12

»… und heute wollte ich mit nach Mannheim. Hab dieses Jahr noch kein Spiel verpaßt, keine Minute. Sogar in Dortmund war ich bis zum Ende dabei. Und was für ’n Ende. Sechs Dinger haben wir kassiert - sechs! Das muß man sich mal vorstellen … eigentlich hatte ich danach die Nase voll, aber dann … ich meine, man kann die Jungs doch in so ’ner Situation nicht im Stich lassen. Also bin ich weiter hingegangen, jeden Samstag, und jetzt sind wir aus ’m Schlimmsten raus. Mit Bein und Falkenmayer schaffen wir’s nächstes Jahr vielleicht sogar in ’n UEFA-Cup, oder wir holen den Pokal, und dann sind wir international wieder drin, und dann …«

Er brach ab und betrachtete die Gitterstäbe. Dahinter lag ein leerer, grüngestrichener Flur mit drei gelben Lampen. Die Schatten der Stäbe teilten unsere Zelle in schmale Bahnen. Wieder keine Fenster. An der Wand klebte ein Wasserhahn, daneben eine schmutzige weiße Plastiktoilette. Wir saßen zu siebzehnt auf eisernen Bettgestellen, graue Decken um die Schultern, rauchten und schwiegen. Die Frauen hatte man einen Raum weiter eingesperrt. Manchmal riefen sie herüber, und jemand von den Männern antwortete. Wie Gespräche Ertrinkender. Seit vier Stunden hockten wir hier; eine Aufseherin hatte Brot gebracht.

Frankfurter Flughafen, Abschiebehaft. Der nächste Flug nach Beirut ging in vier Stunden. Es war kurz nach drei.

Ich kauerte neben dem Burschen mit den schwarzen Strichen unter der Nase und betrachtete meine Zigarettenglut. Er hieß Abdallah, kam aus dem Südlibanon und würde in vier Stunden dabei sein. Vor uns auf dem Boden lag ein Landsmann von mir und murmelte Gebete. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, hob den Kopf und erklärte mir irgendwas auf türkisch.

Abdallah knackte mit den Fingern.

»Aber vielleicht ist es das Gesetz des Ausgleichs, die Eintracht bleibt oben, und ich steig ab, oder andersrum.«

»Und wenn du dir ’ne Kugel in ’n Kopf schießt, holt sie den Meister.«

Seine Zunge schlug gegen den Gaumen und machte schmatzende Geräusche. »Das Schicksal läßt sich nicht lenken.« Und nach einem Blick Richtung Flur: »Trotzdem gibt’s so was wie einen Ausgleich. Zum Beispiel, als ich mein Abitur bestanden habe, lief mir die Freundin weg. Ehrlich wahr.«

Ich nickte und blies Rauchringe. Meine Gedanken kreisten zum wiederholten Mal um Möglichkeiten, die Leute vorm Abflug zu bewahren. Anwälte, Zeitungen, Kirchenheinis - solange ich nicht telefonieren durfte, weil die Ausländerpolizei glaubte, mich mit der Abendmaschine nach Istanbul schicken zu müssen, war eins so gut wie das andere.

Ein Rauchring landete genau vor der Nase des Betbruders. Er schaute erneut auf, wedelte wütend mit den Armen und quasselte los, als gäb’s was zu gewinnen. Vielleicht war er Asthmatiker? Ich hob die Schultern und lächelte gequält. Als die Quasselei nicht mehr aufhören wollte und mir das Lächeln wie Zement im Gesicht klebte, fuhr Abdallah genervt dazwischen.

»Begreifen Sie doch endlich, er versteht Sie nicht. Er ist zwar Türke, aber er spricht kein Türkisch!«

»Ach ja? Warum? Ist er zu dumm?« Die Oberlippe krümmte sich verächtlich. »Oder schämt er sich?«

Sein Deutsch war fast einwandfrei, und ich ärgerte mich, ihm vorhin mit so was wie Zeichensprache gekommen zu sein.

»Ich hab’s nicht gelernt, ganz einfach.«

»Wie heißt dein Vater?«

»Was hat der damit zu tun?«

»Wie er heißt?!«

»Tarik Kayankaya.«

Er machte eine Handbewegung, die bedeuten sollte, ›Na bitte‹, und tönte: »Was habe ich gesagt, du bist Türke.«

»Donnerwetter, und das haben Sie einfach so rausbekommen?«

»Du verleugnest deine Herkunft!«

»Wollen Sie nicht lieber noch ’n bißchen beten? Ich hör auch auf zu rauchen.«

Sein Zeigefinger schnellte vor und blieb zitternd vor meiner Nase hängen. »Morgen abend bist du zu Hause, dann ist es vorbei mit Deutsch spielen!«

Abdallah spuckte aus. »Na, das ist ja schön. Dann sitzt er im Knast da unten, bekommt drei Mal am Tag eins in die Fresse, aber wenn er in zwanzig Jahren rauskommt, kann er sich in Istanbul ganz alleine auf türkisch ’n Kaffee bestellen.«

Abdallahs Goldzähne blitzten. Der Betbruder betrachtete ihn von oben bis unten, rümpfte die Nase und zischte: »Ich lasse mich nicht kaufen. Lieber in der Türkei im Gefängnis als hier Asylbewerber.«

Kaum daß er ausgeredet hatte, gab’s hinter uns Bewegung. Ein Kurde pellte sich aus seiner Decke, schimpfte und stieg über zwei Bettgestelle vor den Vaterlandsschwätzer, wie ein Kerl, der seine Fäuste mehr pflegt als sein Kinn.

»Was du da redest, ist Scheiße, ganz große Scheiße!« Der Türke antwortete auf türkisch, und irgendwas an seiner Antwort mußte falsch gewesen sein, denn im nächsten Moment krachte er in hohem Bogen gegen die Wand und rutschte an ihr wie ein nasser Sack zu Boden. Aus seiner Nase rann Blut. Ein Raunen ging durch die Zelle. Der Kurde stand wie ein Feldherr in ihrer Mitte und blickte um sich, nach dem Motto, ›wer hat noch nicht, wer will noch mal?‹ Er mußte Bodybuilder oder Zehnkämpfer oder beides sein, jedenfalls schien es ihm Spaß zu machen, irgendwen irgendwohin zu werfen, und wenn es dann noch ein Türke war, um so besser. Er stand einfach so da und lauerte. Zeit genug für den Betbruder, sich an der Wand hochzuziehen und wie besoffen loszutorkeln, bis er erneut vor dem Kurden stand. Wenn man wollte, konnte man es mutig nennen, in jedem Fall war es ungesund, und Abdallah murmelte »Vollidiot«. Der Kurde ließ die Finger knacken und lockerte die Schultern, und jeder im Raum erkannte für sich, daß es kaum Freude machen konnte, dazwischenzugehen. Gerade, als er zum zweiten Wurf ansetzte, wurde eine Tür aufgestoßen, und fünf Bullen kamen den Flur entlangmarschiert. Drei Männer, eine Frau, ein Hund. Augenblicklich wurde es still. Türke und Kurde verzogen sich in die Ecke. Die fünf blieben vor unserem Gitter stehen, und die Frau zog einen Zettel aus der Brusttasche.

»Chatem, Abdallah.«

Abdallahs braunes Gesicht wurde gelb wie Käse, und ich hörte seinen Atem nicht mehr. Nachdem die Frau den Zettel weggesteckt hatte, schloß sie die Tür auf. Männer und Hund traten ein. Ich bedeutete Abdallah, sitzen zu bleiben und den Mund zu halten.

»Vortreten.« Ich stand auf.

»Mitkommen.«

»Wohin?«

»Sie fliegen in einer Stunde«, erklärte die Frau vom Flur aus. »Wir haben Ihnen heute mittag versehentlich einen falschen Abreisetermin genannt.«

Männer und Hund nahmen mich in die Mitte, und gemeinsam verließen wir die Zelle. Hinter mir setzte Gemurmel ein, einige fluchten leise. Plötzlich schmetterte eine Stimme »Allah yardimcin olsun!« Die Tür flog zu, und ein anderer knurrte: »Mit den Polizisten isser, dein Allah.« Das letzte, was ich von den Flüchtlingen sah, war der alte Mann in Lackschuhen, der sich die Krawatte lockerte.

Sie hatte den züchtigen Knoten, die schmucklosen Hände, die barmherzige Stimme und das schmallippige bleiche Gesicht einer Nonne, dazu den lauernden Blick einer Frauenbewegten in Männergesellschaft. Die frisch gebügelte Uniform stand ihr wie ein Pappkarton. An ihren Füßen knatschten braune Allwetterstiefel, und zwischen dem Busen schlenkerte eine Kette mit hellblauen Steinen. Wenn sie überlegte, spielte sie damit. Seit zehn Minuten saß ich mit verschränkten Armen - zwei Bullen hinter mir - auf einem Holzschemel und beobachtete, wie sie Abdallahs Paß in Eisenschränken, Schreibtischschubladen und Aktenordnern suchte. Kein Ton war gefallen. An der Wand gegenüber hing ein Kalender vom Bundesgrenzschutz - ein Hubschrauber bei Sonnenuntergang.

Ich sah auf die Uhr. Wenn sie nicht gelogen hatte, startete Abdallahs Flugzeug in vierzig Minuten. Damit er nicht mitflog, galt es also noch etwa dreißig abzusitzen. Außerdem durfte der Paß nicht auftauchen. Am besten, sie käme gar nicht zum Suchen. Ich sorgte dafür.

»Darf ich mal auf die Toilette?«

»Nein.«

»Soll ich mir in ’n Schuh pinkeln?«

Ein Waschlappen landete auf meiner Schulter.

»Ganz ruhig bleiben, Kollege.«

»Haben Sie gehört, Schwester? Er hat Kollege gesagt. Das is üble Nachrede. Sagen Sie dem Kerl…«

»Bitte, Herr Chatem…« Ihr Tonfall erinnerte an die Sorte Vollkorn-Pädagogen, die einen Schüler in Grund und Boden und anschließend von der Schule lächeln konnten. Die Stimme klang sanft und voller Verständnis, und sie bewegte die Arme, als wollte sie mich an die Brust drücken. Alles an ihr gab vor, weich und warm zu sein, nur die Augen glänzten hart und kalt wie Stahl. »… wenn Sie sich einen Augenblick gedulden könnten.«

Obwohl es nicht als Frage gemeint war, wartete sie auf Antwort. Ich senkte den Kopf. »Tut mir leid, Frau Kommissarin, ich bin ein bißchen nervös… Was werden meine siebenundzwanzig Frauen sagen, daß ich mich so lange nicht gemeldet habe? Und die Großväter und die Mutter, Allah, meine Mutter! Sie wird mich wieder zu den Schafen sperren, wie damals, als ich meinen Bruder Hassan mit der Handgranate spielen ließ…«

»Herr Chatem!«

Sie schlug die flache Hand auf den Tisch und machte ein strenges Gesicht. Dann knatschte sie an mir vorbei und ging vor einem Schrank in die Hocke. Durch die Uniformhose zeichneten sich die Umrisse eines gerippten Schlüpfers ab. Ich lehnte mich nach hinten und raunte »Trägt ganz schön heiße Höschen, euer Boß.«

Bevor einer der Brüder reagierte, drehte sie sich in der Hocke um und zischte »Wie bitte?«

»Ich hab gesagt, Sie wärn ’ne klasse Ficksau und ob wir’s nicht zu viert versuchen sollten. Bißchen Zeit bleibt ja noch.«

Ihr Blick fror sich in meine Stirn. Langsam stand sie auf und ging auf mich zu. Die linke Hand spielte mit der Kette.

»Eine bitte was?«

»Ficksau, von ficken, ficken wie bumsen…«, ich wandte mich bekloppt grinsend zu meinen Bewachern links und rechts und jubelte, »… bumsen, bumsen, bumsen!« Dann wieder zu ihr »Und ich bin genau der richtige Typ dafür. Bei mir zu Hause nennen mich die Leute Ali die Dachlatte.«

Ihre Pupillen hatten sich zusammengezogen. Ich zwinkerte. »Und wenn ich Dachlatte sage, Süße, meine ich keine Zierleiste.«

Die Ohrfeige kam so schnell und mit solcher Wucht, daß sie mich vom Stuhl riß. Während ich noch am Boden lag, ging die Tür auf. Ich hob den Kopf, und meine Züge wurden hart. Der große grauhaarige Mann mit dem kantigen Gesicht blieb im Rahmen stehen und musterte die Runde. Seine Stimme war leicht belegt, als er fragte: »Was geht hier vor?«

»Herr Chatem hat mich beleidigt.«

»Chatem…?«

Ich zog mich am Schreibtisch hoch und wischte die Ärmel ab. »Die Schwester meint mich.«

Höttges schloß die Tür, schob die Hände in die Hosentaschen und kam langsam auf mich zu. Wie beim letzten Mal ruhten seine kalten grauen Augen auf meinen. Ohne den Blick abzuwenden, sagte er: »Frau Henkel, gehen Sie bitte raus.«

»Aber Herr Kommissar, was hat das…«

»Und nehmen Sie Ihre Beamten mit.«

An der Tür drehte sie sich nochmal um. »Soll ich dann für den nächsten Flug reservieren?«

»Sie sollen verschwinden!«

Als die drei das Büro verlassen hatten, lehnte ich mich gegen die Schreibtischkante und steckte mir eine Zigarette an. Höttges Augen folgten den Bewegungen, sonst rührte er sich nicht.

»… tja, da bin ich doch gestern morgen glatt im richtigen Büro gelandet. Wissen Sie, mit welcher Begründung Larsson oder Manne, oder wie er gerade hieß, die Flüchtlinge von der Villa in den Bunker verfrachtet hat? Eine Nachbarin hätte die Polizei gerufen. Dieselbe Nachbarin, von der mir Klaase in Ihrem Büro nicht erzählen durfte, weil Sie wußten, der Tip ist heiß. Und auch wenn die Begründung für den Quartierwechsel vorgeschoben war - denn der eigentliche Grund war ich -, konnte Larsson über die Nachbarin nur von Ihnen erfahren haben.«

Er hatte keine Miene verzogen, aber um die Nase war es merklich hell geworden. Jetzt senkte er den Blick, und auf seinen Wangen spielten die Kiefermuskeln. Es war nicht auszumachen, ob er dabei war zusammenzubrechen oder versuchen würde, mir den Mund zu stopfen. Ich schnippte Asche ab.

»Und das beantwortet, woher die Bande so genau informiert war, wer in der Stadt einen Ausweisungsbescheid erhalten hatte. Von Ihnen, der die Bescheide selber abschickt. Daß Inspektor Hagebrecht den Bunkerschlüssel hatte, war dann das i-Tüpfelchen. Er hat mit der Sache sicher nichts zu tun, aber er ist auch keiner, der eine Überlegung daran verschwendet, wie sein Vorgesetzter zu so einem Schlüssel kommt. Was ich nicht verstehe, warum Ihre Partner Ihnen meinetwegen nicht Bescheid gegeben haben? Überhaupt saudumm, mich in den Bunker zu sperren.«

Er starrte weiter zu Boden, bis er mir den Rücken zudrehte und begann, auf und ab zu gehen. »Mir können Sie nichts«, erklärte er dann mit bemüht fester Stimme.

»Stimmt. Ein paar Flüchtlinge verstecken sich im Bunker, werden von der Polizei aufgestöbert und abgeschoben. Wegen des illegalen Aufenthalts sind sie, rein rechtlich gesehen, die einzigen, die etwas verbrochen haben…« Ich trat die Zigarette aus und steckte mir eine neue an. »… jedenfalls, wenn ich in Gellersheim keine Leiche gefunden hätte…«

Er blieb stehen. »Eine Leiche…?!« Dann setzte er seinen Gang stockend fort, und eine Mischung aus Schrecken und dem Eintreffen schlimmster Befürchtungen spiegelte sich in seinem Gesicht. Ich nickte. »Und wenn Sie auch kaum der Mörder sind, und Ihnen auch sonst nichts nachzuweisen ist, kann ich einigen Rummel veranstalten, damit Ihr Name nicht gerade frisch gewaschen klingt. Vom Dienst suspendiert, arbeitslos, Pension futsch - das wären immerhin mögliche Folgen.«

Er war am Fenster stehengeblieben und sah auf den Polizeiparkplatz und den Eingang zur Ankunftshalle. Eine Urlauberfamilie mit bunten Hütchen, Sandalen und Strümpfen drängte durch die Schiebetür. Der Sohn hatte eine Taucherbrille überm Gesicht.

Höttges räusperte sich. »Wieviel?«

»Nicht wieviel. Ich will die Akte.«

»Welche Akte?«

»Die, die Sie gestern morgen auf Anweisung verschwinden ließen. Die Akte Rakdee.«

Pause. Er sah wieder aus dem Fenster. »… ist das alles?«

»Nein. Geben Sie Befehl, daß vorerst keiner abgeschoben wird, daß jeder Flüchtling seinen Anwalt verständigen kann und daß was Vernünftiges zu essen in die Zellen kommt.«

Er nickte, und sein Gesicht hatte dabei einen beinahe bemitleidenswerten Ausdruck. Ich musterte ihn skeptisch.

»Nun tun Sie mal nicht so belemmert, bis eben haben Sie doch noch den Feldwebel markiert. Es ist Ihr Beruf, Menschen zu jagen, und im Verband mit Gangstern nehmen Sie ihnen sogar noch Geld und Schmuck ab - wenn Ihnen dann mal jemand auf die Füße tritt, kann man ja wohl ’n bißchen mehr Haltung erwarten!«

Als er den Kopf hob, schien er um Jahre gealtert. Seine Augen waren stumpf und das kantige Kinn nur noch ein morscher zitternder Knochen. Plötzlich brach es aus ihm heraus: »Was wissen denn Sie?! Im Verband mit Gangstern! Einmal in meinem Leben habe ich einen Fehler gemacht!«

Ich drückte die Zigarette aus. »Soll ich raten? Köberle hat von dem Fehler Wind bekommen, und seitdem stehen Sie auf seiner Mitarbeiterliste.«

Ich stieß mich vom Schreibtisch ab, ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. Am Fenster blieb ein gebrochener Mann, der auf einen leeren Parkplatz starrte.

»Mit Gaunern in Kontakt zu geraten und von ihnen erpreßt zu werden kann jedem passieren, aber als Ausländerpolizist sind Sie mir einfach widerlich. Die Akte ist bis morgen früh in meinem Briefkasten. Und kommen Sie nicht auf die Idee, Köberle zu warnen. Wenn er anruft, erzählen Sie, ich sei auf dem Weg nach Istanbul. Schönen Tag noch.«