Vollbepackt mit belegten Brötchen, Keksen und Schokolade, mit Zeitungen, einer Flasche Scotch und zwei Flaschen Wasser verließ ich den Hauptbahnhof. Es war kurz vor halb elf. Ich beeilte mich, rannte über den Bahnhofsvorplatz und über die erste Straße. Bei der zweiten mußte ich einen Pulk Reisebusse vorbeilassen. Plötzlich klingelte es hinter mir, und jemand kreischte hysterisch: »Kannste nich sehen: Radweg!«
Ich fuhr herum und brüllte: »Kannste nich fahren, zehn Meter Platz!«
Der Fahrer bremste, drehte eine Kurve und kam mit missionarisch strengem Ausdruck auf mich zu. Ein junger Mann im grünglitzernden Fünfziger-Jahre-Anzug, mit steif gefönten Haaren und einem T-Shirt, auf dem BORN TO BE WILD stand.
»Das is ’n Radweg. ’n Radweg is für Räder. Ich hätte dich auch umfahren können - wär mein gutes Recht gewesen«, belehrte er mich, seinen eigenen Worten zunickend, und hielt vor mir an. Offensichtlich erwartete er ein Zeichen des Dankes oder der Reue, und ich hatte den Eindruck, er wollte sich gerne länger mit mir unterhalten.
Ich ließ ihn stehen und lief über die Straße zum Wagen. Als ich ihn kurz darauf hinter dem Bahnhof überholte, hatte ich gute Lust, ihm zu zeigen, was eine rechtlich abgesicherte Vollbremsung ist.
Ich lenkte den Wagen an Messe und Plaza-Hotel vorbei auf die Autobahn. Die Stadtlichter verschwanden, und dunkelblaue Nacht schlug über mir zusammen. Ich begann auszurechnen, wie lange man mit zwanzigtausend Mark irgendwo im Süden am Meer leben kann. Wäre ich durchgefahren und der Opel wider Erwarten nicht zusammengebrochen, hätte ich am nächsten Morgen am Strand gesessen. Unter einem Strohdach, mit Garnelen und Weißwein, einer Kellnerin und Whitney Houston in der Musikbox. Ich lehnte mich zurück. Es war warm im Auto, und der Motor brummte fast gleichmäßig. Dann kam die Kellnerin an meinen Tisch und blieb bis zur Ausfahrt Gellersheim.
Bei der ersten Telefonzelle hielt ich, sprang raus und rief Weidenbusch an. Es klingelte siebenmal.
»Ja, bitte?«
»Kayankaya. Haben Sie die Stellung aufgegeben?«
»Nein, nein… ich war gerade im Bad.«
»Hhm. Also, was gibt’s?«
»… wie meinen Sie das?«
Seine Stimme zitterte. Es mußte ein harter Tag für ihn gewesen sein. Wahrscheinlich hatte er die ganze Zeit am Telefon gesessen, den Schlips in seine einzelnen Fasern zerrupft und einen Pfefferminzbonbon nach dem anderen gekaut.
»Na, Sie haben doch heute nachmittag bei mir angerufen.«
»Ach, so… Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie schon was herausgefunden haben?«
»Eine ganze Menge. Wenn mich nicht alles täuscht, haben Sie Ihre Freundin bald wieder.«
Sein folgendes »Ja?!« klang eher erschreckt als erfreut. Ich stutzte. »Ist das vielleicht nicht recht?«
»Doch, doch…« Einen Moment blieb die Leitung still. Dann holte er tief Luft und sagte »… aber, sehen Sie, ich habe mir das heute noch mal alles durch den Kopf gehen lassen und ich glaube inzwischen, es ist keine gute Entscheidung gewesen.«
»Was ist keine gute Entscheidung gewesen?«
»Mit Sri Dao und mir. Schon wegen der Sprache, und wer weiß, was da noch alles auf mich zukommt. Ihre Familie, die Herkunft - das kann man doch gar nicht abschätzen. Und jetzt auch noch Gangster.«
»Hören Sie, Weidenbusch, ich verstehe, daß Sie aufm Zahnfleisch gehen, aber…«
»Nein, nein, es ist besser, wenn wir uns trennen. Ich habe auch schon mit meiner Mutter drüber gesprochen…«
Pause. Ich sah mich nach der Herde Gäule um, von der ich glaubte, sie galoppiere über mich hinweg. Am anderen Ende der Leitung raschelte Papier.
»… jedenfalls habe ich mir überlegt, ich zahle Ihnen vier Arbeitstage plus einen Spesensatz von dreihundert Mark, macht tausendeinhundert. Die fünfhundert von heute morgen abgezogen, bleiben sechshundert Mark. Den Scheck erhalten Sie Ende der Woche mit der Post.«
»Ausgezeichnet. Und was mache ich mit Ihrer Freundin?«
»Na, ja, ich dachte…«
»Sie dachten, ich fahre jetzt nach Hause und seh mir was Nettes im Fernsehen an? Ich sag Ihnen, was ich mache: Ich werd Ihre Freundin weitersuchen, und wenn ich sie gefunden habe, werde ich ihr links und rechts eine runterhauen. Soll ich von Herrn Weidenbusch ausrichten, erklär ich ihr dann - mit ’ner Berührung geantwortet, Sprache der Liebe und so.«
»Seien Sie bitte nicht zynisch! Ich habe mir die Entscheidung bestimmt nicht leichtgemacht.«
»Was Sie nicht sagen.«
Fast hätte ich den Hörer schon auf der Gabel gehabt, als es aus der Muschel tönte: »Warten Sie!« Und nach einer Pause: »… sagen Sie mir trotzdem Bescheid. Vielleicht bin ich im Moment nur etwas nervös. Und versprechen Sie mir, nicht zur Polizei zu gehen - egal, was passiert.«
Zurück hinterm Steuer spielte ich eine Weile nachdenklich mit dem Autoschlüssel.
Ich parkte den Opel vor THEO MANZ CINEMAPRODUCTION und stellte den Sitz zurück. Dann zog ich mir eine schwarze Pudelmütze über, holte Proviant und Whisky vor und aß zu Abend. Bei Frau Olga brannte noch Licht, und Theo Manz feierte eine Party. Ein Haufen oberer Mittelklasse-Wagen stand den Bürgersteig entlang. Aus den Fenstern dröhnten die Rolling Stones. Von Zeit zu Zeit kreischte ein Chor Frauenstimmen ›I can’t get no‹ und andere Textstellen mit. Haus Nummer sechs lag in völliger Dunkelheit. Als ich fertig gegessen hatte, setzte ich mich mit der Flasche Whisky in Position: schräg vor mir die Backsteinvilla, im Rückspiegel die Straße; wen Eberhard Schmitz auch immer schickte, die Leiche wegzuschaffen, er konnte mir nicht entgehen. Dabei fiel mir ein, daß ich Weidenbusch hätte fragen sollen, ob Larssons Arme tätowiert gewesen waren.
Ich nahm einen Schluck und zündete mir eine Zigarette an. Weidenbusch. Slibulsky. Dietzenbach. Wieder Slibulsky, und McEnroe. Um zwölf gingen die Straßenlaternen aus. Die Flasche war ein Viertel leer. Ich machte das Radio an. Musik nach Mitternacht, Udo Jürgens auf allen Kanälen: ›Zeig mir den Platz, wo alle Menschen sich verstehn…‹ Ich drehte wieder ab. Aus Theo Manz’ Flachbau kam ein streitendes Paar und lief wild gestikulierend zum Auto. Er riß ihr die Tür auf, »… kicken, hab ich gesagt, nicht ficken! Gehn wir Samstag kicken!«
»Ach, Marita spielt Fußball?!«
Sie lehnten, jeder von einer Seite, übers Autodach, die Köpfe wie Geflügel vorgeschoben, und schrien die Straße wach.
»Nicht Marita! Aber ihr Freund, dieser alberne Serienmacher!«
»Soweit ist es also mit dir: dich mit einem ›albernen Serienmacher‹ zum Fußball zu verabreden?!«
»Weil ich diese Serie nunmal zufällig geschrieben habe!«
Die Türen knallten, Reifenquietschen. Der Wagen schoß mit hundert über die Kreuzung.
Ich nahm die nächste Zigarette. Langsam fragte ich mich, ob Schmitz, in der Überzeugung, der Scheck habe mich kaltgestellt, einfach ins Bett gegangen war. Die Uhr im Armaturenbrett zeigte halb eins. Ich gähnte. Der Himmel hatte sich bewölkt, und die Nacht war jetzt stockdunkel. Ich trank weiter Whisky, rauchte und starrte auf die Umrisse der Villa. Irgendwann mußte mir die Flasche aus der Hand gerutscht sein.
Als ich aufwachte, graute der Morgen. Etwas klopfte gegen die Tür, und ich hörte »… schulljung, aber Ihr Frankfurter Kennzeichn… wenn Sie mich vielleicht mmmitnehmen können… bloß weg von hier!«
Ich brauchte einen Augenblick, mich zu erinnern, wo ich war und was ich hier wollte, dann fuhr ich auf. Durch das Seitenfenster schaute ein etwas aus der Form geratener Engel. Das Make-up war verschmiert, und die Frisur hatte sich in herunterhängende Strähnen aufgelöst. Mit einem Stöckelschuh in der Hand schlug sie aufs Türblech ein.
»Kann mich auch am Fahrpreis beteiligen…« Anscheinend war die Party zu Ende.
Ich warf einen Blick an ihr vorbei zur Schmitz-Villa. Als erstes sah ich den silbernen Toyota-Jeep in der Einfahrt, dann Licht im Erdgeschoß. Ich entriegelte die Tür, während meine neue Bekanntschaft zufrieden »Vieln Dank« lallte, und sprang auf die Straße.
»Tut mir leid. Wird besser sein, Sie suchen sich’n Taxi.« Dann spurtete ich los. Es war hundekalt, und Nieselregen schlug mir ins Gesicht. Über das Gatter der Personalauffahrt und den Alarmdraht, von Baum zu Baum und an der Terrasse vorbei, gelangte ich mit Kletterpartie und Laufschritt zur Schiebetür. Der Rolladen war heruntergelassen, und außer Lichtfäden war nichts zu sehen. Ich legte das Ohr an. Von irgendwoher kam leises Tab-tab. Nach zwei, drei Minuten kam das Tab-tab näher, drehte vor mir einen Kreis, hörte auf, und es rummste. Dann passierte lange nichts, bis eine gedämpfte Stimme sagte: »Hallo?… Ja, hab alles durchsucht.… Keine Spur. Muß’n Witz gewesen sein.… Soll ich noch mal hoch zum Sportplatz? Vielleicht wissen die was… Das Geschirr?! Bin doch keine Putzfrau. Außerdem ist das Mannes Arbeit.… Unsinn. Der wird schon wieder auftauchen.… Okay, okay, aber das laß ich mir von Manne bezahlen. Bis später.«
Kurz darauf setzte das Tab-tab wieder ein, wurde leiser und verschwand. Ich richtete mich auf. Es gab zwei Möglichkeiten. Erstens, ich würde mit der Beretta in den Keller gehen und den Mann zu der Stimme zwingen, mich zu den Flüchtlingen zu bringen - aber dann hätte er mich gesehen, und auch wenn ich nicht gerade vor Angst zitterte, so nahm ich Schmitz’ Warnung doch ernst. Je weniger Kontakt mit seinen Leuten, desto besser. Also die zweite Möglichkeit. Schließlich wollte ich keine Stadt hochgehen lassen, sondern eine Frau finden.
Ich schlich zum Opel zurück. Inzwischen war es fast hell.
Der Motor verstummte. Auf der Rückbank schlief der Partyengel. Ich zog die Decke unter dem Beifahrersitz vor, lehnte mich nach hinten und deckte sie zu. Ihre Züge hatten sich geglättet, und mit fast zufriedenem Ausdruck lag sie zusammengerollt in der Landschaft aus herausgeplatztem Schaumstoff, Zeitungen, Wasserflaschen und einem Ölkanister. Sie gehörte zu der Sorte kühler Schönheiten, die früher in jedem zweiten Film zu bewundern waren und an deren Stelle heute sogenannte Charaktergesichter getreten sind. Die Wimpern breiteten sich wie Fächer über die Wangen, und um ihren Hals lag eine Perlenkette. Ich hätte nichts dagegen gehabt, sie nach Frankfurt mitzunehmen. Ich hatte auch nichts dagegen, daß sie in meinem Auto schlief. Ehe ich auf die Idee kam, etwas dagegen zu haben, in den naßkalten Morgen hinaus zu müssen, setzte ich mich zurück, nippte am Whisky und stieg aus.
›1. FC Gellersheim‹ stand in abgeblätterter roter Farbe am Vereinshäuschen. Eisenstäbe sicherten das Fenster des kleinen verstaubten Lokals mit einem Haufen billiger Pokale an der Wand. Ich drehte mich um und sah über das leere Spielfeld. Verrottete Holzbänke lagen umgestürzt auf den Seitenauslinien, die Eckfahnen waren abgebrochen, und ein zerrissenes Tornetz schwang im Wind. Grasbüschel erinnerten an einen Rasenplatz. Ich kickte eine leere Bierflasche über den Sand und ließ den Blick durch den umliegenden Wald schweifen. Bis auf ein kaum wahrnehmbares Brummen war kein Laut zu hören. Ich schob das Brummen auf meinen Kopf, überquerte den Strafraum und lief einen moddrigen Weg entlang. Bald waren rechts und links nur noch Bäume. Durch die Kronen drang kaum Licht. Ein menschenleeres, ästeknackendes Halbdunkel. Ich entschied, mit dem Sportplatz die schlechtere Möglichkeit gewählt zu haben und kehrte um. Diesmal passierte ich das Vereinshäuschen auf der Rückseite. Eine verfallene Umkleidekabine schloß sich an. Das Dach war zur Hälfte eingestürzt, und unter den Fensterhöhlen glitzerten Scherbenhaufen. Ich stutzte. Kein Kopf der Welt konnte so laut brummen. Was hier brummte, war ein Generator. Ich fand ihn hinter der Kabine unter einem Bretterdach. Wen oder was belieferte er mit Strom? Das Flutlicht, das es nicht gab? Oder die neben der Vereinstheke aufgeklappte Kühltruhe, die leer stand?
Ich lief zurück zum Spielfeld, setzte mich auf die Kante einer umgestürzten Bank und nahm eine Zigarette. Als ich sie zur Hälfte geraucht hatte, flammten, etwa dreißig Meter in den Wald rein, zwei Scheinwerfer auf. Ich duckte mich.
Der silberne Toyota-Jeep stand vor einer Betonwand mit grauer Stahltür, dahinter ein mit Sträuchern bewachsener Hügel. Seit zehn Minuten hatte sich nichts gerührt.
Ich kauerte, den Kragen hochgeschlagen, hinter einem Baum, die Beretta im Schoß und ärgerte mich, die falschen Schuhe angezogen zu haben. Meine Füße fühlten sich an wie tote Fische. Nach weiteren zehn Minuten hatte ich genug. Vorsichtig, die Kanone im Anschlag, lief ich von Baum zu Baum, bis ich auf dem Trittbrett des Japaners stand.
Überquellende Aschenbecher, Dutzende von Musikkassetten, zwei leere Bacardi-Flaschen, Box- und MotorsportZeitschriften, ein Maulkorb und eine Kiste Hundefutter. Am Rückspiegel hingen eine Plastikgitarre und ein rosa Stoffherz. Auf einem der Seitenfenster klebte AFRI-COLA BIS ZUR ODER. Plötzlich öffnete sich die Stahltür, und ein weißes, schweinsgesichtiges Tier schlüpfte ins Freie. Ich warf mich unter den Wagen, aber es hatte mich schon wahrgenommen. Auf kurzen, krummen Beinen kam es angewatschelt, blieb vor mir stehen und betrachtete mich wie gelangweilt aus blutunterlaufenen Schlitzen. Es knurrte nicht, schien nicht einmal zu atmen, stand einfach nur da und glotzte. Schwere Schritte näherten sich, und eine krachende Stimme kommandierte: »Rambo, komm!« Aber Rambo kam nicht. Rambo behielt mich im Auge und gähnte. Dabei klappte der Kopf in zwei Teile, und eine Armee von kleinen weißen Zähnen blitzte in ihm wie Messerspitzen.
»Rambo!« Die Schritte entfernten sich. Rambo blieb, wo er war. In Zeitlupe versuchte ich, die Beretta auf seine Höhe zu hieven. Mein Herz raste. Rambo verfolgte die Bewegung ohne jegliches Interesse.
»Jetzt komm schon.« Nach dem Motto ›Na los, sei ein braver Rambo, geh zu Herrchen‹ versuchte ich ihm zuzulächeln und entsicherte das Schießeisen. Unsere Augen maßen sich. Seine Ohren zuckten, und als ich abdrücken wollte, schnappte er zu. Er biß nicht, er schnappte. Wie eine Wolfsfalle - einmal. Und genauso hielt er fest. Der Schuß ging ins Leere. Ich lag schreiend am Boden, den Arm in seinem Maul. Die Zähne hatten sich durch sämtliche Ärmel hindurch direkt ins Fleisch gestoßen. Immerhin, er biß mir den Arm nicht ab. Ruhig, ohne sich sonderlich anzustrengen, stand er über mir. Ein Hund, der zerfleischte, wie andere Hunde in der Sonne dösen. Hinter mir knackten Äste. Verrückt vor Schmerzen brüllte ich: »Nehmen Sie Ihren verdammten Köter weg!« und wollte dem Scheißkerl ins Gesicht sehen, aber Rambo ließ mich nicht. Wer auch immer er war, ich haßte ihn. Ihn noch mehr als seinen Bullterrier. Ein Luftzug, mein Schädel explodierte, und ich sauste ins Leere.
»Aufwachen, mein Freund. Aufwachen…«
Eine warme glatte Hand fuhr mir über die Stirn. Ich blinzelte. Erst sah ich gar nichts, dann nur Beton. Betondecke, Betonwände, und auch mein Kopf schien voll Beton. An den Wänden ringsum hingen Neonröhren und warfen stechendes Licht. Mir fiel der Generator ein. Der Raum maß an die sechs mal zwanzig Meter, keine Fenster, keine Heizung, kein Sonstwas. Links und rechts die Wände entlang saßen etwa dreißig Menschen auf groben Holzbänken und richteten fragende Blicke auf mich. Dazwischen spielten drei Kinder Murmeln. Ab und zu ein Klicken der Kugeln und kurzes Getuschel, sonst herrschte Stille.
Wieder berührte mich die Hand. Ich quälte meinen Kopf ein Stück herum und sah in das faltige Gesicht eines schwarzen Mannes, der mich im Schoß hielt und leise wiederholte »Aufwachen«. Seine Stimme hatte die beruhigende Tonlage von altgewordenen Rauchern. Während ich mir alle Mühe gab, ihm den Gefallen zu tun, flüsterte eine Frau in rotem Glitzerkostüm irgendwas auf Arabisch, und ein Dicker neben ihr nickte. Wahrscheinlich stand für sie fest, daß ich ihnen keine große Hilfe sein würde.
Endlich saß ich. Die Augen geschlossen klemmte ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Mein Hinterkopf fühlte sich merkwürdig an, wenn man drückte, sabberte rote Flüssigkeit. Der schwarze Mann gab mir lächelnd Feuer. Er mußte um die Siebzig sein, hatte kurzes graues Kraushaar und steckte in einem dunkelblauen Anzug. Taschentuch in der Brusttasche, Krawatte, Lackschuhe und ein Hauch von teurem Parfum. Neben einem wie mir - blutverschmiert und lehmverkrustet, der rechte Ärmel zerfetzt - sah er aus wie einer der Stinkreichen, die sich einen Spaß daraus machen, von Zeit zu Zeit unterm Volk eine Bockwurst aus der Hand zu vertilgen. Ich rauchte und betrachtete die Folgen von Rambos Kampf gegen den Einmarsch der Türken ins Oberhessische. Vorsichtig zupfte ich Stoffreste aus der Wunde und hielt den Arm hoch. Dann suchten meine Augen die schweigende Runde ab. Eine Mischung aus Wartezimmer beim Zahnarzt und Bombenschutzkeller.
Ich räusperte mich. »Ist hier vielleicht eine Sri Dao Rakdee anwesend?«
Niemand antwortete. Drei Thailänderinnen, die eng beieinander in einer Ecke saßen, veränderten keine Miene. Ehe ich mich von der Überraschung erholt hatte, knurrte ein Bursche mit zwei schwarzen Strichen unter der Nase und jeder Menge Gold im Gesicht »Wer sind Sie?!«
»Kemal Kayankaya, Privatdetektiv.«
Es zuckte durch alle Gesichter. Die Kinder warfen keine Murmeln mehr, und mein Samariter rückte ein Stück ab. Wie aus einem Mund kam es von allen Seiten »Polizei?!«
Ich bewegte leicht den Kopf »Nein.«
Aufatmen, Pause, nächste Frage. »Bist du auch hier wegen Papiere?«
Das war die Glitzerfrau.
»Ich suche einen Herrn Larsson, der vorgibt, gefälschte Ausweise zu beschaffen.«
»Wie meinst du das?«
»Sie sind hier, weil Sie keine Aufenthaltsgenehmigung haben?«
Viele Gesichter strafften sich, andere wandten den Blick von mir ab. Alle taten, als hätten sie damit nichts zu tun. Ich wies zur Tür: »Abgeschlossen?«
Eine hagere Jeansreklame, gespickt mit Pop-Plaketten und Walkman-Kopfhörern um den Hals, stand auf »Na und? Zum Schutz. Damit uns niemand findet - ist doch total okay.« Und nochmal mit Nachdruck »Echt total okay.«
»Und wenn Sie tatsächlich niemand findet und man Sie einfach vergißt? Ich nehme an, Herr Larsson, oder wie er immer heißen mag, hat bereits sein Geld?«
»Und unseren Schmuck hat er auch genommen«, lamentierte die Glitzerfrau, »unseren ganzen Schmuck!«
»Ach, der Schmuck. Das war nur, weil die meisten nicht genug Geld dabei hatten. Den Walkman, zum Beispiel, konnte ich behalten.«
Mein Pflegeopa kratzte sich am Kinn.
»Ist Plastik.«
Der Jeanstyp warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
»Wie deine Lacktreter, Großvater. Als wir vor zehn Jahren aus’m Iran raus waren, hab ich so was das letzte Mal gesehen. Du bist total out, Großvater, total out - wofür willst du’n deutschen Paß? Geh zurück nach Ugahugah und pflück Bananen.«
Der Alte lächelte.
»Wir sind alle aus demselben Grund hier.«
»Klar…«, er sah in die Runde, »… nur ich hab nich so’n Schiß wie ihr. Dieser Larsson ist voll in Ordnung. Gestern hab ich mit ihm geredet und ihm gesagt, ich bin Ramin Ben Alam, und wehe, du verarscht uns. Das hat der voll kapiert. Über Kino, Eddy Murphy und so, haben wir uns auch unterhalten.«
»Sie sind seit gestern hier eingesperrt?«
»Gestern nachmittag.«
»Und vorher waren Sie unten in der Villa?« Er nickte.
»Hat Larsson Ihnen erklärt, warum der Umzug?«
»Wegen der Nachbarin. Die Alte hat die Polizei angerufen.«
Ich vergaß meinen zertrümmerten Schädel und lehnte mich vor. »Ach, was?!«
»Klar. Sag ich doch, zum Schutz.«
Plötzlich dämmerte mir, warum das Ausländeramt bei meinem Besuch über keine Akte Rakdee verfügt hatte. Überhaupt dämmerte mir einiges. Blieb die Frage, was jetzt passieren würde. Vorsichtig setzte ich mich zurück.
»Wann sollen Sie die Ausweise bekommen?«
»Heute abend.« Er strahlte. »Wird ’n Fest. Erst mit der Freundin piekfein essen und dann ab ins MARYLIN.« Er machte ein paar Tanzschritte, wiegte sich in den Hüften und krächzte »I’m bad, I’m bad, I’m bad - yeah…«
Die Runde betrachtete ihn mitleidig. Plötzlich warf er den Kopf zurück. »Meine Freundin heißt Gabi, Gabi Schminke!«
Ich trat die Kippe aus. »Hatte Larsson tätowierte Arme?«
Der Alte neben mir nickte.
»Und wie sieht der Typ aus, der mich gebracht hat?« Zwei Mädchen unter Kopftüchern kicherten. Ein kleiner Kerl mit Ziegenbart stand auf und beschrieb mit den Armen eine Schrankwand. »Viel Fleisch, viel Bart und besonders viel Geruch.«
Ich seufzte. Dann sah ich mich um. »Zu essen oder zu trinken hat er Ihnen wohl nichts gebracht?«
Keine Antwort. Der Ziegenbärtige setzte sich wieder.
»Und wenn er auch heute abend nichts bringt? Wenn er überhaupt nie mehr kommt…?«
Die Blicke wandten sich zu Boden. Ich stand auf, schwankte zur Tür und prüfte, ob sie aufzubrechen sei. Aber ebensogut hätte man den Versuch unternehmen können, die Wand einzutreten. Als ich mich umdrehte, hingen die Kinder am Schoß ihrer dicken Mutter. Eins weinte. Das Gesicht war von Bunkerdreck und Tränen völlig verschmiert. Die beiden anderen beobachteten mich mit großen Augen.
Plötzlich wurde ich wütend. »… damit Sie niemand findet - eine tolle Idee! Larsson hat abkassiert, Sie haben keinem verraten, mit wem Sie sich treffen, und die Polizei ist froh, wenn Sie weg sind.« Die Hände in den Raum werfend schnauzte ich: »Wahrscheinlich werden wir hier alle ersticken!«
Jetzt weinten auch die beiden anderen Kinder, und spürbare Angst legte sich über die Runde. Selbst der Junge in Jeans sah verstört vor sich hin. Der Traum von einem Leben ohne die Hölle Beirut, Teheran, Colombo oder Istanbul schien sich in Luft aufzulösen. Militär, ermordete Verwandte, Folter und Hunger waren plötzlich gegenwärtig. Einer fing an zu schreien. Der alte Mann schloß die Augen.
Sie waren geflohen. Sie waren auf zwei Koffern um die halbe Welt gefahren. Sie hatten Anträge gestellt, waren abgelehnt worden, hatten noch einmal beantragt, waren wieder abgelehnt worden, hatten in Ställen gehaust oder zu zehnt auf einem Zimmer. Sie hatten sich versteckt und ohne Papiere gelebt und wollten sich jetzt falsche besorgen. Aus dem Nichts hatten sie dreitausend Mark aufgetrieben - hatten alles versucht, um sich irgendwann sagen zu können: morgen schlafe ich bis in die Puppen, oder bis nächstes Jahr spare ich auf einen Videorecorder, oder am Wochenende saufe ich, bis ich auf allen vieren krieche, und wenn ein Polizist kommt, stehe ich einfach auf und greife nach meiner Brieftasche. Aber sie hatten keine Chance. Abgelehnt heißt abgelehnt. Der Flüchtling, ›in dessen Kulturkreis Folter eine traditionell übliche Vernehmungsmethode ist‹. Der Flüchtling, ›der, wenn er politisch nicht tätig geworden wäre, bei der Heimkehr auch keine Repressalien zu fürchten hätte - und der sich des Risikos seiner Tätigkeit wohl bewußt war‹. Und der ›Wirtschaftsasylant‹, der im Angesicht deutscher Supermärkte zum Schmarotzer erklärt wird, als seien Hunger und Armut für drei Viertel der Erdbevölkerung eine Art ›Menschenrecht‹; das ›Auf-unsere-Kosten‹-Gespenst, obwohl die Kosten seit Jahrhunderten er getragen hat, und der heute nur dahin geht, wo mit dem Reichtum seines Landes ›unsere‹ Fußgängerzonen, ›unsere‹ Fliegerstaffeln und ›unsere‹ Opernhäuser aufgebaut wurden; der ›Parasit‹, als würden Kaffee, Gummisohlen und Erze im bayrischen Wald wachsen. Früher oder später würde man sie alle finden und ins nächste Flugzeug stecken. Aber jetzt schien ihnen nicht einmal das zu bleiben. Während ich mir eine Zigarette anzündete, versuchten die meisten, den schreienden Mann zu beruhigen. Die Mutter zeterte auf arabisch, um dann auf mich loszugehen.
»Warum machen Sie uns so schlechte Gedanken?!« Und auf die weinenden Kinder weisend: »Sehen Sie, was Sie getan haben!«
Ich machte den Mund auf, aber es kam nichts. Inzwischen hatten sie den Mann auf eine Bank gelegt. Mit starrem Blick zur Decke und monotoner, atemloser Stimme erzählte er in einem Mischmasch aus Englisch und Tamil von seinem Heimatdorf. Soweit ich verstand, gab es das Dorf nicht mehr, und man hatte ihn gezwungen, irgend etwas mit seiner Tochter zu tun. Die Tochter gab es auch nicht mehr. Er war der einzige Überlebende in seiner Sippe.
Ich setzte mich zu dem alten Mann. Eine unsichtbare Mauer umgab ihn. Die Arme verschränkt, den Blick auf die Lackschuhe, flüsterte er: »Sie hätten es nicht sagen sollen. Das ist ein Raum mit sehr vielen Menschen. Kein Platz für Angst.« Und nach einer Pause: »Sie halten uns für dumm, aber wir haben keine andere Wahl.« Dann stand er auf, trat durch die hilflos dreinschauende Runde zu dem Mann ohne Dorf und legte ihm die Hand auf die Stirn.
Ich biß die Zähne aufeinander. War es vielleicht meine Schuld, daß wir hier saßen? Und würde ich etwa nicht mit von der Partie sein, wenn die Luft dünn würde? Sollten sie mir doch alle den Buckel runterrutschen. Ich schloß die Augen, rauchte Kette und hoffte, jemand käme, um mir die Qualmerei zu verbieten, damit ich ihm eine runterhauen könnte. Aber es kam niemand. Jedenfalls nicht so, wie ich dachte.
Nach der vierten Zigarette hörte ich die erste Sirene. Dann die zweite, die dritte, schließlich ein ganzes Konzert. Sie kamen schnell näher, heulten ein letztes Mal auf und gaben Ruhe. Motorengeräusch, Befehle, Megaphonstimmen, Hundegebell und Schritte; ein Schlüssel im Schloß, die Tür sprang auf. Ich schnippte die Kippe weg und lauschte einem Sack fallender Groschen.
Der erste, der reinkam, war knapp einssechzig groß, dünn wie ein Brett und ebenso steif. Die Uniform saß ihm wie eine zweite Haut. Von Oberlippe bis Kinn zog sich ein gepflegtes braunes Bartoval, ansonsten war er glatt rasiert und strömte einen dieser Herrendüfte aus, die die Luft nach Seife schmecken lassen. Breitbeinig stand er im Türrahmen, in der rechten Hand eine Pistole, in der linken ein Funkgerät. Wenn er sprach, konnte man meinen, er kaue Eiswürfel. »Aufstehen, zack, zack, in eine Reihe stellen - Ausweiskontrolle!« Zwei Uniformierte mit MPs postierten sich links und rechts von der Tür. Ich gehörte zu denen, die sitzen blieben.
»Ich habe gesagt, zack, zack!«
»Guten Tag und Ihre Dienstnummer bitte, sonst merke ich gar nicht, daß Sie da sind.«
Die MPs taten einen schnellen Schwenk auf meine Brust. Die Gesichter darüber, keine zwanzig und picklig, schauten drein, als müßten sie mindestens die Welt retten und hätten einen Haufen Angst davor. Die Finger am Abzug fuhren nervös hin und her.
»… und sagen Sie Ihren Jungs, sie sollen die Knarren wegnehmen. Die drücken noch aus Versehen ab.«
Die Augen des Kommandierenden nahmen mich wie sezierend unter die Lupe, dann gab sein Kinn die Richtung an, und die Kollegen spurteten los. In Nullkommanix hatten sie mich von der Bank hochgerissen, in ihre Mitte genommen und abgetastet. Wie die Beretta war auch meine Brieftasche verschwunden. In der Brieftasche steckte mein Ausweis. Mit kurzen abgehackten Schritten kam der Kommandierende auf mich zu und postierte sich so, daß ich seinen Atem spürte. Er roch nach Minze. Old Spice und Minze. Es zog einem die Schuhe aus.
»Ihren Ausweis.«
»Ihre Dienstnummer.«
»Einseinszweiachteinsacht - Inspektor Hagebrecht. Ihren Ausweis.«
»Wurde mir gestohlen.«
»Verhaften.«
»Moment mal…« Ich stemmte mich dagegen. Es fehlte nicht viel, und sie hätten mir die Arme gebrochen. »… ich bin deutscher Staatsbürger.«
Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen.
»So sehen Sie aus - abführen.«
»Wenn das Ihr Chef erfährt, macht er Sie ’n Kopf kürzer, dann sind Sie etwa einsvierzig… aua! Ich wette, Sie sollen die Sache hier so diskret wie möglich schaukeln. Üben Sie schon mal, ihm beizubringen, daß Kemal Kayankaya unter die Flüchtlinge geraten ist…«
Minuten später - ein Beamter neben mir - saß ich in Handschellen im Bus und verfolgte durch vergitterte Scheiben, wie einer nach dem anderen aus dem Bunker eskortiert wurde. Manche konnten nur durch Schläge bewegt werden, andere wurden getragen, viele weinten. Die Kinder kamen zuletzt. Man schleifte sie von der Mutter getrennt in einen PKW. Sie schrien. Ihre Murmeln fielen zu Boden und blieben blinkend im Schlamm liegen. Ich wandte mich an meinen Bewacher.
»Wer hat Sie hergeschickt?«
Blick und Kinn starr geradeaus, die Mütze tief in die Stirn gezogen, murmelte er »Dienstgeheimnis«.
»Kommt es Ihnen nicht komisch vor, daß Ihr Einsatzleiter ’n Schlüssel zum Bunker hat?«
»Liegt nicht in meinem Aufgabenbereich, das komisch zu finden.«
Nachdem Hagebrecht die Bunkertür verriegelt und den Befehl zum Abmarsch gegeben hatte, setzte sich die Kolonne in Bewegung. Wir fuhren den Waldweg zum Gellersheimer Sportplatz hinauf - ich sah meinen Opel und im Rückfenster den immer noch schlafenden Partyengel -, kamen nach Gellersheim und wenig später auf die Autobahn. Der Fahrer stellte das Radio an, und die Beamten wiegten die Köpfe zu bayrischer Blasmusik. Es regnete. Am Frankfurter Kreuz bogen wir Richtung Flughafen ab.