19. Kapitel
Ich brauchte dich wirklich.
Diese Worte machten Reid verrückt.
Beinahe genauso beunruhigend war die Antwort, die er ihr darauf gegeben hatte.
Diese beiden Sätze waren ihm die ganze Nacht lang nicht aus dem Kopf gegangen, und auch am Morgen dachte er noch darüber nach, genauso wie über die Konfrontation zwischen Cammie und Gordon Hutton, deren Zeuge er gewesen war. Er hatte nicht geschlafen, allein bei dem Gedanken, etwas zu essen, wurde ihm schlecht. Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, dass Schlaf und Essen Bedürfnisse waren, die man nicht beiseite schieben durfte, wenn man überleben wollte. Nichts, nicht einmal die Explosion auf dem Golan, wie er sie in Gedanken nannte, hatte seine Abwehr so weit geschwächt, dass er diese grundlegenden Dinge vergessen hatte. Bis jetzt.
Er drohte seine sorgsam aufrechterhaltene Gefühllosigkeit zu verlieren. Stück für Stück wurde sie ihm entrissen, sie ließ seine Nerven und Gefühle so offen zutage treten wie Würmer unter einer dicken Schicht von Mulch. Sosehr er es auch versuchte, er fand keinen Schutz davor, es gab kein Entrinnen vor dem unbarmherzigen Schmerz.
Auf dem Golan hatte es begonnen, natürlich, das konnte er nicht abstreiten. Aber es war Cammies Nähe, die ihn so sehr verwundbar machte.
Das Fort schien ihm wie ein Gefängnis, und Lizbeths Augen, die ihm überallhin folgten, schienen viel zuviel zu wissen.
Sie hatte ihn schon immer viel besser verstanden als die meisten anderen Menschen. Sie hatte einen Mann und eine eigene Familie und eine Farm im Norden der Stadt, aber in seiner Erinnerung an seine Kindheit war sie immer im Haus gewesen.
Er erinnerte sich noch an einen heißen Sommer, als er vielleicht vier oder fünf Jahre alt gewesen war und neben ihr in der Küche gestanden hatte, wo sie auch jetzt gerade waren, und ihr zugesehen hatte, wie sie ein Glas Wasser trank. Die Innenseite ihres Mundes, so hatte er damals festgestellt, war genauso rosig wie die seine. Danach hatte er immer gewusst, dass sie genauso war wie er unter ihrer sanften braunen Haut.
Sie war gerade dabei, grüne Zwiebeln zu schneiden, für einen Eintopf. Jetzt wandte sie ihm den Kopf zu und sah ihn fragend an. »Was ist los, Mr. Reid? Ist Ihnen eine Laus über die Leber gelaufen?«
»Das könnte man sagen«, antwortete er, stützte den Ellbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hand. Er blickte in seine Kaffeetasse, die er mit der anderen Hand langsam schwenkte. »Sag mir, Lizbeth, was muss man tun, um einer Frau zu gefallen?«
Sie legte den Kopf schief und sah ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen an. »Nun, das wissen Sie doch genauso gut wie ich.«
»Ich meine es ernst«, protestierte er. »Und ich rede nicht von Sex oder Geld oder Muskeln und solchen Dingen.«
»Sprechen wir vielleicht zufällig von einer ganz bestimmten Frau in dieser Stadt oder nur von Frauen im allgemeinen?«
Er sah sie nur an, ohne zu antworten.
»Das dachte ich mir.« Sie nickte verstehend. »In diesem Fall würde ich sagen, Sie können nicht mehr tun, als sie zu lieben. Sie wird sich entweder eines Besseren besinnen oder aber nicht.«
»Ich hatte so das Gefühl, als ob du genau das sagen würdest.«
»Warum haben Sie mich dann gefragt? Mir scheint, Sie sollten sich ein wenig ablenken, vielleicht fischen gehen.«
»Und dir aus dem Weg bleiben?«
Sie schüttelte den Kopf, dann kehrte sie ihm wieder den Rücken zu und machte sich an ihre Arbeit. »Das wissen Sie doch besser.«
»Vielleicht«, antwortete er ihr mit einem Anflug von Humor. Er hielt einen Augenblick inne und dachte über ihren Vorschlag nach, dann fragte er: »Ist Ty noch immer auf Urlaub zu Hause?«
»Er hat noch eine Woche, ehe er wieder zur Air Force zurück muss«, sagte sie, nahm die grünen Zwiebeln und schüttete sie zu der brutzelnden Butter in die Pfanne. Über ihre Schulter warf sie ihm einen Blick zu. »Soll ich ihn anrufen?«
»Sag ihm, er soll sich mit mir am See treffen«, antwortete er und lächelte sie dankbar an, weil sie ihn verstand.
Er und Ty hatten viele Gemeinsamkeiten. Sie waren gleich alt, und sie hatten zusammen gespielt, seit der Zeit, als Lizbeth ihn mitbrachte, wenn sie im Sommer zur Arbeit kam. Zusammen waren sie durch das Wildreservat gestreift, zwei Jungen, die so taten, als seien sie mächtige Jäger, Höhlenmenschen oder Soldaten. Sie waren in die gleiche Schule gegangen, in den ersten Tagen der örtlichen Rassenzusammen- fiihrung, und sie hatten auch beide in Greenleys erstem gemischten Footballteam zusammen gespielt. Ty hatte als Halfback gespielt und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Reid, der als Quarterback spielte, in gefährlichen Spielsituationen zu schützen. Reid erkannte das nicht nur an, er zollte seinem Halfback auch volle Anerkennung in den meisten wichtigen Spielen.
Ty war nach der Schule in die Air Force eingetreten und Hubschrauberpilot geworden. Er hatte sich hochgearbeitet bis zum Oberst, und er war noch nicht am Ende seiner Laufbahn angekommen. Während der letzten Jahre hatten er und Reid sich an den verschiedensten Orten in der Welt getroffen, um zusammen einen Drink zu nehmen und die letzten Neuigkeiten von zu Hause auszutauschen. Das letzte Mal hatten sie sich vor zwei Jahren in Kalifornien getroffen. Reid hatte die Absicht gehabt, sich mit Ty zu treffen, solange er noch in der Stadt war, aber diesmal war er zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.
Der Tag war perfekt zum Fischen, es war ungefähr zwanzig Grad warm, windstill, die Sonne kam immer wieder durch die schmutziggrauen Wolken hervor. Reid und Ty schoben das Fiberglasboot ins Wasser und fuhren dann durch den Kanal zum See. Nach ein paar Minuten erreichten sie den langen, baumbestandenen Seitenarm des Sees, weit weg von jeglichem Verkehr.
Sie benutzten Röder, die auf dem Wasser schwammen, und warfen gekonnt die Angeln aus, holten sie mit knappen Bewegungen wieder ein, ohne Hast und Eile. Beiden war es gleichgültig, ob sie etwas fingen oder nicht. Es genügte, langsam über das braune Wasser zu gleiten, in dem der Himmel sich blau spiegelte, ab und zu den Motor anzuwerfen, um dorthin zu gelangen, wohin die Angelleinen nicht reichten.
Sie fanden Barsche, große Monster, die zwischen vier und acht Pfund wogen. Sie fingen so viele sie konnten und legten sie dann auf Eis. Danach waren sie vorsichtig mit ihren Rödern, denn sie wussten, sie mussten die Fische, die sie jetzt noch fingen, wieder in die Freiheit entlassen.
Reid fühlte, wie die Anspannung ganz langsam aus seinem Körper wich. Schon so lange hatte er mit dieser Anspannung gelebt, dass er jetzt ein unangenehm prickelndes Gefühl verspürte.
Als der Tag heißer wurde, tranken sie beide ein Bier oder auch zwei. Dabei unterhielten sie sich zusammenhanglos, schimpften über Politiker und die Politik, analysierten die letzte Spielsaison der Saints und der Cowboys und verweilten flüchtig beim letzten Aufruhr im Pentagon. Es war die Art der alles umfassenden, unpersönlichen Unterhaltung, wie sie die meisten Männer pflegten. Als es nichts mehr zu sagen gab, schwiegen sie.
Nach einer langen Weile betrachtete Reid eine blaugrüne Libelle, die sich auf der Spitze seiner Angel niedergelassen hatte. »Hast du je daran gedacht zu heiraten, Ty?« fragte er plötzlich.
Der andere Mann grinste und legte den Kopf zurück. »Ab und zu. Richtige Zeit, falsche Frau. Richtige Frau, falsche Zeit. Denkst du etwa daran?«
»Flüchtig«, gab er zu.
»Wie man hört, bist du oft mit Cammie Greenley zusammen.«
Es war eine Feststellung, auf die Reid antworten konnte oder auch nicht.
»Hutton«, korrigierte Reid ihn ausdruckslos. »Cammie Hutton.«
»Richtig. Du hattest schon immer etwas übrig für sie, nicht wahr? Ich erinnere mich noch, einmal nach einem Foot- ballspiel, als ein paar Jungen einen Kerl ausfragten, der mit ihr ausgegangen war. Sie wollten von ihm wissen, wie weit er bei ihr gekommen war. Einer der Jungen stellte ein paar ziemlich schmutzige Fragen, und du hast ihn auseinandergenommen.«
Reid zuckte mit den Schultern und vermied es, Ty anzusehen. »Mir schien es damals nötig zu sein.«
»Aha. Und wenn ich mich richtig erinnere, sind wir so oft durch das Wildreservat um das Greenley-Haus geschlichen, dass wir einen Trampelpfad hinterlassen haben, so breit wie ein Highway.«
Reid warf ihm einen schnellen Blick zu. »Ich habe das Gefühl, du erinnerst dich viel zu gut.«
»Ja, zum Beispiel, als damals die Feldmaus ins Haus kam und alle Mädchen schreiend auf Stühlen und Tischen standen. Du hast die kleine Maus mit bloßen Händen gefangen, ganz der große Macho, und sie hat dich fürchterlich gebissen.
Aber als Cammie Greenley dich bat, sie nicht zu töten, hast du sie rausgetragen und sie hinter dem Baseballfeld freigelassen. Dann bist du herumstolziert mit einem schrecklich blödsinnigen Ausdruck im Gesicht, nur weil sie gesagt hatte, du wärst ein netter Kerl. Ja, Mann, daran erinnere ich mich auch noch.«
Ty neckte ihn, doch Reid machte das nichts aus. Er ließ die Erinnerung, die der andere heraufbeschworen hatte, hell und süß wieder in sich aufsteigen. Dann fühlte er plötzlich, wie eine eisige Hand nach seinem Herzen griff.
Cammie konnte auf keinen Fall jemanden umgebracht haben. Trotz ihres Mutes, ihrer Prahlerei, besaß sie nicht den harten inneren Kern, der dazu nötig war.
Ihre Drohung gegen Keiths Bruder gestern abend war eine leere Drohung gewesen, wenn überhaupt. Gerade er sollte Cammies Fähigkeit verstehen, die Menschen zurückzustoßen, sie mit einer Salve scharfer Worte zu verletzen.
Es gab nur eine mögliche Art, wie sie den Tod eines anderen Menschen hätte verursachen können: Wenn man ihr keine andere Wahl gelassen hätte.
Diese schlichte Wahrheit hatte Reid auch schon vorher gewusst. Wie hatte er sie nur vergessen können?
Die Antwort darauf war, er hatte sie nicht vergessen. Er hatte sie ganz einfach nur ignoriert.
Er hatte sie ignoriert, weil er ein Idiot war. Er hatte gehört und gesehen, wie sie Gordon Hutton in die Flucht geschlagen hatte, und er war beleidigt gewesen, weil er geglaubt hatte, dass sie seinen Schutz nicht länger brauchte.
Er wollte, dass Cammie ihn brauchte, denn nur das konnte er als Entschuldigung dafür gelten lassen, sie festzuhalten. Er wollte sie festhalten, verzweifelt sehnte er sich danach.
Ich brauchte dich wirklich.
Ihre Worte waren ihm nicht aus dem Gedächtnis gegangen, denn sie hatten ihn ahnen lassen, dass es noch weit mehr war als nur ein starker Arm und ein warmer Körper, was sie brauchte. Es war ihm beinahe entgangen, weil er sich so sehr auf seine eigenen Bedürfnisse konzentriert hatte.
Beinahe.
Und wenn er sich nun irrte? Wenn ihre Worte nun wirklich nichts anderes zu bedeuten hatten, wenn er die Bedeutung nur selbst hineingelegt hatte und seine eigene Hoffnung?
Er liebte Cammie; seit Jahren schon liebte er sie. Es schien ihm, dass es nie eine Zeit gegeben hatte, in der er sie nicht geliebt hatte.
Und es war auch nie die richtige Zeit gewesen, es ihr zu sagen. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt dafür gekommen.
Er hatte es einmal versucht, und er hatte versagt. Und dieses Versagen hatte es ihm jahrelang unmöglich gemacht, sie zu sehen.
Was, wenn er es nun genauso unmöglich machte, die körperliche Beziehung fortzusetzen, die sie verband? Es bereitete ihm ein beinahe unerträgliches Vergnügen, ihre nackte Haut zu berühren, ihr Gesicht zu sehen, wenn sie die Erlösung fand, die er ihr schenkte. Es war eine alles übersteigende Herrlichkeit, in den Tiefen ihres Körpers seine eigene Vergänglichkeit zu fühlen. Würde er es ertragen können, wenn ihm all das genommen wurde?
Was, wenn er es unmöglich machte, sie je wiederzusehen?
Es war ein Risiko, das er eingehen musste. Er war schon zuvor in seinem Leben größere Risiken eingegangen, und er hatte gewonnen.
Aber er hatte auch verloren. Und wenigstens einmal hatte er Liebe verloren, auch wenn es eine andere, sanftere Art der Liebe gewesen war. Und war nicht er es gewesen, der den Preis dafür bezahlt hatte? Konnte er dieses Risiko noch einmal eingehen? Würde er es ertragen und trotzdem weiterleben können?
Was gab es denn sonst noch? Nach all dieser Zeit?
Es war später Nachmittag, als Reid sich von Ty verabschiedete, seinen Anteil an dem Fisch säuberte, duschte und dann alles zusammensuchte, was er brauchte. Er hoffte, Lizbeth würde nicht allzu sehr darüber schimpfen, dass er ihre Küche in Unordnung gebracht hatte, dann machte er sich auf den Weg nach Evergreen.
Cammie war nicht zu Hause, aber das war kein großes Problem für ihn. Mit den Werkzeugen, die er bei sich hatte, gelangte er ins Haus, dann ging er gleich in die Küche.
Er konnte es kaum erwarten, ihr Gesicht zu sehen, wenn sie ihn hier fand. Die Friteuse, die er mitgebracht hatte, stellte er auf die Anrichte, steckte den Stecker ein und griff dann nach der Flasche mit dem Erdnussöl, um es hineinzuschütten. Voller Ungeduld malte er sich aus, was sie wohl sagen würde. Es war gut möglich, dass sie ihm gehörig die Meinung sagen würde. Aber das war ihm gleich, er würde hinnehmen, was sie austeilen würde.
Es hatte eine Zeit gegeben, da war er nicht dazu fähig gewesen. Doch damals hatte er Cammie noch nicht so gut gekannt. Und auch sich selbst nicht.
Es wäre eine Erleichterung, sich nicht länger verstecken zu müssen, endlich ... wie war doch gleich die Phrase, die die Schriftsteller in Spionagegeschichten benutzten? Aus der Kälte kommen? Reid hatte nie gehört, dass jemand diesen Satz je benutzt hatte, in den ganzen Jahren seiner Zugehörigkeit zur Firma nicht. Doch es war eine sehr bildhafte Redensart. Allein zu sein, war eine kalte und einsame Sache.
Immer wenn er an Cammie gedacht hatte, hatte es ihm ein angenehm warmes Gefühl gegeben, selbst, als er gewusst hatte, dass sie mit einem anderen Mann verheiratet war. Das musste er zugeben.
Sie in seinen Armen zu halten, nachdem sie einander geliebt hatten, oder nur sie an sich zu fühlen - mit einer Leidenschaft, die eher geistig war, doch ohne Lust -, hatte einen verborgenen Winkel in seinem Inneren erwärmt, der schon seit Jahren zu Eis erstarrt gewesen war. Er liebte es auch, ruhig neben ihr zu sitzen, zu lesen oder fernzusehen.
Er liebte es, ihr zuzusehen, wenn sie sich über etwas freute, so wie es in New York gewesen war. Vielleicht konnten sie zusammen reisen. Es wäre ein großartiger Zeitvertreib für die Winterabende, Reisen zu planen, Ziele auszusuchen und darüber zu streiten, welche Sehenswürdigkeiten sie sich ansehen sollten, nur wegen der Freude, sich dann wieder zu versöhnen. Er wusste genau, wieviel - oder wie wenig - nötig war, damit er zustimmte, mit ihr überall dorthin zu fahren, wohin sie wollte.
Das Erdnussöl wurde langsam heiß. Er wickelte die Barschfilets aus und wusch sie unter kaltem Wasser ab, ehe er sie zum Abtropfen auf Küchenpapier legte. Dann gab er einige Tassen Maismehl in eine Schüssel und suchte in Cammies Schränken nach Pfeffer und Salz. Er hoffte, dass seine Art den Fisch zu würzen Cammie schmeckte, denn er kannte nur diese eine Art.
Er stellte fest, dass Persephone heute hiergewesen war. Sie hatte das Essen für Cammie in den Kühlschrank gestellt, Schweinekotelett und frisches Senfgemüse. Vielleicht konnte er das Gemüse aufwärmen, damit sie es zu dem Fisch essen konnten, das wäre lecker. Zum Nachtisch war noch ein Kokoskuchen da. Persephone gehörte wirklich zu einer aussterbenden Rasse, genau wie Lizbeth. Sie beide würden schon sehr bald in Pension gehen, und es war unmöglich, sie zu ersetzen.
Cammie und ich werden uns später darum kümmern, überlegte er, wenn es an der Zeit ist. Es machte ihm nichts aus, das Haus zu putzen, und er kochte gern. Nun ja, wenigstens einige Dinge kochte er gern, er war kein Experte auf diesem Gebiet.
Wo würden sie beide leben? Es war ihm egal. Jedes der beiden Häuser würde ein großartiges Museum abgeben, wenn die Stadt diese Schenkung annehmen würde. Oder sie konnten das eine Haus für ihre Rinder behalten.
Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Er ließ seinen Gedanken vielleicht ein wenig zu freien Lauf, aber es machte auf alle Fälle Spaß.
Das Öl war kochendheiß, gerade richtig. Der Fisch war vielleicht noch ein wenig zu naß, denn das Öl zischte und spritzte wie das Sperrfeuer eines Artilleriebataillons, als er den Fisch in die Friteuse legte.
Was jetzt? Kartoffeln schälen. Persephone war eine gute Köchin, ihre Messer waren sehr scharf, mit kleinen Schälmessern konnte sie nichts anfangen und auch nichts mit schlechten Klingen.
Erwarte ich vielleicht zuviel von Cammie, fragte er sich, weil ich einfach so hierhergekommen bin? Es war nicht fair, einen einzelnen Menschen für sein ganzes Glück verantwortlich zu machen. Natürlich hatte sie keine Ahnung, wieviel sie ihm bedeutete, wieviel Macht sie über ihn hatte.
Sie würde es verstehen, wenn er ihr sagte, was er für sie fühlte. Teufel, so wie er Cammie kannte, zweifelte er nicht daran.
Würde er es ertragen können, wenn sie sich anhörte, was er zu sagen hatte, und dann seine Worte gegen ihn benutzte? Vielleicht. Was er nicht ertragen könnte, wäre, wenn sie ihn anhörte und ihm dann lediglich aus selbstlosem Mitleid heraus gab, was er haben wollte. Er nahm an, dass dies im Bereich des Möglichen lag.
Er hörte nicht, wie hinter ihm die Tür geöffnet wurde. Das erste, was er fühlte, war ein Schwall kühler Luft in seinem Nacken und der Hauch einer Berührung an seinem Rücken. Es war so wenig, und doch war es genug.
Instinkte, die er zum ersten Mal in langen Jahren unterdrückt hatte, während er sich auf seine Arbeit und seine Pläne konzentriert hatte, erwachten im Bruchteil einer Sekunde wieder zum Leben. Sie hatten nur einen einzigen, in langem Training erlernten Zweck.
Das Messer drehte sich in seiner Hand, als er herumwirbelte. Die scharfe Kante nach oben, die Spitze nach vorn, stieß er es mit aller Kraft in den weichen Körper des Menschen, der ihn bedrohte. Perfekt abgestimmt, blitzschnell in der Ausführung, gab es für den anderen keine Möglichkeit, sich zu verteidigen.
Ein Hauch von Gardenienparfüm, vermischt mit dem Geruch nach Fisch und heißem Erdnussöl, stieg ihm in die Nase. Eine vertraute, absolut notwendige Anwesenheit, die er mehr fühlte als sah.
Eine Warnung zuckte ihm durch den Kopf wie ein glühendheißer Schmerz. Verstand und Instinkt kollidierten, Muskeln verkrampften sich, Sehnen protestierten. Sein ganzer Körper versteifte sich unter den gegensätzlichen Kräften. Der Schrei, der aus seiner Kehle kam, mischte sich mit dem leisen, weiblichen Aufschrei voller Schrecken und Bedauern.
Zu spät. Krank bis in seine Seele sank Reid in sich zusammen und fühlte, wie der scharfe Stahl durch die Kleidung drang und dann in das warme, nachgiebige Fleisch.
Cammie.
Sie wirbelte von ihm weg und fiel, halb durch seinen Stoß, halb durch ihre Reaktion auf die Gefahr. Ihre Augen waren weit aufgerissen und vor Schmerz ganz dunkel. Das Blut, das sich sofort auf ihrer Kleidung ausbreitete, hinterließ auf ihrem zartgrünen Pullover einen hellroten Fleck.
Er reagierte blitzschnell, noch ehe sie fallen konnte, fing er sie auf. Das Messer warf er in einem großen Bogen gegen die Wand und zog sie dann in seine Arme. Eine rauhe Stimme murmelte unverständliche Worte, seine eigene, stellte er fest, obwohl er selbst nicht verstehen konnte, was er sagte.
»Nicht ... deine Schuld«, flüsterte sie an seiner Brust. Er fühlte ihren heißen Atem durch sein Hemd, und er begann zu zittern. Dann schloss sie die Augen, und er hörte auf zu leben.
Er war zwar anwesend, aber er wusste nicht, was danach geschah, Er zog den Stecker der Friteuse aus der Steckdose und trug Cammie dann in seinen Jeep. Die Schwester in der Notaufnähme des Krankenhauses schrie er an, weil sie zu langsam war, weil sie Cammie weh tat, als sie sie auszog, weil sie wartete, bis sie die Wunde freigelegt hatte, ehe sie nach einem Arzt schickte. Er weigerte sich, Cammie loszulassen, während der Arzt die Wunde untersuchte und sie dann nähte. Er hörte kaum, dass man ihm sagte, es seien keine lebenswichtigen Organe verletzt, die Wunde sei sauber - er hörte nur, dass die Messerklinge nur den Bruchteil eines Zentimeters an der Hauptschlagader des Körpers vorbeigegangen war.
Er hatte das gewusst, der Himmel helfe ihm, das war ja sein Ziel gewesen.
Zu der Zeit war Cammie wieder wach, sie versuchte, ihn zu entschuldigen, während er erklärte, was geschehen war. Sie hatte keine schmerzstillenden Medikamente haben wollen. Sie hatte versucht, sich dagegen zu wehren. Er hatte der Schwester die Spritze aus der Hand gerissen und hatte sie selbst in ihren weichen Körper gestoßen.
Er fuhr sie nach Hause. Auf der Fahrt preßte er die Lippen zusammen, um ihr nicht all die Dinge zu sagen, die er ihr so sehnlich hatte sagen wollen. Und er beobachtete sie, prägte sich das Bild ihres kreidebleichen Gesichtes ein, hielt die Erinnerung daran in seinem Inneren und in seinem Herzen, wo sie nie wieder ausgelöscht werden würde. Für alle Ewigkeit.
Sie wollte nicht, dass jemand bei ihr blieb. Er war alles, was sie brauchte, hatte sie ihm versichert. Dennoch rief er ihre Tante Sara an.
Sie schimpfte ihn aus und erklärte, er sei ein Tyrann. Er antwortete ihr nicht. Sie hatte recht.
Das Schmerzmittel wirkte schließlich, dennoch zuckte Cammie im Schlaf zusammen, als sie versuchte, sich zu bewegen. Erst jetzt kam er in ihre Nähe, er kniete neben dem Bett, zog ihre Hand an seine Lippen und sah, wie sich ihre Brust unter dem Verband hob und senkte. Er zählte den Pulsschlag unter seinen Fingern, berührte leicht ihr weiches, goldbraunes, seidiges Haar. Mit den Fingerknöcheln strich er über ihre Wange und sah, wie die Schatten ihrer Wimpern sich mit den tiefen Schatten unter ihren Augen mischten.
Bis ihre Tante kam. Reid ließ sich von der geschäftigen, verängstigten alten Glucke aus dem Zimmer treiben. Er war ihr sogar dankbar, weil sie ihn davon abhielt, etwas Dummes zu tun, zum Beispiel, Cammie einen Abschiedskuss zu geben.
Sein Jeep stand vor dem Haus, doch er vergaß ihn. Er verließ das Haus durch die Hintertür und wandte sich automatisch dem Wald zu.
Die Dunkelheit, die ihn aufnahm, war irgendwie tröstlich. Er blieb nicht stehen, er ging zwischen den Bäumen hindurch, überquerte Bäche, scheuchte wilde Tiere auf, die sich im Dickicht versteckt hatten, und stürmte tiefer und tiefer in die kühle, alles überdeckende Dunkelheit.
Schließlich hielt er erschöpft an. Jeder Atemzug schmerzte in seinen Lungen, die keuchenden, mühsamen Atemzüge dröhnten in seinen Ohren. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust, Schweiß drang aus jeder Pore. Seine Schritte waren nicht mehr sicher, seine Knie gaben nach.
Er stolperte. Mit beiden Händen versuchte er sich zu halten und griff nach einer Ranke des Sägedornstrauches. Der Schmerz in seiner Hand drang durch den Nebel in seinem Gehirn.
Er sank zu Boden, als sei er es gewesen, den das Messer getroffen hatte. Es hatte keinen Zweck, noch weiterzugehen, er konnte nicht vor dem Schrecken davonlaufen, genauso wenig, wie er ihn vergessen konnte.
Seine Brust schmerzte, als würde sein Herz sich auflösen in dem brennenden Strom ungeweinter Tränen. Er würde sie nicht rinnen lassen, dafür war es zu spät. Er würde sie in seiner Brust verschließen, genauso wie all seine Pläne, all seine liebevollen Träume.
Es war sein Fehler gewesen, das wusste er nur zu gut.
Er hätte nie versuchen dürfen, einem Menschen so nahezukommen, hätte nie daran denken dürfen, mehr zu wollen, als man ihm gewährt hatte.
Töten, verletzen, das war alles, was er konnte. Vielleicht war er wirklich zu nichts anderem nütze.
Das, was er sich am meisten gewünscht hatte, war, Cammie zu lieben und sie zu beschützen. Doch die beste Art, das zu bewerkstelligen, war, sich von ihr fernzuhalten, weit weg von ihr zu bleiben.
Diesmal würde er es schaffen, und wenn es ihn umbrachte.
Und das lag durchaus im Bereich des Möglichen.