3. KAPITEL

Die Übungshalle der Assassinengilde war wie ausgestorben. Um diese Zeit kam niemand zum Trainieren oder Sparren her, was genau der Grund war, weshalb Ayla sich ausgerechnet an diesen Ort zurückgezogen hatte. Die Nachtwache, ein alter Assassine im Ruhestand, hatte mit einem verdrießlichen Brummeln sein Missfallen zum Ausdruck gebracht, als sie ihn weckte, damit er ihr die Tür öffnete. Doch sie hatte sich nicht bei ihm entschuldigt. Sie brauchte Zeit, um über ihr Versagen in der Darkworld zu meditieren, Zeit, um sich Antworten auf die Fragen zu überlegen, mit denen man sie garantiert konfrontieren würde. Ein intelligenterer Assassine würde sich rasch eine Ausrede einfallen lassen, mit der sich die Schmach kaschieren ließe, aber Ayla hatte kein Talent fürs Lügen. Sie verstrickte sich schon bei der kleinsten Flunkerei in Widersprüche, was natürlich dazu führte, dass ihr Schwindel sofort aufflog.

Nein, sie würde stattdessen versuchen, der Ursache ihres Fehltrittes auf den Grund zu gehen, diese Wahrheit in sich selbst zu entdecken, bevor Garret oder, die Götter seien ihr gnädig, der Gildenmeister sie aus ihr herausquetschten und sie dastand wie ein Schwachkopf. Oder wie ein erbärmlicher Versager, was, wie sie sich sagte, nicht zutraf. Einen simplen Holzstock schwingend, bewegte sie sich über den kahlen Steinboden des lang gestreckten Raumes mit den hohen Säulen, eine Abfolge verschiedener Techniken ausführend. Sie hatte beschlossen, mit den einfachsten Waffen zu beginnen und den Schwierigkeitsgrad so lange zu erhöhen, bis sie bei den anspruchsvollsten angelangt wäre. Wenn es nötig war, würde sie die ganze Nacht trainieren, zur Strafe für ihre Unfähigkeit und um zu beweisen, dass sie es besser konnte, als in derart beschämender Weise Schwäche zu zeigen, wie sie es bei ihrem Zusammentreffen mit diesem Darkworlder getan hatte.

Der Darkworlder. Woran lag es, dass sogar jetzt, wo er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lange tot war, Opfer irgendeines bösartigen Monstrums der Darkworld geworden, die Erinnerung an ihn Ayla einfach nicht loslassen wollte? Die Stelle an ihrer Schulter, wo er sie so brutal gepackt hatte, schmerzte noch immer. Sie würde morgen früh damit zu einem Heiler gehen, aber keinem Gildenangehörigen, sondern einem, der einfach seine Arbeit tat, ohne Fragen zu stellen, solange man ihn nur bezahlte. Irgendwie schaffte sie es schon, sich heimlich zum Streifen davonzustehlen und rechtzeitig zurück zu sein, ehe sie vor den Gildenmeister treten und Bericht erstatten musste.

Ayla schloss die Augen, ließ gekonnt den Stock zuerst in der einen, dann in der anderen Hand kreisen und genoss das Gefühl, wie das harte Holz gegen ihre Handflächen schlug. Es war jetzt fünf Jahre her, dass sie ihre Ausbildung zur Assassine begonnen und zum ersten Mal die derbe, unhandliche Übungswaffe gebraucht hatte. Damals waren ihre Hände schon bald voller Blasen gewesen, die Haut aufgesprungen und mit blutigen Scheuerwunden übersät, doch sie hatte durchgehalten. Die dicke, schützende Hornschicht, die sich in dieser Zeit gebildet hatte, war heute kaum noch vorhanden, überflüssig geworden durch die weichen, lederumwickelten Griffe der eleganten Dolche, die sie jetzt benutzte.

Sie war verweichlicht. Darin bestand die Wurzel des Übels. Sie hatte vergessen, was es bedeutete, eine Assassine im Dienste von Mabb, der Königin des Elfenreiches, zu sein. Vielleicht sollte sie wieder mehr mit einem Holzstock arbeiten, um sich abzuhärten.

Nein, es lag nicht nur an ihrem Kampfstil. Sie bekam einfach nicht genügend Gelegenheiten, zu kämpfen. Jeden Morgen wartete sie hoffnungsvoll auf dem Rand ihrer Pritsche hockend auf Garret. Der dann, wenn er endlich kam, ein zerknirschtes Gesicht machte und den Kopf schüttelte. Die Königin mochte keine Menschen, hatte er Ayla einmal erklärt, und sie solle deshalb besser gar nicht erst erwarten, allzu viele Aufträge zu bekommen. Man munkelte, dass Cedric, der Gildenmeister, eines von Mabbs vielen männlichen Spielzeugen war und niemals weder sie noch ihre Egozentrik infrage stellen würde, selbst dann nicht, wenn sie unfaire Vorurteile gegenüber einem der ihm unterstellten Assassine bei ihm schürte.

Während sie verbissen die nächsten Techniken absolvierte, sah sie das Gesicht des Gildenmeisters vor sich. Aber wie immer konnte sie ihm einfach nicht lange böse sein. Stattdessen richtete sich ihre, wie sie sehr gut wusste, irrationale Wut nach kurzer Zeit auf Garret, ihren Mentor. Er sollte sie verteidigen und sich für sie einsetzen. Zu seiner Schwester gehen und verlangen, dass sie die Sanktionen aufhob, die sie über Ayla verhängt hatte, wie auch immer es überhaupt dazu gekommen sein mochte, und ihr mehr und bessere Aufträge beschaffen. Das gehörte schließlich zu seinen Pflichten, und zwar umso mehr, als dass sie derzeit seine einzige Schülerin war.

Aber nein, Garret zog es vor, Mabb ihren Willen zu lassen und sie zu verhätscheln, als wäre sie eine Gottheit und nicht lediglich das Oberhaupt eines einzigen Volkes. So wie er am liebsten auch Ayla verhätscheln würde und dadurch aus ihr, einer starken, kompromisslosen Assassine, ganz schleichend seine nachgiebige, willige Gefährtin zu machen. Ihrer überraschenden Schwächelei von vorhin nach zu urteilen, trugen seine Bemühungen bereits erste Früchte.

Wie durch ihre zornigen Gedanken herbeigerufen, kam Garret just in diesem Moment durch die große, oben abgerundete Flügeltür marschiert. Der Nachtwächter rief ihm irgendetwas hinterher, doch seine Worte wurden vom Knall der zufallenden Türflügel und dem Donnern der schweren Stiefel ihres Mentors auf dem Steinboden verschluckt. Für einen Augenblick erwartete Ayla, er würde einen Wutanfall bekommen. Doch kurz darauf musste sie gedanklich seine versteinerte Miene verscheuchen, die sie in ihrer Vorstellung schon vor sich gesehen hatte, denn tatsächlich war es Besorgnis, die in sein Gesicht geschrieben stand, nicht Verärgerung.

„Seit wann bist du zurück? Ich wäre fast umgekommen vor Sorge!“ Sein Umhang flatterte hinter ihm, als er an ihre Seite eilte.

Vorgebend, sie wolle ihren Zopf neu binden, löste Ayla rasch das dünne Lederband, mit dem er zusammengehalten wurde, und ließ ihr Haar über ihre zerschundene Schulter fallen wie einen flammend roten Vorhang.

„Ich bin gerade eben erst eingetroffen.“

Jetzt wurde er wütend, seine Augenbrauen zogen sich unter den Fühlern zusammen, die flach an seinen dunklen Locken anlagen, wie die Ohren einer wild gewordenen Raubkatze. „Und du bist nicht direkt zu mir gekommen? Du warst zwei Tage länger weg, als dein Auftrag es erforderte …“

„Hätte ich ihn entkommen lassen sollen?“, fiel sie ihm ins Wort, stellte ein Ende des Stocks auf den Boden und richtete sich, mit beiden Händen das andere Ende umfassend, gerade auf.

„Du hättest dich an die Instruktionen halten sollen, die ich dir gegeben habe!“ Er griff sie an den Oberarmen, gefährlich nahe der Stelle, wo der Darkworlder sein kleines Andenken auf ihrer Haut hinterlassen hatte.

Garret selbst jagte ihr keine Angst ein, wohl aber die Möglichkeit, dass er ihre Wunden entdecken könnte, und die Fragen, zu denen diese Entdeckung unweigerlich führen würde. Ihm den kältesten Blick zuwerfend, den sie zustande brachte und den sie bei unzähligen Todeskandidaten aufgesetzt hatte, wenn sie um Gnade winselten, zischte sie: „Ich muss meine Trainingseinheit beenden.“

Sein Gesichtsausdruck wurde weicher, und er ließ sie los. Sie wusste, es war ihm unangenehm, Ärger offen zu zeigen. Es machte ihn unattraktiv. „Es tut mir leid. Ich bin etwas übermüdet. Mabb hat ein Suchkommando nach dir ausgeschickt, aber sie schafften es nicht, die Grenze zur Darkworld zu überqueren. Ich hatte schon befürchtet, dir sei etwas zugestoßen.“

Sie wandte sich von ihm ab und schleifte den Stock zum Waffenregal. Mabbs angeblich ausgesandter Suchtrupp hätte keinerlei Probleme gehabt, in die Darkworld zu gelangen. Im Gegensatz zu den scharf bewachten Eingängen der Lightworld waren die Tunnel, die in das Territorium ihrer Feinde führten, völlig ungeschützt. Aber die Königin würde es dennoch nicht riskieren, die Bewohner der Darkworld zu provozieren, indem sie Soldaten in ihr Gebiet schickte und damit womöglich einen Krieg vom Zaun brach. Jedenfalls ganz sicher nicht wegen Ayla, die Mabb aufs Tiefste verachtete und daraus auch keinen Hehl machte.

Ayla nahm sich eines der Breitschwerter, obwohl ihre Muskeln vor Überanstrengung brannten und eine weinerliche Stimme in einem Winkel ihres Gehirns förmlich nach Schlaf bettelte. Mehr Training, mehr Zeit zum Nachdenken, das war es, was sie brauchte.

„Ayla, bitte“, sagte Garret besänftigend, und sie konnte an seinen Schritten hören, dass er langsam auf sie zuging. „Du bist erschöpft. Wir können morgen trainieren, aber im Moment halte ich es für das Beste, wenn du dich ein wenig ausruhst. Bleib heute Nacht bei mir. Und morgen früh gehen wir dann als Erstes gemeinsam zum Refugium.“

Refugium. Das Wort verhieß so verführerische Annehmlichkeiten, Erholung und inneren Frieden. Sie könnte dort meditieren, in den Bassins baden, sich regenerieren.

Die Erinnerung an den Darkworlder einfach fortwaschen.

Der bloße Gedanke an ihn bekräftigte sie in ihrem Entschluss, weiterzumachen. „Ich werde morgen ins Refugium gehen. Allein.“ Ebenso wie ich heute allein schlafen werde, fügte sie stumm hinzu.

Garret seufzte tief. „Ganz wie du möchtest.“

Sie sah ihm nach, als er ging. In den schweren Gildengewändern wirkte er, eigentlich von sehr schlanker Statur, viel kräftiger, als er in Wirklichkeit war. Seine Flügel lagen an seinem Rücken an, die feine transparente Haut überzogen mit einem schillernden Netz aus Farben wie Ölschlieren auf einer Pfütze. Er war ziemlich begehrt unter den Hofdamen, wie Ayla jedes Mal festgestellt hatte, wenn sie zum Palast ging, um Bericht zu erstatten. In der Gunst des Bruders der Königin zu stehen war etwas, das bei vielen Neid erweckte, und Ayla wusste ihre Position zu schätzen, wenngleich sie auf seine Annäherungsversuche kaum einging. Es war kein Geheimnis, dass ihr Vater, ein Mensch, ihr dank eines gewonnenen Pokerspiels überhaupt erst Zutritt zur Lightworld hatte ermöglichen können. Aber Garrets Entscheidung, sie zu trainieren, war eine selten glückliche Fügung gewesen, und sie konnte nicht darauf spekulieren, noch einmal so vom Schicksal verwöhnt zu werden. Sie war ihm dankbar. Die meisten Schüler und Mentoren wurden einander zugewiesen, ausgenommen, man „arrangierte“ etwas, und Ayla wäre nicht in der Lage gewesen, für die Zuweisung zu einem guten Lehrer zu bezahlen.

„Aber als ich dich bei der Versammlung gesehen habe“, sagte Garret oft zu ihr, „da wusste ich, ich muss in deiner Nähe sein, und sei es nur als dein Mentor.“

Sie fühlte sich verpflichtet, sich erkenntlich zu zeigen, fand es jedoch schwierig, dies in Form einer lebenslangen Bindung zu tun. Ihr war natürlich nicht entgangen, was über sie getuschelt wurde. Dass sie zu stolz wäre, dass ihr nicht klar wäre, wie unrealistisch ihre Erwartungen wären. Es war schließlich nicht so, als könne man noch höher aufsteigen als bis zur Erbin des Königreichs. Dass dieses Königreich, genauer gesagt, die gesamte ursprüngliche Lebensweise ihres Volkes, nicht mehr existierte, spielte dabei keine Rolle. Und nicht nur das, auch die Unsterblichkeit der Elfen gehörte der Vergangenheit an. Theoretisch konnte Mabb zwar noch immer für die Ewigkeit herrschen, doch eine tödliche Verletzung oder Krankheit wären auch für sie das Ende. Es war allerdings unwahrscheinlich, dass die Königin einem von beidem zum Opfer fallen würde, mit ihrem gewaltigen Tross an Leibwachen und Heilern im Rücken. Dennoch, für eine Halbblütige wie Ayla wäre eine Bindung mit Garret mehr als alles, worauf sie in ihren kühnsten Träumen jemals hätte hoffen dürfen, und das wusste sie.

Ebenso wie Garret. Und das war ein großer Teil des Problems.

Warum konnte sie seinen Avancen nicht einfach nachgeben, zu ihrem eigenen Vorteil? Das Leben in den Baracken war ganz und gar kein Vergnügen, ständig musste man seine wenigen Halbseligkeiten vor den Gaunern von Kobolden verstecken, die ebenfalls dort einquartiert waren und alles stahlen, was nicht niet- und nagelfest war. Würde sie bei Garret in seinem Domizil außerhalb des Palastes wohnen, bräuchte sie sich darum nicht mehr zu sorgen. Außerdem hätte sie Besitztümer, die es auch wert waren, vor Diebstahl geschützt zu werden. Einen weichen Teppich zum Beispiel anstelle des rauen kalten Betonbodens in ihrer Unterkunft. Essen und köstlichen Wein, worum sie nicht vorher hatte kämpfen müssen, entwendet aus der Welt der Menschen, wo die Dinge schön und sauber waren. Es gab nicht allzu viele Luxusgüter hier im Untergrund, doch Garret würde ihr alles geben, was er konnte, und das einfach nur, weil er es wollte.

Sie arbeitete sich durch die verschiedenen Schwertabwehrtechniken, bis sie sicher war, dass Garret die Räumlichkeiten der Gilde in der Zwischenzeit verlassen hatte. Es war beinahe Morgen, als sie todmüde aus der Trainingshalle wankte. In der Menschenwelt würde es bald Mittag sein, und die Sonne, die Ayla noch nie zu Gesicht bekommen hatte, stünde hoch am Himmel, ihr Licht würde durch die Gitter bis in die Abwasserkanäle dringen und damit im Untergrund den verzögerten Tagesanbruch ankündigen.

Ayla war damals noch nicht geboren, als das Menschenvolk den Wall und damit die Astralreiche zerstört hatte. Garret hingegen war dabei gewesen, und wie alle Elfen, die in den Schlachten gegen die Menschen gekämpft hatten, erinnerte er sich noch sehr gut daran, obwohl seitdem fast dreihundert Jahre vergangen waren. Manchmal sang er Lieder, die davon handelten, und spielte dazu seine Harfe mit einem Ausdruck tiefen Bedauerns, so leidenschaftlich, dass es einem vorkam, als wären seine Emotionen mit der Musik zu einer Art Zauber verschmolzen, der jeden Zuhörer in seinen Bann zog. Auch zwischen den Menschen selbst hatte zu dieser Zeit ein Krieg gewütet, bei dem die eine Seite ihren einen wahren Gott wie ein Schwert vor sich hergetragen hatte, mit dem alle „Ungläubigen“ niedergemetzelt werden sollten. Wie ein schwingendes Pendel waren die Menschen zuerst begeistert von dieser neuen Lebensart gewesen, doch dann wollten sie plötzlich nichts mehr davon wissen. Es geschah während der letzten großen Verschiebung, dass die Grenze zwischen dem, was sie für die Realität hielten, und der Welt ihrer Träume und Albträume endgültig verschwand.

Garret sprach mit Abscheu über das Gehabe der Menschen, die behaupteten, ihre Praktiken seien die Wiederauferstehung der alten Ordnung, und an jeder Straßenecke magische Steine, Orakel und Bücher in glänzenden Einbänden verkauften, mit deren Hilfe angeblich jeder ein mächtiger Zauberer werden konnte. „Einige besaßen sogar die Frechheit, sich als Druiden auszugeben“, hatte er einmal gespottet, nachdem ihm der übermäßige Gebrauch seiner Pfeife ein wenig zu Kopf gestiegen war. „Druiden. Ich streifte oft mit Amergin durch die Wälder. Er hat mir diese Harfe geschenkt. Diese Dummköpfe, wenn sie auch nur eine winzige Ahnung davon hätten, was es bedeutet, ein Druide zu sein … Ach, aber die Hälfte von denen isst ja nicht einmal Fleisch von Tieren. Sie finden, das sei grausam und barbarisch.“

Aber es hatte alles nichts genützt. Die Anhänger des Einen Gottes, die ihn aus den nichtigsten Anlässen im Gebet um Hilfe baten, und die Scharlatane mit ihren Geisterweckungen und ihren Versuchen, die Astralreiche in ihre Welt hinüberzuziehen, hatten schließlich die Oberhand gewonnen. Die Götter schienen „wie sich auflösende Nebelschleier zu zerfallen“, wie Garret es ausdrückte, und die Kreaturen, welche die Menschheit bis dahin als reine Mythen betrachtet hatte, wurden auf die Erde gespült, ohne Hoffnung, sie je wieder verlassen zu können. Zuerst waren sie freudig begrüßt worden, man feierte ihnen zu Ehren sogar große, ausgelassene Feste. Doch als sie sich wider Erwarten nicht als die eifrigen dienstbaren Geister erwiesen und nicht so besessen von ihrer Verehrung für die menschliche Rasse, wie die Sterblichen sie sich vorgestellt hatten, da wandten diese sich schon bald gegen die unfreiwilligen Neuankömmlinge.

Es hieß, der Krieg sei ausgebrochen, nachdem die Elfenvölker die Menschen in den Untergrund gedrängt hatten, wobei die Geschichte, die außerhalb der Lightworld die Runde machte, etwas anders klang. In dieser Version hatten sich die Sterblichen freiwillig dorthin zurückgezogen. Ihre Welt gegen die unterirdischen Höhlen und Gänge getauscht, die sie ins Erdreich gegraben hatten. Tunnel zur Abwasserentsorgung und für die großen Transporter, die den Boden erbeben ließen, wenn sie in der Nähe auf ihren Schienen vorbeifuhren. Sie hatten weitere Schächte ausgehoben, Verbindungswege zwischen den Tunneln geschaffen und nach und nach die ausgedehnten Städte des Untergrundes erbaut.

Als immer mehr Menschen aus der oberen Welt hierher flüchteten, schwang sich einer von ihnen zu ihrem Anführer auf. Seinen Namen auszusprechen war in der Lightworld streng verboten, doch Ayla hatte nicht ihr ganzes bisheriges Leben hier verbracht. Auf dem Streifen, wo sie als Kind gelebt hatte, der neutralen Zone zwischen Dark- und Lightworld, wurde offen über ihn geredet. Madaku Jah, der Prophet. Oder der Verräter, je nachdem, wen man fragte. Doch egal, ob er verflucht oder gepriesen wurde, er hatte jedenfalls eine Armee aufgestellt, die gegen die Geschöpfe kämpfte, die nun die Erdoberfläche bevölkerten, und sie schlussendlich in genau den Untergrund verbannt, in den sie einst die Sterblichen getrieben hatten.

Und nun standen die Zeichen erneut auf Sturm. Nur ein Narr konnte die Vorboten des kommenden Unheils ignorieren. Ein weiterer Kampf braute sich zusammen, dieser aber würde nicht gegen die Menschen geführt werden, den gemeinsamen Feind der beiden Welten des Untergrundes. Dieses Gefecht fände hier statt, zwischen ihnen. Der beunruhigende Gedanke daran verfolgte Ayla hartnäckig, während sie zu den Baracken schlurfte, ihr Körper am Rande des Zusammenbruchs.

Als sie ankam, waren nur die Kobolde gerade dabei, ihre Schlafstätten zu verlassen. Ihre Gier nach dem kleinsten bisschen Sonnenlicht, das sie erhaschen konnten, hatte sie zu ausgesprochenen Frühaufstehern gemacht.

Einer von ihnen blieb vor ihr stehen und grinste sie breit an. „Ayla, du siehst ja grauenhaft aus. Komm mit uns ins Refugium.“

„Natürlich sehe ich grauenhaft aus. Ich habe die ganze Nacht trainiert. Und jetzt muss ich mich ausruhen, solange ich noch kann.“

„Wie du meinst.“ Der Kobold entblößte abermals seine Zähne zu einem verschmitzten Lächeln. Jedes Wesen mit einem Tropfen sterblichen Blutes in sich würde nach einer solchen Nacht im Vergleich zu den reinrassigen, ewig jungen und starken Elfen furchtbar aussehen. Außerdem hatten sie sich ausschlafen können. Sie waren nicht von den schrecklichen Bildern einer unlängst sterblich gewordenen und nun hilflos den Gefahren der Darkworld ausgesetzten Kreatur gequält worden.

Ebenso wenig, wie du dich damit hättest quälen müssen, schalt sie sich selbst. Es gab keinen Grund, an ihn zu denken. Oder ihn zu bedauern. Das war ihr erster Fehler gewesen. Sich nicht über ihren Sieg zu freuen, was sie anscheinend ja nicht tat. Alles, worüber sie nachdenken sollte, war ein guter Grund für ihr Versagen.

Nur, weshalb lag sie dann schlaflos auf ihrer harten Pritsche, die Geräusche der anderen gerade erwachenden Assassine ausblendend, unfähig, die Erinnerung an die Stimme und das schmerzverzerrte Gesicht des Darkworlders einfach zu verdrängen?