20. Kapitel
Im Schlafzimmer war es dämmrig, als Cammie die Augen öffnete. Lange lag sie ganz still und erlaubte es ihren Gedanken, ihren Körper einzuholen. Sie erinnerte sich daran, immer wieder aufgewacht zu sein, man hatte ihr Medizin gegeben, Tabletten, die sie mit Wasser hatte schlucken müssen. Ihre Tante Sara war dagewesen. Eigenartig.
Abrupt kam die Erinnerung zurück. Sie wandte den Kopf und erwartete, Reid neben sich sitzen zu sehen. Doch niemand war im Zimmer. Er war hiergewesen, das wusste sie, es schien, als fühle sie noch immer den Druck seiner Hand auf ihrer.
Doch das konnte nicht sein. Sie hatte die ganze Nacht geschlafen und auch den größten Teil des Tages. Als sie Reid zum letzten Mal gesehen hatte, war es draußen dunkel gewesen.
Langsam hob sie die Hand und legte sie auf den Verband auf ihrer Brust. Die Berührung schmerzte, doch war es kein Grund, einen solchen Aufruhr um sie zu machen. Ihr Rücken schmerzte vom Liegen.
Sie rollte auf die Seite und setzte sich auf. Die Wunde schmerzte ein wenig, doch nichts Dramatisches geschah. Sie stand auf und ging vorsichtig zum Fenster hinüber. Sie war zwar nicht sehr sicher auf den Beinen, aber das schien eher die Wirkung des Schmerzmittels zu sein. Sie war nicht an starke Tabletten gewöhnt, das höchste, was sie nahm, war Aspirin.
Hinter den weißen Gardinen war der Abend schwül und ruhig. Eine graublaue Wolkenbank schob sich über die Bäume hinweg, das schwindende Licht hatte einen grünlichen Schein, als würde sich das satte Grün des Grases und der Blätter in der feuchten Luft wie durch ein Prisma spiegeln. Es würde bald regnen, vielleicht würde es sogar ein Gewitter geben.
Als sie auf die Bäume des Wildreservates starrte, überkam sie eine eigenartige innere Unruhe. Wo war Reid? Warum hatte sie ihn heute noch nicht gesehen? Er war so verstört gewesen, so verzweifelt und in sich zurückgezogen.
Sie war schuld an dieser ganzen Sache. Er hatte ihr die Regeln erklärt, und sie hatte sie nicht befolgt. Sie war so überrascht gewesen, ihn zu sehen, so fasziniert von dem, was er in ihrer Küche tat. Und sie hatte es irgendwie als selbstverständlich hingenommen, dass ihm nicht das kleinste Geräusch und keine Bewegung in seiner Umgebung entging. In ihrer Einbildung hatte sie sich vorgestellt, dass er immer wissen würde, wann sie in seiner Nähe war. Wie töricht von ihr.
Sie hatte versucht, ihm das zu sagen, oder vielleicht hatte sie es ja auch nur geträumt. Sie wusste es nicht wirklich, ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gehüllt.
»Um Himmels willen, Cammie! Warum bist du aufgestanden?«
Cammie wandte sich um, als ihre Tante ins Zimmer kam und den Duft von Zwiebeln und gebratenem Hähnchen mit sich brachte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Es geht mir gut, ich war es leid, immer im Bett zu liegen.«
»Du bist verletzt. Du hast einen großen Schnitt in deinem Körper.«
»Ich glaube, so schlimm war es gar nicht«, wehrte Cammie ab.
»Es war schlimm genug! Und das hast du Reid Sayers zu verdanken«, gab ihre Tante empört zurück. »Wenn ich daran denke, dass er so auf dich losgegangen ist, dann stockt mir das Herz. Dein Onkel hat versucht, dich zu warnen. Hoffentlich wirst du wenigstens jetzt auf ihn hören.«
»Es war ein Unfall, das ist alles.«
»Er hätte dich umbringen können! Du weißt nicht einmal, ob er das nicht absichtlich getan hat, nicht, nachdem Keith so kaltblütig erschossen worden ist.«
»Reid würde mir niemals absichtlich weh tun«, protestierte Cammie und versuchte, ihrer Stimme einen überzeugenden Klang zu geben.
»Wie du ihn auch noch verteidigen kannst, ist mehr, als ich je begreifen werde. Ich war wirklich froh gestern Abend, als er endlich verschwunden war. Ich bekam eine Gänsehaut, wenn ich im selben Zimmer sein musste wie er.«
»Mach dich doch nicht lächerlich«, fuhr Cammie sie scharf an.
»Du wirst es nicht mehr lächerlich finden, wenn er noch einmal hinter dir her ist. Solche Sachen passieren, Cammie, man sieht es immer wieder im Fernsehen und liest es in den Zeitungen. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die würden dich kaltblütig umbringen, so einfach, wie sie dich ansehen!«
»Reid gehört nicht zu diesen Menschen.« Sie kehrte ihrer Tante den Rücken zu und ging zum Schrank, aus dem sie das erste Kleidungsstück hervorholte, das ihre Finger griffen, eine Jeans.
Ihre Tante folgte ihr. »Was tust du da? Geh sofort wieder in dein Bett!«
Cammie holte ein blaues Hemd aus dem Schrank und wandte sich dann zu ihrer Tante um. Mit entschlossenem und gleichzeitig traurigem Blick sagte sie: »Du bist die Schwester meiner Mutter und meine einzige Blutsverwandte, Tante Sara, und ich liebe dich. Aber ich bin schon längst aus dem Alter heraus, in dem ich mir sagen lasse, was ich tun soll. Es geht mir gut. Warum gehst du nicht nach Hause?«
Das Gesicht ihrer Tante fiel in sich zusammen, sie ging zum Bett, setzte sich und starrte dann auf ihre Hände.
Cammie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, warf sie die Sachen auf das Bett und setzte sich dann neben ihre Tante. Sie legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich wollte dir nicht weh tun«, versicherte sie ihr. »Du kannst bleiben, wenn du es möchtest.«
Sara Taggart riß sich zusammen, sie hob den Kopf und versuchte zu lächeln, obwohl ihre Augen ganz rot waren. »Das ist es nicht. Es ist ... ach, es ist nicht so wichtig. Ich bin ganz einfach nur dumm.«
Cammie zögerte, unsicher, weil sie nicht wusste, ob ihre Tante die Wahrheit sagte. Doch es war nie ihre Art gewesen, neugierig zu sein, und sie war auch nicht sicher, ob sie sich jetzt noch mit einem anderen Problem würde beschäftigen können, wie klein es auch immer sein mochte.
»Ich bin wirklich eine Hexe, so auf dich loszugehen, wo du mich so gut versorgt hast. Sag bloß, dieser wundervolle Duft, der von unten aus der Küche kommt, ist dein berühmtes Hähnchen! Ich bin halb verhungert!«
Sie hatte ihre Tante ablenken wollen, doch als sie sich angekleidet hatte und dann nach unten ging, verspürte sie wirklich Hunger. Das Hähnchen mit der Garnelensauce, Spargel und Krautsalat, die ihre Tante auf den Tisch gestellt hatte, rochen köstlich. Sie nahm ihre Gabel, um die Speisen in Angriff zu nehmen.
Dann erst fiel ihr Blick auf ein Küchenutensil, das ganz an den Rand der Anrichte geschoben worden war, mit einer Anzahl Tüten und Dosen drumherum. Sie starrte sekundenlang darauf, ehe ihr klar wurde, was sie sah.
Eine Friteuse.
Ihr Appetit schwand ganz plötzlich, als ihr in der Erinnerung wieder der Geruch von Erdnussöl, gebratenem Fisch und frisch geschälten Kartoffeln in die Nase stieg. Ihre Bauchmuskeln zogen sich zusammen, und die Wunde begann zu schmerzen.
Die Unterhaltung zwischen ihr und ihrer Tante erstarb vollständig. Sie aßen beide schweigend. Cammie bestand darauf, beim Abräumen des Tisches zu helfen, sie stellte die Überreste des Essens in den Kühlschrank und räumte das Geschirr in die
Spülmaschine. Später, als ihre Tante dann zögernd davon zu sprechen begann, dass sie vielleicht doch nach Hause gehen würde, protestierte sie nur halbherzig. Wahrscheinlich fühlte Tante Sara es, denn sie begann, ihre Sachen zusammenzusuchen.
Der Wind zerzauste ihr Haar und wehte ihr den Hemdkragen gegen die Wange, als Cammie mit ihrer Tante auf die Veranda trat. Sie sah, wie sich die Äste der Bäume rastlos hin und her bewegten; die Wolkenfront, die sie schon zuvor bemerkt hatte, stand jetzt beinahe senkrecht über ihnen. Ein Gewitter braute sich zusammen, es wurde immer dunkler. Die Lampe am Ende der Einfahrt hatte sich schon eingeschaltet.
Es war dieses Licht, das sich auf der glatten Oberfläche von Reids Jeep widerspiegelte und so ihre Aufmerksamkeit erregte. Der Wagen stand noch immer in der Einfahrt, vor dem zerbeulten Oldsmobile ihrer Tante.
Cammie warf ihrer Tante einen fragenden Blick zu. »Ich dachte, du hättest gesagt, Reid sei gegangen?«
»Er ist zu Fuß nach Hause gegangen.« Ihre Tante presste die Lippen zusammen, doch dann schien sie nachgiebiger zu werden. »So etwas habe ich noch nicht gesehen. Er ist im Wald verschwunden wie ein verwundetes Tier. Ich habe Lizbeth daran erinnert, als sie anrief, um sich nach dir zu erkundigen, dass der Jeep noch immer hier steht. Aber niemand hat ihn abgeholt.«
»Lizbeth hat angerufen?«
»Viermal. Aber ich habe Reid im Hintergrund gehört, er hat ihr gesagt, was sie fragen soll.«
Die Angst, die Cammie die ganze Zeit verspürt hatte, ließ ein wenig nach. »Dann ist er also zu Hause angekommen.«
»So scheint es. Der Schlüssel steckt im Jeep, ich habe nachgesehen. Ich kann Jack fragen, ob er rauskommt und den Wagen zu Reids Haus fährt, damit er dich hier nicht länger stört.«
Cammie schüttelte den Kopf, das Haar wehte dabei über ihren Rücken. »Lass nur, Reid wird ihn schon holen, wenn er ihn haben will, nehme ich an.«
Tante Sara warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, als wisse sie ganz genau, was Cammie vorhatte. Doch sie sagte nichts. Sie nahm Cammie noch einmal in den Arm, ermahnte sie, vorsichtig zu sein, und dann war sie weg. Cammie sah ihr nach, wie sie mit dem Wagen davonfuhr.
Cammie ging ins Haus zurück. Sie trat in die Küche und sah lange auf die Friteuse auf der Anrichte. Schließlich hob sie den Glasdeckel hoch. Kaltes Öl, mit Maismehl gemischt, schwamm darin herum, auf dem Boden lagen einige Stücke schwammigen, halbgaren Fisches.
In einer der Papiertüten waren Kartoffeln, halb geschält, Kohl und Möhren für Krautsalat, Zwiebeln, Pickles und eine Plastikdose mit einem Deckel, in der sich Teig für Maismehlkrapfen befand. Es waren alles Zutaten für ein richtiges Fest nach Südstaatenart.
Reid hatte sich so viel Mühe gemacht, und jetzt war alles ruiniert. Cammie tat das Herz weh bei diesem Anblick.
Woran hatte er gedacht, als er den Fisch briet, als er das Essen vorbereitete? Wie gern hätte sie das gewusst.
Keith wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, so etwas für sie zu tun. Nicht ein einziges Mal hatte er seine eigene Bequemlichkeit und seine Bedürfnisse ihr zuliebe zurückgestellt. Dergleichen hatte er immer nur von ihr erwartet.
Aber Keith hatte einen schweren taktischen Fehler gemacht. Er hatte ihr gezeigt, wenn auch unbeabsichtigt, dass sie durchaus allein leben konnte, ohne sich zu ängstigen, ohne einen Mann - ganz besonders ohne ihn - ganz ohne Schwierigkeiten. Danach war alles andere ganz einfach gewesen. Als er zurückgekommen war und noch einmal von vorn hatte anfangen wollen, hatte sie entdeckt, dass all ihr Vertrauen zu ihm geschwunden war, dass sie seinen Beteuerungen nicht länger glauben konnte und wollte. Und sie hatte ganz ohne Zweifel gewusst, dass sie ihn nicht liebte, dass sie ihn nie geliebt hatte.
Was zwischen ihr und Reid geschehen war, war um so vieles komplexer. Sie hatten so viel zusätzliche Belastung in ihre Beziehung mit eingebracht: das alte Familienproblem, die kurze Teenager-Schwärmerei zwischen ihnen, die Schwierigkeiten mit ihrer Scheidung, Reids Vergangenheit, das Problem mit den Eigentumsverhältnissen der Fabrik und der Entschluss zu verkaufen, und später Reiths Tod. Das Gewicht, das all diese Dinge hatten, musste zwangsläufig zur Katastrophe führen. Es war erstaunlich, dass es ihnen gelungen war, aus diesem Durcheinander noch einige wenige wundervolle Augenblicke zu retten.
Und dennoch, war es wirklich so kompliziert? War es nicht möglich, das ganze Durcheinander mit einer einfachen Formel zu lösen?
Drei Fragen, drei Prüfsteine für zukünftiges Glück. Einige Kriterien, nach denen sie eine Beziehung beurteilen konnte.
Jetzt brauchte sie sich nur noch zu fragen, was sie fühlte, und nicht, was sie nicht fühlte.
Vertraute sie Reid? Liebte sie ihn? Konnte sie ohne ihn leben?
Sie brauchte nur die Antworten auf diese drei Fragen zu finden.
Cammie wanderte unruhig durch das Haus, ihre Gedanken und Gefühle waren genauso in Aufruhr wie das Wetter draußen. Sie starrte aus dem Fenster und dachte an Keith und an Reid und an die Unterschiede zwischen den beiden Männern. Dann ging sie zum hinteren Teil des Hauses, blickte aus dem Fenster zum Wald und dachte an Reid auf der anderen Seite des Waldes im Fort und fragte sich, was er wohl gerade tat, ob er auch an sie dachte.
Sie streckte sich auf der Couch im Wohnzimmer aus, presste die Hand auf ihre Wunde und erinnerte sich an Reids Gesicht, als er neben ihr auf dem Boden gekniet hatte. Sie wusste jetzt, dass sie ihn zurückgestoßen hatte in dem unaufhörlichen Schmerz seiner Vergangenheit, und sie Hasste diesen Gedanken, bedauerte ihn mit all ihrer Leidenschaft.
Sie stand wieder auf, ging in den Wintergarten, stand lange dort und blickte auf ihr eigenes Porträt mit dem vorsichtigen Lächeln und den Augen voll wilder Sehnsucht. Sie kletterte die Treppe hinauf und betrat das Gästezimmer, wo sie und Reid zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. In der Dunkelheit strich sie über die Bettdecke und war überrascht von den Bildern, die sich wild und erotisch in ihre Erinnerung drängten.
Schließlich ging sie hinaus in die stürmische Dunkelheit und öffnete die Tür von Reids Jeep. Sie kletterte hinein und atmete tief den Duft nach Öl und Leder und Reid ein. Sie schlug die Tür hinter sich zu und schloss die Hände um das Lenkrad, das er in seinen Händen gehalten hatte. In ihren Gedanken erlebte sie noch einmal all die Augenblicke, in denen sie sich an ihn geschmiegt, in denen er sie in seinen Armen gehalten hatte. Und sie starrte durch die Windschutzscheibe ins Nichts und sah doch alles.
Sie traf keine bewusste Entscheidung. Sie griff ganz einfach nach dem Zündschlüssel und drehte ihn herum. Der Motor erwachte zum Leben, sie lenkte den Jeep in Richtung des Forts.
Über ihr zuckten blaue Blitze über den Himmel, sie waren ein schwacher Schein außerhalb des hellen Scheinwerferlichtes. Der Wagen holperte dahin, er schwankte leicht im Sturm. Bei jeder Bewegung schmerzte ihre Wunde, jedes Holpern des Wagens tat ihr weh, doch war dieser Schmerz nichts, verglichen mit dem in ihrem Herzen.
Sie hatte ihre Antworten, jetzt blieb ihr nichts anderes, als Reid dazu zu zwingen, ihr zuzuhören.
Eine einzelne Lampe brannte in dem alten Holzhaus. Sie schien durch das schmale Fenster von Reids Büro. Für Cammie bedeutete es, dass er zu Hause war, sehr wahrscheinlich allein.
Der Wind riss ihr beinahe die Tür des Jeeps aus der Hand, als sie sie öffnete. Welke Blätter wirbelten durch die Luft, trockene Zweige und Rindenstückchen. Wie Spinnweben zuckten die Blitze über den Himmel, es krachte. Sie senkte den Kopf und lief zur Haustür.
Sie hörte die Türglocke irgendwo im Inneren des Hauses, als sie auf den Knopf drückte. Dennoch schien es eine Ewigkeit zu dauern, ehe sich die Tür plötzlich öffnete.
Reid stand vor ihr, das Licht hinter ihm lag wie ein Glorienschein über seinem wild zerzausten goldenen Haar, sein Gesicht war im Schatten. Als er sprach, klang Ärger in seiner Stimme mit. »Was in Teufels Namen tust du hier? Du solltest zu Hause sein, im Bett.«
»Ich muss mit dir reden. Es ist sehr wichtig.«
Lange sah er sie schweigend an. Dann riss er seine Blicke von ihrem Gesicht los, starrte auf ihr Haar, das der Wind ihr ins Gesicht wehte. Und dann, als könne er nicht anders, ging sein Blick zu ihrer Hand, die sie auf ihren Verband gepreßt hatte. Er erstarrte. Mit einer Stimme, die so hart war wie Stahl, sagte er: »Geh nach Hause, Cammie. Vergiß es. Vergiß alles.«
Er wollte die Tür schließen. Cammie sah, wie sie sich bewegte, sie hob eine Hand, um sie aufzuhalten. »Wie kann ich das vergessen?« wollte sie wissen. »Sag es mir, dann werde ich gehen.«
Er holte tief Luft, sie wusste nicht, ob er ihr antworten wollte oder ob er sie nur loswerden wollte. Genau in diesem Augenblick erlosch das Licht hinter ihm.
Es war ein Stromausfall, vielleicht war ein umstürzender Baum auf die Stromleitung gefallen; in solch einem Gewitter konnte so etwas schon einmal passieren. Der Stromausfall würde nur zwei Minuten dauern oder auch zwei Tage, das hing ganz vom Ausmaß des Schadens ab und davon, ob auch dichter besiedelte Gebiete davon betroffen waren. Auf eine Weise war Cammie froh über die Dunkelheit, sie würde sich bei dem, was sie ihm zu sagen versuchte, nicht so bloßgestellt fühlen.
Sie zog ihre ausgestreckte Hand von der Tür zurück und legte sie gegen Reids harten, warmen Oberkörper. Sie fühlte, wie er vor ihrer Berührung zurückwich. »Bitte«, begann sie.
»Es gibt so viel, was ich dir sagen muss. Ich weiß, dies ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt und auch nicht der richtige Ort, aber wenn ich es jetzt nicht sage, finde ich vielleicht nie wieder den Mut dazu.«
»Nein.« Seine rauhe Stimme unterbrach ihre Bitte. Er schloss eine Hand um ihr Handgelenk und zog ihre Hand von seinem Körper weg, als könne er die Berührung nicht ertragen.
Sie schwankte auf ihn zu, weil sie ein wenig die Balance verlor. Und dann, in dem plötzlichen Licht des nächsten Blitzes, sah sie den Koffer und die Reisetaschen, die neben der Tür standen.
»O Reid, das kannst du nicht tun!« rief sie verzweifelt. »Du darfst nicht wieder weggehen. Ich habe nicht die Absicht, dich zu irgend etwas zu drängen, und ich werde auch nichts sagen, was du nicht hören willst. Aber ich kann es nicht ertragen, wenn du weggehst.« Sie streckte die Hand aus, griff nach seinem Hemd und trat einen Schritt näher an ihn heran. »Was gestern abend passiert ist, war ein Unglück, nicht mehr. Ich werde nicht zulassen, dass du ...«
Der Schluss detonierte mit einem dumpfen, lauten Knall. Über Cammies Kopf ertönte ein zischendes Pfeifen, und der Türrahmen zersplitterte.
Sie wurde heftig nach vorn gerissen, in einer groben Umarmung aufgefangen. Unmittelbar darauf war sie wieder frei. Sie stolperte über eine der Reisetaschen und stieß mit einer Wucht gegen die Wand, die ihr den Atem nahm. Im gleichen Augenblick wurde die Tür des Forts zugeschlagen.
»Runter«, keuchte Reid.
Das Geräusch eines Riegels, der hastig vor die Tür geschoben wurde, mischte sich mit einer erneuten Gewehrsalve. Die Kugeln blieben in der dicken, schweren Tür stecken. Reid duckte sich und bewegte sich schnell von der Tür weg, ein beweglicher Schatten zwischen den vielen anderen Schatten im Raum.
Cammie sank zu Boden, froh, dass ihre zitternden Knie sie nicht länger halten mussten. Sie flüsterte angestrengt: »Warum? Um Himmels willen, warum?«
»Er will uns umbringen.«
Sie bemerkte das Zögern in seiner Stimme, weil er dazu gezwungen wurde, das auszusprechen, was doch offensichtlich war. »Ja, aber aus welchem Grund? Und wer kann das sein?«
Reid bewegte sich schnell von einem Raum zum anderen, es schien, als schlösse er die Läden vor den Fenstern. »Bis jetzt ist er nur ein Heckenschütze, aber einer, der einen schlimmen Fehler begangen hat.«
Reids Stimme schien körperlos, als er in der Dunkelheit kam und ging. Gleichzeitig aber war sie so gefährlich ruhig, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie leckte sich über die Lippen. »Was willst du damit sagen?«
»Er schleicht auf meinem Territorium herum, und er hat deutlich gezeigt, mit welcher Absicht er gekommen ist. Und dazu hat er sich auch noch das falsche Ziel ausgesucht: dich statt mich.«
»Mich?«
»Du hast dich bewegt, sonst hätte er dich erwischt.« Reids Stimme erstarb plötzlich, als hätte er keine Luft mehr. Als er wieder sprach, war er viel näher, beinahe neben ihr.
»Das wird nicht noch einmal passieren, nie wieder«, versprach er grimmig und mit unerbittlicher Stimme. »Wer immer er auch ist, er weiß es vielleicht noch nicht, aber jetzt gehört er mir.«