Eine schwarze polternde Decke hatte sich über Frankfurt gelegt, und die ersten Tropfen fielen. Ich bugsierte den Opel zwischen zwei Offenbacher Cabrios, ließ den Wagen quer stehen und rannte die Treppe zum EROS-CENTER ELBESTRASSE hoch. Zwei graue Plastiklappen markierten den Eingang. Sie sahen aus, als kotze jeder Besucher zum Abschied einmal dagegen. Ich stieß die Lappen auseinander und war im rundum gekachelten, rosa beleuchteten Erdgeschoß. An den Wänden hingen vollbusige Gipsbüsten und Witzbilder in der Art ›Jäger jagt Hirsch, während Hirsch Jägersfrau besteigt‹. Dazu seufzte eine italienische Halsschmerzenstimme aus unsichtbaren Lautsprechern ›Amore, amore‹. Die Luft war dick und süß, und man meinte, sie schlüge Wellen, wenn man sie durchschritt: ein verkommenes, riesiges Luxus-Pissoir, nur daß die Klofrauen Strapse und bunte Schlüpfer trugen. Kurz hinter dem Eingang zogen sich Türen links und rechts durch die düsteren Gänge. Alle drei Meter eine, dahinter ein verschwitztes Zimmer. Handtuch auf dem Bett, Pornobilder an der Wand, ein Waschbecken, eine Packung Kleenex. Die meisten Türen waren geschlossen. Vor den offenen saßen Frauen auf Hockern, die Beine lang in den Flur gehängt, das Lächeln falsch wie Glasperlen, gelangweilt und jede Menge Putz im Gesicht. Um diese Uhrzeit arbeitete nur, wer es mehr als nötig hatte. Außer ein paar Spannern, die drei-, viermal die Runde machten und jedesmal neu ein Gesicht zogen, als wären sie hier rein zufällig hineingeraten, war kein Betrieb.
Abseits, in einer Ecke versteckt, lag der hauseigene Kiosk. Sprudel und belegte Brötchen fürs Personal. Drei Fliegen leisteten den Brötchen unter einer Glasglocke auf der Theke Gesellschaft. Ich lehnte mich daneben und zündete mir eine Zigarette an. Der kleine Mann unter mir, mit dem Kassengestell auf der Nase und der kalten Selbstgedrehten im Mundwinkel, saß in eine Decke gehüllt und grübelte über einem Puzzle. Der deutsche Bundeskanzler in fünfzig Teilen. Neben ihm ein volles Glas Wermut, vor ihm ein schlafender Dackel in gestricktem Leibchen, im Regal eine verstaubte Batterie Limonadendosen.
»Slibulsky schon da?«
Ohne aufzusehen, schüttelte er den Kopf. Ich sah zu, wie er das Kohlsche Kinn zusammensetzte.
»Macht Spaß?«
Wieder schüttelte er den Kopf. Mir lief Schweiß den Nacken herunter. Die Hände wurden feucht, und der Mantelkragen kratzte. Eine Hitze wie im Backofen. Ich hatte das Gefühl, langsam zu garen, und wunderte mich über seine Decke.
»Gar nicht so schwer, fünfzig Teile.«
Er legte das Puzzlestück, das er in der Hand hielt, beiseite und wandte sich mir zu. »Is ’n Werbegeschenk. Von ’ner Partei. Mit Politik hab ich nix am Hut, aber is umsonst. Verstehste?« Und, die Oberlippe rümpfend: »Normalerweise mach ich in Dreitausender, mindestens.« Beim Sprechen wippte die Kippe im Rhythmus.
Er sah mich noch eine Weile nach dem Motto ›Und wenn du eins in die Fresse willst, kannste haben‹ an und widmete sich wieder dem Spiel. Ich rauchte, und er puzzelte. Ich sah auf die Uhr. Viertel nach elf. Wir hatten uns für elf verabredet.
Ich kannte Ernst Slibulsky seit zwei Jahren, und wir waren sowas wie befreundet. Er reparierte mein Auto, ich beriet ihn bei Geschenken für seine Freundin, und wenn er sich mit ihr gestritten hatte, schlief er bei mir auf dem Sofa. Einmal die Woche spielten wir Billard; anschließend tranken wir ein paar Bier und redeten über Fußball. Manchmal tranken wir zuviel Bier, versuchten andere Themen und verstanden uns nicht. Slibulsky machte seit drei Monaten den Hampelmann für Ibiza-Charly, schmiß randalierende Freier raus und trieb bei den Frauen das Geld ein. Es war seine erste Arbeit in dieser Richtung.
Der kleine Mann seufzte. Das Puzzle war fertig. Seine Hand tastete nach dem Glas, und auch beim Trinken blieb die Kippe im Mund. Als er das Glas absetzte, war es leer.
Mißmutig wischte er sich mit dem Handrücken übers Kinn.
»Vielleicht isses aber auch deshalb nich schwer, damit der Herr Kohl, wenn er vom Regieren müde is, selber ma bißchen spielen kann.«
Ich gähnte. Er blinzelte mich an.
»Sind wohl keiner von der komischen Sorte?«
»Bin von der, die zu wenig geschlafen hat.«
Ohne den Blick von mir zu lassen, zündete er den Rest Zigarette an und sank zurück in seinen Sessel. »Sind Sie ’n Kunde?«
Ich schüttelte den Kopf. Die Glut leuchtete auf. Er sah zur Decke. »Früher hätte ich Sie das gar nicht zu fragen brauchen. Früher war das ’n anständiges Haus mit anständigen Mädels. Da hing an der Tür ’n Schild ›Kein Fremdenverkehr‹. Lustig, was?«
»Zum totlachen.«
Er nickte bedächtig. »Und heute? Nur noch Kaffer und Perverse. Aber is ja kein Wunder, bei all den Seuchen, die sie jetzt in Amerika erfinden.«
Ich trat meine Zigarette aus.
»Kein Fremdenverkehr… das waren noch Zeiten. Sie sind doch auch ’n Kaffer, oder?«
»Und einer, der Ihnen Ihre belegten Brötchen um die Ohren schlagen kann.«
Er schien amüsiert. »Das lassen Sie mal besser bleiben. Ich bin nämlich der große Bruder von Charly. Bißchen zurückgeblieben, aber sein Bruder.«
»’nen zurückgebliebenen Eindruck machen Sie nicht gerade.«
»Finden Sie?« Er schlug die Decke zurück. Anstelle der Beine lagen da zwei kurze Stumpen. »Und jetzt?«
»Ich würde sagen, gehbehindert.«
»So, das würden Sie also?«
Sein Lachen war mehr ein Husten. Schadenfroh und häßlich zugleich. Er zog eine Flasche weißen Cinzano hinter dem Sessel hervor und schenkte sich nach.
»Ich war mal ’ne große Nummer! Aber eines Tages, ratsch! Beide Beine - wie ’ne Wurst. Danach hat Charly mir die Arbeit hier besorgt. Nutten die Brötchen schmieren. Nett, nicht wahr? Dieses Loch.«
»Geht eben nichts über Familie.«
Ein Luftzug. Slibulsky kam um die Ecke gefegt. Kurze schwarze Locken, Hamsterbacken, Schnapsnase. Er steckte in einem türkisgrünen Jogginganzug mit eingenähten Glitzerteilchen und hatte eine Kiste Kinderüberraschungseier unterm linken Arm. Der rechte lag in Gips.
»Morgen zusammen.«
Die Kiste landete auf der Theke.
»Ab heute im Angebot. Stück ’ne Mark. Damit die Girls was zu lachen haben. Charly ist seit gestern der Meinung, der Puff braucht ›freundlicheres Ambiente‹.«
Der Mann im Sessel knurrte verächtlich. Slibulsky zwinkerte ihm zu. »Was is, Heinz, kein guter Tag?«
Die inzwischen wieder erloschene Kippe landete auf dem Boden. »Bin mit dem falschen Bein aus ’m Bett.«
Slibulsky zog eine Grimasse, die alles mögliche bedeuten konnte, drehte sich dann um, boxte mir gegen die Schulter: »Na, Kayankaya, Niederlage vom Sonntag überstanden?«
Ich wies mit dem Kinn Richtung Gips. »Jedenfalls besser als du den Sieg.«
»Tja… Bin die Treppe runtergefallen. Hab’s am Telefon vergessen zu sagen.«
»Schlimm?«
»Kaum der Rede wert.«
»Und das Turnier?«
Er zuckte die Schultern.
»Vielleicht können wir dich auf links trainieren und machen für das Queue ’ne Kuhle in den Gips?«
»Mit links kann ich höchstens beim Figurenpinkeln teilnehmen.«
Wir grinsten.
»Na, das war doch mal was: das Turnier beginnt, Bierich und Glatkow, und wie die Nobelklicker alle heißen, packen ihre Elfenbeinstöcke aus, worauf du dich hinstellst und sagst ›Schaut her, Leute, Billard ist nicht alles‹, und pinkelst ihnen ’nen Sonnenuntergang auf’n Teppich.«
Slibulsky bleckte die Zähne. Dann deutete er eine Verbeugung an und sagte mit erhobener Stimme: »Danke, meine Herren, fünf Pils auf Kosten des Hauses, und ich signiere.«
Hinter der Theke ertönte ein langgezogener knarrender Laut. Der Dackel begann zu kläffen.
»Jetzt habt ihr Arschlöcher den Hund aufgeweckt! Still Howard! Still, hab ich gesagt! Wirst du wohl… Howard!« Gekläffe und Gebrüll schwollen zu unerträglicher Lautstärke an.
Slibulsky winkte mir zu, warf ein »Bis später, Heinz«
ins Kampfgeschehen, und wir verließen den Kiosk.
Das EROS-CENTER ELBESTRASSE hatte vier Stockwerke mit jeweils zwanzig bis fünfundzwanzig Zimmern, einer Dusche und einer Toilette. Erdgeschoß und erster Stock wurden jeden Tag gefegt, waren am umsatzstärksten und fest in deutscher Hand. Nach oben hin wurden die Flure dunkler, die Frauen billiger und farbiger. Im dritten Stock Asiatinnen, im vierten Afrikanerinnen; die Putzfrau kam einmal die Woche. Durch einen separaten Eingang konnte man von der Straße her das im Hof gelegene LADY BUMP erreichen, eine kleine schmuddelige Bar mit Cordsesseln und Stripteasebühne. Nach außen sollte sie den Eindruck erwecken, hier würde Feineres geboten, doch bis auf daß man mit den Frauen Sekt trinken und alle halbe Stunde eine nackt unter bunten Glühbirnen tanzen sehen konnte, waren Bedingungen, Preise und Zimmer wie im CENTER.
Über allem, im ausgebauten Dachgeschoß, thronte Ibiza-Charly, ein Abteilungsleiter der Brüder Schmitz. Zu seiner Abteilung gehörte außer dem EROS-CENTER und dem LADY BUMP auch ein kleines Pornokino im Nebenhaus. Solange den Brüdern Schmitz die monatliche Abrechnung gefiel, konnte Charly die drei Betriebe führen, wie es ihm paßte. Er konnte seinen Bruder im hauseigenen Kiosk beschäftigen, Slibulsky für die Drecksarbeit anstellen, zwei Unterabteilungsleiter für Bar und Kino einsetzen, und sich die Zeit mit Cabriofahren, Saufgelagen und Pferderennen vertreiben. Aber sollte die Abrechnung den Brüdern Schmitz einmal nicht gefallen, würde Charly schon am nächsten Tag auf der Straße sitzen oder im Krankenhaus liegen oder - schlimmstenfalls - keins von beidem, und zwar nie mehr. Die Brüder verstanden ihr Geschäft. Das Geschäft bestand in erster Linie daraus, jedem anderen deutlich zu machen, wie sehr sie es verstanden. Sie besaßen im Bahnhofsviertel noch drei andere Puffs, ein Dutzend Bars, mehrere Spielhallen und zwei Pelzgeschäfte. Zwei große Fische mit entsprechenden Verbindungen ins Rathaus, die über Leichen gehen ließen. Eberhard Schmitz war Ehrenvorsitzender beim Bund für Tierschutz, sein Bruder Georg Leiter des Karnevalvereins SACHSENHÄUSER NARREN HELAU.
Auf der Treppe fragte ich Slibulsky: »Wie heißt der Dackel?«
»Howard, von Howard Carpendale. Is der Lieblingssänger von Heinzens Frau. Heinz haßt ihn, deshalb hat er den Hund so genannt.«
»Und die Frau ruft ihn auch Howard?«
»Nein, die ruft ihn Heinz.«
Wir drängten uns an zwei Freiern vorbei, die ans Geländer gelehnt auf eine verschlossene Tür starrten.
»Und auf was hört der Hund?«
»Auf gar nichts. Er ist taub.«
»Sie scheinen ihn nicht gerade zu lieben.«
»Den Hund schon.«
Im dritten Stock zogen sich bei Slibulskys Anblick zwei Thailänderinnen hastig in ihre Zimmer zurück. Den nächsten Absatz erklommen wir stumm.
»Sie haben Angst vor dir.«
Slibulsky blieb stehen. Seine gute Laune war verschwunden. »War das nicht abgehandelt?«
Es stimmte, wir hatten darüber geredet. Slibulsky konnte hier schnelles Geld machen, wie er sagte, und wollte in einem Jahr aussteigen, um eine eigene Autowerkstatt aufzuziehen. Ein alter Traum. Mir war es egal gewesen, die Welt würde nicht schlechter werden, weil Slibulsky im Puff arbeitete; im Gegenteil, wahrscheinlich ging es dem Personal mit ihm sogar besser. Aber da hatte ich noch keine Frauen gesehen, die vor ihm hinter der Tür verschwanden.
»Früher hast du gedealt. Wenn du mich fragst, der anständigere Job.«
»Der anständigere Job! Das letzte Mal hat er mich ’n anständiges Jahr gekostet.«
Ich kickte ein zerknülltes Taschentuch die Treppe abwärts. »Was ist eigentlich aus dieser Erbschaft geworden?«
Slibulsky sah unwillig auf. »Mhm?«
»Hast du letzten Winter erzählt. Irgend ’ne Oma aus Berlin würde dir ’n Haufen Geld hinterlassen.«
»Ach so… nee. Is gestorben.«
»Was du nicht sagst.«
»Ich meine die Erbschaft. Sind nur Schulden übriggeblieben.«
Er sah aus dem Fenster. Irgendwo unter uns krachte eine Tür ins Schloß. Slibulsky wandte sich zur Treppe und sagte: »Komm, Charly wartet.«
Auch den nächsten Absatz blieben wir stumm.
Hausbar, Ledersofa und Ledersessel schwarz, die Glühbirnen rot, ein Tisch mit Glasplatte und Metallgestell, das Bett blauseiden bezogen und an den Wänden HeavyMetal-Poster in Wechselrahmen. In einer Ecke ein VideoStereo-Compactdisc-Container und auf dem Boden ein schneeweißer Flokati. Der Raum maß etwa hundert Quadratmeter und hatte den Charme einer Pornofilmkulisse. Aus dem Fenster konnte man über die Dächer des Bahnhofsviertels schauen. Links das BFG-Hochhaus, rechts der Hauptbahnhof, schräg gegenüber Spielsalon und Pennerasyl. Ein Ventilator rauschte leise. Es roch nach Putzmittel. Ibiza-Charly saß im roten Kimono auf dem Sofa, betrachtete seine Rolex und gähnte. Das Gesicht war aufgedunsen und voll mit roten Flecken. Rosa Wülste ließen seine Augen winzig erscheinen, und der Nacken hatte den Durchmesser eines Ofenrohrs. Charlys Kopf erinnerte mich fatal an eine doppelte Portion Eisbein mit dauergewelltem Sauerkraut über der Stirn. Er legte ihn jetzt zurück und fuhr sich, die Augen halb geschlossen, durch die Haare, als gelte es, dem weiblichen Geschlecht zu imponieren. Der Kimono öffnete sich, und ein weißer Bauch plumpste heraus.
Ich ging zum Fenster und steckte mir eine Zigarette an. Hinter der Hausbar kämpfte sich Slibulsky, auf der Suche nach einem vierzigprozentigen Frühstück, durch Schränke und leere Flaschen.
Nach Weidenbuschs Abgang hatte ich quer durch die Stadt telefoniert und herausbekommen, daß Sri Dao nicht allein verschwunden war. Im Asylantenheim in Hausen wurden seit zwei Tagen zwei Libanesen und ein Iraner vermißt, alle drei mit Abschiebebescheid. Allerdings konnten sie auch ohne das Angebot von falschen Papieren untergetaucht sein, und, ehrlich gesagt, ich glaubte nicht an die Fälschergeschichte. Anschließend hatte ich Slibulsky angerufen und gebeten, mich zu Charly zu bringen.
Slibulsky kam seufzend vor die Bar, klopfte sich die Hose ab und stellte fest: »Asbach ist alle und Bacardi nur noch’n Tropfen. Das Bier ist warm. Cola pur oder Eierlikör?«
Charly verzog angewidert den Mund, »Schlampe!«, und wandte sich zum Wort unter Männern in meine Richtung. »Da zahle ich ihr seit Wochen jeden verdammten Schlüpfer, schlepp sie in die feinsten Freßlokale, zeig ihr die Welt und verballer die Kohle, als wollte ich die Kaiserin von China besteigen, und dieser Bauerntrampel aus dem Odenwald schafft es nicht, ein paar Flaschen Bier kaltzustellen.«
Er stand auf und stocherte mit dem Zeigefinger wild in die Luft. »Aber damit ist jetzt Schluß! Morgen fängt für sie die Arbeit an. Und der Schokobomber fliegt raus. Kann das Gejammer eh nicht mehr hören.« Mit den Armen gestikulierend, den Blick vor sich im Nichts, begann er, durchs Zimmer zu stampfen. »Meine Schuld, wenn ihre Gören nix zu fressen haben? Bin ich Jesus? Und überhaupt, was’n das für’ne Mutter, die ihre Kinder allein in’ner Wüste zurückläßt? Hab ich neulich richtig was in Entwicklungshilfe gemacht. Hab ihr erklärt, ›no fickificki, no baby, Chappi enough in desert‹ - ganz einfacher Kreislauf. Also…« Er blieb kurz stehen und überlegte. »… na ja, sie lächelt mich an wie immer und antwortet, ›no problem, mister, no problem‹. Ich sage ›very big problem. Du schaffst nicht genug money ran, und ich setz dich vor die Tür.‹ Dann sie wieder, ›no problem, mister‹. Was willste da machen? Egal, ich bin dafür verantwortlich, daß dieser verdammte Laden hier läuft - und solange ich hier was zu sagen habe, läuft er!«
Er drehte sich um, grinste und polterte. »Was, Ernst?« Slibulsky, Kopf, Ellbogen und Gipsarm auf die Theke gestützt, nickte gelangweilt. Charly stutzte einen Moment, dann wurde sein Grinsen gefährlich, und er schlappte langsam auf Slibulsky zu.
»Hör mal, du Niete, wenn ich dich was frage, möchte ich ’ne Antwort hören. Verstehst du? Hören. Irgendwas.
›Ja Charly‹ oder ›wie du meinst, Charly‹ - ganz egal. Ich will, daß was klingelt in meinem Ohr. Und dafür mußt du, so anstrengend das auch für dich is, dein verdammtes Maul aufmachen. Ich bin nämlich hier der Boß, kapito?!«
Slibulsky zog ein Gesicht wie Zuckerwatte und sagte »Kapito«, und nach einer Pause, in die man alles mögliche legen konnte, »Boß«.
Charly nickte zufrieden. »So is recht, Kleiner.«
Er tätschelte Slibulsky die Schulter. »Hab’s ja nicht so gemeint.«
Gewichtig stolzierte er zurück zum Sofa und ließ sich breitbeinig hineinfallen. Seine Augenbrauen hoben sich.
»Leute mit Charakter sind morgens etwas aufbrausend. Manchmal auch abends. Aber morgens ganz besonders.« Er zuckte die Schultern. »Dagegen kann man nichts machen.«
Ich räusperte mich. »Wie wär’s, wenn wir zur Abwechslung mal über meinen Kram reden?«
Sein Blick hing nachdenklich an meinen Schuhen. Dann angelte er sich vom Tisch einen Zigarillo und ließ ein goldenes Feuerzeug aufschnappen.
»Der Kleine hat mir schon erzählt.«
Der Zigarillo knisterte. Langsam drehte sich der Kopf in meine Richtung.
»Sehe ich so aus, als hätte ich’s nötig, ’nem armen Mädchen die letzten Pfennige abzunehmen?«
»Ich weiß nicht, was Sie nötig haben. Aber es handelt sich nicht um Pfennige, sondern um eine Frau, die im Puff sechsbis siebentausend Mark im Monat einbringen kann - abgesehen von den dreitausend, die sie bei sich hatte.«
Charly nahm den Zigarillo aus dem Mund.
»Ich denke, es geht um gefälschte Ausweise?«
»Erstmal geht es um jemand, der wußte, wann Sri Dao Rakdees Aufenthaltsgenehmigung abläuft. Und bis vor ein paar Wochen hat sie bei Ihnen gearbeitet.«
»Stimmt.« Er beugte sich vor. »Aber ich hab genug Mädchen. Ich brauch mir keine schmutzigen Tricks auszudenken. Weißt du, wie viele täglich ankommen und betteln, hier arbeiten zu dürfen?«
»Schon möglich. Und wie viele werden extra aus Thailand importiert? Um freizukommen mußte Frau Rakdee Ihnen fünftausend Mark Reisekosten bezahlen.«
Seine Lippen wurden schmal und seine Augen glühten, als er sagte: »Weil ich so ’n großes Herz habe, Schnüffler. Vorher is sie für’n Kerl anschaffen gegangen, der ihr nicht mal genug zu essen gegeben hat. Und damit sie sich loskaufen konnte, hab ich ihr Geld geliehen.«
»Wie heißt der Kerl?«
»Bin ich’n Auskunftsbüro oder was?!«
Die Hand mit dem Zigarillo sauste durch die Luft und krachte auf den Glastisch. Der Zigarillo zerbrach und bröselte über den Teppich.
Charly erstarrte. »Der nagelneue Flokati! Scheiße!«
Er kroch über den Boden und zupfte hektisch in den weißen Flusen. Mit einem Blick ›Kneif mich mal‹ sah ich in Richtung Slibulsky. Slibulsky verzog keine Miene. Er stand hinter der Theke, trank warmes Bier und sah aus, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als zuzuschauen, wie Flokatis nach Tabakbröseln abgesucht werden.
Auf allen vieren, halb unterm Tisch, wetterte Charly: »Was schleppst du mir auch für Typen ins Haus, Slibulsky? Hä?! Soweit kommt’s noch, daß ich jemand verpfeife! Was du für Leute kennst…«
Plötzlich richtete er sich mit knallrotem Kopf auf.
»Und wenn du auch ’n Schnüffler bist? ’n dreckiger Bullenspitzel? Hast dich hier eingeschlichen, was? Willst rausfinden, ob ich krumme Dinger drehe? Na los, spuck’s aus!«
»Aber Charly…« Slibulsky tippte sich an die Stirn. »… das würde sich doch bei dir niemand trauen. Wo du ’n Bullenspitzel auf hundert Meter riechst.«
Charly betrachtete ihn mißtrauisch. Dann knurrte er zufrieden und grinste.
»Das is wahr. Da wär einer schön blöd. Spitzel haben bei mir keine Chance. Die erkenne ich. Selbst wenn ich nichts sehen könnte, oder es wär immer dunkel…«
»Blind, nennt man so was im allgemeinen.«
Ich wartete ab, bis sich beide in meine Richtung eingependelt hatten, und fügte hinzu: »Und der nächste, der rumbrüllt, bin ich.«
Tatsächlich blieb es still. Nur ein paar Straßengeräusche vermischten sich mit dem Rauschen vom Ventilator. Das Gewitter hatte sich verzogen. Sonnenstrahlen tanzten durchs Zimmer.
»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich bin ein verdammter Schnüffler, und ich hatte gehofft, Sie könnten mir einen Tip geben, wer außer Ihnen über Sri Dao Rakdees Visumdaten informiert ist. Sie wußten von Slibulsky, weshalb ich komme, und Sie haben mich kommen lassen. Ich nehme mal an, nicht nur, um mir Ihr Affentheater vorzuführen. Also nehmen Sie Ihren Grips zusammen und versuchen Sie sich zu erinnern, warum. Es muß nicht gehen wie die Feuerwehr, aber mit’n bißchen Mühe schaffen wir’s bis zum Mittagessen.«
Charly starrte mich wie ein Wesen vom anderen Stern an. Langsam ordnete er seinen Kimono und zog den Gürtel fest. Er kam ganz ruhig auf mich zu. Zu ruhig. Gerade als Slibulsky zu stottern anfing, »He, Charly, er hat’s doch gar nicht so…«, landete seine behaarte Pranke auf meiner Schulter. Wir maßen uns abschätzend. Zwei harte Männer in einer harten Welt; der eine konnte seine Miete nicht zahlen, der andere heulte über Dreck auf seinem Flokati. Die Andeutung eines Lächelns umspielte Charlys Mundwinkel, und die Pranke klatschte an meinen Hals.
»Ich mag dich, Schnüffler. Wenn dir mal die Deppen ausgehen, die’n Detektiv brauchen, weil sie keinen Mumm mehr für was haben, kannst immer bei mir anfangen.«
Ich nahm die Pranke und gab sie ihm zurück. Im ersten Augenblick wußte er nicht wohin damit.
»Das wird kaum möglich sein. Ich hab empfindliche Ohren, und für ’n Fußabtreter bin ich nicht flach genug.«
»Die Klappe immer groß wie ’n Scheunentor, was?« Er drehte sich um. »Slibulsky, drei Eierlikör - und dann raus mit der Kanaille.«
Ich atmete tief durch und versuchte, mich an den Geschmack von Eierlikör zu erinnern, und ob er meinem Magen bekommen war.
Wir liefen das schwüle Treppenhaus hinunter. Inzwischen sang eine Frei-ab-achtzehn-Stimme was über ›bodys in action‹. Der Eierlikör klebte mir wie Pattex unter den Rippen, und ich mußte in einem fort aufstoßen. Ein Rauswurfgetränk. Dem Erfinder war es zu verdanken, daß man unliebsamen Gästen die Meinung im Glas servieren konnte; wahrscheinlich derselbe, der sich Apfelkorn, Kirschlikör und Amselfelder Spätlese ausgedacht hat.
Slibulsky hüpfte mehr, als er ging, immer zwei Stufen auf einmal und ein gutes Stück voraus.
»Ich hab dir ja gesagt, da ist nicht viel zu holen.«
»Du kannst Charly ausrichten, wenn ich bis heute abend nicht den Namen von Sri Dao Rakdees Zuhälter weiß, hetz ich ihm die Polizei auf ’n Hals.«
Schon im Stolpern begriffen, rettete sich Slibulsky mit einem Griff ans Geländer und sauste herum. »Wie bitte?!«
»Sie soll den Laden dichtmachen. Illegales Personal, Drogen, Leichen - mir wird schon was einfallen.«
»Verrückt geworden? Kann ich auch gleich kündigen.«
»Dann überleg dir was anderes. Erkundige dich im Viertel. Du kennst doch die Leute, die Bescheid wissen.«
»Hör mal, es war nicht ausgemacht, daß ich deinen Assistenten mime.«
»Es war auch nicht ausgemacht, daß ich herkomme, um ’nem Halbirren beim Aufstehen zuzuschauen.«
»Du wolltest Charly sprechen, und du hast ihn gesprochen!«
Unsere Blicke schlugen Funken. Ich lehnte mich gegen die abgeblätterte, ehemals schwarze Holzverkleidung, die Treppenhaus und Flure schmückte, und verschränkte die Arme. Vom Erdgeschoß tönte das Kläffen Howard Carpendales.
»Na schön, und ich wollte die Polizei herschicken, wenn ich den Namen bis heute abend nicht habe, und ich werde sie herschicken.«
»Sehr fair ist das nicht.«
»Es gibt einen Haufen Sachen, die nicht fair sind. Zum Beispiel war von vornherein klar, daß Charly mir nichts sagen würde. Warum sollte er auch? Ein Kiezboß gegen einen kleinen Privatdetektiv, da ist für ihn nichts drin.«
»Und warum hat er dich dann kommen lassen?«
»Eben.«
Slibulsky runzelte die Stirn. Dann sah er kopfschüttelnd zu Boden. »Du hast gestern zu viel gesoffen.«
Ehe ich etwas erwidern konnte, stampfte uns Mister Tausend-Volt entgegen. Ein Berg in Jeans, Lederjacke und schwarzen Cowboystiefeln, vor denen ich Angst gehabt hätte, meine Füße könnten sich drin verlaufen. Er maß über zwei Meter, und sein Gesicht bestand aus nichts als Haaren. Bart-, Nasen- und Kopfhaare bildeten eine einzige dunkelbraune Matte. In der Matte mittendrin steckte eine Spiegelbrille, und auf den Brillengläsern klebte eine nackte Frau. Wenn er sprach, bebte das Treppenhaus.
»Mensch Slibulsky, endlich! Alles paletti, muß nur noch…«
Slibulsky hustete laut und trocken. Als der Anfall vorbei war, wies er auf mich und sagte: »Kemal Kayankaya, Privatdetektiv.«
Mister Tausend-Volt schob die Brille nach oben und musterte mich ungeniert. Seine Hand fuhr mir entgegen. An allen fünf Fingern steckte ein Ring. Jeder für sich genommen war geschmackloser Schmuck, zusammen bildeten sie einen Schlagring.
»Ich bin der Axel. Ernst hat mir von dir erzählt…«
Wir schüttelten uns die Hand. Eine Panzerfaust zu halten mußte ein ähnliches Gefühl sein.
Slibulsky wippte mit den Fußspitzen. »Ich bringe ihn noch zum Auto. Wir sehen uns dann oben.«
Axel rammte die Brille zurück in die Matte, verabschiedete sich mit einem zünftigen ›All right‹ und donnerte die Treppe hoch.
»Auch einer von Charlys Spielkameraden?« fragte ich Slibulsky, als wir auf der Straße waren.
»Mhmhm. Ist aber in Ordnung. Sieht nur so wild aus.«
»Hört er immer auf zu reden, wenn du hustest?« Slibulsky tat, als sähe er einem aufregenden Paar Beine hinterher. Vielleicht waren sie aufregend, wenn man die Art Röhrenjeans-Aufregung mochte, die in hochgeschlossenen Turnschuhen endet und mit lässig schlurfenden Schritten jahrelange Rucksackpraxis verrät oder vermitteln will.
»Ich hab dich was gefragt.«
»Es gibt Sachen, von denen weißt du besser nichts.«
Ich machte den Mund auf, blieb aber stumm. Dann tippte ich mir an die Stirn und lief zum Opel. Als ich den Schlüssel ins Schloß steckte, stand Slibulsky neben mir.
»Isses meine Schuld, wenn du ’n verkappter Bulle bist? Was passiert denn, wenn dich einer auf mich ansetzt?«
Ich zog die Tür auf, so daß sie zwischen uns hing, und zuckte die Schultern. Aus dem Auto heraus umspülte uns eine Welle muffiger Luft.
»Okay, okay. Von mir aus. Axel dealt mit geklauten Motorrädern. Ich helf ihm manchmal beim Schminken.«
Er schaute mich an. Der Jogginganzug glitzerte in der Sonne. Ich ließ mich hinters Steuer fallen, schloß die Tür und kurbelte das Fenster runter.
»Ich bin kein Bulle. Und was den Zuhälternamen betrifft, vergiß es, ich krieg ihn auch anders raus.«
Der Motor sprang an. Slibulsky nagte an der Unterlippe, dann wandte er sich ab und lief den Bürgersteig hinunter. Im Rückspiegel knallte er, in Gedanken versunken, gegen die nächste Parkuhr.