gab nur wenige Männer in seiner Position, die sich keine Mätresse hielten, nur sein Vater bildete eine Ausnahme von dieser Regel. Und obwohl er seinen Vater immer dafür bewundert hatte, dass er der Countess die Treue hielt, so war ihm doch schmerzlich bewusst, dass es eine solche Treue in seiner Ehe nicht geben würde.

„Vater, ich habe mich entschieden. Es wird mir ein Vergnügen sein, mit Lord Harrington zu sprechen. Gewiss kann ich die Zweifel zerstreuen, die er möglicherweise hegt. Ich habe keineswegs die Absicht, meine Verlobte zu beleidigen. Meine Absicht ist lediglich, das zu tun, was für meinen Sohn das Beste ist.“

„Ich habe ihm gegenüber bereits angedeutet, dass dies nur eine vorübergehende Situation ist. Ich sagte ihm, dass du Miss Fitzgerald fortschicken wirst, sobald sich Ned an sein neues Leben gewöhnt hat.“

„Vielen Dank“, sagte Tyrell. Das würde Blanches Vater gewiss für den Augenblick beruhigen.

„Du bist ein erwachsener Mann, Tyrell, und das schon seit zehn Jahren. Ich weiß, dass du in der Lage bist, deine eigenen Entscheidungen zu treffen – und deine eigenen Fehler zu begehen. Und ich denke, wir wissen beide, dass dies ein Fehler ist. Miss Fitzgerald liegt nicht im Interesse von Adare.“

Tyrell straffte die Schultern, denn er vermutete, dass der Earl recht hatte. „Sie hat mit Adare nicht das Geringste zu tun“, sagte er in einem Tonfall, der seinen Vater warnen sollte, das Thema auf sich beruhen zu lassen. „Ich habe nicht die Absicht, meine Pflichten zu vernachlässigen.“

„Ich weiß, du wirst weder mich noch Adare jemals enttäuschen.“ Der Earl überlegte einen Moment. „Liebst du sie?“

Tyrell erschrak. „Natürlich nicht.“

Der Earl trat näher. Es verging ein Moment, ehe er sprach. „Tyrell, deinen Verstoß gegen die Etikette verstehe ich einfach nicht.“

Tyrell wusste, sein Vater spielte nicht auf seinen Wunsch an, Miss Fitzgerald diese Woche auf Adare zu behalten, und ganz gewiss auch nicht auf seinen Wunsch, sie zu seiner Mätresse zu machen. „Bitte verlange von mir keine Erklärung“, entgegnete er finster. „Es gibt nichts, womit ich rechtfertigen könnte, die Situation damals so ausgenutzt zu haben. Es tut mir sehr leid, Vater. Es tut mir leid, dich enttäuscht zu haben.“

Der Earl sah ihn erstaunt an. „Wie eigenartig. Sie behauptet, die ganze Angelegenheit sei ihre Schuld und sie hätte dich verführt.“

Tyrell war so erschrocken, dass er beinah die Fassung verloren hätte. Warum sollte Elizabeth so etwas behaupten?

„Wieso versucht sie, dich zu beschützen?“, fragte der Earl leise.

Tyrell überlegte. Es war nicht wahrscheinlich, dass sie ihn verteidigen wollte. Es musste sich um irgendeinen neuen Trick handeln. Aber er kam nicht dahinter, welchen Sinn das haben sollte. „Ich weiß es nicht. Die Schuld liegt bei mir – ganz allein bei mir.“

„Es ist mir nicht möglich, das zu verstehen. Ich kenne dich zu gut. Selbst wenn sie verkleidet war – du würdest doch niemals eine unschuldige junge Lady anrühren!“

Tyrell wandte sich ab. „Ich wiederhole es – es gibt keine Entschuldigung für mein Verhalten.“

Doch sein Vater folgte ihm.„Lass mich für einen Augenblick so tun, als glaubte ich dir. Auf einem Ball begegnest du einer maskierten jungen Frau und verlierst jede Selbstbeherrschung. Tyrell, du bist doch nicht naiv. Hast du nicht versucht herauszufinden, wer sie ist, um sie am nächsten Tag aufzusuchen und dich zu entschuldigen? Komm schon, Tyrell, bestimmt hast du bemerkt, wie sehr du dich getäuscht hast.“

Tyrell wusste, sein Vater spielte darauf an, dass er eine Jungfrau verführt habe. Er errötete. „Können wir dieses Thema nicht auf sich beruhen lassen? Offensichtlich bin ich nicht unfehlbar.“

Der Earl schüttelte den Kopf. „Wenn sie so schön wäre wie deine französische Mätresse oder die russische Witwe, dann würde ich dich verstehen. Stattdessen sehe ich hier eine zurückhaltende, recht unscheinbare und ein wenig rundliche junge Frau, die noch immer sehr unschuldig wirkt. Das ist doch keine Verführerin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auch nur eine Spur von Berechnung in sich trägt. Und trotzdem hat sie dich über die Maßen betört?“

Tyrell sagte nichts. Er fühlte sich äußerst unbehaglich. Er hasste diese Lügerei mehr als alles andere auf der Welt. „Hat dich nie eine Frau betört?“, fragte er, und gleich darauf bedauerte er diese Frage. Denn sie verriet etwas über seine Gefühle, und er wusste, was sein Vater antworten würde.

„Doch. Deine Stiefmutter, die Countess. Ich verliebte mich in sie, kaum dass ich ihr das erste Mal begegnet war, viele Jahre ehe deine Mutter starb und ihr Gemahl ermordet wurde.“ Sein Lächeln war freudlos. „Doch die Umstände hinderten mich daran, den Verstand und die Beherrschung zu verlieren.“

„Dann bist du ein besserer Mann als ich“, sagte Tyrell und wandte sich zum Gehen.

Der Earl packte ihn an der Schulter und hielt ihn fest. „Das alles gefällt mir nicht, Tyrell.“ Tyrell drehte sich um, sah ihm in die Augen und schüttelte seine Hand ab. „Deine Sorgen sind unbegründet.“ „Willst du dein Verhältnis mit ihr erneuern?“,fragte der Earl rundheraus. Tyrells Lächeln verschwand.

„Nachdem ich dich heute Nachmittag mit ihr gesehen habe, kenne ich die Antwort bereits. Deine Pläne kann ich nicht ändern – so viel steht fest –, aber ebenso wenig kann ich es hinnehmen, dass du dir unter meinem Dach eine Mätresse hältst. Nicht unter den gegenwärtigen Umständen.“

Plötzlich hatte Tyrell das Gefühl, in der Falle zu sitzen, gefangen von seinem Vater, Harrington und seiner Zukunft.„Zusammen mit dem Jungen wird sie mich nächste Woche nach Dublin begleiten“, erklärte er. „Sorge dich nicht. Ich werde meine Gelüste nicht unter deinem Dach befriedigen, Vater. Und wenn es dir nichts ausmacht – es gibt noch vieles, um das ich mich kümmern muss.“ Er neigte den Kopf und wartete auf die Erlaubnis zu gehen.

Der Earl wirkte verärgert. „Du glaubst doch nicht, dass Harrington von all dem nichts mitbekommt?“

Jetzt verlor auch Tyrell die Beherrschung. „Niemals habe ich meine Pflichten infrage gestellt, und das werde ich auch niemals tun. Daher würde ich es begrüßen, wenn du meine Fähigkeiten, diese Pflichten zu erfüllen, ebenfalls nicht länger infrage stellst. Wie es vereinbart wurde, werde ich Lady Blanche ehelichen. Aber meine Privatangelegenheiten werden bleiben, was sie sind – privat nämlich. Ich wünsche dir einen guten Tag, Vater.“ Damit verließ er das Zimmer, ohne auf eine Erwiderung seines Vaters zu warten.

Es spielte keine Rolle mehr. Der Earl wusste nichts mehr zu sagen. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich. Missbilligung zeigte sich auf seinem Gesicht.

Die Fenster in Lizzies Suite gingen auf den rückwärtigen Rasen und die sanften Hügel des County Limerick hinaus. Dort stand sie und blickte hinaus, nachdem sie alle Spuren, die der Nachmittag hinterlassen hatte, sorgsam abgewaschen und sich ein anderes Kleid angezogen hatte. Der Abend brach an, schon konnte sie in der Ferne den Mond über den Hügeln aufsteigen sehen. Der Tag war so aufregend und ereignisreich gewesen, dass sie an den Abend überhaupt nicht mehr gedacht hatte. Doch plötzlich erinnerte sie sich, warum in der Küche ein so üppiges Mahl vorbereitet wurde. Heute Abend fand Tyrells Verlobungsball statt.

Natürlich hatte man sie dazu nicht eingeladen.

Tyrell würde sich verloben. Und er hatte gesagt, dass er am Abend zu ihr käme.

Lizzie biss sich auf die Lippe. So gern sie ihn wiedersehen wollte, so schrecklich erschien es ihr plötzlich, ein solches Rendezvous vereinbart zu haben. Aber das war die Aufgabe einer Mätresse. Sie traf sich mit Männern, die mit anderen Frauen verheiratet waren.

Es war alles so völlig verkehrt.

Ihre Vorfreude löste sich in nichts auf. Lizzie stand am Fenster und sah zu, wie die Nacht herniedersank, und fühlte sich plötzlich verletzt. Sie versuchte sich daran zu erinnern, dass viele Adlige sich Mätressen hielten, aber ihre Vernunft ließ sie im Stich. Was hatte das mit ihr zu tun? Nach dem heutigen Abend würde er einer anderen gehören. Wie sollte sie das ertragen?

Aber konnte sie jetzt wirklich von ihm fortgehen?

Lizzie hatte erfahren, dass die Harringtons morgen Früh abreisen wollten. Lady Blanche würde Adare gemeinsam mit ihrem Vater verlassen und höchstwahrscheinlich nach London zurückkehren. Aber die Verlobung war eine Tatsache, die durch ihre Abreise nicht verändert wurde. Lizzie träumte gern und viel, und jetzt wünschte sie sich, Tyrell würde seine Verlobung aufschieben, vielleicht für ein paar Monate oder ein Jahr. Wenn sie sein Leben nur für diesen kurzen Zeitraum teilen könnte, so würde sie – dessen war sie sicher – auf ewig dankbar und glücklich sein.

Aber Lizzie war kein Dummkopf. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Verlobung wirklich aufgeschoben würde, nicht einmal um einen einzigen Tag. Sie konnte das nicht tun – nicht jetzt, nicht so – und ganz gewiss nicht, wenn seine Verlobte unter demselben Dach lebte wie sie.

Auf einmal empfand sie nicht Freude, wie gerade eben noch, sondern nur noch einen tiefen Kummer. Lizzie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte nur hoffen, dass Tyrell zufrieden war mit seiner Verlobten und dass sie ihn glücklich machen würde.

In diesem Augenblick wollte Lizzie sich selbst davon überzeugen, wie hübsch seine Verlobte war, und dann entscheiden, ob sie gut und freundlich war wie die Frau, die er verdiente. Natürlich wusste sie, dass es falsch war, Blanche Harrington auszuspionieren, aber sie weigerte sich, darüber nachzudenken.

Lizzie hob ihre elfenbeinfarbenen Röcke hoch, eilte den Korridor entlang und die Treppe hinunter, während eine innere Stimme ihr sagte, dass ihr Vorhaben zu gefährlich war. Als sie sich dem Haupttrakt des Hauses näherte, hörte sie die Gäste: Stimmen und Gelächter, das Klirren von Kristall. Atemlos und mit wild klopfendem Herzen zögerte sie. Wie sollte sie sich herausreden, wenn jemand von der Familie sie hier entdeckte? Oder wenn sie gar auf Tyrell traf?

Und trotz all ihrer guten Vorsätze blieb ihr fast das Herz stehen bei der Vorstellung, ihm wieder zu begegnen. Lizzie schalt sich noch selbst, als sie durch die Tür in einen großen Raum schlüpfte.

Es war der Ballsaal. Ein Dutzend Damen war anwesend, alle in ihren besten Abendroben, glitzernd von Smaragden und Diamanten und vielen anderen Edelsteinen. Und ebenso viele Gentlemen in ihren schwarzen Fräcken, mit eleganten Hosen und gestärkten weißen Hemden. Lizzie errötete, als ihr bewusst wurde, dass sie nur ein sehr schlichtes Kleid trug, das für einen Nachmittagsspaziergang geeignet war. Schlimmer noch, es war das Kleid einer jungen, unverheirateten, unschuldigen Lady. Lizzie hatte das Gefühl, man würde sie sofort erkennen.

Reglos stand sie an der Tür.

Wie, in Gottes Namen, sollte sie nur Tyrells Verlobte finden?

Sie musterte die festlich gestimmte Menge und erkannte viele irische Lords und Ladys, die sie früher schon auf Adare gesehen hatte. Aber die übrigen Gäste erkannte sie nicht.

Plötzlich fühlte sie, dass sie beobachtet wurde. Von Unbehagen erfüllt, sah sie sich um und versuchte herauszufinden, wer sie bemerkt hatte. Dabei verbarg sie sich rasch hinter einer der korinthischen Säulen.

„Ich wusste nicht, dass Sie eingeladen waren, Miss Fitzgerald“, sagte jemand hinter ihr.

Sie kannte die Stimme. Es war Rex de Warenne, und sie zuckte zusammen, ehe sie sich zu ihm umdrehte. Tief errötend knickste sie vor ihm. „Wir wissen beide, dass ich das nicht bin“, sagte sie und blickte zu ihm auf.

Wie er da so stand, in Abendgarderobe und auf seine Krücke gestützt, sah er beunruhigend gut aus und erinnerte sie ganz schrecklich an Tyrell.

„Was also tun Sie hier?“, fragte er, ohne zu lächeln.

„Ich hatte gehofft, einen Blick auf Lady Blanche werfen zu können“, flüsterte sie scheu. „Sie soll sehr schön sein.“

„Das ist sie“, erwiderte er knapp. Mit seiner linken Hand deutete er auf die Menge. „Sie ist die blauäugige Blondine in dem hellen Kleid“, sagte er.

Lizzie wandte den Blick in die Richtung, in die er wies. Sofort erkannte sie die fragliche Dame und wusste augenblicklich, dass es nun keine Hoffnung mehr gab.

Blanche Harrington war so schön wie ihre Schwester Anna, aber auf eine ganz andere Art. Ihre Haltung war so königlich, dass sie wie eine Prinzessin wirkte. Sehr weit stand sie nicht entfernt, sodass Lizzie ihre perfekten Züge sah und ihre schlanke, elegante Figur. Warum begehrte Tyrell sie, wenn er doch mit Blanche verlobt werden sollte? Lizzie fühlte sich entmutigt. Mit ihrer Eleganz passte Lady Blanche perfekt zu Tyrell.

„Ist Ihre Neugier jetzt befriedigt?“, fragte Rex, diesmal nicht ganz so streng.

„Sie sieht aus wie eine Königin“, flüsterte Lizzie.

Er schwieg.

Angestrengt versuchte sie, ihre Fassung wiederzugewinnen. Blanche war umgeben von Bewunderern, sowohl männlichen als auch weiblichen, und sie lachte leise über etwas, das jemand gesagt hatte. Plötzlich fragte sich Lizzie, wo Tyrell wohl sein mochte und warum er nicht an der Seite seiner Verlobten war. „Natürlich werde ich jetzt gehen“, flüsterte Lizzie und konnte den Blick nicht abwenden von Blanche. „Aber warum ist Tyrell nicht bei ihr?“

„Ich kann mir durchaus vorstellen, warum mein Bruder sich nicht seiner zukünftigen Braut widmet“, sagte Rex.

Sein Tonfall klang seltsam, und Lizzie fuhr herum, um ihn anzusehen. „Aber doch nicht meinetwegen, Sir Rex!“, rief sie. „Niemals würde ich mir anmaßen, mit einer Lady zu wetteifern, die so schön ist!“

Er zog die Brauen hoch. „Aber genau das tun Sie doch, oder nicht? Sonst würden Sie in Raven Hall sein und Ned hier lassen, wohin er gehört!“

Er missbilligte die Situation, sie spürte es. „Sie mögen mich nicht.“

„Ich kenne Sie nicht. Ich weiß nur, dass mein Bruder in Sie vernarrt ist und dass das nicht der richtige Zeitpunkt ist dafür und dass es nicht zu seinem Besten ist. Lady Blanche wäre zu seinem Besten. Für ihn und für Adare.“

Lizzie richtete sich auf. „Er ist nicht vernarrt in mich“, sagte sie leise. „Und ich laufe ihm nicht nach. Er hat darauf bestanden, dieses Arrangement zu treffen, Sir. Und auf keinen Fall kann ich meinen Sohn im Stich lassen – und das werde ich auch nicht tun.“ Und während sie sprach, erkannte sie, dass sie Adare nicht verlassen konnte, selbst wenn sie nicht Tyrells Mätresse würde, denn sie konnte Ned nicht verlassen. Und genauso sicher wusste sie, dass Tyrell sehr unzufrieden mit ihr sein würde.

Rex senkte den Blick. Seine Wimpern waren so dicht und dunkel wie die seines Bruders. „Ich denke, das ist sehr bewundernswert. Aber jetzt sollten Sie in Ihre Gemächer zurückkehren, Miss Fitzgerald, denn so, wie ich Sie hier bemerkt habe, könnte Sie auch jemand anders sehen. Und ein Skandal würde niemandem nutzen, nicht einmal Ihnen.“

„Ich versuche nur, das zu tun, was meinem Sohn nützt“, erwiderte Lizzie.

„Wie praktisch das ist“, gab Rex zurück, verneigte sich und hinkte davon.

Rasch verbarg Lizzie sich hinter der Säule, erschüttert und den Tränen nahe. Tyrells Bruder hielt sie für eine selbstsüchtige Hure. Aber in einer Beziehung hatte er recht: Sollte Blanche jemals von ihrer Anwesenheit erfahren, dann würde das eine Katastrophe heraufbeschwören. Lizzie stellte sich vor, wie wütend der Earl und die Countess sein würden, und sie erschauerte – und dann stellte sie sich vor, wie wütend Tyrell sein würde, und ihr wurde übel.

Nein, sie musste fort.

Als sie hinter der Säule hervorspähte, stellte sie fest, dass sie von der Tür, durch die sie wieder hinausmusste, ein gutes Stück entfernt war. Dann schien ihr Herzschlag auszusetzen. Nicht weit von ihr standen Lady Blanche und zwei weitere junge Damen, die sich von den anderen Gästen getrennt hatten, um sich allein zu unterhalten.

Lizzie sah zu ihnen hinüber. Die beiden Frauen plauderten lebhaft und zupften sogar an Blanches Hand. Lizzies Herz schlug schneller.

Auf keinen Fall, sagte sie sich, darf ich lauschen. Doch ihre Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung, und dann stand sie auch schon hinter einer anderen Säule, derjenigen, die sich direkt in Blanches Rücken befand.

„Blanche, erzähl uns doch schnell, wie die Kutschfahrt verlief.“

„Es war ein angenehmer Ausflug, Bess“, erwiderte Blanche lächelnd.

„Ein angenehmer Ausflug?“, rief die rothaarige Bess aus. „Blanche, er sieht doch so schrecklich gut aus und ist so galant! Hat er dich geküsst? Du musst die Wahrheit nicht verheimlichen!“

Lizzie schloss die Augen und sagte sich, dass sie die Qualen verdiente, die sie gerade erlitt, weil sie tatsächlich spionierte. Allein der Gedanke, dass Tyrell eine andere Frau in die Arme schloss, genügte, um sie zum Weinen zu bringen.

„Das würde ich nie tun“, sagte Blanche. Es klang leicht belustigt. „Nein, er hat mich nicht geküsst, und zwar, weil er der perfekte Gentleman ist, genau wie Vater es gesagt hat.“

Die beiden anderen Damen tauschten einen Blick. „Jetzt musst du nicht so ruhig sein!“, rief die Brünette aus. „Bist du nicht aufgeregt, nun, da du ihn gesehen hast? Er gehört zu der Sorte Mann, die jede Frau begehrt, und er gehört dir!“

„Ich darf mich sehr glücklich schätzen“, stimmte Blanche zu. „Und ich muss Vater sehr dankbar sein, denn er hat sich wirklich bemüht, mir einen so wundervollen Gemahl zu suchen. Aber genug jetzt. Es ist sehr unhöflich, wenn wir uns so von dieser Soirée entfernen.“ Und damit gingen die Ladys Arm in Arm zurück zu den Gästen.

Lizzie sagte sich, sie sollte zufrieden sein. Blanche war elegant, wunderschön und, wie es schien, auch freundlich. Lizzie zweifelte nicht, dass sie eine gute Ehefrau und Mutter sein würde und eine gute Countess. Es war eine passende Verbindung.

Sie wollte sie hassen, aber es gelang ihr nicht. Denn sie fand keinen Grund dafür.

Ihre Überlegungen wurden unterbrochen von dem Gefühl, beobachtet zu werden.

Rasch blickte Lizzie über die Menge hinweg. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals stand vor einer anderen Tür … Tyrell. Und er hatte sie gesehen, denn er blickte direkt zu ihr hin.

Lizzie dachte daran, fortzulaufen und sich zu verstecken. Aber es war zu spät. Er kam schon auf sie zu.

Und er sah nicht sehr erfreut aus.