Hewlett-Packard

2. Kapitel

Die Temperatur in der Küche war um einige Grade höher als zuvor, und der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee lag in der Luft. Zwei Teller standen auf dem Tisch, dazu Gabeln und Servietten. Auf jedem der Teller lag ein großes Stück Kuchen, und mitten auf dem Tisch, neben der Zuckerdose und dem Kännchen mit Milch, stand eine Flasche Courvoisier.

Reid saß am Tisch und starrte auf seine verschränkten Hände. Sein Haar sah dunkler aus, als Cammie es in Erinnerung hatte, doch es war noch naß. Da ihr eigenes langes Haar schon fast trocken war, hatte er sicher gewartet, bis sie fertig war mit ihrem Bad, ehe er geduscht hatte. Er trug jetzt ein weiches, verwaschenes Chambray-Hemd und Jeans, die noch heller waren. Im Vergleich dazu hatten seine Augen die Farbe von leuchtendem Türkis, doch blickten sie hart wie Stein.

Reid stand auf, als Cammie ins Zimmer kam; er rückte ihr einen Stuhl zurecht, dann ging er zur Anrichte und füllte zwei Keramiktassen mit Kaffee. Eine davon stellte er vor Cammie, dann griff er nach der Flasche mit dem Brandy.

»Nein, danke, nicht für mich«, wehrte Cammie schnell ab.

»Fang doch nicht schon wieder damit an.«

Er sprach, ohne sie dabei anzusehen, und er hielt auch in seinem Vorhaben nicht inne. Der Ton seiner Stimme erstickte jeden Protest, und Cammie sah ihm schweigend zu, während er eine ansehnliche Menge des Alkohols in ihre Tasse goß. Sie griff nach der Kaffeesahne und rührte sie unter die Mischung, während sie darauf wartete, dass er sich wieder setzte.

Schwierige Dinge sollte man gleich in Angriff nehmen, ohne lange zu zögern. Cammie biß sekundenlang auf ihre Unterlippe, dann sprach sie: »Es tut mir leid, wenn ich dich mit meiner Bemerkung von vorhin verletzt habe. Anscheinend ist es mir zur Gewohnheit geworden, jemandem mit Worten an die Kehle zu gehen.«

»Das war es schon immer.« Er verzog ein wenig den Mund, als er sich wieder setzte. »Du warst auch schon mit sechzehn so gefährlich mit deinen Worten.«

»Du meinst ... eigentlich erinnere ich mich gar nicht mehr so gut an diesen Tag.« Eine heiße Röte stieg ihr in die Wangen.

Als er sie ansah, blitzte etwas in seinen Augen auf. »Wirklich nicht? Ich könnte dir noch den genauen Wortlaut von dem wiederholen, was du mir damals gesagt hast, aber ich habe das meiste davon erfolgreich verdrängt. Endlich. Du hast meine Vorfahren beleidigt, hast behauptet, ich sei ein eingebildeter Dummkopf, mein Kuss sei viel zu feucht und ich hätte Mundgeruch.«

»Das kann nicht wahr sein«, behauptete sie erschrocken.

»Doch, es stimmt«, antwortete er. »Du hast auch gesagt, wenn ich dich noch einmal anrühren würde, würdest du alles zusammenschreien - oder dich übergeben.«

Cammie blickte in ihre Tasse, ihre Hände zitterten ein wenig, als sie die Tasse an ihre Lippen hob. »Der Grund dafür war, dass du mich überrascht hattest.«

»Du hast mich auch überrascht, und ich habe mir geschworen, dass mir so etwas nie wieder passieren würde. Deshalb war ich vorhin vielleicht auch ein wenig grob.«

»Verstehe. Dann war es also eher so eine Art Selbstschutz.«

»Ich bin schon einmal zur Armee gegangen, um von hier wegzukommen, oder vielmehr, um den Dingen zu entfliehen, die du an diesem Tag gesagt hattest, und der Art, wie du mich angesehen hast. Es hat sich als reichlich drastische Maßnahme erwiesen, ich möchte das nicht noch einmal tun müssen.«

»Du machst doch Spaß«, wehrte Cammie ab, doch dann wurden ihre Augen ganz groß. »Oder etwa nicht?«

»Glaubst du?« forderte er sie heraus, und sein Blick hielt ihren gefangen.

Cammie wusste es nicht, und es beunruhigte sie noch mehr, wenn sie daran dachte, wie sie möglicherweise sein Leben beeinflußt hatte. Sie holte tief Luft. »Wenn du glaubst, dass ich mich noch einmal dafür entschuldige, ganz besonders nach all den Jahren noch, dann muss ich dich leider enttäuschen. Du ... du bist damals viel zu schnell auf mich losgegangen.«

»Und ich habe bekommen, was ich verdient hatte. Lass die Sache ruhen. Ich hatte noch viele andere Gründe, um aus Greenley zu verschwinden, aber all das ist jetzt nicht mehr so wichtig.« Er griff nach seiner Tasse, die langen, goldbraunen Augenwimpern verbargen seine Blicke vor ihr.

Für sie waren seine Gründe wichtig, sogar sehr, wie ihr plötzlich bewußt wurde. Doch sie konnte ihn nicht noch weiter bedrängen, nicht nach dem, was er gesagt hatte. Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Kaffee und verzog das Gesicht, als der Brandy in ihrem Hals brannte. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Sie trank einen weiteren Schluck, bevor sie erneut sprach.

»Diese anderen Gründe, hatten sie vielleicht etwas mit der Papierfabrik zu tun?«

Reids Blick war nachdenklich. »Ich glaube, es war damals kein Geheimnis, dass ich auf keinen Fall dort arbeiten wollte.«

»Und jetzt? Nachdem dein Vater gestorben ist? Wirst du seinen Platz in der Fabrik übernehmen?«

»Das erwartet man anscheinend von mir.«

»Aber nicht alle«, antwortete sie. »Keith hat immer gehofft, dass du nicht zurückkommen würdest. Immerhin ist er zum stellvertretenden Geschäftsführer befördert worden, als sein Bruder die Leitung der Fabrik übernahm.«

Reid nickte. »Gordon hat noch nicht davon gesprochen, ob die beiden ihren Posten behalten wollen.«

»Das wird er wohl auch nicht tun. Reiths Bruder ist ein guter Diplomat.«

»Er ist aalglatt«, stimmte Reid ihr zu.

»Natürlich ist er ein guter Geschäftsmann«, gab sie brummend zu. »Ich nehme an, er wird abwarten, wie du dich entscheidest.«

Cammie hatte sich nie sehr viel aus Gordon Hutton gemacht. Er schien zu glauben, seine unterwürfige Frau sei ein Musterbeispiel ihrer Art. Immer wieder hatte er Keith geraten, wie er mit Cammie umgehen müßte, damit auch sie in das Bild der perfekten Ehefrau paßte. Manchmal, wenn Cammie besonders unverblümt war, schien es, als könnte Gordon sich nur mit Mühe davon abhalten, ihr zu demonstrieren, wie man mit einer ungehorsamen Frau umging.

»Keith war ein netter Junge«, meinte Reid jetzt. »Damals, als wir noch zusammen Football spielten. Lizbeth hatte mir von eurer Heirat geschrieben. Und von ihr habe ich auch erfahren, dass ihr euch getrennt habt.«

Seine Meinung von Keith war sehr großzügig; Cammie erinnerte sich nur zu gut an diese Footballspiele. Reid war der Quarterback gewesen, er wurde von Keith gedeckt. Keith war sehr schnell und geschmeidig, doch war er auch ein riesengroßer Aufschneider, immer darum bemüht, den anderen die Schau zu stehlen.

»Lizbeth?« fragte Cammie vorsichtig.

Reid deutete auf den Kuchen, den sie beide noch nicht angerührt hatten. »Sie ist seit dreißig Jahren Köchin und Haushälterin für die Sayers. Nachdem meine Mutter gestorben war, hat sie an mir die Mutterstelle vertreten. Sie hat mich über alles in Greenley auf dem laufenden gehalten, während ich weg war.«

Cammie wusste, wen er meinte, sie hatte die Frau schon oft in Greenley gesehen. Lizbeth war eine stattliche Schwarze mit langem Haar, das sie geflochten zu einem Kranz um den Kopf trug. Ihre Haut hatte die Farbe goldenen Tabaks, unter ihresgleichen galt sie als hellhäutig. Cammie wartete darauf, dass Reid weitersprach, doch als sie aufblickte, merkte sie, dass er sie beobachtete.

Schnell blickte er weg, rieb verlegen mit dem Finger über den Henkel seiner Kaffeetasse. »Und, was ist geschehen?« fragte er.

»Mit meiner Ehe?« Ein spöttisches Lächeln spielte um Cammies sinnlichen Mund. »Sie war von Anfang an ein Fehler. Während meines letzten Collegejahres fingen Keith und ich an, miteinander auszugehen, und alle schienen zu glauben, dass wir das perfekte Paar seien. Eines Tages schenkte er mir einen Ring, und mir fiel kein plausibler Grund ein, sein Geschenk zurückzuweisen. Und dann erinnere ich mich nur noch, dass ich mir den Reis aus dem Haar bürstete und die Pille nahm.«

Cammie warf Reid einen verstohlenen Blick zu, doch sein Gesicht war nach wie vor ausdruckslos. Natürlich hatte sie ihm längst nicht alles erzählt. Manchmal hatte sie das Gefühl, als hätte sie seit Jahren in der Versenkung gelebt und nur darauf gewartet, dass ihr Leben endlich begann. Die Heirat mit Keith war ein schwacher Versuch gewesen, sich aus dieser Umklammerung zu befreien. Es hatte nicht geklappt, und das war nicht allein Keiths Fehler.

Cammie erzählte weiter. »Nach meiner Eheschließung fand ich irgendwann heraus, dass man von mir erwartete, in den Hintergrund zu treten und mich weder sehen noch hören zu lassen.«

»Und das hast du nicht getan.« Es war eher eine Feststellung, weniger eine Frage.

»Unsere Streitereien über dieses Thema sind schon zur Legende geworden. Aber Keith hat ein dickeres Fell als du.« Sie hatte eigentlich nicht mehr von damals sprechen wollen, doch wahrscheinlich hatte der Brandy ihre Zunge gelöst. Schnell sprach sie weiter, noch ehe Reid etwas sagen konnte. »Aber wie steht es mit dir? Warum hast du eigentlich nie geheiratet?«

Reid bewegte die Schultern, als wolle er die Muskeln in seinem verspannten Nacken lockern. »Ich habe geheiratet. In Colorado, kurz nachdem ich die Armee verlassen hatte. Meine Ehe hat genau einen Monat gedauert.«

»Einen ganzen Monat?«

Er lächelte ein wenig spöttisch. »Ich habe versucht, sie zu warnen, dass das Ranger-Training, das ich in Zentralamerika und der Karibik hatte anwenden müssen, dazu gedacht war, aus Männern Tiere zu machen, die nur nach ihrem Instinkt handeln. Sie glaubte, sie könnte all das ändern. Wir waren gerade zwei Wochen lang verheiratet, als sie im Bad plötzlich hinter mich trat. Ich rasierte mich gerade mit einem elektrischen Rasierapparat, deshalb hatte ich sie nicht gehört. Sie legte mir von hinten einen Arm um den Hals, und ich handelte instinktiv. Zwei Wochen lang hat sie im Krankenhaus gelegen, sie hatte Glück, dass sie überhaupt überlebt hat. An dem Tag, als sie das Krankenhaus verließ, hat sie die Scheidung eingereicht.«

»Wie schrecklich«, flüsterte Cammie. »Ich meine, wie schrecklich für dich.«

»Für sie war es auch nicht gerade großartig.«

»Und du hast es nie wieder versucht?«

Er sah sie eindringlich an. »Ich bin nicht handzahm, ich bin wohl kaum der richtige Ehemann, ganz gleich für welche Frau auch immer.«

Sekundenlang sah Cammie ihn so, wie er wohl auf andere Frauen wirken musste. Er besaß eine kräftige Figur, eine breite Stirn und einen festen Mund; der kleine Höcker auf seiner geraden Nase zeugte von einer früheren Fraktur. Ein goldener Schatten auf seinen schmalen Wangen bewies, dass er sich heute noch nicht rasiert hatte, unter einer Augenbraue verbarg sich eine Narbe. Seine Hände waren groß und sonnengebräunt, seine Fingernägel kurz und gepflegt. Selbstsicherheit schien ein Teil von ihm zu sein, selbstverständlich und angeboren. Und dann waren da noch seine Augen. Klar und unerschütterlich blickten sie, ein wenig spöttisch, doch Cammie glaubte auch einen Anflug von Schmerz darin zu entdecken. Auf keinen Fall waren es jedoch die Augen eines Tieres.

»Ich glaube, du unterschätzt dich«, meinte sie schließlich.

»Du irrst dich.«

Seine Stimme klang ausdruckslos. Wollte er sie warnen? Wenn es so war, so fühlte Cammie sich dennoch nicht betroffen.

»Das war aber noch nicht die ganze Geschichte - vom Ende deiner Ehe, meine ich.« Sie legte den Kopf ein wenig schief und sah ihn nachdenklich an. »Da muss doch noch etwas anderes geschehen sein.«

Er war so schnell aufgestanden, dass sein Stuhl beinahe umfiel. »Trink deinen Kaffee, ich werde dich nach Hause fahren.«

»Du meinst, du bringst mich zu meinem Wagen.« Sie senkte den Blick, als sie merkte, dass sie über und über rot geworden war. Sie war es nicht gewöhnt, so einfach abgespeist zu werden, obwohl sie seine Reaktion wahrscheinlich herausgefordert hatte. Einen Augenblick lang hatte sie vergessen, wer er war.

»Ich meine, ich bringe dich nach Hause«, gab er zurück. Und als sie ihn fragend ansah, wandte er ihr den Rücken zu, nahm ihre Brieftasche und ihre Wagenschlüssel und warf sie auf den Tisch. »Ich bin noch einmal zurückgegangen, um nach Keith zu sehen. Es hätte ja sein können, dass er verletzt war. Und dann wollte ich auch deinen Wagen hierherbringen, um dir Zeit zu sparen. Aber das ging nicht, jemand hatte alle Reifen aufgeschnitten.«

Der Gedanke, dass er in Kälte und Regen den ganzen Weg noch einmal zurückgegangen war, nur um ihr die Mühe zu ersparen, weckte ein eigenartiges Gefühl in ihr. Doch sie verdrängte es schnell und sagte verächtlich: »Das kann nur Keith getan haben.«

Reid nickte, er griff nach seiner Tasse und trank sie in einem großen Schluck leer. »Ich habe seine Spuren gesehen. Wahrscheinlich ist er nicht sehr glücklich über die Scheidung.«

»Das kann man wohl sagen.« Sie erzählte ihm, wie Keith sie ständig unter Druck gesetzt hatte.

»Jemand sollte mal mit ihm reden.« Aus seiner Stimme klang unterdrückte Wut.

Cammie warf ihm einen schnellen Blick zu, dann schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. Sein Gesicht verriet nichts von seinen Gedanken, sie ahnte nicht, was er vorhatte oder was er dachte. »Ich hoffe, nach dem heutigen Abend wird das nicht mehr nötig sein«, meinte sie.

Er lächelte ein wenig schief, sagte jedoch nichts mehr.

In der Garage im Fort standen ein Jeep Cherokee und eine Lincoln-Limousine. Da der Weg zwischen dem Fort und Cammies Haus unbefestigt war, holte Reid den Jeep aus der Garage.

Cammie saß steif neben ihm im Wagen, zog den verwaschenen, dunkelblauen Morgenmantel, den sie noch immer trug, so gut es ging über ihre Knie. Der Morgenmantel muss ein Relikt aus den Tagen sein, als Reid noch zur High-School gegangen ist, dachte sie, weil er so kurz war und so abgetragen. Der Gedanke, dass es eines seiner bevorzugten Kleidungsstücke war, das sie jetzt trug, dass er es vielleicht überall in der Welt mit sich genommen hatte, gab ihr ein eigenartiges Gefühl.

Und dennoch wollte sie lieber nicht darüber nachdenken, was die Leute sagen würden, wenn sie sie so sahen. Die Klatschtanten hätten ihren großen Tag bei einer solchen Neuigkeit. Cammies Besorgnis um möglichen Tratsch war jedoch nicht stark genug gewesen, um wieder in ihre feuchte Unterwäsche zu schlüpfen und in ihre nasse Bluse und die Jeans. Wenn sie den Leuten keine interessanten Neuigkeiten verschaffte, dann würden die einfach etwas erfinden, was sich weiterzuerzählen lohnte.

Auf der Fahrt zu ihrem Haus sprach sie nur wenig mit Reid. Der Regen trommelte auf das Dach des Jeeps, die Scheibenwischer quietschten laut in der Stille. Einmal bemerkte sie, dass Reid zu ihr hinsah, dann wieder auf den Weg vor ihnen blickte und sie noch einmal ansah. Das schwache Licht des Armaturenbrettes verlieh seinem Gesicht einen grünlichen Schein, doch seine Augen lagen im Schatten. Er blickte auf ihr Haar, das ihr über die Schultern fiel, seine Augen ruhten sekundenlang auf ihren Brüsten, die sich gegen den dünnen Stoff des Morgenmantels drängten, und verweilten dann an der Stelle, wo der Morgenmantel von ihren Knien gerutscht war. Als er den Blick wieder hob, hielten ihre Augen einander fest.

Cammie fühlte seine Blicke auf ihrer Haut, sie waren beinahe wie eine zärtliche Liebkosung. Sie wollte wegsehen, wollte seinen Blicken ausweichen, doch es war, als sei sie in einer unsichtbaren Schlinge gefangen. Nie in ihrem Leben war sie sich der Anwesenheit eines Mannes neben ihr so sehr bewußt gewesen, seines muskulösen Körpers und seiner Kraft. Er hatte etwas so Urtümliches an sich, so unvergänglich wie die mit Pinien bewachsenen Hügel des Wildreservates. Doch gleichzeitig fühlte sie die Mauer, die er um sich herum errichtet hatte, eine Mauer, so stark und undurchdringlich wie die Bäume in diesem Reservat, Barrieren, die man als Schutz benutzen konnte, aber auch als Hinterhalt für die Unvorsichtigen.

Im Grunde musste sie ihm zustimmen, wenn er sich als animalisch beschrieb. Reid schien so etwas Unbezähmbares und Gefährliches an sich zu haben, wie der seltene Puma in diesen Wäldern, den man auch Sumpfpanther nannte. Und dennoch fürchtete sie sich nicht vor ihm, ganz im Gegenteil. Zu gern hätte sie herausgefunden, ob er sie angreifen würde, wenn sie ihm zu nahe kam, oder ob er ihr erlauben würde, ihn zu berühren, ob er bereit war, ihr seine ungezügelte, wilde Leidenschaft zu zeigen.

Sie brauchte ihre ganze Willenskraft, um ihre Blicke von ihm loszureißen. Sie wandte den Kopf ab und starrte durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit. Mit zusammengebissenen Zähnen wartete sie darauf, dass dieser verrückte Augenblick vorüberging.

Das Haus, in dem Cammie wohnte, tauchte dunkel und einsam vor ihnen auf, als Reid in die Einfahrt einbog und dann den Hügel hinauf zu dem Haus fuhr. Es war einige Jahrzehnte älter als das Fort; im Grundbuch hatte es den Namen Evergreen, auch wenn die meisten Leute es das Greenley-Haus nannten. Es war im georgianischen Stil erbaut und zwei Stockwerke hoch. Große Fächerfenster befanden sich zu beiden Seiten der Eingangstür, die übrigen Fenster waren hoch und symmetrisch angeordnet; eine überdachte Veranda umgab das ganze untere Stockwerk, ihre Säulen trugen den Balkon im oberen Stockwerk. Es war ein Haus, wie es die Plantagenbesitzer in Louisiana vor dem Bürgerkrieg gebaut hatten. Im Laufe der Jahre war es modernisiert und vergrößert worden und besaß jetzt einen anmutigen Charme, der von besinnlichen und weniger hektischen Zeiten zeugte.

Während seiner Blütezeit war das Haus von einigen tausend Hektar Baumwollfeldern umgeben gewesen. Die weiter entfernten Felder hatte man nach und nach verwildern lassen, der Wald hatte sich dieses Land zurückgeholt. Die Felder in der Nähe des Hauses waren eines nach dem anderen verkauft worden, um Hypothekenzinsen bezahlen zu können oder um Bargeld für Anschaffungen zur Hand zu haben. Jetzt umgaben das Haus weniger als acht Morgen Land, obwohl Cammie fand, dass es im Sommer immer noch reichlich Gras zu mähen und Hecken zu schneiden gab.

Keith hatte dieses alte Haus gehasst. Er hatte es baufällig genannt und muffig und hatte sich darüber beklagt, dass immer etwas repariert werden musste. Er wollte das Haus verkaufen und ein modernes, hübsches Haus bauen mit viel Glas und offenen Terrassen, wenn möglich am See im Osten der Stadt.

Doch Cammie hatte sich geweigert. Sie hatte Evergreen nach dem Tod ihrer Eltern geerbt, und sie liebte dieses Haus.

Natürlich hatte Keith recht, wenn er sich über die Reparaturen beklagte, das Haus schien das Geld dafür zu verschlingen. Aber die hohen, geräumigen Zimmer, die Möbel, die schon seit Generationen in der Familie waren, und der Garten mit den vielen alten Bäumen und Pflanzen, die die Frauen der Greenleys gepflanzt hatten, gaben Cammie immer wieder AnLass zur Freude. Sie konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben.

Reid ging mit ihr durch den leichten Nieselregen zur Hintertür. Cammie sah seinen bewundernden Blick, als er das Haus betrachtete, und sie fragte sich, ob er es insgeheim wohl mit dem Fort verglich.

Doch sie bemerkte auch, wie er mit schmalen Augen die Dunkelheit zu durchdringen versuchte und sich wachsam umschaute. Aber sie konnte beim besten Willen nichts erkennen; außer dem stetig fallenden Regen war kein Geräusch zu hören. Zweifellos war seine Wachsamkeit für ihn schon zur Gewohnheit geworden, sie war einer dieser Instinkte, von denen er ihr erzählt hatte. Es gab ihr ein eigenartig beruhigendes Gefühl, das zu wissen.

Als sie im Schutz der Veranda standen, wandte Cammie sich zu ihm um. »Ich fürchte, ich habe dir noch gar nicht dafür gedankt, dass ... dass du mich heute abend gerettet hast«, meinte sie übertrieben höflich. »Ich weiß das sehr zu schätzen.«

»Gern geschehen«, sagte er nur, und seine Stimme war tief und so ausdruckslos wie ihre.

Sie lächelte, doch es war nur eine Bewegung ihrer Lippen, ihre Augen blickten ernst. »Nun, ich denke, wir werden uns sicher noch einmal sehen.«

Er streckte die Hand aus, um sie auf ihren Arm zu legen, doch sie wich ihm aus.

Mit gerunzelter Stirn sah Reid sie an, dann nickte er nur und wies mit einer Kopfbewegung auf den dunklen Garten. »Keith ist dort drüben. Er beobachtet dich.«

»Du meinst, er ist irgendwo da hinten? Jetzt im Augenblick?« Sie warf einen schnellen Blick über ihre Schulter.

Reid nickte. »Sein Landrover steht eine halbe Meile die Straße hinunter, versteckt hinter der Kirche. Ich habe ihn gesehen, als wir vorbeigefahren sind. Er ist ungefähr fünfzig Yards rechts von uns, hinter den Kamelien.«

Der Gedanke, dass Keith ihr dort hinten irgendwo auflauerte, sie bespitzelte und einen Weg suchte, um ungestört ins Haus und in ihr Leben einzudringen, machte Cammie wütend, doch schlich sich gleichzeitig auch ein Anflug von Angst ein. »Ich kann das nicht glauben«, meinte sie gepresst.

»Sheriff Deerfield ist doch ein Cousin von dir, nicht wahr? Vielleicht solltest du ihn anrufen.« Reids Stimme verriet, dass es seiner Ansicht nach nicht gerade die beste Lösung war.

Auch Cammie gefiel dieser Vorschlag nicht. Wenn sie jetzt den Sheriff anrief, würde morgen die ganze Stadt davon wissen. Außerdem könnte Keith zu seiner Verteidigung die Ereignisse dieser Nacht zu seinen Gunsten verfälschen. Gar nicht auszudenken, was für eine schreckliche Geschichte dabei herauskommen würde, wenn beide Versionen die Runde gemacht hätten.

Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht wird das gar nicht nötig sein. Ich weiß auch gar nicht, was der Sheriff tun würde, denn bis jetzt hat Keith mir ja noch nichts getan, er hat mich nur bedroht.«

Reids Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass ihm das nicht gefiel. »Du musst aber etwas tun, wenn du ihn davon abhalten willst, dir weiter nachzuspionieren.«

»Es muss doch auch noch einen anderen Weg geben.« Cammie verzog unglücklich das Gesicht.

Er sah sie durchdringend an. »Du hast nur zwei Möglichkeiten, entweder du kämpfst oder du gibst nach.«

»Immerhin habe ich schon versucht, einen Revolver zu benutzen, wenn du dich recht erinnerst«, meinte sie scharf.

»Es war ein Fehler, Gewalt anzuwenden, da du ja offensicht- lieh nicht die Absicht hattest, sie bis zum Ende zu führen. Wenn du die Polizei nicht zu Hilfe rufen willst, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als ihn zu überlisten.«

»Du meinst, ich sollte versuchen, ihn hinzuhalten? Ich sollte ihn glauben lassen, dass ich wieder zu ihm zurückkomme, und dann warten, bis die Scheidung rechtskräftig geworden ist?«

»Ich dachte eher daran, dass du deinen Cousin vielleicht morgen zum Essen einlädst und ihn bittest, in seinem Dienstwagen zu kommen«, antwortete Reid. »Oder vielleicht solltest du dir einen Dobermann anschaffen oder ein Zimmer an einen Lehrer für Taekwondo untervermieten.«

»Ich habe eine viel bessere Idee«, sagte sie langsam, als ihr ein alarmierender, unausgegorener Gedanke durch den Kopf schoss.

»Und die wäre?«

Sie dachte gar nicht über den Ursprung dieses Gedankens nach, auch nicht über die Folgen, die ihr Tun vielleicht haben würde, sie handelte ganz einfach.

Sie machte ein paar zögernde Schritte auf Reid zu, dann stellte sie sich auf Zehenspitzen und schlang die Arme um seinen Hals. Mit großen Augen sah sie ihn an, ihre Lippen zitterten bei ihren nächsten Worten. »Küss mich.«

Reid begriff sofort. Er erstarrte nur kaum merklich, ehe er den Kopf zu ihr beugte und sie in seine Arme zog. Sie preßte ihre Lippen auf seinen vollen, festen Mund und schmiegte sich an ihn, drängte ihre Brüste gegen seinen muskulösen Oberkörper und ihre Hüften gegen seine.

Reid holte tief Luft und drückte sie noch ein wenig fester an sich, dann übernahm er die Führung.

Ihre Lippen öffneten sich willig seiner suchenden Zunge, ein heißes Glücksgefühl stieg in ihr auf. Überall dort, wo sein Körper den ihren berührte, schien ihre Haut zu brennen. Ihr Herz begann zu rasen, Wärme breitete sich langsam in ihrem Inneren aus. Sie genoss das Gefühl, wie seine Zunge sich kühn zwischen ihre Lippen drängte, und sie erwiderte seinen Kuss mit fiebriger Leidenschaft.

Verloren, sie war verloren in der Erinnerung an Gefühle, von denen sie immer geglaubt hatte, sie existierten nur in ihrer Einbildung. Ein Schauer durchlief ihren Körper und hinterließ ein schmerzlich süßes Ziehen in ihrer Brust. Mit einem tiefen Seufzer vergrub sie die Finger in dem seidigen Haar in seinem Nacken und schlang die Arme um seinen Hals.

Reid streichelte ihren Rücken, ließ seine Hand langsam tiefer gleiten, zu der sanften Rundung ihrer Hüften. Dort ließ er sie liegen, streichelte sie zart, als wolle er sich jede Einzelheit ihres Körpers für immer einprägen. Langsam zog er sie enger an sich, bis sie seinen harten Schaft gegen ihren Schoß drücken fühlte und merkte, dass er Mühe hatte, an sich zu halten, sie nicht gleich hier und jetzt zu nehmen.

Und dann kehrte mit unangenehmer Plötzlichkeit ihre Vernunft zurück, wie ein Schauer durchlief es ihren Körper. Sie konnte nicht glauben, dass sie sich so weit hatte gehenlassen, noch vor wenigen Stunden hätte sie das nie für möglich gehalten. Es mussten die Ereignisse dieses Abends sein, die so ungewöhnlich gewesen waren, und die Erinnerung an die Vergangenheit.

Aber das war nicht der einzige Grund. Mit schmerzlicher Ehrlichkeit gestand Cammie sich ein, dass es noch etwas anderes gab, das sie zu dieser Handlung gedrängt hatte. Irgendwo in ihrem Inneren verspürte sie das Bedürfnis, ein für allemal herauszufinden, ob das, was vor so langer Zeit zwischen ihnen geschehen war, wirklich so überwältigend gewesen war, wie sie es noch immer in ihrer Erinnerung hatte. Und ja, es war auch das Verlangen, den Panther zu streicheln, mit der Gefahr zu spielen.

Sie keuchte leise auf, dann zog sie sich langsam von ihm zurück. Ihre Stimme klang ein wenig rauh, als sie versuchte, ihm ihre Beweggründe zu erklären.

»Ich dachte ... es schien mir ... wenn Keith vielleicht glaubt, dass es jetzt einen anderen Mann in meinem Leben gibt, wird er vielleicht aufgeben und mich in Ruhe lassen.«

»Das dachte ich mir.« Reids Antwort war sehr leise, und seine Stimme klang nicht sehr fest.

Sie hatte gehofft, er würde sie verstehen, aber sie wollte ganz sicher sein, deshalb sprach sie schnell weiter. »Dass ausgerechnet du dieser Mann bist, macht die ganze Geschichte nur noch besser. Du bist ein Mann, der andere einschüchtert, obwohl Keith das niemals zugeben würde. Er war schon immer eifersüchtig auf dich - und jetzt, wo du in der Führung der Papierfabrik mitarbeitest, ist es nur noch schlimmer geworden.«

»Verstehe.«

Sie fühlte, wie sie der Mut verließ und Verwirrung die Oberhand gewann. Hastig fügte sie hinzu: »Der ... Trick wäre vielleicht noch viel besser, wenn du mit ins Haus kommen würdest. Natürlich verpflichtet dich das zu nichts, das verspreche ich dir. Und es wäre auch nur für einen kurzen Augenblick.«

Ihr war sofort klar, dass sie eine ganze Menge von ihm verlangte. Die Tatsache, dass Reid nicht mehr verheiratet war, bedeutete noch lange nicht, dass er nicht irgendwo eine Frau hatte, an die er gebunden war.

»Nur für einen kurzen Augenblick«, wiederholte er beinahe mechanisch.

Cammie schluckte, als sie dann neben ihm zum Hintereingang ging. Ihre Hände zitterten, als sie versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Sie hielt ihn ganz fest und hoffte nur, Reid würde nichts davon bemerken.

Im Haus knipste sie das Licht an, während Reid die Tür hinter ihnen schloss und den Schlüssel im Schloss drehte. Sie wandte sich zu ihm und bemerkte, dass er sie beobachtete, vorsichtig und abschätzend, mit genau dem gleichen Ausdruck auf dem Gesicht, den auch sie auf ihrem fühlte.

Reid stieß hart den lang angehaltenen Atem aus. Er hatte das Gefühl, als hätte man ihm eine Bombe gereicht, die gerade in seiner Hand explodiert war. Die Detonation hatte ihn bis auf den Grund seines Wesens erschüttert, hatte ihm all seine Kraft und seinen Verstand genommen und sein Inneres zu einem heißen Brei geschmolzen. Und er war noch nicht sicher, ob er die Explosion überlebt hatte.

Seine Stimme klang bei weitem nicht so fest, wie er es beabsichtigt hatte. »Du steckst voller Überraschungen.«

»Das ist aber nicht meine Absicht.«

Sie warf ihm einen schnellen Blick zu, dann wandte sie sich um und ging vor ihm her durch den Raum, der ein Wohnzimmer zu sein schien und der am Ende des langen Flurs lag. Reids Blick verweilte für einen Augenblick auf dem bronzefarbenen Schimmer ihres Haares, auf der sanften Rundung ihrer Schenkel, dem Schwung ihrer Hüften unter seinem alten Morgenmantel. Das Bewusstsein, dass sie unter dem verwaschenen Stoff nackt war, brannte sich in sein Gedächtnis ein. Er wusste, dass sie nackt war, er hatte es gefühlt, als er sie in seinen Armen hielt. Ihm wurde ganz schwach bei dem Gedanken; ungläubig schüttelte er den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben, dann ging er hinter ihr her.

Sie betraten eine große, luftige Küche mit weiß gestrichenen Schränken und gelben Fliesen. Pflanzen standen vor den Fenstern, die auf die Rückseite des Hauses hinausgingen. Diese Küche war um so vieles größer und heller als ihr Gegenstück im Fort, dass er sich allen Blicken ausgesetzt fühlte, noch bevor Cammie das helle, fluoreszierende Licht anknipste. Der Raum lag zwar zu hoch, als dass Keith von draußen hereinsehen konnte, dennoch war Reid wachsam.

Cammie kehrte ihm den Rücken zu und fragte über ihre Schulter hinweg vorsichtig: »Wenn ich schon deine Zeit in Anspruch nehme, möchte ich dir wenigstens etwas zu essen anbieten. Wie wäre es mit Steak und Salat?«

»Fein«, antwortete er gepresst.

Sie versucht, sich zu beschäftigen, dachte er, damit alles ganz normal aussieht. Ich sollte ihr dabei helfen. Er ging zu ihr hinüber, lehnte sich gegen die Anrichte und schob beide Hände in die Taschen seiner Jeans.

Cammie ging hin und her, holte Steaks aus dem Gefrierschrank und legte sie zum Auftauen in die Mikrowelle, suchte Salat, Tomaten, Brokkoli und Möhren zusammen. Reid sah ihr zu und dachte, wie unwirklich es war, hier zusammen mit ihr in ihrem Haus zu sein.

Es war komisch, auf grimmige Art erheiternd, dass es seine Verbindung zur Papierfabrik war und seine anrüchige Vergangenheit im Geheimdienst, die ihn auf einmal für Cammie so nützlich machten. Genau das waren die Dinge, von denen er erwartet hätte, dass sie sie abschreckten. Davon abgesehen war Dankbarkeit im Augenblick das stärkste der Gefühle, die in seiner Brust tobten.

Es war schon sehr lange her, seit er einer Frau nahe gewesen war. Frauen waren viel zu zerbrechlich und leicht zu verletzen. Er traute sich selbst nicht, wenn er in ihrer Nähe war, schon seit langem nicht mehr.

Cammie hatte auf ihn reagiert. Er hatte den süßen, brennenden Schmerz gefühlt, als ihre Körper einander berührt hatten, hatte den Puls an ihrem schlanken, biegsamen Hals pochen sehen, den süßen Anflug von Leidenschaft auf ihren Lippen geschmeckt. Es war wie ein Wunder für ihn gewesen.

Er sollte gehen, das wusste er ganz sicher, ohne jeden Zweifel. Es wäre gefährlich, wenn er blieb, gefährlich für sie beide. Wenn er sie verletzte, dann würde ausgerechnet diese Frau es vielleicht nie verkraften.

Er konnte nicht gehen. Nicht nach dem, was draußen auf der Veranda geschehen war. Er schuldete ihr etwas dafür, dass er sich für ein paar kurze Augenblicke nicht mehr wie der Ausgestoßene gefühlt hatte, der er zu sein glaubte, nicht wie eine Maschine mit tierischem Instinkt. Er würde tun, was auch immer sie wollte, wenn sie ihm nur ein wenig länger das Gefühl geben würde, ein ganz normaler Mann zu sein.

Er starrte Cammie an, betrachtete ihr Haar, das über ihre

Schultern fiel, und die Art, wie sich das Licht in den rotgoldenen Strähnen spiegelte. Seine Blicke ruhten auf dem sanften Schwung ihres Mundes und auf ihrer schmalen Taille, als sie in der Küche hin und her ging. Er wusste, dass er sie anstarrte, aber er konnte nicht anders. Sie war unwiderstehlich, obwohl es sie wahrscheinlich abschrecken würde, wenn sie wüsste, wie sie auf ihn wirkte.

Er brauchte dringend Ablenkung, so schnell wie möglich.

»Wie kann ich dir helfen?« fragte Reid.

Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, als wäre er der erste Mann, der ihr eine solche Frage stellte. »Gar nicht, ich schaffe das schon allein.«

Er ging zu ihr, nahm eine der Möhren, die neben der Spüle lagen. Mit ausdrucksloser Stimme fragte er: »Hast du einen Kartoffelschäler ?«

Sie holte das Messer aus der Schublade und reichte es ihm. Sie beobachtete ihn wie ein Kind, das mit einem scharfen Messer spielt, als er begann, die Möhre zu schälen. Offensichtlich zufrieden mit dem Ergebnis, wandte sie sich wieder dem Salat zu, den sie unter fließendem Wasser wusch.

»Hat Keith denn nicht in der Küche geholfen?« fragte er.

Cammie verzog den Mund zu einem etwas schiefen Lächeln, das er schon an ihr kannte. »Genau wie du haben wir eine Haushälterin, die jeden Tag kommt. Keith betrachtete es als seinen Beitrag zur Haushaltsführung, ihr Gehalt zu bezahlen.«

»Vielleicht wäre er später eher bereit gewesen zu helfen, wenn erst einmal Kinder da wären. Die meisten Männer tun das.«

»Vielleicht.«

»Gab es eigentlich einen Grund dafür, dass ihr keine hattet? Kinder, meine ich.« Es war eine Frage, die er ihr schon seit einiger Zeit hatte stellen wollen. Die ganzen Jahre über hatte er immer damit gerechnet zu hören, dass sie Mutter geworden war.

Mit gerunzelter Stirn sah sie ihn an, dann griff sie nach einem Papiertuch, um den Salat zum Abtropfen darauf zu legen. »Zuerst meinte Keith, wir sollten noch warten, er wollte nicht gebunden sein. Und später habe ich aus verschiedenen Gründen entschieden, dass er recht hatte.«

Reid fragte sich, wie sie wohl aussehen würde, wenn sie schwanger war. Wahrscheinlich bezaubernd, nahm er an, genauso wie jetzt und noch mehr. Ihm gefiel ihr Mund, großzügig, wie geschaffen für ein Lächeln, und er glaubte, er könne sich noch eine ganze Weile damit beschäftigen, den Schwung ihrer Augenbrauen zu bewundern. Ihre Hexenaugen, die Sprenkel von Blau und Grün, Gold und Grau aufwiesen, faszinierten ihn; er hätte gern ihr Gesicht in beide Hände genommen, um diese Augen zu betrachten. Ihre Wangen waren ein wenig hohl, und sie hatte Schatten unter den Augen; sie brauchte dringend ein paar Pfund mehr Gewicht und auch mehr Schlaf. Dennoch war sie wunderschön, ganz zweifellos. Und eine Schwangerschaft würde diese Schönheit nur noch verstärken.

Reid legte eine besonders sorgfältig geschälte Möhre auf die Anrichte und nahm sich eine andere, ehe er dann abrupt das Thema wechselte. »Ich wollte es dir schon vorher sagen, ich werde morgen nach deinem Wagen sehen und neue Reifen aufziehen. Wirst du so gegen neun Uhr zu Hause sein?«

»Das ist nicht nötig.« Cammie warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Ich kann einen Mann von der Werkstatt rausschicken.«

»Ich würde es lieber selber tun. Könnte ja sein, dass Keith noch eine andere kleine Überraschung für dich bereithält.«

Sie hielt mitten in der Bewegung inne und sah ihn zweifelnd an. »Du meinst, er hätte noch mehr kaputtgemacht? Glaubst du das wirklich?«

Glaubte er das? Er war nicht sicher, aber es war ein guter Vorwand. »Darüber kann ich dir mehr sagen, wenn es erst einmal hell ist. Bis dahin kann ich dir den Jeep hierlassen, falls du morgen früh irgendwo hinfahren musst

»Und wie willst du nach Hause kommen?«

»Zu Fuß.« Er zuckte mit den Schultern. »Durch den Wald ist es nicht weit.«

Die Mikrowelle läutete, als die Zeituhr abgelaufen war. Sie schwiegen beide, während Cammie die Steaks herausholte und die Folie aufriß. Sie legte die Steaks auf eine Platte, holte Worcestersoße aus dem Schrank und griff nach einem Topf mit Knoblauchzehen. Sie hielt eine der Zehen in der Hand und sagte: »Es gibt noch eine andere Lösung.«

Beim Klang ihrer Stimme sah Reid alarmiert von seiner Arbeit auf. »Und die wäre?«

»Du könntest heute nacht hierbleiben.«

Er legte die Möhre und das Messer hin und stützte beide Hände auf die Anrichte. Die Fliesen waren kühl unter seinen Händen, doch sie halfen nicht, das Feuer, das plötzlich in ihm brannte, zu löschen. Langsam drehte er den Kopf, um sie anzusehen, dabei hatte er das Gefühl, als wehrte sich jeder einzelne Knochen in seinem Nacken gegen diese Bewegung.

»Was soll ich tun?« fragte er ungläubig.

Sie leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Du hast mich ganz gut verstanden.«

Das hatte er. Und genau das war das Problem.

Draußen strömte der Regen in stetigem Rauschen nieder. Reid zählte den Schlag seines Pulses, der das sanfte Geräusch zu übertönen schien.

»Natürlich würdest du in einem der Gästezimmer schlafen«, beeilte sie sich zu versichern.

Er wandte den Blick ab und betrachtete statt dessen das Spiegelbild seines eigenen, blassen Gesichts im Fenster über der Spüle, vor dem Hintergrund der dunklen Nacht. Seine Stimme klang eisig, als er sprach. »Das kann ich nicht.«

»Warum denn nicht? Es ist doch nur eine einzige Nacht und keine lebenslange Bindung. Du gehst damit keinerlei Verpflichtung ein.«

»Das ist mir klar.« Zumindest hatte er das angenommen.

»Also, wo ist dann das Problem? Es sei denn ... ich verstehe.« Sie wandte ihm den Rücken zu.

»Das bezweifle ich«, antwortete er, und seine Stimme war lauter, als er es beabsichtigt hatte, doch er konnte nichts daran ändern. »Es ist mir verdammt gleichgültig, wenn ich als Mittel zum Zweck benutzt werde - das ist gar nicht so ungewöhnlich. Es würde mir große Befriedigung verschaffen, als Puffer zwischen dir und Keith zu dienen, wenn du das gern möchtest. Mir ist es auch gleichgültig, was die klatschsüchtigen Nachbarn sagen, solange es dir nichts ausmacht. Und ich habe auch nicht das Bedürfnis, deine Bitte aus irgendeinem völlig unangebrachten Rachegefühl wegen der Fehden zwischen unseren beiden Familien abzuschlagen.«

»Aber was ist es dann? Schlafwandelst du? Oder fürchtest du, dass ich mitten in der Nacht von Lust befallen werde und zu dir ins Bett krieche?«

Er lachte kurz auf. »Das ist meine geringste Befürchtung.«

»Nun?« Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn unverwandt an.

»Angenommen«, meinte er und richtete den Blick jetzt auf ihr Spiegelbild im Fenster, »ich würde dich verletzen?«

»Das würdest du nicht tun. Das könntest du gar nicht.«

Doch ihr Blick schien nicht so sicher zu sein. Sie verstand ihn nicht, auch nicht nach dem, was er ihr erzählt hatte.

Er bewegte sich schon, noch ehe er sich dazu entschieden hatte, so war das immer bei ihm. Noch ehe sie einen Laut ausstoßen konnte, noch ehe sie überhaupt ahnte, was er vorhatte, hatte Reid schon die Arme um sie geschlungen, in einer tödlichen Umklammerung, die er nur zu gut gelernt hatte. Er tat ihr nicht weh, aber sie konnte sich nicht bewegen, ohne sich selbst Schmerzen zuzufügen. Und noch weniger konnte sie sich aus seinem Griff befreien, wenn man davon absah, dass sie bei weitem nicht so stark und so erfahren war wie er.

In diesem Bruchteil einer Sekunde, als er seine Arme um Cammie schlang, fühlte er einen ungewohnten Anflug von

Zweifel. Sein Motiv für diese Zurschaustellung seiner Kräfte war bei weitem nicht edelmütig. Ihren sanften, zerbrechlichen Körper an sich zu fühlen, zu wissen, dass sie ihm nicht entkommen konnte, auch wenn er ihr seine Kraft nur für einen kurzen Augenblick zeigte, dafür war ihm jede Entschuldigung recht.

Er bewegte sich ein wenig und legte dann seine Finger auf die zarte Biegung ihres Halses unter ihrem Ohr. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als er sprach: »Ist dir klar, dass ich dich in einer Sekunde umbringen könnte, ohne dass du auch nur einen Ton von dir gibst, einfach indem ich genau hier zudrücke?«

»Ich bezweifle das keinen Augenblick«, sagte sie ernst.

»Ist dir klar, dass ich alles mit dir tun könnte und dass du absolut keine Möglichkeit hättest, mich davon abzuhalten?«

Die Pupillen ihrer Augen verengten sich, und als sie tief Luft holte, preßten sich ihre Brüste gegen ihn. Sie sah ihn sekundenlang eindringlich an, dann ließ sie die angehaltene Luft wieder aus ihren Lungen entweichen. »Ich begreife, dass das möglich wäre«, antwortete sie ihm.

»Dann begreifst du also auch, warum ich nicht bleiben kann.«

Irritiert blickte sie zu ihm auf. »Ich begreife nur eines: Wenn du mich nicht augenblicklich losläßt, dann werde ich dich dorthin treten, wo es dir weh tut, genau wie ich es mit Keith getan habe.«

Er grinste, er konnte nicht anders. Und dabei hatte er doch so bedrohlich auf sie wirken wollen. Sie konnte ihm nur dann weh tun, wenn er es zuließ, doch das war nicht der Grund, warum er jetzt lachte. Es war ihr Feuer, ihr reiner, unbekümmerter Trotz.

Wenn es eine Frau auf der Welt gab, die überleben konnte, was immer an gewalttätigen Instinkten in ihm stecken mochte, was immer er ihr unabsichtlich antun könnte, dann war sie es womöglich.

Möglich war es schon, aber dennoch nicht sehr wahrscheinlich.