22. KAPITEL

Drachen.

Zum wiederholten Mal überprüfte Bran im Spiegel sein Erscheinungsbild und beschloss, noch einen weiteren Ring anzulegen. Die Drachen schätzten sowohl Schönheit als auch Reichtum. Er strich sein dunkles Haar glatt und fegte mit der Hand den feinen Steinstaub von den Schultern seiner Robe.

Er hatte sechs der königlichen Wachen für diesen Auftrag abgestellt. Mehr würden womöglich als Drohgebärde gedeutet, weniger könnten den Eindruck erwecken, der König verfüge über keine bedeutende Streitmacht. Sechs war die perfekte Anzahl, hoffte Bran.

Sie wurden von einem Führer begleitet, der ihnen den Weg zeigen sollte. Ein Troll. Derselbe grauhäutige Fleischberg, der bereits einige Tage zuvor seine Massen ins Gebiet der Drachen geschleppt hatte, um das Treffen zu arrangieren. Behäbig stapfte er den Tunnel entlang, und Bran nahm seinen Platz vor seiner Eskorte ein, um ihm zu folgen.

Der König hatte sich nicht die Mühe gemacht, seinem Bett zu entsteigen und die Abgesandten zu verabschieden, die er ausschickte.

Die Tunnel im Sektor der Trolle mochten früher einmal die verschiedenartigen Formen gehabt haben, welche die Menschen ihnen verliehen hatten und wie sie im Elfenreich auch noch immer anzutreffen waren, doch zahllose Jahre des unbändigen Appetits der Trolle hatten sie zu gigantischen Röhren ausgehöhlt. Kein Bohrgerät der Welt hätte effektivere Arbeit leisten können als das, wovon die riesigen Bissspuren an den Wänden zeugten. Inmitten dieser überdimensionalen Umgebung wirkten die Elfen wie Zwerge, ihr Führer dagegen stieß gelegentlich mit dem Ellbogen an den ein oder anderen Vorsprung, während er immer wieder eine Hand ausstreckte, einige Gesteinsklumpen von der Decke brach und sie sich in den Mund schob.

Bran duckte sich nicht vor dem herabfallenden Schutt. Furcht war Ausdruck eines Mangels an Würde.

Der Weg schien niemals enden zu wollen. Kurz bevor sie die Grenze des Drachenterritoriums erreicht hatten, zwängte der Troll sich in eine Nische, in der er sich umdrehen konnte. „Weiter geh ich nicht.“

So ließen sie ihren Führer dort zurück, wo er, genüsslich zwischen seinen Zähnen Steine zermahlend, auf sie warten würde, und drangen allein ins Gebiet der Drachen vor.

An der ersten Gabelung des Tunnels wurden sie von einem menschlichen Boten in Empfang genommen. Er hob nicht den Kopf, als sie sich ihm näherten, sodass sein Gesicht im Schatten seiner tief hinuntergezogenen Kapuze verborgen blieb. „Folgt mir“, sagte er knapp.

Er trug denselben dunkelroten Umhang wie alle Menschen, die im Dienste der Drachen standen. Das Schutzsymbol mit der goldenen Umrandung auf dem Rücken ermöglichte es ihnen sogar, die Lightworld zu durchqueren, nicht einmal dort wagte es jemand, sie anzugreifen. Jeder andere Mensch hätte eine solche Grenzübertretung mit dem Leben bezahlt. Bran fand diese Sonderregelung grässlich. Ganz gleich wie loyal die Kreaturen auch sein mochten, sich einen Sterblichen in seinem Quartier zu halten …

Er ließ sich jedoch nichts anmerken, sondern ging mit unbewegtem Gesichtsausdruck hinter dem Boten her und versuchte, dabei möglichst selten einzuatmen. Selbst wenn sie auf den ersten Blick sauber zu sein schienen, Menschen stanken immer nach Schweiß und Fäkalien.

In ihren Behausungen stellten die Drachen ihren Reichtum offen zur Schau. Nur vereinzelt blitzte an den Wänden hier und dort ein Stück Tapete durch, wo sie nicht mit glitzernden Edelsteinen gepflastert waren, und auf den Böden lagen überall glänzende Gold- und Silbermünzen herum. Aber es gab auch noch andere Beweise der Überlegenheit zu sehen: Aus eigens zu diesem Zweck in den Fels gehauenen halbrunden Mulden starrten die Schädel sämtlicher Rassen des Untergrundes den Besucher aus schwarzen leeren Augenhöhlen an. Zweifelsohne war diese Ausstellung als Warnung gedacht.

Bran glättete mit den Händen seine Haare und rückte die Verschlüsse seiner Robe zurecht.

Der Bote führte sie schweigend durch etliche verschlungene Gänge und Tunnel, bog dabei scheinbar wahllos einmal nach links, dann wieder nach rechts ab, sodass Bran schon bald nicht mehr die geringste Ahnung hatte, in welcher Richtung sich der Ausgang befinden könnte. Genau das sollte damit offenbar erreicht werden.

Alles, was er tun musste, war, die Ruhe zu bewahren und sich auf seinen Auftrag zu konzentrieren. Je eher er den ausgeführt hatte, desto schneller konnte er diesen abscheulichen Ort wieder verlassen. Und sobald der König erst einmal die Unterstützung der Drachen hätte, wäre auch das lächerliche Exil beendet, und sie alle würden endlich zu ihrer eigenen Rasse und in ihre eigenen Quartiere zurückkehren können.

Hinter der nächsten Abzweigung tat sich abrupt ein spärlich beleuchteter Raum vor ihnen auf. Im flackernden Licht der Feuerstellen im Boden funkelten mehrere längliche Münzhäufchen, Ausläufer eines gewaltigen Berges aus Goldstücken, Juwelen und anderen Kostbarkeiten. Darauf lag eine zusammengerollte, gelbgrüne, mit Schuppen bedeckte Masse.

„Ein Abgesandter des Elfenherrschers“, sagte der Bote leise, und zwei orangefarbene runde Augen mit schlitzförmigen schwarzen Pupillen leuchteten in der Dunkelheit auf, als der Drache erwachte.

Der Mensch setzte sich neben ihn und sagte: „Die letzte Kontaktaufnahme des Elfenoberhauptes mit uns liegt lange zurück.“

Bran starrte den Sterblichen an, erschüttert, dass dieser wie selbstverständlich an einem Gespräch zwischen zwei ihm übergeordneten Wesen teilnahm. Doch dann zog sich die Pupille in einem der orange glühenden Augen zusammen, und Bran verstand. Der Drache sprach durch seinen Menschen.

Er verbeugte sich rasch. „Viel zu lange, soweit es meinen Meister betrifft.“

„Und wer ist Euer Meister? Wir hörten, dass die Königin der Diebe ein unseliges Ende gefunden haben soll.“ Zwischen den Zähnen des Drachen quoll eine Wolke schwefligen Rauches hervor, und dabei machte er ein Geräusch, das man, wäre es von jedweder anderen Kreatur gekommen, für ein Lachen hätte halten können.

„Ja. Mein Meister, König Garret, hat in der Tat den Verlust seiner Schwester zu beklagen.“ Bran gab einem seiner Wachleute, der die Schatulle mit den Juwelen trug, ein Zeichen. „Wie dem auch sei, er freut sich sehr darauf, mit Eurem Volk eine langfristige Allianz aufzubauen, die zu unser beider Vorteil sein wird.“

Der menschliche Helfer erhob sich und nahm von dem Wachmann die geöffnete Schatulle entgegen. Dann hielt er sie vor das ungeheuer große Auge, und in den Schuppenberg kam Bewegung. Ein Schwanz wurde ausgerollt und wirbelte dabei eine Woge Münzen unter sich auf. Er war lang und mit spitzen knöchernen Stacheln versehen. Eine Klaue, größer als der Kopf des Menschen, im Vergleich zum übrigen Körper der Kreatur jedoch verhältnismäßig klein, schnellte vor, und der Inhalt der Schatulle wurde erstaunlich behutsam mit einer schwarz glänzenden Kralle durchstöbert.

Der Mensch kehrte zu seinem Platz neben dem Drachen zurück und setzte sich. „Ein wahrlich armseliges Geschenk, angesichts dessen, was uns zuvor heimtückisch gestohlen wurde.“

„König Garret ist sich dessen bewusst, dass wir Euch bedeutend mehr schulden als dieses bescheidene Präsent. Leider ist es ihm momentan nicht möglich, die Euch zustehenden Güter zurück in Euren Besitz zu übergeben.“ Bran räusperte sich und gab vor, über das, was er als Nächstes sagen würde, zutiefst beschämt zu sein. „Er weilt bedauerlicherweise zurzeit im Exil.“

„Exil?“ Ein zweites, von gelblich grauem Qualm begleitetes Lachen. „Welcher König lässt sich aus seinem eigenen Reich vertreiben? Und wie kann ein männlicher Elf Herrscher Eures Volkes sein?“

Dieses Wesen ging eine Spur zu unbekümmert mit der ganzen Situation um. Es zeigte nicht den Respekt, der einem Abgesandten des Elfenkönigs eigentlich entgegengebracht werden sollte. Bran schluckte seinen Ärger hinunter, bevor er antwortete: „Er ist das Opfer einer Intrige geworden. Seine Gefährtin, eine arglistige Halbelfe ohne einen Tropfen königlichen Blutes und auch sonst ohne jedwegen Anspruch auf den Thron, hat sich bei mehreren wichtigen, aber offensichtlich leicht zu beeinflussenden Personen am Hof eingeschmeichelt, um mit deren Hilfe den König in die Verbannung zu zwingen.“

Die Augen des Drachen fielen mehrmals nacheinander zu und öffneten sich kurz darauf wieder, während er seine Gedanken durch den Mund des Menschen in Worte umwandelte. „Ihr langweilt uns. Eure politischen Angelegenheiten sind für uns nicht von Belang.“

„Verzeiht meine Direktheit“, begann Bran, jetzt musste er sich noch stärker darum bemühen, dass seine Stimme nicht verriet, wie verärgert er war. „Sie sind von Belang für Euch. Die Hochstaplerin hat sich der Schätze bemächtigt, die Euch gehören. Sie prahlt damit bei Hofe und macht sich darüber lustig, wie leicht Ihr doch zu übervorteilen seid.“

Mit einem Brüllen, das die Wände erzittern und die Münzen zu Brans Füßen klirren ließ, erhob sich das riesige Geschöpf. Es war ein atemberaubender Anblick, wie dieser gigantische grün gefleckte Drache sich in dem für ihn viel zu kleinen Raum zu seiner vollen Größe aufrichtete. Kopf und Hals, obwohl eingezogen, berührten die Decke, und die Spitzen der gewaltigen Flügel stießen zu beiden Seiten an den Wänden an.

Über das Gebrüll hinweg schrie der Mensch: „Glaubt Ihr, wir lassen uns von so etwas beeindrucken? Wir, die älter sind als jeder Elf, der in längst vergangener Zeit die Grasebenen durchstreifte, und jeder Troll, der darunter seine Höhlen grub? Glaubt Ihr, wir fühlen uns bedroht durch die lächerlichen Taten einer unbedeutenden Elfe?“

„Wir glauben, Ihr verdient mehr Respekt, als sie Euch zollt“, donnerte Bran zurück. Dies war der Moment, in dem er sich beweisen konnte. Ein solches Wesen wie dieser Drache, daran gewöhnt, stets gefürchtet und oftmals förmlich angebetet zu werden, wusste es sicherlich zu schätzen, wenn ihm zur Abwechslung einmal jemand unerschrocken gegenübertrat, als sei er ihm ebenbürtig.

Der Drache hielt in seinem Zornesausbruch inne, dann legte er sich langsam in seine vorherige Position nieder.

„Wir hören“, sagte der Mensch.

„Mein Meister, der König, beabsichtigt, alles zurückzuerstatten, was seine Schwester sich angeeignet hat, aber dies kann er erst tun, nachdem er wieder in sein Amt eingesetzt wurde. Wenn Ihr seine Offensive unterstützen würdet, hätte die falsche Königin keine andere Wahl, als abzudanken, und er könnte die Regentschaft übernehmen. Dann wäre er in der Lage, Euch die entwendeten Wertgegenstände zukommen zu lassen.“ Bran nickte in Richtung der umgekippten Schatulle mit den Juwelen, deren funkelnder Inhalt auf dem Boden verstreut lag. „Und mehr.“

Der Drache schnaubte ihm einen Schwall Luft entgegen, der so heiß war, dass Bran nur mit Mühe den Impuls unterdrücken konnte, sein Gesicht mit den Händen zu schützen. „Ihr setzt das, was unser ist, also als Druckmittel ein? Welches Ihr zurückhaltet, bis wir Eurem Wunsch nachkommen?“

Dies war eine Wendung, die Bran nicht vorhergesehen hatte, aber es schien, als beginne der Drache zu begreifen, worum es ging, und endlich verhandlungsbereit zu werden. „Ich würde es nicht als Druckmittel bezeichnen. Eher eine Geste der Freundschaft.“

„Wir schenken unsere Freundschaft denen, die sich unsere Achtung verdienen, und bezahlen diejenigen, denen wir etwas schulden.“ Die großen Augen schlossen sich. „Niemals aber jenen, die versuchen, sie sich mit wertlosem Plunder zu erkaufen.“

Bran atmete tief ein und erklärte energisch: „Ihr schuldet uns etwas!“

Die Augen wurden aufgerissen und weiteten sich erstaunt. Bran trat einen Schritt vor. „Das Elfenreich liegt am dichtesten an der Grenze, die zum Streifen führt. Eure Menschen durchqueren jeden Tag unser Gebiet. Kürzlich ist es einem unserer Feinde aus der Darkworld gelungen, unerkannt in unser Territorium einzudringen, verkleidet als einer Eurer Boten. Meinem König Eure Unterstützung zuzusagen wäre das Mindeste, das Ihr tun könntet, um die Gewissenlosigkeit Eures Dieners wiedergutzumachen, der dem Darkworlder seinen Umhang überlassen hat.“

Der Drache klappte die Augenlider zu, nur zwei schmale orangefarbene Schlitze blieben zurück, die wie glühende Säbel in der Dunkelheit leuchteten.

Der menschliche Kurier, der Brans abgetrennten Kopf brachte, ließ Garrets Hoffnung auf die Hilfe der Drachen zerplatzen wie eine Seifenblase.

„Wir sind nicht empfänglich für Drohungen“, hatte der Mann unter seiner Kapuze gezischt, ehe er wieder in der tiefschwarzen Düsternis der Trollgänge verschwunden war.

Nun denn, die Drachen würden sich also nicht mit ihm verbünden.

Mit einem dumpfen Grollen fegte er die Schatulle mit den Juwelen – und Brans Kopf – von dem Tisch, auf dem beides stand.

„Komme ich ungelegen?“

Seine Nackenhaare stellten sich auf, noch bevor er herumwirbelte und den Störenfried überhaupt sah. „Was wollt Ihr?“

Flidais, die verräterische Vertraute seiner Schwester, stand im Eingang der Höhle. Sie hob ihre Robe an und stieg vorsichtig über den blutigen Kopf hinweg. „Ich kann nicht sagen, dass ich sein jähes Ende bedauern würde. Er roch immer so penetrant nach Lavendelwasser. Zu viel Lavendelwasser.“

Plötzlich auf seinen eigenen Geruch aufmerksam geworden, schnupperte Garret heimlich an seiner Schulter. Verfluchte Flidais. Sie hatte eine Art an sich, mit diesen scharfen, stechenden Augen und ihrer besonnenen Natur, die sogar den selbstbewusstesten Elfen dazu bringen konnte, in ihrer Gegenwart unsicher zu werden. Manche Elfen hatten die Fähigkeit, andere mit ihrer Schönheit zu verunsichern. Flidais war nicht schön. Es lag an ihrem Blick, mit dem sie ihn offen und ohne zu blinzeln ansah, als hätte sie nichts zu verbergen, während er versuchte, alles Mögliche vor ihr zu verstecken.

Nein, auch sie musste einen Schwachpunkt haben. Etwas, womit er arbeiten konnte.

„Meine Gefährtin hat Euch geschickt.“ Er bedeutete einer Wache, sich um Brans Überreste zu kümmern, und streckte Flidais eine Hand entgegen. „Tretet ein. Mein Hausstand ist zwar um einiges bescheidener geworden, aber Ihr seid mir natürlich jederzeit willkommen.“

„Selbst nachdem ich Euch nicht in Euer selbst gewähltes Exil gefolgt bin.“ Sie ging an ihm vorbei, ohne seine Hand zu nehmen. „Ich bin hier als eine Delegierte in Kriegszeiten, gemäß des Kodexes der großen Gefechte von Tuatha. Während meines Aufenthaltes im Feindeslager genieße ich demnach absolute Immunität, und mir darf keinerlei Leid zugefügt werden. Akzeptiert Ihr diese Vereinbarung?“

„Flidais, bitte.“ Garret lächelte und machte sich auf die Suche nach der Kiste mit Menschenwein, die sie zufällig in der losen Erde einer der Wände entdeckt und ausgegraben hatten. „Ich könnte Euch niemals etwas antun, nicht einmal, wenn Ihr in der Absicht gekommen wäret, ein Attentat auf mich zu verüben.“

Sie gab ein leises Lachen von sich, ein grunzender, unweiblicher Ton. „Ein Mordanschlag ließe sich nur schwerlich ausführen, nachdem einem durch Eure Wachposten sämtliche Waffen abgenommen worden sind.“

„Ah, also hat sie es in Erwägung gezogen?“ Er goss etwas von dem Wein in einen seiner edlen hölzernen Becher und hielt ihn ihr hin. „Es bricht mir das Herz zu hören, dass meine Gefährtin, die ich einst inniglich liebte, eines solchen Verrates an mir fähig sein sollte.“

„Verrat?“, wiederholte Flidais und machte eine ablehnende Handbewegung. „Ich werde nicht so lange bleiben. Aber sagt mir, wie könnte sie sich – als Königin – des Verrates an Euch schuldig machen? Ihr seid schließlich nur ihr Gefährte.“

„In ihren Adern fließt kein königliches Blut!“ Er knallte den Becher auf die Tischplatte, so heftig, dass dabei die Weinflasche umkippte und sich ihr verbliebener Inhalt klatschend auf den Fußboden ergoss. „Bin ich der einzige Elf, dem der Stolz auf die Reinheit unserer Blutlinie noch etwas bedeutet?“

Flidais kniff die Augen zusammen. „War Euch denn nicht bewusst, dass durch Eure Bindung mit ihr auch Euer Adelsstand auf sie übergeht? Dass Ihr, indem Ihr sie zu Eurer Gefährtin macht, damit gleichzeitig jedes Anrecht auf den Thron verliert?“

Er nahm einen Schluck des sauren Menschenweines und wandte den Blick ab.

„Ihr wusstet es. Ebenso wie Ihr wusstet, welch mächtige Feinde Eure Schwester hatte.“ Abermals kam einer dieser abfälligen Grunzlaute über ihre Lippen. „Hättet Ihr Gelegenheit dazu gehabt, wäre Königin Ayla bereits ebenfalls tot. Und Eure Herausforderung zu einem Duell beweist, dass Ihr noch immer plant, Euch ihrer zu entledigen. Aber warum sie? Weil sie ein Niemand war? Weil Ihr dachtet, sie sei leicht zu manipulieren und es würde vielleicht gar nicht nötig sein, sie später aus dem Weg zu räumen?“

Garret drehte sich ruckartig zu ihr um. „Ihr sagtet, Ihr kämt als Abgesandte. Also überbringt mir endlich die Nachricht, die Ihr für mich habt, und dann verschwindet!“

Sie bedachte ihn mit einem lauwarmen Lächeln, nickte und griff in ihre Robe, aus der sie ein gefaltetes Pergament hervorzog. Sofort erkannte Garret sein eigenes, gebrochenes Siegel darauf.

„Es scheint, als bekämt Ihr letztendlich doch noch Eure Chance, die Königin zu töten.“ Sie warf das Papier auf den Boden, mitten in die Blutlache, die das trockene Erdreich tiefrot gefärbt hatte. „Das sollte Euch doch ein Leichtes sein, schließlich habt Ihr ja Erfahrung darin.“

Er schmiss ihr die Weinflasche hinterher, doch sie verfehlte ihr sich mit unerschütterlicher Ruhe entfernendes Ziel, wenn auch nur knapp, und zerschellte am Bogen des Höhleneingangs.

Es war nun schon eine Weile her, seit Ayla eine Waffe in Händen gehalten hatte, und trotzdem fühlte es sich an, als sei es erst gestern gewesen. Sie absolvierte ihre Formen mit großer Konzentration und Sorgfalt, ließ immer wieder das Breitschwert in einem ovalen Bogen hinabsausen, verteilte blitzschnelle Hiebe zu jeder Seite, mit denen die Klinge mühelos die Luft durchschnitt und ganze Heerscharen imaginärer Gegner niedermähte.

Aber es gab nur einen Gegner. Den sie fürchtete.

Garret würde die Streitaxt wählen. Sie war immer seine bevorzugte Waffe gewesen, die er meisterhaft beherrschte und schon in vorderster Front im Gefecht gegen die Menschen und bei den Kämpfen zwischen ihren eigenen Völkern geschwungen hatte. Die erste, in deren Gebrauch er Ayla unterwiesen hatte.

Das Einzige, dem sie niemals etwas hatte entgegensetzen können, wenn er sie damit angriff.

Die Tür der Trainingshalle wurde geöffnet, und Ayla steckte, völlig entgegen ihrer Gewohnheit, ihr Schwert rasch zurück in seine Lederscheide. Es war Cedric, der eintrat, und in seinen Augen, in letzter Zeit so oft von Kummer getrübt, flackerte Erheiterung unter den goldblonden Brauen auf. „Es ist erfrischend zu sehen, wie eine Königin sich ihrer Herkunft erinnert.“

Nicht in der Stimmung für freundschaftliche Plauderei, zog sie ihr Schwert wieder hervor und hob es erneut über den Kopf. „Ihr habt ihn kämpfen sehen.“

„Ja.“ Cedric schritt langsam den äußersten Kreis des Gildensymbols auf dem Boden entlang. „Er ist ein äußerst fähiger Krieger.“

„Falls Eure eigenen Fähigkeiten noch nicht allzu eingerostet sind, nehmt Euch eine Axt und macht Euch nützlich.“ Sie schob unwirsch eine schweißnasse Haarsträhne weg, die ihr in die Stirn gefallen war.

Cedric verbeugte sich und legte seine Robe ab, sodass er mit freiem Oberkörper, nur noch mit seiner dunkelbraunen Hose aus dickem Leder bekleidet, vor ihr stand. Für einen Moment sah sie zum ersten Mal den attraktiven Elf in ihm anstelle ihres ehemaligen Gildenmeisters, der ihr ein treuer Freund geworden war. Er hatte etwas durchaus Anziehendes an sich, mit diesen straffen und doch geschmeidigen Muskeln eines gut ausgebildeten Kriegers. Hätte sie nicht all diese Jahre in dem festen Glauben verbracht, nichts weiter als eine wertlose Halbelfe zu sein, wäre er ihr womöglich eines Tages als potenzieller Gefährte ins Auge gefallen.

Aber nun war ihr Darkworlder derjenige, dem ihr Herz gehörte.

Sie verdrängte die Gedanken an Malachi, die den Baum ihrer Lebenskraft vibrieren und in ihrer Brust seine Äste ausbreiten ließen. Wenn sie abgelenkt durch ihre Gefühle für ihn in diesen Kampf ginge, würde sie unterliegen. Der lähmende Schmerz würde sie außer Gefecht setzen, und Garret hätte leichtes Spiel.

Cedric hob die Axt und nahm seine Kampfstellung ein, die exakt der entsprach, die sie von Garret gewöhnt war. Er kannte dessen Taktik gut.

Ohne dass Ayla fragen musste, erklärte er: „Ich bin nicht so alt geworden, indem ich die Tatsache ignoriert habe, dass es im Palast manchen Elf gibt, der etwas machthungriger ist als ich selbst.“

Er führte einen ausladenden Hieb gegen sie, der sie auf reichlich Abstand hielt, genau wie Garret es tun würde.

Ayla sprang zurück und öffnete ihre Flügel, sich mit hoch über ihrem Kopf erhobenem Schwert vom Boden abstoßend, bereit, ihrem Gegner einen tödlichen Schlag zu versetzen. „Ihr wusstet, dass er Euch eines Tages gefährlich werden könnte?“

Cedric wich dem Angriff problemlos aus. „Gut, gut. Ihr zieht die Konfrontation nicht unnötig in die Länge, sondern wollt so schnell wie möglich eine Entscheidung herbeiführen.“

„So hat er es mich gelehrt“, schnaufte sie, machte in der Luft einen Salto und landete auf den Füßen, rechtzeitig Cedrics nächsten Streich parierend. „Hattet Ihr Angst vor ihm?“

„Ich fürchte niemanden, Ayla.“ Er ging einen Schritt rückwärts, wieder eine sichere Distanz zwischen ihnen herstellend. „Haltet den Ellbogen niedriger, Ihr lasst Eure linke Seite sonst ungeschützt.“

„Wenn Ihr es habt kommen sehen und offenbar auch jeder andere am Hof …“, Ayla ging in die Hocke und stieß nach Cedrics Beinen, „weshalb ist es mir dann entgangen?“

Dies war der Augenblick, in dem Garret ihre Unaufmerksamkeit genutzt und ihre Arme abgehackt hätte, doch Cedric wählte einen anderen Weg. Er sprang über sie hinweg und packte sie von hinten, bremste nur Millimeter vor ihrem Rücken die Axt ab, ehe sie sich in ihre Wirbelsäule bohren konnte.

Keuchend und schwitzend drehte sie sich aus seinem Griff und ließ sich erschöpft auf die Knie fallen. „Warum konnte ich es nicht sehen? Warum habe ich nicht erkannt, wie er wirklich ist?“

Er legte die Axt beiseite und setzte sich neben Ayla. Sein starker Arm fühlte sich warm und tröstlich auf ihrer Schulter an. So wie es der eines Freundes würde. Und da wurde ihr bewusst, dass sie nie einen echten Freund gehabt hatte. Garret war der Einzige gewesen, den sie jemals als ihren Vertrauten betrachtete, und jetzt, da er seine wahre Natur offenbart hatte, konnte sie nicht fassen, dass sie auf ihn hereingefallen war.

Cedric lehnte sacht den Kopf an ihren. „Weil Ihr anständiger seid als die meisten von uns. Jemand ohne auch nur einen Funken Heimtücke in sich ist kaum in der Lage, eine solche Niedertracht bei einem anderen zu vermuten.“

„Aber ich kann es jetzt.“ Plötzlich wurde sie von einer bleiernen Müdigkeit überwältigt, die eine simple Trainingsstunde normalerweise nicht hätte verursachen dürfen. „Bedeutet das, dass ich dabei bin, so zu werden wie er?“

„Es bedeutet, dass Ihr wachsam seid.“ Cedric stand auf und hielt ihr eine Hand entgegen. Als sie sich auf die Füße gerappelt hatte, hob er ihr Schwert auf und warf es ihr zu. „Und gleich noch einmal.“

Dieses Mal schlug sie zu, ohne zu warten, bis Cedric bereit war. Ein ehrloser Akt, aber Garret würde auch nicht ehrenhaft kämpfen. Ihre Attacke traf Cedric völlig unvorbereitet, und er nickte anerkennend, nachdem er sie gerade noch hatte abwehren können. „Nun habt ihr die richtige Einstellung, um gegen ihn zu bestehen.“

Die richtige Einstellung. Vielleicht. Doch die Vorstellung, in Zukunft mit einer solch kaltschnäuzigen Geisteshaltung durchs Leben gehen zu müssen, erschreckte sie. „Nach ihm werden andere kommen.“ Sie presste die letzten Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als sie abermals auf ihn zustürmte.

Cedric sprang zur Seite und ließ seine Axt von oben auf ihre Klinge krachen, um sie davon abzuhalten, sie erneut zu erheben. „Ihr werdet immer Feinde haben. Ihr seid die Königin des Elfenreiches.“

„Also muss ich bis ans Ende meiner Tage in Furcht leben?“ Sie breitete die Flügel aus und versetzte ihm aus der Luft einen Tritt gegen die Brust, der ihn zu Fall brachte. Dann riss sie ihr frei gewordenes Schwert hoch. In letzter Sekunde, kurz bevor der Stahl Cedrics Kehle berührte, stoppte sie ihren Hieb. „Wenn es das ist, was es heißt, Königin zu sein, dann kann ich darauf verzichten.“

Sie zog ihre Waffe weg, und Cedric sprang mit einem eleganten halben Flickflack wieder in eine aufrechte Position. „Dann lasst Euch von Garret niedermetzeln. Oder übergebt ihm kampflos den Thron, und er tötet Euch eben anschließend. Aber was Ihr auch tut, am Leben werdet Ihr nur bleiben, solange Ihr die Königin seid.“

Mit einem wütenden Aufschrei der Frustration rammte Ayla ihr Schwert in einen der Waffenständer an der Wand. Als das Scheppern der herausgefallenen Lanzen und Säbel verklungen war, hatte sie sich wieder einigermaßen beruhigt, zumindest äußerlich. In ihrem Inneren rauschte die Verzweiflung wie eine Welle eisigen Wassers durch ihren Körper. „Ich könnte von hier fortgehen. Mich mit Malachi einfach irgendwo in der Darkworld niederlassen.“

„Garret würde Euch finden.“ Cedric gestand ihr nicht einmal die Illusion eines eventuellen Ausweges zu. „Ihr müsstet stets auf der Flucht sein. Als seine legitime Gefährtin stellt Ihr eine Bedrohung für ihn dar, und selbst wenn die Bindung nicht unauflösbar wäre – Ihr seid die Mutter eines Thronfolgers, was Euch für ihn sogar noch gefährlicher macht.“

„Wie legitim kann unsere Bindung schon sein?“ Sie bemerkte den gereizten Unterton in ihrer Stimme, konnte ihn aber nicht unterdrücken. „Er will mich tot sehen.“

„Und Ihr habt Euch in der Nacht Eurer Vermählungszeremonie zu einem Darkworlder davongestohlen. Er hat ebenso viel Grund, Euch tot sehen zu wollen, wie Ihr ihn.“ Cedric ging zu seiner abgelegten Robe und hob sie auf. „Habt Ihr schon mit Malachi gesprochen?“

Ayla sortierte schweigend die am Boden verstreut liegenden Waffen wieder in den Ständer. Sie mochte die Königin sein, aber das gab ihr nicht das Recht, ihre Wut an den Ausrüstungsgegenständen der Gilde auszulassen. Außerdem konnte sie es vermeiden, Cedric ansehen zu müssen, wenn sie vorgab, beschäftigt zu sein. „Nein.“

Er erwiderte lange Zeit nichts darauf. Bedächtig ordnete er die Falten seiner Robe, rückte den Gürtel gerade, glättete seine zerwühlten Haare. Als er schließlich sprach, klang er nicht verärgert oder enttäuscht, wie Ayla es eigentlich erwartet hatte. „Ich werde nicht für Euch sprechen. Solange er nicht darüber informiert wurde, dass ich den Auftrag habe, ihn in die Darkworld zurückzubringen, werde ich es nicht tun, und Ihr müsst die Konsequenzen dessen tragen, was geschieht, wenn er hierbleibt.“

Für einen Moment war sie versucht, ihn zu fragen, was er sich erlaubte, so mit seiner Königin zu sprechen. Aber es wäre lächerlich gewesen, ihn für seine schonungslose Ehrlichkeit zu rügen, genau die Art Offenheit, auf die sie in ihrer Situation am meisten angewiesen war, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

„Ich gehe heute Abend zu ihm. Ich werde versuchen, es ihm zu erklären.“ Sie spürte einen Stich in ihrem Herzen. „Er wird wütend sein.“

„Kein Wunder“, bemerkte Cedric leise, und dann, als eine betretene Stille zwischen ihnen entstand, „verzeiht mir, Eure Hoheit, es steht mir nicht zu …“

„Nein, das tut es nicht“, stimmte Ayla zu, doch sie wusste, dass er recht hatte. „Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Ich habe einen Entschluss gefasst, und nun muss ich, wie Ihr sagtet, die Konsequenzen tragen.“

Sie wünschte nur, dass nicht eine dieser Konsequenzen darin bestünde, Malachi fortschicken zu müssen. Vielleicht für immer.