16. KAPITEL

Im Schlaf verloren sich die harschen Zornesfalten, die ihr Gesicht so häufig verfinsterten. Malachi war sich nicht sicher, ob es ihm dadurch vertrauter oder fremder wurde. Er berührte die zarte Haut an der Stelle, wo ihre seitlich zusammengefalteten Flügel aus ihrem Rücken austraten, und sie zuckten, als würden sie wie ein eigenständiges Wesen zum Leben erwachen.

Solch merkwürdige Konstrukte, Körper. Als sie in der Tür gestanden hatte, wollte er nichts anderes als sie festhalten, sie daran hindern, sich umzudrehen und wieder fortzulaufen. Aber sein Körper … dieser hatte danach verlangt, sich mit ihrem zu vereinen, in sie zu dringen, sie dafür zu strafen, dass sie ihn hatte gehen lassen, sie zu besitzen und für immer als zu ihm gehörig zu kennzeichnen. Doch als es vorüber war, wurde ihm klar, dass er ihr nicht hatte wehtun wollen. Das hatte er niemals beabsichtigt. Und dann fühlte er sich beschämt und erschrocken darüber, festzustellen, genau das getan zu haben.

Sie bewegte sich ein wenig, quer über seiner Brust liegend, ihre kleine Gestalt so federleicht, jedoch aus vielen spitzen, hervorstehenden Komponenten bestehend. Er hob sie behutsam an seine Seite, sodass sie wieder in der Mulde seines Flügels lag, und ihre Lider öffneten sich, langsam, schlaftrunken.

Die beiden dünnen, leuchtenden Stränge, die aus ihrer Stirn wuchsen, vibrierten leicht und begannen in einem weißen Licht zu strahlen. Er streckte die Hand aus, um einen davon zu berühren, doch Ayla kam ihm zuvor und schob sie mit den Fingern nach hinten und unter ihr Haar. „Meine Fühler“, sagte sie so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.

„Was bedeutet es, wenn sie so glühen?“ Er deutete darauf, sie zog rasch den Kopf ein, und flüsterte irgendetwas Undeutliches, mehr zu sich selbst.

Er streichelte die Spitzen ihrer langen Haare, strich sie glatt, über ihre Flügel. Hin und wieder sahen sie einander an, lächelten, beinahe schüchtern, was angesichts dessen, was sie gerade getan hatten, ziemlich absurd anmutete.

Es genügte. Seltsamerweise genügte es, einfach neben ihr zu liegen, in fast völliger Stille, und das Gefühl der Sicherheit zu genießen, das Aylas Nähe ihm vermittelte. Er bemühte sich, die Fähigkeit, sich in jeder beliebigen Sprache zu verständigen, wiederzufinden, doch sie war bis auf einige spärliche Reste verschwunden. Er konnte nur noch ihren Namen sagen, und der hörte sich aus seinem Mund recht misstönend an, trotzdem zauberte sein unbeholfener Versuch ein Lächeln auf ihr Gesicht.

Er dachte, sie sei mittlerweile wieder eingeschlafen, als sie unvermittelt stammelte: „Ich kann nicht … rückwärtsgehen.“ Dann wurde ihre Aussprache klarer, als konzentriere sie sich angestrengt darauf, die Worte in der menschlichen Sprache korrekt zu formen. „Kein Zuhause.“

Malachi hob ihr Kinn an und küsste sie sanft. Was für ein eigenartiger Impuls das war, den Mund auf den eines anderen Wesens zu pressen, so etwas Seltsames tun zu wollen. „Du wirst bei mir bleiben. Dein Zuhause ist bei mir“, flüsterte er und zog ihre Hand auf die linke Seite seiner Brust, wo sein Herz schlug, sodass sie verstand.

Wo sich dieses Zuhause befinden würde, räumlich, das müsste sich erst noch zeigen. Keller würde bald zurückkommen. Die komplizierten, ungeschriebenen Gesetze des Umgangs der Menschen miteinander verboten es ihm, zu verlangen, dass der Bio-Mech sie beide bei sich wohnen ließ, sosehr er diese einfache Lösung auch favorisieren mochte. Es bliebe ihm nichts anderes übrig, als einen Ort zu finden, an dem sie sicher waren, und er fürchtete, so einen Platz gäbe es für sie in der Darkworld sehr wahrscheinlich nicht.

Sie könnten auf dem Streifen leben. Er hatte viele Sterbliche gesehen, die das taten, nachts zusammengekauert an den Straßenrändern schliefen, tagsüber um Essen und allerlei Plunder bettelten, der sich vielleicht noch zu Geld machen ließ. Es sah nicht allzu schwierig aus.

Keller würde sie ganz bestimmt bleiben lassen, bis Malachi einen Plan hatte, wie es weitergehen sollte. Der Mensch war viel zu anständig, um sie einfach hinauszuwerfen. Und er verfügte über Kontakte, die ihnen bei der Suche nach einer neuen Bleibe helfen konnten. Es hatte seine Vorteile, jemanden wie Keller zu kennen.

„Du weißt so vieles nicht.“ Ayla berührte seine Schläfe, ihr Gesichtsausdruck war niedergeschlagen. Er ließ seine Flügel auf die Decken sinken, und das schummrige Licht der Lampe in einer Ecke der Werkstatt drang in ihren vom Rest des Raumes abgetrennten Unterschlupf. Eine dunkle Schürfwunde an ihrer Wange, die er vorher nicht bemerkt hatte, erweckte seine Aufmerksamkeit und ließ ihn erbost die Augen zusammenkneifen. „Was ist das?“

Ayla verdeckte die Schramme eilig mit einer Haarsträhne, wobei sich ihre Finger in dem zerzausten Wirrwarr verhakten. Er packte sie beim Handgelenk und zog ihren Arm nach unten. „Was ist das?“, fragte er noch einmal.

Sie machte ein Geräusch wie das einer Feuersbrunst, die über ein Feld hinwegfegte, das sie für ihn als „Garret“ übersetzte. Ein roher Beschützerinstinkt wallte in ihm hoch, wollte ihn auf die Füße springen und aus der Werkstatt stürzen lassen, um das Monster zu finden, das sie geschlagen hatte, und ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen.

Als Todesengel waren ihm viele Formen der Gewalt begegnet. Und er verspürte eine unbändige Lust, diesem Garret jede einzelne davon angedeihen zu lassen.

Dann flackerte Aylas Bild in seinem Gedächtnis auf, im Eingang ihrer Unterkunft in der kleinen Elfensiedlung stehend und ihm nachschauend. Da war ihr Gesicht noch glatt und weiß und unversehrt gewesen. Der Elf, den er auf seiner Flucht gegen die Wand geschleudert hatte, das musste dieser Garret sein. Er musste sie verprügelt haben, nachdem er wieder aus seiner Ohnmacht aufgewacht war. Und er hatte es wegen Malachi getan.

Er stand auf, anschließend half er ihr, ebenfalls aus ihrem provisorischen Bett zu kriechen, und hakte sie unter, damit sie sich beim Gehen auf ihn stützen konnte. Sie humpelte neben ihm in den Werkstattraum, wo er sie auf den Tisch setzte. Sie gab einen zischenden Laut von sich, als ihre nackte Haut mit der eiskalten Metallplatte in Berührung kam, und Malachi lachte. Er konnte nicht anders, auch wenn sie ihn dafür böse anfunkelte.

Über die Wunde an ihrer Wange hinaus waren auch ihre Knie mit Kratzern und roten Striemen übersät, ihre Füße voller Blasen, teilweise aufgeplatzt und blutig. Malachi durchsuchte die Kartons und Kisten des Menschen, bis er schließlich den fand, in dem dieser die Dinge aufbewahrte, mit denen man einen beschädigten Körper wieder in Ordnung bringen konnte. Verschiedenste metallische Instrumente, viele von ihnen ähnelten denen, die auch sonst überall verstreut herumlagen, aber darunter lagen mehrere lange ausgefranste Streifen aus dickem Stoff, die sich als Verband verwenden ließen.

„Ich kann …“, begann sie, verstummte jedoch, als er einen ihrer kleinen Füße anhob und ihn in seiner Hand etwas nach rechts drehte. Mit Schmutz vermischtes Blut sammelte sich in den Nagelbetten ihrer Zehen. Er tauchte einen der Stoffreste in die Tonne mit Kellers stetig schrumpfendem Trinkwasservorrat und wusch vorsichtig Aylas Wunden aus. Diesen Vorgang wiederholte er an ihren Knien und zum Schluss an den Handflächen, nahm sich Zeit, jede Abschürfung und jede noch so kleine Schramme gründlich zu reinigen, bevor er sie mit den notdürftigen Bandagen umwickelte.

Als er fertig war, holte er ihr Kleid aus der Schlafnische, erkannte aber schnell, dass es nur noch ein nasser, zerfledderter Lappen war, zum Anziehen nicht mehr zu gebrauchen. Glücklicherweise fand sich in Kellers Beständen ein weites, langes Shirt, das Ayla bis zu den Knien reichte, nachdem sie es übergestreift hatte. Nur ihre Flügel konnte sie darunter nicht öffnen.

„Dein Freund. Es macht ihn nicht wütend?“ Sie rollte mit den Schultern und zupfte an der für sie ungewohnten Bekleidung.

Malachi glaubte eigentlich nicht, dass Keller wütend sein würde, aber er bereitete sich sicherheitshalber innerlich darauf vor, ihn in irgendeiner Form um Entschuldigung zu bitten. Der Mensch schien eine ganze Menge bereitwillig zu verzeihen, wenn man nur die richtigen, freundlichen Worte fand.

Just in diesem Moment wurde die Tür mit einem lauten Quietschen von außen geöffnet, und besagter Mensch kam hereingestapft. „Sieht besser an ihr aus, als es an mir je getan hat.“

„Weil sie schöner ist als du“, sagte Malachi.

Keller griff in die Beintasche seiner Anglerhose und holte

eine tropfnasse Tüte daraus hervor. Er löste das Gummiband, mit der sie verschlossen war, und schüttete stolz den trocken gebliebenen Inhalt aus, zwei flache bunte Päckchen. „Ramen-Nudeln, frisch von der Oberfläche! Ich hatte wirklich Schwein, die zu ergattern. Irgendwelche Trottel da oben haben demonstriert oder so und säckeweise Lebensmittel in einen Gully genau über der Stelle auf dem Streifen geworfen, wo ich gerade langgegangen bin. Wäre fast von einer Dose Chef Boyardee ausgeknockt worden. Wusste gar nicht, dass die überhaupt noch hergestellt werden.“

Malachi schielte aus dem Augenwinkel zu Ayla hinüber, und erst da wurde ihm bewusst, dass ihr desinteressierter Blick ein ziemlich exaktes Spiegelbild seines eigenen war.

Keller schien das jedoch nicht aufzufallen. Er setzte seinen Hut mit der Lampe daran ab und warf ihn achtlos auf eine der Werkbänke. Während er aus seinen wasserfesten Hosen schlüpfte und sie an einen Haken neben dem Eingang hängte, redete er munter weiter. „Auf dem Streifen machen übrigens ein paar komische Gerüchte die Runde. Es wird gemunkelt, die Elfenkönigin soll gestern Nacht den Löffel abgegeben haben.“

„Was? Abgegeben?“ Aylas eben noch gelangweilter Gesichtsausdruck wich bei Kellers Erwähnung der Königin einem Blick, der plötzlich deutlich beunruhigt aussah.

„Tot. Hinüber.“ Keller zog eine Grimasse. „Ach, Entschuldigung, hatte ich ganz vergessen. Du sprechen die Menschensprache nicht sonderlich gut, richtig? Jemand …“ Er nahm ein abgegriffenes Messer von der Werkbank und tat so, als würde er es sich in die Brust stoßen. „Hat sie umgebracht.“

Ayla ging langsam rückwärts und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Jetzt ist sie erschrocken.“ Malachi drehte sich anklagend zu Keller. „Du hast ihr Angst gemacht.“

„Hey, nicht ich bin der Grund für ihre Angst, Großer. Das hat wohl eher mit dem Kerl zu tun, der die Königin abgemurkst hat, weil …“ Er sah Ayla mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen an. Sie schrak zurück, dann warf sie ihm einen zornigen Blick zu. „Oh mein Gott.“

„Lass das!“ Sie stürmte auf ihn zu, ihre Fühler grellrot aufblitzend, und schubste ihn so heftig, dass er mit dem Rücken auf den harten Betonboden schlug. Sofort war sie über ihm, ihre Faust nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, das er mit hochgerissenen Armen zu schützen versuchte.

„Schaff sie mir vom Leib!“, rief er, doch Malachi war schon da. Er packte Aylas Handgelenk und riss sie nach hinten und auf die Füße.

„Schleiche dich nicht in meine Gedanken“, zischte sie drohend, sich in Malachis Griff windend, während sie noch immer nach Keller schlagen wollte.

Der Mensch schnaufte, als er sich wieder aufrappelte. „Gut, in Ordnung. Aber es wäre nicht verkehrt, wenn du von allein mit ein paar Einzelheiten rausrücken würdest, meinst du nicht?“ Sie wandte sich ab und schwieg.

„Weißt du, du stehst hier in meinem Laden, trägst meine Klamotten und meine Bandagen. Das Mindeste, was du im Gegenzug tun könntest, ist, uns beiden die Wahrheit zu sagen.“ Keller ließ seinen Blick zwischen ihr und Malachi hin und her wandern, dann feuchtete er mit der Zunge die Lippen an. „Eure Hoheit.“

Die Rückseite des Shirts vibrierte leicht, als sich Aylas Flügel darunter bewegten.

Malachi mochte dieses Gerede über Unehrlichkeit gar nicht. Es war ihm unangenehm, und bei dem Gedanken, Ayla könnte ihn belogen haben, krampfte sich sein Magen zusammen.

„Sie hat dir nichts zu sagen“, erklärte er schroff und legte einen Arm um Aylas schmale Schultern. „Lass sie in Ruhe.“

Zu seiner Überraschung duckte sie sich unter ihm durch und sah sie beide ernst an. „Mein … Gefährte. Garret. Er ist der Bruder von Königin.“

Gefährte? Das Wort brannte wie Feuer in seinem Herzen. Dieser Elf, der sie, anstatt sie zu beschützen, geschlagen hatte und sie nicht so wertschätzte, wie sie es verdiente. Der, dem er jeden Knochen einzeln brechen würde, wenn er ihn in die Finger bekäme.

„Und?“ Das dünne Lächeln, das sich auf Kellers aufeinandergepressten Lippen zeigte, hatte etwas Düsteres, Bedrohliches. „Jetzt, wo die Königin tot ist, nimmt er ihren Platz ein und wird König?“

„Nein. Ich.“ Sie sah aus, als hätte sie sich gerade eines Verbrechens bekannt, statt ihren adligen Hintergrund zu enthüllen. „Es wird an die weiblichen Elfen gegeben.“

Begriff sie denn nicht, was für eine wunderbare Wendung dies für sie bedeutete? Malachi umarmte sie freudig, vor lauter Begeisterung nicht einmal registrierend, dass sie die Geste nicht erwiderte, sondern starr stehen blieb. „Du kannst wieder nach Hause gehen! Du bist nicht heimatlos.“

„Sie kann nicht zurückgehen.“ Keller hob abwehrend die Hände, als sie erneut nach ihm ausholte, weil sie scheinbar dachte, er hätte wieder heimlich ihre Gedanken gelesen. „Das hab ich vorhin schon gesehen, ich schwöre es.“

Malachis Hände lagen auf Kellers Schultern, ehe er selbst wusste, was er da tat. Er knallte ihn gegen die Tür, hielt ihn am Kragen fest, sein Gesicht so dicht an dem des Menschen, dass er seinen Atem riechen konnte. „Du sagst mir jetzt, was du noch gesehen hast!“

„Königin.“ Aylas Stimme erfüllte die Luft wie ein Geist, dessen körperlose Essenz durch die Tiefen der Darkworld schwebte. Malachi ließ Keller los und drehte sich zu ihr um. Sie senkte die Augen, doch er konnte die Traurigkeit darin sehen, bevor sie seinem Blick auswich. „Ich bin Königin.“

„Was bedeutet das?“, fragte Malachi, wobei er sie zwar weiterhin anschaute, sich aber nicht sicher war, ob er wirklich eine Antwort erwartete oder nur laut dachte.

„Es bedeutet, sie kann nicht hierbleiben.“ Keller zündete sich eine seiner „Kippen“ an und paffte vor sich hin, der beißende Rauch waberte in dicken Schwaden durch den Raum. „Auf dem Streifen sind schon überall Suchtrupps unterwegs. Und die suchen nach dir. Hast du eine Ahnung, was passiert, wenn sie dich hier bei mir finden?“

„Ayla werden sie nicht finden.“ Malachis Hirn arbeitete fieberhaft. Als er keinen eigenen Willen gehabt hatte, keinen Einfluss auf die Ereignisse um ihn herum, waren die Dinge sehr viel unkomplizierter gewesen. Und nicht annähernd so bedrohlich. Die Angst, Ayla zu verlieren, jetzt, wo sie endlich zusammengefunden hatten … „Wir verstecken uns, im hintersten Winkel der Darkworld, und warten ab, bis sie aufgehört haben, nach ihr zu suchen. Dann kommen wir zurück.“

„Das kannst du dir abschminken, Kumpel. Ihr taucht hier nicht wieder auf.“ Keller schüttelte entschieden den Kopf. „Hör zu, ich hab dir mehr als einmal den Arsch gerettet, und ich kann dich ehrlich gut leiden, trotz deiner schlechten Manieren. Aber diese Geschichte, die ist eine Nummer zu groß für mich. Wenn du denkst, da wäre nach einer Weile Gras drüber gewachsen und alles ist wieder paletti, liegst du falsch. Die werden die Suche nie einstellen. Wir reden hier schließlich über die Königin der Lightworld.“

„Also erwartest du von mir, dass ich sie wieder dorthin zurückbringe, wo man sie so behandelt?“ Malachi langte nach Aylas Kinn und drehte ihren Kopf zur Seite, um dem Menschen ihre Verletzung zu zeigen.

Sie stieß seine Hand weg. „Ich werde gehen.“

Malachi glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.

„Du kannst nicht wieder zurück.“

„Ich werde gehen“, wiederholte sie und verschränkte unnachgiebig die Arme vor der Brust. „Der Mensch hat recht. Sie werden nicht aufgeben. Es kann sogar Krieg geben, wenn man glaubt, ich werde irgendwo gefangen gehalten. Wenn ich freiwillig zurückgehe, bist du nicht mehr in Gefahr.“

Nicht in Gefahr? Wenn sie fortging, würde er ihr folgen. Bis in den Tod, wenn es sein musste.

„Okay, hört mal zu, Leute“, mischte sich Keller ein, mit seinen empfindlichen menschlichen Sinnen die wachsende Spannung zwischen ihnen auffangend. „Das ist jetzt nicht die allerbeste Zeit, um sich zu streiten. Ihr seid beide müde und wahrscheinlich auch ziemlich hungrig. Lasst uns was essen, ein bisschen ausruhen, und morgen früh überlegen wir uns dann in Ruhe, was wir machen. Es ist praktisch ausgeschlossen, dass sie heute noch so weit in die Darkworld vordringen, nicht bei dem Schneckentempo, das sie vorhin draufhatten. Man hätte fast meinen können, sie hätten Angst, sich ihre glänzenden Stiefel zu ruinieren.“

Für den Rest des Abends vermieden sie es, weiter über Aylas Entschluss zu diskutieren, in die Lightworld zurückzukehren. Keller verwandelte die getrockneten Nudeln auf einem ramponierten Kocher in eine dampfende Nudelsuppe, und jeder löffelte nahezu wortlos seine Portion. Anfangs versuchte Keller noch, mit belanglosem und gezwungen wirkendem Geschwätz die allgemeine Stimmung zu heben, aber als er merkte, dass es nicht funktionierte, ließ er es sein. Malachi war das nur recht.

Nach dem Essen richteten sie sich aus einigen übereinandergelegten Decken auf dem Boden der Werkstatt ihre Schlafstätte ein. Ayla ganz nah neben sich zu spüren, in die Mulde seines Flügels gekuschelt, fühlte sich so beruhigend an, als könne es niemals mehr anders sein. Es war für ihn unvorstellbar, dass sie Ernst machen und ihn tatsächlich wieder verlassen könnte.

Doch als er aufwachte, nicht einmal zwei Stunden später, war sie fort.

Um diese Zeit hätte auf dem Streifen eigentlich bereits wieder Hochbetrieb herrschen und das übliche Gedränge ein Durchkommen fast unmöglich machen müssen. Ayla wusste das, weil sie die ersten Jahre ihres Lebens dort verbracht hatte. In Hauseingängen übernachtend, hinter einem menschlichen Vater hertippelnd, der nicht den blassesten Schimmer davon hatte, wie man für ein Kind sorgte. Der sich die Nächte lieber mit Glücksspielen um die Ohren schlug und tagsüber ständig auf der Flucht vor seinen Gläubigern war. Der seiner Tochter das Stehlen beibrachte und sie einem trostlosen Dasein ohne jede Perspektive aussetzte, in dem sie sich beide von einer kargen Mahlzeit und unbehaglichen Schlafstelle zur nächsten durchschlugen.

Nie wieder wollte sie so ein Leben führen. Malachi war erst seit wenigen Tagen ein sterbliches Wesen. Er konnte weder wissen, wie es sich anfühlte, mit einem vor Hunger knurrenden Magen schlafen zu gehen, und das Nacht für Nacht, noch, welche grausamen Erniedrigungen durch die Umwelt man obendrein zu ertragen hatte, wenn man arm war.

Heute wirkte der Streifen wie ausgestorben, es war kaum jemand auf den Straßen unterwegs. Zweifellos hatte die Kunde des Desasters, das die gesamte Lightworld in Atem hielt, die Bewohner dazu veranlasst, Vorsicht walten zu lassen und sicherheitshalber in ihren Behausungen zu bleiben. Sogar diejenigen, die kein festes Dach über dem Kopf hatten, waren ganz offensichtlich irgendwo untergetaucht.

Mabb war tot. Wer könnte ein Interesse daran gehabt haben, sie aus dem Weg zu räumen? Jedenfalls ganz bestimmt keiner ihrer katzbuckelnden Anhänger bei Hofe. Was brächte es ihnen auch für einen Vorteil, sich ihrer Gönnerin zu entledigen? Tatsächlich fiel ihr niemand ein, der irgendetwas davon hätte haben können. Mabb hatte seinerzeit die Elfen, und in deren Gefolge die anderen Völker der Lightworld, in die letzte große Schlacht gegen die Menschen geführt, und obgleich der Sieg ihnen nicht vergönnt war, hatte die Königin es dennoch geschafft, ihre Rasse vor der endgültigen Vernichtung zu bewahren. Sie war ihre Anführerin, danach vielleicht sogar mehr als je zuvor, obwohl damals etwas in ihr zerbrochen sein musste, wovon sie sich nie wieder ganz erholt hatte. Es erschien Ayla sehr unwahrscheinlich, dass auch nur einer derjenigen, die all das miterlebt hatten, die Erinnerungen daran einfach aus dem Gedächtnis gestrichen und einen Anschlag auf die Königin angezettelt haben könnte.

Nein, dieses Verbrechen musste durch irgendeine Kreatur aus einem der anderen Bezirke der Lightworld verübt worden sein. Es konnte unmöglich ein Elf dahinterstecken.

Einer vielleicht doch. Und du weißt genau, wem so etwas zuzutrauen wäre. Sie scheuchte den Verdacht rasch wieder fort. Es spielte keine Rolle, wer die Waffe geführt hatte. Jemand hatte Mabb getötet, und Ayla war die neue Königin.

Und Garret ihr königlicher Gefährte. Welch ein heuchlerisches Leben, das ihr nun bevorstünde. Auf Gedeih und Verderb seiner Gnade ausgeliefert – dem bisschen davon, das er hatte –, eine Gefangene ihres Ranges und der Bindung, die sie mit ihm eingegangen war. Aber sie würde trotz allem einen Weg finden, Malachi in ihre Nähe zu holen oder, falls das nicht ging, sich heimlich zu ihm zu schleichen, wenn sie es wollte. Immerhin wäre sie die Königin, und niemand, nicht einmal Garret, könnte es ihr verbieten.

Es würde ihn rasend machen. Aber er würde sich schon damit abfinden, früher oder später.

Am Ende der Straße patrouillierte ein Elfenregiment. Ihre aufwendigen, edlen Uniformen wirkten angesichts der Umgebung, in der sie sich bewegten, völlig deplatziert. Ayla straffte die Schultern und begann sich ihnen langsam zu nähern.

„Da vorn ist sie!“, brüllte einer an der Spitze des Trupps, und die gesamte Gruppe kam auf sie zugestürmt. Ihr erster Impuls war, ebenfalls loszurennen, in die andere Richtung, doch stattdessen ging sie, so ruhig sie konnte, weiter geradeaus. Sie würden sie nicht angreifen, schließlich waren sie jetzt ihre Untergebenen.

Aber als sie Ayla erreicht hatten, verhielten sie sich alles andere als höflich oder gar ehrfurchtsvoll. Zwei drehten ihr brutal die Arme auf den Rücken, ein Dritter schnürte ein dickes Seil um ihre Handgelenke. Mit so gefesselten Händen und unter ihrem Shirt nicht zu öffnenden Flügeln verlor sie das Gleichgewicht und fiel. Nicht einer von ihnen machte Anstalten, sie aufzufangen. Sie krachte mit dem Gesicht voran auf den Asphalt. Blut rann aus ihrer Nase und, als sie einen würgenden Atemzug machte, auch aus ihrem Mund.

„Ihr verwechselt mich …“ Sie kniff die Augen zusammen, als sich durch einen plötzlichen Schwindelanfall alles um sie herum zu drehen begann. „Das hier ist ein Irrtum. Ich bin Ayla, Gefährtin von Garret, Schwester der Königin.“

Einer von ihnen versetzte ihr einen harten Tritt, als sie versuchte, aufzustehen, und sie taumelte rückwärts.

Noch nie zuvor hatte Ayla ernsthaft um ihr Leben gefürchtet. Vielleicht deshalb, weil es keinen Grund gegeben hatte, sich um den möglichen Verlust von etwas zu sorgen, das ohnehin kaum einen Wert für sie besaß. Doch in dem Moment, in dem ein weiterer Tritt, dieses Mal gegen ihre Hüfte, sie abermals mit dem Kopf auf den Boden schlagen ließ, dachte sie an Malachi, daran, ihn nie wiederzusehen und, was noch schlimmer war, ihm nicht mehr erklären zu können, warum sie hatte gehen müssen. Und in diesem Augenblick hatte sie Angst vor dem Tod, so große Angst, wie nicht einmal der übermächtigste Gegner in einem Kampf ihr je hatte machen können.

Dann wurde sie an den Haaren auf die Füße gerissen und schrie überrascht auf, im nächsten Moment zutiefst beschämt darüber, Schwäche gezeigt zu haben. Sie würde sich die Gesichter ganz genau einprägen, beschloss sie, ihre Peiniger feindselig anfunkelnd, und dafür sorgen, dass sie hierfür ihre gerechte Strafe erhielten. Bevor sie jedoch Gelegenheit dazu hatte, zog man ihr eine Kapuze über den Kopf, die so fest um ihren Hals gebunden wurde, dass sie kaum noch Luft bekam, und sämtliche Rachegedanken wichen auf der Stelle dem Überlebensinstinkt, der Ayla dazu zwang, sich einzig und allein aufs Atmen zu konzentrieren.

Auch wenn sie nichts mehr sehen konnte – wohin man sie verschleppte, das wusste sie auch so, dazu brauchte sie ihre Augen nicht. Es ging über die Grenze zur Lightworld, auf direktem Weg in den Palast. Wenig später fand Ayla sich innerhalb der Mauern wieder, die sie sich geschworen hatte, nie wieder zu betreten. Nun war sie doch zurückgekehrt. Als Gefangene.