8. KAPITEL

Zur vereinbarten Stunde verließ Ayla das Refugium und machte sich auf den Weg zu Garrets Unterkunft außerhalb der Palastmauern. Als einziger Ort, an dem es echte, lebende Bäume gab, war das Refugium die größte Kostbarkeit der Lightworld. So kostbar, dass es rund um die Uhr bewacht wurde, nicht, dass noch irgendein unwürdiger Darkworlder diesen heiligen Boden betrat und ihn entweihte. Umgeben von den kristallklaren Wassern der Quellen konnte Ayla ihr Elfenblut so intensiv spüren, dass es sich beinahe anfühlte, als sei es das Einzige, das durch ihre Adern floss. Als würde nicht etwas so Perfides wie Menschlichkeit ihre Reinheit beflecken.

Dieser Effekt hielt leider nicht lange an, nachdem sie den Hort der Ruhe und Klarheit verlassen hatte. Ihr Herz war genauso bleischwer wie das Schwert, das sie auf dem Rücken trug. Normalerweise hätte sie es nicht mitgenommen, aber ihr war in letzter Zeit mehrfach aufgefallen, wie Sar, ein Kobold, der am Ende ihrer Pritschenreihe schlief, es ein bisschen zu interessiert in Augenschein nahm, und Gelegenheit machte bekanntlich Diebe. Außerdem würde Garret ihr wahrscheinlich den Auftrag erteilen, den er für sie angenommen hatte, und dann brauchte sie ihre Waffe ohnehin. Es wäre eine willkommene Möglichkeit, seinen bohrenden Fragen zu entgehen und abzuwarten, bis diese Sache mit dem Darkworlder in Vergessenheit geraten war. Wenn sie ihm die Wahrheit beichtete, würde er ihrem menschlichen Blut die Schuld geben und sie damit beschämen.

Diese Selbstzweifel sind Garrets Werk, flüsterte eine innere Stimme ihr zu, doch sie schob sie beiseite. Garret machte keinen Hehl aus seiner Verachtung für ihren Menschenanteil, aber er hatte schließlich auch allen Grund dazu. War die Menschheit nicht der Feind, der die Elfen in den Untergrund verbannt hatte? War es nicht einer von ihnen gewesen, der sein Schwert gegen die Harpyenkönigin geschwungen und die Darkworld ins Chaos gestürzt hatte? Ayla dankte den Göttern, dass Mabb nicht in jener Schlacht gefallen war. Eine flächendeckende Gesetzlosigkeit wäre für die Elfen unerträglich, für sie, denen Rituale und gutes Benehmen über alles gingen.

Ayla schritt durch das große Tor des Palastes. Wie immer wurde die Gasse davor bis auf den letzten Platz von Lightworldern bevölkert, die in ihren provisorischen Unterschlupfen darauf warteten, zu ihrer Audienz bei der Königin vorgelassen zu werden. Für jemanden, der nicht dem Hofstaat angehörte, war es äußerst schwierig, einen solchen Termin zu ergattern. Noch schwieriger für diejenigen, die nicht in einer Gilde oder zumindest in deren Räumlichkeiten untergekommen waren. Für alle anderen, die ihr Dasein außerhalb der Palastmauern fristeten, war es nahezu unmöglich, auch nur ein winziges Fitzelchen von Mabbs Aufmerksamkeit zu erhaschen. Trotzdem nahmen diese bedauernswerten Kreaturen, die es nicht besser wussten, immer wieder massenhaft eine lange Reise auf sich, die manchmal Tage dauerte und durch sehr gefährliche Tunnel führte. Bei ihrer Ankunft nahm einer der Wachleute ihren Namen und den Grund ihres Besuchs auf, markierte dann mit Kreide einen Platz auf dem rissigen Betonboden und bat den frisch Eingetroffenen höflich, sich zu gedulden, bis die nächste Audienz verfügbar sei. Es war jedoch keinesfalls so einfach, wie es sich anhörte. In ihren kurzen fünf Jahren, die sie jetzt in der Lightworld lebte, hatte Ayla schon unzählige Pilger ankommen sehen, geradezu um ein Gespräch mit der Königin bettelnd, und nicht einer von ihnen hatte sie jemals auch nur zu Gesicht bekommen. Einige harrten so lange aus, bis ihre ausgemergelten Körper irgendwann aufgaben. Neue Hoffende wurden geboren, um ihren Platz einzunehmen. Wenn jemand eine Unterredung mit der Königin wünschte, so konnte er darauf warten, bis er schwarz wurde.

Mit hoch erhobenem Kopf und den Blick stur geradeaus gerichtet, bahnte Ayla sich einen Weg durch das Gedränge. Diese Strecke musste Garret jeden Tag zurücklegen, oder zumindest sagte er das. Ayla hatte allerdings Gerüchte gehört, denen zufolge es geheime Gänge geben sollte, die aus dem Palast führten, sodass Mabb in andere Teile der Lightworld reisen konnte, ohne belästigt zu werden. Sicherlich hatte auch Garret Zutritt zu jenen versteckten Pfaden, also nahm Ayla ihm seine Behauptung nicht ab. Niemand würde sich freiwillig diesem deprimierenden Anblick aussetzen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

Irgendwo schrie ein Baby, ein kleiner Wurm, der zweifellos nicht nur erst vor Kurzem auf die Welt gekommen war, sondern sich bereits mit seiner Geburt in die Massen der Wartenden einreihte. Verschwendet doch nicht euer Leben damit, so eine adlige Müßiggängerin zu vergöttern, dachte Ayla bitter. Alles, wofür Mabb sich interessiert, sind eure Huldigungen und eure Geldstücke.

Eine Hand schloss sich um ihren Knöchel und brachte sie beinahe zu Fall. Sie schaute nach unten und beging den Fehler, der bedauernswerten Gestalt in die Augen zu sehen, die nach ihr gegriffen hatte.

„Bitte“, krächzte die Elfe, dabei eine Zahnreihe mit etlichen Lücken entblößend. Es war keine richtige Elfe, doch sie musste zumindest ein wenig Elfenblut in sich haben, egal wie verwässert, um in der Lightworld geduldet zu werden. „Du trägst das Zeichen der Gildenangehörigen. Kannst du mich zur Königin bringen?“

Bevor sie etwas erwidern konnte, fand sich Ayla unvermittelt von noch weiteren elfenartigen Kreaturen und einem wilden Stimmengewirr umgeben. „Wie sieht sie aus?“, „Ist sie bei guter Gesundheit?“, „Wird sie uns bald empfangen?“

Dann wurde aus den neugierigen Fragen plötzlich ein panisches Kreischen, als eine der Wachen brutal eine Schneise durch den Pulk schlug und Ayla damit einen Fluchtweg eröffnete.

Wie nur, fragte sie sich, konnte Garret so freundlich und großzügig sein, während seine Schwester das genaue Gegenteil verkörperte? Waren die Rollen der Königin und des männlichen Nachkommen derart unterschiedlich?

Es musste wohl so sein, entschied sie, als sie die letzte Tür durchschritt, die das Palastareal von der restlichen Lightworld trennte. In dem Tunnel, der zum Palast führte, reihte sich eine Verkaufsbude an die nächste, allesamt ein buntes Sortiment von Waren mit Mabbs Gesicht oder wenigstens ihrem Namen darauf feilbietend. Erschöpft von der langen Reise durch die Lightworld? Nimm Mabbs Energietrunk! Gebrauchte Siegelringe! Schneller und einfacher zur Audienz durch Dokumente mit Mabbs Originalsiegel!

Garret verlangte es nicht nach dieser Art des Personenkultes, den Mabb um sich geschaffen hatte. Es war ein Jammer, dass ausschließlich weibliche Nachkommen den Thron besteigen konnten. Er hätte solch einen Zirkus gar nicht erst entstehen lassen.

Aber er hatte auch nicht seine Kindheit und Jugend voller Einschränkungen und Verbote verbracht so wie Mabb. Im Gegensatz zu ihm war es ihr nie erlaubt gewesen, den eigenen Interessen nachzugehen. Und sie musste stets ihre Flügel verhüllen, ein königlicher Erlass, den ihre Eltern lange vor ihrem Tod beschlossen hatten, lange vor der Zerstörung der Astralreiche.

Indem sie an der ersten Kreuzung in einen schmalen Paralleltunnel einbog, entfloh Ayla dem Treiben des Palastbasars. Garrets Quartier lag in einem ruhigeren – und exklusiven – Teil der Lightworld, dicht genug beim Palast gelegen, um in einer angemessenen Zeit dorthin gelangen zu können, gleichzeitig aber weit genug entfernt von den Touristen und Pilgern.

Der Tunnel wurde nach und nach breiter und endete an einer langen Betontreppe, die eine Ebene tiefer führte. Ayla öffnete ihre Flügel und schwebte abwärts, das Gewicht ihres Schwertes auf dem Rücken nahm ihrem Flug ein wenig von seiner Eleganz. Es fühlte sich gut an, in offenem Gelände zu sein, endlich die beengenden Räume des Palastes hinter sich gelassen zu haben. Obwohl die Trainingshallen der Gilde reichlich Platz zum Sparring auch in der Luft boten, gab es nichts Schöneres, als einfach die Flügel ausbreiten und fliegen zu können, ohne dabei jederzeit mit einem Angriff rechnen zu müssen, ob nun zu Trainingszwecken oder nicht.

Ayla beneidete Garret um sein Leben außerhalb des Palastes. Seine Existenz hing nicht vom Wohlwollen der Königin ab. Er müsste nicht einmal für seinen Unterhalt arbeiten. Sollte er eines Tages beschließen, es zu lassen, wäre er dennoch gut versorgt. Der Sprössling eines Herrscherpaares zu sein mochte für ihn zwar nicht die Krone mit sich bringen, aber einen angemessenen Anteil am Vermögen seiner Familie. Ein einziges Mal hatte Ayla ihn gefragt, warum er trotzdem noch immer in der Gilde tätig sei. Seine Antwort lautete: „Deinetwegen, Ayla. Ich tue das alles deinetwegen.“ Das hatte sie irgendwie verlegen gemacht, und sie getraute sich danach nicht, diese Frage jemals wieder zu stellen.

Am Ende der Treppe befand sich ein weiterer Tunnel, allerdings nur durch eine im Boden eingelassene runde Öffnung mit einer Leiter erreichbar. Ayla faltete sorgfältig ihre Flügel und schlüpfte mit den Beinen voran in die Öffnung, ließ sich fallen und landete hart auf beiden Füßen. Ein kurzer ziehender Schmerz fuhr durch ihre Knöchel; etwas zu spät überlegte sie, dass sie vielleicht doch lieber die Leiter hätte nehmen sollen. Aber es war gut, den eigenen Körper zu spüren und ein wenig seine Belastbarkeit auszutesten, bevor sie auf die Mission ging, die Garret für sie bereithielt, worum auch immer es sich dabei handeln mochte.

Garrets Quartier war eines von insgesamt vier in diesem schmalen, eckigen Tunnel. Zwei auf jeder Seite, jeweils übereinandergebaut. Am rechten Ende des Tunnels gab es eine Abzweigung, die in einen engen Gang mündete, der tiefer in die Lightworld hineinführte. Das andere Quartier bestand aus einer feuchten Betonmauer, an der Efeu rankte, säuberlich um einen fleckigen steinernen Brunnen herum arrangiert, aus dem ein dünnes Rinnsal rostigen Wassers floss. Es war eine der hübschesten Wohngegenden, die Ayla je gesehen hatte, wobei es für sie selten eine Veranlassung gab, sich die Heimstätten der Lightworld genauer anzuschauen. Garret lebte in einem der Quartiere im Obergeschoss. Stufen oder eine andere Möglichkeit, hinaufzusteigen, existierten jedoch nicht. Diese Unterkünfte waren ausschließlich Elfen vorbehalten. Ayla breitete die Flügel aus und flatterte mit zwei kräftigen Schlägen empor. Oben angekommen griff sie nach der polierten Metallstange neben der Tür. Sie klopfte, und als Garret öffnete, um sie einzulassen, benutzte sie die Stange, um sich mit einer gekonnten Drehung ins Innere zu schwingen, während sie gleichzeitig ihre Flügel zusammenfaltete.

Garrets Wohnung war wie ein kleines Wunder für sie, die so lange in den Baracken geschlafen hatte. Der Raum war Lförmig, die Schlafecke hinter dem Knick versteckt und so vom Eingang aus nicht einsehbar. In der Mitte stand ein niedriger Tisch, der von etlichen Kissen umgeben war, die der Bequemlichkeit dienten – ein Luxus, den die meisten Elfen sich nicht leisten konnten –, und gegenüber ein gemauerter, in die Wand eingelassener Ofen zum Kochen und Heizen. Garret besaß gut gefüllte Schränke und eine erlesene Kollektion hölzerner Teller, Schüsseln und Becher, die sich, wie es schien, allesamt auf dem gedeckten Tisch befanden.

Ayla zögerte, eine Hand noch am Rand der Tür. „Komme ich … habe ich dich beim Abendessen gestört?“

Garret lächelte und streckte die Arme aus, und sie ließ sich von ihm an seine Brust drücken, doch für sie war es wie immer eine recht steife und unbeholfene Angelegenheit. „Aber nicht doch, das ist für dich, Ayla. Es gibt etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte. Bitte setz dich.“ Er nahm ihr das Schwert ab und stellte es neben der Tür an die Wand. Dann führte er sie zu einem der Kissen, bedeutete ihr, sich darauf niederzulassen, und machte eine auffordernde Handbewegung zu den Köstlichkeiten auf dem Tisch hin. In der Mitte stand ein Korb voll dicker, rundlicher Brotscheiben und daneben eine kleinere Schüssel, gefüllt mit süßer Sahne und Erdbeeren, eine extrem seltene Delikatesse, die nur in der Oberwelt wuchs. „Bedien dich nur.“

Ayla nahm Platz und beäugte Ayla mit einem unbehaglichen Gefühl die sündhaft teuren Speisen vor sich. „Garret, was soll das alles bedeuten?“

„Ich hatte einen ganz fantastischen Tag, Ayla.“ Anstatt sich ihr gegenüber an den Tisch zu setzen, wählte Garret das Kissen direkt neben ihr, beinahe etwas zu dicht für ihren Geschmack.

Sie rutschte unmerklich ein Stück zur Seite und angelte eine der Brotscheiben aus dem Korb, um sich auf etwas anderes als Garrets ungewohnte Nähe konzentrieren zu können. „Einen fantastischen Tag? Dann musst du später wohl noch erfreulichere Nachrichten bekommen haben als die, die ich heute Morgen für dich hatte.“

Ayla riskierte einen raschen Blick in sein Gesicht und sah, wie seine Miene sich für einen Sekundenbruchteil verfinsterte. Doch gleich darauf lächelte er wieder, ein bisschen gezwungen, und hielt ihr eine der Erdbeeren entgegen. „Stimmt, darüber muss ich nach wie vor mit Cedric reden. Aber das kann warten. Heute Abend gibt es für dich und mich angenehmere Dinge zu besprechen. Meine liebe Schwester, die Königin, hat sich dazu durchgerungen, meinem Gesuch zu entsprechen.“

„Deinem Gesuch?“ Sie öffnete brav den Mund und ließ sich von Garret mit der Beere füttern.

„Ja. Ich habe sie um die Erlaubnis gebeten, dich zu meiner Gefährtin machen zu dürfen.“

Darauf blieb ihr fast die Luft weg. Und die Erdbeere im Hals stecken.

Garret klopfte ihr fürsorglich auf den Rücken, bis ihr Würgen und Husten aufhörte, und lachte dann trocken. „Das war nicht ganz die Reaktion, die ich mir erhofft hatte.“

„Tut mir leid.“ Ayla tastete auf dem Tisch nach einem der Becher und kippte in einem Zug den zuckersüßen Wein hinunter. „Es kam etwas überraschend für mich.“

„Eigentlich sollte es keine so große Überraschung für dich sein, Ayla. Du weißt doch schon seit einer geraumen Zeit, wie sehr ich dich begehre.“ Die letzten Worte waren nicht mehr als ein sehnsüchtiges Flüstern, rau und ein wenig beunruhigend.

Ayla wandte sich ab, von der Leidenschaft, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelte, dem Flehen in seiner Stimme. Es musste einen Weg geben, sich aus dieser Situation herauszuwinden, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen. Aber als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, kamen wie von selbst die Worte „Warum ich?“ heraus, und sie konnte sofort spüren, wie die Atmosphäre umschlug, die in der Luft lag. Sie blickte zu ihm hoch. Seine Fühler, die an seinem Haar anlagen, zuckten nervös. Er könnte jetzt all seinen Charme aufbieten, das liebenswürdigste Lächeln der Welt aufsetzen, und sie wüsste trotzdem, dass es nicht ehrlich wäre. Sie hatte ihn verärgert. Mehrmals spielten die Anfänge eines zögerlichen Lächelns um seine Mundwinkel, als er versuchte, die passenden klaren und ehrlichen Worte zu finden.

„Es gibt eine Menge Frauen am Hof, die alles für so eine Chance gäben, Ayla. Mit dem Bruder der Königin vereint zu sein – das könnte eines Tages den Thron bedeuten.“

Könnte es, vorausgesetzt, die Königin würde sterben. Aber die Angehörigen ihrer mit einigen wenigen Einschränkungen unsterblichen Rasse fielen dem Tod für gewöhnlich nur selten zum Opfer, in einem Kampf beispielsweise. Oder durch einen Anschlag. Sie verdrängte den heimtückischen Gedanken sofort wieder. Was sie brauchte, war Zeit zum Nachdenken, um die Vorteile seines Angebotes gegen die Risiken abzuwägen. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Es kam nur wirklich sehr unerwartet für mich.“

Seine Körperhaltung entspannte sich, dieses Mal nicht nur vorgetäuscht, und er strich mit einer aufmunternden Hand – zumindest sollte es aufmunternd gemeint sein – über ihren Arm. „Was habe ich mir nur dabei gedacht. Da sitzt du, nach diesem unglücklichen Zwischenfall voller Sorge um deine Position in der Gilde, und ich mache dir einen Antrag und denke nur an mich selbst.“

Ayla schluckte. Waren es die möglichen Folgen ihrer Begegnung mit dem Darkworlder, die sie verunsicherten, oder die Begegnung selbst?

Garret schwafelte weiter. „Aber überleg doch nur, was es für dich verändern würde, Ayla. Als meine Gefährtin müsstest du dir keine Gedanken mehr um deine Zukunft in der Gilde machen.“ Er legte eine kurze Pause ein, um das Gesagte wirken zu lassen. „Deine Zukunft wäre gesichert.“

Also war er nicht erhaben darüber, seinen Status und sein Vermögen als Anreiz in die Waagschale zu werfen. Und warum sollte er auch? Ayla hatte lange genug am Hof gelebt, um zu wissen, dass Reichtum so manche Tür öffnete. Würde sie in eine Bindung mit Garret einwilligen und die fehlende Leidenschaft ihrerseits ignorieren, erkaufte sie sich damit ein Leben fernab der Baracken, gleichzeitig ein höheres Ansehen in der Gilde. Vielleicht sogar mehr Wohlwollen der Königin, obgleich Garret immer behauptete, seine Schwester hielte bereits jetzt große Stücke auf sie. All dies würde ihr Leben sehr viel einfacher machen. Warum sich für den steinigen Weg entscheiden, wenn ein deutlich bequemerer Pfad direkt vor ihr lag?

Garret schob sanft ihren Zopf zur Seite und ließ zärtlich seine Finger über ihre Haut gleiten. Sie schauderte und hoffte, er würde diese Reaktion als etwas missdeuten, das es nicht war. Er widerte sie nicht an, aber seine Annäherungsversuche lösten ein Gefühl der Beklemmung in ihr aus. Sich daran zu gewöhnen würde nicht leicht werden. Ihre Gildenausbildung hatte sie gelehrt, ihre Emotionen während eines Kampfes zu verbergen, und das Gelernte kam ihr jetzt zugute, als er seine Lippen auf ihren Hals presste.

„Sag Ja“, hauchte er, sodass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte, und fuhr mit der Zunge die Linien ihrer Gildentätowierung entlang. Das Muster flackerte bei der Berührung durch seinen heißen feuchten Mund in ihrer Erinnerung auf. Niemals wieder bräuchte sie einen Spiegel, um sich ins Gedächtnis zu rufen, wie das Zeichen aussah. „Sag Ja“, drängte er abermals, während er eine seiner Hände auf ihren Oberschenkel legte und sie langsam aufwärtswandern ließ. Ihr Körper, unbeeinflusst von der emotionalen Distanz zwischen ihnen, drückte sich enger an ihn, hungrig nach mehr, um die Wirkungen dessen, was er bis jetzt bekommen hatte, nicht abebben zu lassen.

Ihr rationaler Geist funkte vor ihrem inneren Auge mit einem blitzartig erscheinenden Bild. Die Pergamentrolle, die Garret in der großen Halle dabeigehabt hatte. „Ich dachte, du hättest mich eingeladen, um meinen neuen Auftrag mit mir durchzugehen.“

Er stockte für einen Moment, dann ließ er von ihr ab, sein Gesichtsausdruck ruhig, doch seine in verschiedenen Rottönen pulsierenden Fühler verrieten, wie aufgewühlt er in Wirklichkeit war. „Ja, richtig, dein Auftrag. Hätte ich mich nicht bei meiner Schwester für dich eingesetzt, wäre dein vorheriger vermutlich dein letzter gewesen.“

Garret stand auf, und Ayla drehte sich im Sitzen zu ihm um, sodass sie beobachten konnte, wie er zu der Truhe am Fußende seines Bettes ging. Im Astralreich hatten die Elfen auf mit Moos bedeckten Bänken oder in großen Astgabeln geschlafen. Jedenfalls, wenn man dem glaubte, was die alten Überlieferungen erzählten. In den Baracken der Gilde bestand Aylas Nachtlager aus einer harten Pritsche mit durch die Feuchtigkeit stets klammen Laken darauf. Garret dagegen besaß eine richtige Matratze, illegal importiert aus der Oberwelt, mit diesen ulkigen Metallspiralen, die das ganze Gebilde nachgeben und federn ließen, wenn man sich darauflegte. Solch ein Komfort war sehr schwer zu erlangen, und Ayla fügte ihn zu ihrer Liste mit Gründen hinzu, die dafürsprachen, Garrets Angebot zu akzeptieren. Aber es wäre unklug, ihm jetzt eine Antwort zu geben, solange er innerlich noch immer derart unter Hochdruck stand. „War die Königin sehr ungehalten?“

„Das kann man wohl sagen“, antwortete er, doch es schien, er spreche mehr mit sich als zu ihr. „Sie hat mich für morgen noch einmal zu sich bestellt. Also bleibt uns die ganze Nacht, falls du sie mit mir verbringen möchtest, und dann könntest du morgen früh von hier aus zu deiner Mission aufbrechen.“

Sie nahm die Pergamentrolle, die er ihr hinhielt, öffnete sie und schaute das Papier an, doch schlauer war sie dadurch auch nicht. „Was steht da?“

„Es wurde von Mabb persönlich geschrieben. Sie verfügt den Tod von fünf Dämonen. Offenbar hat es einen … sprunghaften Anstieg ihrer Population an einigen Orten nahe der südlichen Grenzen der Lightworld gegeben, wo der Streifen sich nicht als Puffer zwischen unserer und der Darkworld entlangzieht. Die Königin will dem Dämonenherrscher eine kleine Botschaft übermitteln.“ Er machte eine Pause. „Wenn du den Auftrag lieber nicht annehmen möchtest …“

Den Auftrag nicht annehmen! Eine solche Ehre wie diese Anweisung direkt aus Mabbs Feder war Ayla noch nie zuvor zuteilgeworden.

„Ich kann veranlassen, dass deine Sachen morgen früh hergebracht werden“, fuhr Garret fort. „Wir könnten ein wenig ausschlafen, vielleicht dem Refugium einen Besuch abstatten. Ich halte es für angemessen, wenn der Beginn unseres gemeinsamen Lebens der Tradition folgend dort stattfinden würde.“

Sie zwang sich, bei diesen Worten nicht zusammenzuzucken. Stattdessen lächelte sie. „Es wäre mir unangenehm, Ihre Majestät warten zu lassen.“

Er nickte. „Ihre Majestät. Ein Titel, den du selbst eines Tages innehaben könntest, Ayla. Falls du mich als deinen Gefährten akzeptierst.“

„Du sprichst von Dingen, die weit in der Zukunft liegen, wenn sie überhaupt jemals eintreten. Du weißt so gut wie ich, dass deine Schwester bis auf wenige Ausnahmen unsterblich ist. Und von ihrem Tod zu reden, und sei es auch nur theoretisch, wäre Hochverrat.“ Ayla blickte unsicher über ihre Schulter, als erwarte sie, jede Sekunde könnte einer von Mabbs Spionen aus der Truhe vor Garrets Bett springen und sie, die Verräterin, in den Kerker schleifen.

Womöglich war Garret ein Spion und versuchte nur, sie dazu zu bringen, etwas Unbedachtes zu sagen? Nein, das war lächerlich. Garret hatte ihr nie irgendeinen Grund gegeben, an seiner Zuneigung und Loyalität zu zweifeln. Das Leben am Hof hatte dem Keim des Misstrauens in ihr erlaubt, zu einem wuchernden Gestrüpp heranzuwachsen, und sie verfluchte es.

Plötzlich spürte sie Garrets Handfläche, die sich sacht um ihren Nacken schloss, seine Zunge, die ihr Ohrläppchen kitzelte. Sie entwand sich seinem Griff. Um sich vom Pochen ihres Blutes abzulenken, das sie durch ihre Adern rauschen fühlte, gratulierte sie sich für ihre Voraussicht, ihr Schwert mitgebracht zu haben. So konnte sie sich ohne Verzögerung in die Darkworld aufmachen.

„Ayla, ich wünschte, du würdest nicht gehen“, versuchte Garret noch einmal, sie umzustimmen, doch dann verstummte er und schaute sie nur hilflos und gutmütig an. Es war eine eingeübte Geste, darauf würde Ayla jede Wette eingehen, aber sie nahm es ihm nicht übel. So viele am Hof perfektionierten ihr Auftreten in der Öffentlichkeit auf diese Weise, und es war bestimmt manchmal schwierig, die Maske außerhalb der Palastmauern einfach wieder abzulegen.

Sie zog die Tür auf und legte den Riemen ihrer Schwertscheide um ihre Brust, das Gewicht der Waffe ließ sie um ein Haar über die Schwelle stolpern.

„Dämonen sind tollpatschig und leicht zu töten. Ich werde nicht lange weg sein.“

„Und wenn du zurück bist, wirst du mir dann eine klare Antwort geben?“ Garrets Stimme hatte einen neckenden Unterton angenommen. Er war sich anscheinend schon sicher, wie ihre Antwort ausfallen würde.

Einen tiefen Atemzug nehmend schwang Ayla sich durch die Türöffnung und breitete die Flügel aus. Bevor sie zum Boden des Tunnels hinunterschwebte, drehte sie sich noch einmal um. „Wenn ich wiederkomme, werde ich Ja sagen.“