DER KNOCHENDIEB

Als sich ihre Augen öffneten, sah sie Knochen.

Lange Knochen und kurze Knochen, dicke und dünne, weiße, gelbe, braune. Sie bedeckten die abblätternde Wand vom Boden bis zur Decke. Hunderte. Sie waren nach einem bestimmten Muster angenagelt worden, wie das Mosaik eines Verrückten. Ihre Augen wanderten nach unten, wund und klebrig. Eine Flammenzunge flackerte in einer verrußten Feuerstelle. Von dem Sims darüber grinsten Schädel leer zu ihr hinüber, in hübschen Dreierstapeln aufgetürmt.

Also waren es menschliche Knochen. Monza fühlte, wie ihre Haut eiskalt wurde.

Sie versuchte sich aufzusetzen. Das vage Gefühl tauber Steifheit verwandelte sich so plötzlich in jäh aufflackernden Schmerz, dass sie sich beinahe übergeben hätte. Der düstere Raum schwankte, verschwamm vor ihren Augen. Etwas hielt sie fest, und sie lag auf hartem Untergrund. Ihr Verstand war voller Schlamm; sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierhergekommen war.

Ihr Kopf glitt zur Seite, und sie sah einen Tisch. Auf dem Tisch befand sich ein Metalltablett. Auf dem Tablett lag eine sorgfältig sortierte Auswahl von Instrumenten. Mindestens ein Dutzend Messer in allen Größen und Formen. Ihre Augen weiteten sich, als sie über die polierten Klingen glitten – gebogen, gerade, gezackt glänzten sie grausam und einsatzbereit im Feuerschein. Die Werkzeuge eines Feldschers?

Oder eines Folterknechts?

»Benna?« Ihre Stimme war ein geisterhaftes Kreischen. Ihre Zunge, ihr Zahnfleisch, ihre Kehle, die Nasenhöhlen, all das war roh wie abgezogenes Fleisch. Wieder versuchte sie, sich zu bewegen, konnte aber kaum ihren Kopf heben. Selbst diese kleine Anstrengung schickte einen lähmenden Stich durch ihren Hals und bis in ihre Schulter, löste ein dumpfes Pulsieren in ihren Beinen, ihrem rechten Arm und in ihren Rippen aus. Der Schmerz brachte Angst mit, die Angst verstärkte den Schmerz. Ihr Atem ging schneller, fuhr stoßweise und pfeifend durch ihre wunden Nasenlöcher.

Klick, klick.

Sie erstarrte, und die Stille brannte in ihren Ohren. Dann ein Knirschen, ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Wild wand sie sich hin und her, der Schmerz brannte in jedem Gelenk, riss an jedem Muskel, Blut pochte hinter ihren Augen, und sie presste die geschwollene Zunge gegen ihre Zähne, um nicht zu schreien. Eine Tür öffnete sich kreischend und schloss sich mit einem Knall. Schritte auf nackten Dielenbrettern, kaum hörbar, und dennoch jagte jeder einzelne einen Stich der Angst durch ihre Kehle. Ein Schatten streckte sich über den Boden – ein riesiger Schatten, unförmig, monströs. Ihre Augen sahen angestrengt in die Zimmerecken. Sie konnte nichts tun, außer darauf zu warten, dass das Schlimmste eintraf.

Eine Gestalt kam durch die Tür, ging geradewegs an ihr vorbei und zu einem hohen Schrank hinüber. Der Mann war tatsächlich allenfalls von durchschnittlicher Größe und hatte kurzes, blondes Haar. Der missgestaltete Schatten erklärte sich durch den Leinensack, den er sich über die Schulter geworfen hatte. Er summte tonlos vor sich hin, als er ihn ausleerte, dann legte er jedes Stück sorgsam auf das entsprechende Regal und drehte es hin und her, bis es genau in den Raum zeigte.

Wenn er ein Ungeheuer war, dann eines der alltäglichen, das ein Auge für kleine Einzelheiten besaß.

Sanft schloss er die Tür, faltete den leeren Sack einmal, dann noch einmal und schob ihn unter den Schrank. Anschließend zog er seinen fleckigen Mantel aus und hing ihn an einen Haken, bürstete ihn mit entschiedenen Handbewegungen ab, wandte sich um und blieb dann wie angewurzelt stehen. Ein blasses, hageres Gesicht. Nicht alt, aber voller tiefer Furchen, mit deutlich hervortretenden Wangenknochen und Augen, die hungrig hell in entzündeten Höhlen lagen.

Einen Augenblick starren sie einander an, beide offenbar gleichermaßen erschrocken. Dann verzogen sich seine farblosen Lippen zu einem kränklichen Lächeln.

»Du bist wach!«

»Wer bist du?« Ein entsetztes Krächzen aus ihrer ausgedörrten Kehle.

»Mein Name spielt keine Rolle.« Er sprach mit einem leichten Unionsakzent. »Es sollte genügen, dass ich ein Student der Naturwissenschaften bin.«

»Ein Heiler?«

»Unter anderem. Wie du dir vielleicht schon gedacht hast, bin ich in erster Linie an Knochen interessiert. Und deswegen bin ich so froh, dass du in mein Leben … hineingefallen bist.« Er grinste wieder, aber es war wie das Grinsen der Totenschädel; seine Augen erreichte es nicht.

»Wie bin …« Sie rang mit den Worten, ihr Kiefer erschien ihr so ungelenk wie eine eingerostete Türangel. Es war, als ob sie versuchte, mit einem Kothaufen im Mund zu sprechen, und es schmeckte auch kaum besser. »Wie bin ich hierhergekommen?«

»Ich brauche Leichen für meine Arbeit. Sie lassen sich manchmal an der Stelle finden, wo ich dich entdeckte. Aber nie zuvor bin ich dort auf jemanden gestoßen, der noch lebt. Ich würde sagen, du kannst dich außergewöhnlich glücklich schätzen.« Er schien kurz darüber nachzudenken. »Du hättest natürlich noch mehr Glück gehabt, wenn du gar nicht erst runtergefallen wärst, aber … da es ja nun mal so war …«

»Wo ist mein Bruder? Wo ist Benna?«

»Benna?«

Die Erinnerung kam wie ein blendender Blitz zurück. Blut, das durch die zusammengekrampften Finger ihres Bruders quoll. Die lange Klinge, die in seine Brust glitt, während sie hilflos zusehen musste. Sein schlaffes Gesicht, rot verschmiert.

Sie stieß einen krächzenden Schrei aus, bäumte sich auf und wand sich hin und her. Tiefer Schmerz fuhr durch jedes Glied, und sie krümmte sich noch mehr, erschauerte, würgte, aber irgendetwas hielt sie weiterhin fest. Der Mann, in dessen Gewahrsam sie sich befand, sah zu, wie sie kämpfte, das wachsfarbene Gesicht so leer wie eine unbeschriebene Seite Papier. Sie sackte wieder zurück, spuckte und stöhnte, als der Schmerz sie stärker und stärker packte, sie wie ein riesiger Schraubstock ergriff, der sich immer weiter zuzog.

»Wut ändert gar nichts.«

Sie konnte nur stöhnen, während ihr der Atem stoßweise durch die zusammengebissenen Zähne fuhr.

»Ich könnte mir vorstellen, dass du jetzt ein wenig Schmerzen hast.« Der Mann öffnete eine Schublade des Schranks und zog eine lange Pfeife hervor, deren Kopf voller schwarzer Flecken war. »Ich würde versuchen, mich daran zu gewöhnen, wenn dir das möglich ist.« Er bückte sich und fischte ein heißes Stück Kohle mit einer Zange aus dem Feuer. »Der Schmerz wird dein stetiger Begleiter sein, fürchte ich.«

Das abgenutzte Mundstück ragte ihr entgegen. Sie hatte schon oft genug Spreuraucher erlebt, die ausgestreckt wie Leichen dalagen, selbst zu nutzloser Spreu verkommen, und die sich um nichts anderes scherten als um die nächste Pfeife. Spreu war wie Erbarmen. Etwas für Schwächlinge. Für Feiglinge.

Er lächelte wieder sein Totenlächeln. »Das wird helfen.«

Wenn der Schmerz stark genug ist, wird jeder zum Feigling.

Der Rauch brannte in ihren Lungen und ließ ihre wunden Rippen beben, und jeder Hustenreiz schickte neue Schmerzpfeile bis in ihre Fingerspitzen. Sie stöhnte, verzerrte das Gesicht, kämpfte wieder, aber dieses Mal schwächer. Ein letztes Husten, dann lag sie schlaff da. Der Schmerz hatte seinen Biss verloren. Auch die Angst und die Panik ließen ein wenig nach. Alles verschmolz allmählich. Weich, warm, angenehm. Jemand stieß ein langes, tiefes Seufzen aus. Vielleicht sie selbst. Dann spürte sie, wie eine Träne über ihr Gesicht rann.

»Mehr?« Dieses Mal hielt sie den Rauch ein wenig länger in den Lungen, bevor sie ihn zögernd in einem schimmernden Wölkchen ausblies. Ihr Atem wurde langsamer und langsamer, das Pochen des Blutes in ihrem Kopf beruhigte sich zu einem sanften Wogen.

»Mehr?« Die Stimme schwappte über sie wie die Wellen an einen flachen Strand. Die Knochen erschienen nun verschwommen, sie schimmerten umgeben von Aureolen warmen Lichts. Es war kaum noch etwas von dem Schmerz zu spüren, und das, was noch da war, spielte keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle. Ihre Augen flackerten angenehm, und dann schlossen sie sich, und es fühlte sich noch angenehmer an. Mosaikmuster tanzten und bewegten sich auf den Innenseiten ihrer Augenlider. Sie schwebte auf einem warmen Meer, honigsüß …

 

»Wieder unter uns?« Sein Gesicht zuckte in ihren Blick, hing schlaff und weiß wie eine Parlamentärsflagge da. »Zugegeben, ich habe mir Sorgen gemacht. Eigentlich hatte ich gar nicht mehr erwartet, dass du überhaupt aufwachst, aber da du es getan hast, wäre es eine Schande, wenn …«

»Benna?« Monzas Kopf schwebte noch sanft. Sie grunzte, versuchte einen Knöchel zu bewegen, aber der nagende Schmerz brachte das Bewusstsein für die Wahrheit zurück, und ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse der Hoffnungslosigkeit.

»Immer noch wund? Vielleicht habe ich etwas, um deine Laune zu heben.« Er rieb seine langen Hände aneinander. »Die Fäden sind jetzt alle raus.«

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Ein paar Stunden.«

»Und davor?«

»Knapp über zwölf Wochen.« Sie starrte ihn betäubt an. »Den ganzen Herbst und bis hinein in den Winter, und bald wird das neue Jahr beginnen. Eine schöne Zeit für einen Neuanfang. Dass du überhaupt wieder aufgewacht bist, ist beinahe ein Wunder. Deine Verletzungen waren … nun, ich denke, du wirst mit meiner Arbeit zufrieden sein. Ich bin es jedenfalls.«

Er zog ein schmieriges Kissen unter der Bank hervor und schob es ihr stützend unter den Kopf, bewegte sie dabei so gefühllos wie ein Metzger, der Fleisch auf dem Tresen ausbreitete, und er richtete ihr Kinn so aus, dass sie an sich hinuntersehen konnte. Und so blieb ihr keine andere Wahl. Ihr Körper war eine unförmige Gestalt unter einer groben, grauen Decke, und drei Lederriemen schlangen sich um ihre Brust, Hüften und Knöchel.

»Die Gurte sind zu deinem eigenen Schutz. Um zu verhindern, dass du beim Schlafen von der Bank rollst.« Er stieß ein abgehacktes Kichern aus. »Wir wollen ja nicht, dass du dir etwas brichst, oder? Ha … ha! Wollen ja nicht, dass du dir was brichst.« Er löste die Schnallen des letzten Riemens und nahm die Decke zwischen Daumen und Zeigefinger, während sie an sich herunterstarrte und gleichzeitig unbedingt wissen wollte, was mit ihr passiert war, und dann lieber doch nicht.

Er schlug die Decke zurück wie ein Schausteller, der seine beste Ware präsentiert.

Sie erkannte ihren eigenen Körper kaum wieder. Splitterfasernackt, ausgemergelt und verdorrt wie ein Bettler. Blasse Haut streckte sich über hässlich hervorstehende Knochen, überall mit großen Blutergüssen verziert, schwarz, braun, violett, gelb. Ihre Augen glitten über ihr verwittertes Fleisch, und sie weiteten sich immer mehr, als sie das ganze Bild erfassten. Sie war überall aufgeschlitzt und voller roter Linien. Dunkel und zornig, gezahnt mit aufgeworfenem rosafarbenem Fleisch, mit den kleinen Punkten der gezogenen Fäden verziert. Vier Linien, eine über der anderen, folgten den Bogen ihrer hervortretenden Rippen auf der einen Seite. Weitere zogen sich über ihre Hüften, an ihren Beinen entlang, über den rechten Arm, den linken Fuß.

Sie hatte zu zittern begonnen. Dieser zerstückelte Kadaver konnte nicht ihr Körper sein. Pfeifend zischte ihr Atem durch ihre klappernden Zähne, und der fleckige und verschrumpelte Brustkorb hob und senkte sich in diesem Rhythmus. »Uh«, stöhnte sie. »Uh …«

»Ich weiß! Beeindruckend, oder?« Er beugte sich über sie und zog die roten Streifen auf ihrer Brust mit ruckartigen Handbewegungen nach. »Die Rippen hier und auch das Brustbein waren ziemlich zertrümmert. Es war unumgänglich, ein paar Schnitte zu machen, um sie wieder zu richten, verstehst du, und um die Lunge zu retten. Ich habe versucht, so wenig wie möglich zu schneiden, aber du siehst ja, dass der Schaden …«

»Uh …«

»Auf die linke Hüfte bin ich besonders stolz.« Er deutete auf eine rote Zickzacklinie, die von der Seite ihres eingefallenen Bauches bis zur Innenseite ihres dürren Oberschenkels führte und auf beiden Seiten von roten Punkten eingefasst war. »Der Oberschenkelknochen hier war leider zersplittert.« Er machte ein schnalzendes Geräusch und bohrte einen Finger in die geballte Faust. »Dadurch ist das Bein ein Stückchen kürzer geworden, aber glücklicherweise war das Schienbein auf der anderen Seite auch gebrochen, und so konnte ich dort ein winziges Knochenstück entfernen, um den Unterschied auszugleichen.« Mit gerunzelter Stirn führte er ihre Knie zueinander und sah zu, wie sie anschließend kraftlos wieder nach außen fielen. »Ein Knie ist nun etwas höher als das andere, und du bist nicht mehr ganz so groß, aber alles in allem –«

»Uh …«

»Es ist alles zusammengewachsen.« Er grinste und betastete die verschrumpelten Beine, vom oberen Rand der Oberschenkel bis hin zu den knotigen Knöcheln. Sie sah ihm zu, wie er sie berührte, wie ein Koch, der ein gerupftes Huhn prüft, aber sie spürte es kaum. »Alles schön zusammengewachsen, und die Schrauben sind auch wieder raus. Ein Wunder, glaub mir. Wenn die Zweifler von der Akademie das hier begutachten würden, sie würden nicht mehr lachen. Wenn mein alter Meister das doch nur sehen könnte, selbst er würde …«

»Uh …« Langsam hob sie die rechte Hand. Oder vielmehr die zitternde Verhöhnung einer Hand, die vom Ende ihres Arms hing. Die Innenfläche war krumm, eingefallen, und eine lange, hässliche Narbe verlief dort, wo Gobbas Draht sich hineingebohrt hatte. Die Finger waren so verkrümmt wie Baumwurzeln, und der kleinste stand in einem seltsamen Winkel ab. Ihr Atem zischte durch die zusammengebissenen Zähne, als sie versuchte, die Hand zur Faust zu ballen. Die Finger bewegten sich kaum, aber der Schmerz schoss dennoch ihren Arm hinauf und ließ ihr die Galle die Kehle hinaufsteigen.

»Besser konnte ich es nicht hinbekommen. Kleine Knochen, weißt du, schwer mitgenommen, und die Sehnen des kleinen Fingers waren größtenteils zerstört.« Ihr Retter schien enttäuscht. »Das ist natürlich ein Schock … Die Spuren werden verblassen, jedenfalls ein bisschen. Aber wenn man bedenkt, bei diesem Sturz … Nun ja. Hier.« Das Mundstück der Spreupfeife ragte ihr entgegen, und sie saugte gierig daran. Biss sich mit den Zähnen daran fest, als sei es ihre einzige Hoffnung. So war es auch.

Er riss ein winziges Stück von dem Brotlaib ab, so klein, als wolle er einen Vogel damit füttern. Monza sah ihm dabei zu, und ihr Mund füllte sich mit bitterem Speichel. Hunger oder Übelkeit, es bestand kein großer Unterschied. Betäubt nahm sie den Krümel, hob ihn an ihre Lippen, so schwach, dass ihre linke Hand vor Anstrengung zitterte, schob ihn sich zwischen die Zähne und zwang sich zu schlucken.

Es war, als würgte sie Glassplitter hinunter.

»Langsam«, raunte er, »ganz langsam, du hast seit deinem Sturz nichts anderes als Milch und Zuckerwasser bekommen.«

Das Brot blieb ihr im Rachen hängen, und sie hustete. Ihre Eingeweide krallten sich um den Messerstich, den der Getreue ihr zugefügt hatte.

»Hier.« Er schob ihr die Hand unter den Kopf, sanft, aber unnachgiebig, hob ihr Kinn und hielt ihr eine Wasserflasche an die Lippen. Sie schluckte, dann noch einmal, und ihre Augen glitten zu seinen Fingern. Sie fühlte unvertraute Klumpen seitlich am Kopf. »Ich musste einige Teile deines Schädels entfernen. Ich habe sie durch Münzen ersetzt.«

»Münzen?«

»Wäre es dir lieber gewesen, dein Hirn rausgucken zu lassen? Gold rostet nicht. Gold verwittert nicht. Eine teure Behandlung natürlich, aber wenn du gestorben wärst, hätte ich mir meine Investition ja wieder zurückholen können, und da du nicht gestorben bist, nun … Das Geld ist gut angelegt, würde ich sagen. Deine Kopfhaut wird sich etwas uneben anfühlen, aber die Haare werden ja nachwachsen. Du hast so schönes Haar. Schwarz wie die Mitternacht.«

Er ließ ihren Kopf sanft wieder auf die Bank sinken, und seine Hand blieb, wo sie war. Eine sanfte Berührung. Beinahe eine Zärtlichkeit.

»Normalerweise bin ich ein schweigsamer Mann. Vielleicht verbringe ich zu viel Zeit allein.« Er zeigte ihr sein Leichenlächeln. »Aber ich habe das Gefühl, dass du … das Beste in mir hervorbringst, zu dem ich fähig bin. Die Mutter meiner Kinder ist genauso. Du erinnerst mich auf gewisse Weise an sie.«

Monza lächelte halb zurück, aber in ihrem Innern fühlte sie aufsteigenden Ekel. Er vermischte sich mit der Übelkeit, die sie nun so oft empfand. Mit dem schwitzenden Verlangen.

Sie schluckte. »Könnte ich …«

»Natürlich.« Er hielt ihr die Pfeife bereits hin.

 

»Mach eine Faust.«

»Das geht nicht!«, zischte sie. Drei Finger zuckten ein wenig, der kleinste stand immer noch gerade ab, oder zumindest so gerade, wie er überhaupt noch war. Sie erinnerte sich daran, wie geschickt sie mit ihren Fingern gewesen war, wie sicher und schnell, und die Verzweiflung und die Wut waren sogar noch heftiger als der Schmerz. »Ich kann keine Faust machen!«

»Du liegst jetzt schon seit Wochen hier herum. Ich habe dich nicht zusammengeflickt, damit du Spreu rauchen kannst und nichts tun musst. Versuch es entschlossener.«

»Willst du es vielleicht mal versuchen, verdammt noch mal?«

»Na schön.« Seine Hand schloss sich gnadenlos um die ihre und zwang die verkrüppelten Finger knirschend zu einer Faust. Ihre Augen traten aus den Höhlen, und der pfeifende Atem ging zu schnell, als dass sie hätte schreien können.

»Ich habe das Gefühl, du begreifst gar nicht, wie sehr ich dir helfe.« Er drückte fester und fester zu. »Ohne Schmerz kann man nicht wachsen. Ohne Schmerz kann man sich nicht verbessern. Leid stachelt uns zu größter Leistung an.« Die Finger ihrer gesunden Hand zogen und zerrten erfolglos an seiner Faust. »Liebe ist ein hübsches Kissen, um sich darauf auszuruhen, aber nur Hass macht dich zu einem besseren Menschen. So.« Er ließ sie los, und sie sank wimmernd zurück, sah dann zu, wie sich ihre bebenden Finger langsam wieder halb öffneten und die Narben violett hervortraten.

Am liebsten hätte sie ihn umgebracht. Sie wollte ihm jeden Fluch entgegenschreien, den sie kannte. Aber sie brauchte ihn zu sehr. Also hielt sie ihre Zunge im Zaum, schluchzte, keuchte, knirschte mit den Zähnen, schlug den Hinterkopf gegen die Bank.

»Und jetzt mach eine Faust.« Sie starrte ihm ins Gesicht, ausdruckslos wie ein frisch ausgehobenes Grab. »Jetzt, oder ich muss es für dich tun.«

Sie keuchte vor Anstrengung, und der ganze Arm pochte bis hoch zur Schulter. Ganz allmählich krümmten sich die Finger, nur der kleine blieb weiter gerade ausgestreckt. »Da, du Arschloch!« Sie schob ihm die gefühllose, knotige, verdrehte Faust unter die Nase. »Da!«

»War das jetzt so schwer?« Er hielt ihr die Pfeife hin, und sie riss sie ihm aus der Hand. »Du musst dich nicht bei mir bedanken.«

 

»Und wir werden sehen, ob du es schaffst, zu …«

Sie jammerte, die Knie gaben nach, und sie wäre gestürzt, wenn er sie nicht aufgefangen hätte.

»Immer noch nicht?« Er runzelte die Stirn. »Du solltest eigentlich laufen können. Die Knochen sind zusammengewachsen. Schmerz, natürlich, aber … vielleicht ist irgendwo noch ein Splitter in einem der Gelenke. Wo tut es denn weh?«

»Überall!«, fauchte sie ihn an.

»Ich hoffe, dass das jetzt nicht reine Sturheit von dir ist. Es wäre mir nicht angenehm, die Wunden deiner Beine unnötigerweise noch einmal öffnen zu müssen.« Vorsichtig schob er ihr den Arm unter die Knie und hob sie ohne große Mühe wieder auf die Bank. »Ich muss eine Weile weg.«

Sie klammerte sich an ihm fest. »Du kommst aber bald wieder?«

»Sehr bald.«

Seine Schritte verhallten im Gang. Sie hörte, wie die Haustür mit einem Klicken zufiel und der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.

»Verdammter Hurensohn.« Damit schwang sie die Beine von der Bank. Sie zuckte zusammen, als ihre Füße den Boden berührten, bleckte die Zähne, als sie sich aufrichtete, knurrte leise, als sie sich von der Bank löste und auf eigenen Beinen stand.

Es tat weh wie die Hölle, und es fühlte sich gut an.

Mit einem langen Atemzug raffte sie sich auf und begann quer durchs Zimmer zu gehen, während Schmerzen durch ihre Knöchel, Knie, Hüften und den Rücken hinaufschossen, die Arme weit ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten. Sie schaffte es bis zum Vitrinenschrank und hielt sich an der Kante fest, dann zog sie die Schublade auf. Da lag die Pfeife, und daneben fand sie ein rundes, grünes Glasgefäß, auf dessen Boden ein paar schwarze Klumpen Spreu lagen. Wie sehr sie es brauchte. Ihr Mund war trocken, die Handflächen klebrig vor krankem Verlangen. Sie schloss die Schublade mit einem Ruck und humpelte zur Bank zurück. Immer noch war ihr ganzer Körper durchdrungen von kaltem Schmerz, aber sie wurde jeden Tag stärker. Bald würde sie bereit sein. Aber noch nicht.

Geduld ist der Vater des Erfolges, hatte Stolicus geschrieben.

Durch das Zimmer, hin und zurück, mit zusammengebissenen Zähnen stöhnend. Durch das Zimmer, hin und zurück, zusammengekrümmt und mit verzerrtem Gesicht. Durch das Zimmer, hin und zurück, wimmernd, taumelnd, spuckend. Sie lehnte sich gegen die Bank, gerade so lange, um wieder zu Atem zu kommen.

Durch das Zimmer, hin und zurück.

 

Der Spiegel hatte einen Sprung, aber sie wünschte sich, er wäre noch stärker beschädigt gewesen.

Dein Haar ist wie ein mitternachtschwarzer Vorhang!

An der linken Seite ihres Kopfes, wo ihr Haar ganz abrasiert gewesen war, wuchsen schwarze, schuppige Stoppeln. Der Rest hing strähnig, struppig und fettig wie alter Seetang herunter.

Deine Augen schimmern wie durchdringende, unbezahlbare Saphire!

Gelb, blutunterlaufen, die Wimpern verklebt, gerötet und umgeben von vor Schmerz schwarzvioletten Höhlen.

Lippen wie Rosenblüten?

Gesprungen, vertrocknet, grau und eitrig, mit gelben Ausblühungen in den Mundwinkeln. Auf ihrer eingefallenen Wange waren drei lange schorfige Stellen, wundbraun auf wächsernem Weiß.

Du siehst heute Morgen besonders bezaubernd aus, Monza …

Auf jeder Seite ihres Halses zeigten sich, zu bleichen Schnüren verblasst, die roten Narben, die Gobbas Draht zurückgelassen hatte. Sie sah aus wie eine Frau, die soeben an der Pest gestorben war. Kaum besser als die Schädel, die sich auf dem Kaminsims stapelten.

Hinter dem Spiegel lächelte ihr Retter. »Was habe ich dir gesagt? Du siehst gut aus.«

Wie eine wahre Kriegsgöttin!

»Ich sehe aus wie eine verdammte Jahrmarktsattraktion!«, fauchte sie, und die zerstörte Frau im Spiegel blickte ihr höhnisch entgegen.

»Besser als damals, als ich dich fand. Du solltest versuchen, das Gute an deiner Lage zu erkennen.« Er warf den Spiegel wieder hin, stand auf und zog seinen Mantel an. »Ich muss dich eine Weile verlassen, aber ich komme wieder, wie immer. Arbeite weiter mit der Hand, aber erhalte dir deine Kraft. Später muss ich deine Beine öffnen und den Grund dafür erforschen, weshalb du noch immer so große Schwierigkeiten beim Stehen hast.«

Sie zwang sich, elend zu lächeln. »Ja. Ich verstehe.«

»Gut. Dann bis bald.« Er warf sich den Leinensack über die Schulter. Seine Schritte verhallten knarrend im Flur, das Schloss drehte sich. Sie zählte langsam bis zehn.

Dann erhob sie sich von der Bank und schnappte sich ein paar Nadeln und ein Messer vom Tablett. Sie humpelte zum Schrank hinüber, riss die Schublade auf, stopfte sich die Pfeife in die Tasche der geliehenen Hose, die um ihre Hüftknochen schlotterte, und steckte das Glas gleich mit dazu. Wankend schlich sie durch den Flur; die Dielenbretter knarrten unter ihren nackten Füßen. Hinein ins Schlafzimmer. Sie verzog das Gesicht, als sie die alten Stiefel unter dem Bett hervorzog, und sie keuchte, als sie sie anzog.

Wieder hinaus auf den Flur, mit zischendem Atem vor Anstrengung und vor Angst. Sie kniete sich vor die Haustür; vielmehr ließ sie sich mit knirschenden Gelenken so weit sinken, bis ihre brennenden Knie den Boden erreichten. Es war lange her, dass sie das letzte Mal ein Schloss geknackt hatte. Sie stocherte mit den Nadeln darin herum, die verdrehte Hand unsicher führend.

»Geh schon auf, du Scheißding, los.«

Glücklicherweise war das Schloss nicht besonders gut. Die Zapfen ließen sich greifen und drehten sich mit fröhlichem Klicken. Sie packte den Knauf und schwang die Tür auf.

Schwarze Nacht, eine raue noch dazu. Kalter Regen trommelte auf einen überwachsenen Hof, Unkräuter wucherten im schwachen Mondlicht, verfallene Mauern glänzten vor Nässe. Hinter einem schiefen Zaun ragten Bäume auf, und Dunkelheit fing sich unter ihren Ästen. Ein Invalide hatte es schwer in einer solchen Nacht unter freiem Himmel. Aber der kühle Wind fasste in ihr Gesicht, und mit der sauberen Luft in ihrem Mund fühlte sie sich beinahe wieder lebendig. Lieber wollte sie erfrieren, als noch einen Augenblick länger bei den Knochen eingesperrt zu sein. Sie huschte hinaus in den Regen, humpelte durch den Garten, wo die Brennnesseln nach ihr langten. Dann zwischen die Bäume mit ihren schimmernden Stämmen, bis sie den Weg verließ und sich ins Gebüsch schlug, ohne sich noch einmal umzusehen.

Einen langen Abhang hinauf, die Lippen zurückgezogen, vornübergebeugt, die gesunde Hand auf dem schlammigen Boden, um sich so weiter voranzuziehen. Bei jedem Ausrutscher stöhnte sie auf, jeder Muskel kreischte in ihr. Schwarzer Regen tropfte von schwarzen Ästen, prasselte auf gefallene Blätter, kroch durch ihr Haar und klebte es an ihr Gesicht, drang durch die gestohlene Kleidung und pappte sie an ihre wunde Haut.

»Nur noch einen Schritt.«

Sie musste sich etwas weiter von der Bank, den Messern und dem schlaffen, weißen, leeren Gesicht entfernen. Von diesem Gesicht und von dem im Spiegel.

»Nur noch einen Schritt … nur noch einen Schritt … nur noch einen Schritt.«

Der schwarze Boden ruckte vorüber, ihre Hand schleifte über die nasse Erde, die Baumwurzeln. Sie folgte ihrem Vater, als er den Pflug schob, vor langen Jahren, und ihre Hand auf der Suche nach losen Steinen durch die Erde fuhr.

Was täte ich nur ohne dich?

Sie kniete in den kalten Wäldern neben Cosca, wartete auf den Hinterhalt, den feuchten, frischen Geruch der Bäume in der Nase, und ihr Herz schlug schnell vor Angst und Aufregung.

Du hast den Teufel im Leib.

Sie dachte an alles, was es ihr ermöglichte, weiterzugehen, und Erinnerungen erhoben sich vor ihren unsicheren Stiefeln.

Werft sie von der Terrasse, und dann ist gut.

Sie hielt an, stand vorübergebeugt da; weiß dampfte ihr Atem in der nassen Nacht. Sie wusste nicht, wie weit sie gekommen war, wo sie angefangen hatte, wohin sie ging. Für den Augenblick spielte das auch keine Rolle.

Sie stemmte den Rücken gegen einen glitschigen Baumstamm, machte sich mit ihrer gesunden Hand an der Gürtelschnalle zu schaffen und drückte mit der anderen dagegen. Sie brauchte, die Zähne fest zusammengebissen, eine Ewigkeit, das verdammte Ding aufzubekommen. Immerhin musste sie die Hosen nicht auch noch herunterziehen. Sie rutschte durch das eigene Gewicht von ihrem knochigen Hintern und die vernarbten Beine hinunter. Kurz hielt sie inne und fragte sich, wie sie das Kleidungsstück wieder hochbekommen würde.

Immer eine Schlacht zurzeit, hatte Stolicus geschrieben.

Sie packte einen niedrigen Ast, schlüpfrig vor Nässe, und hockte sich darunter, die rechte Hand gegen das nasse Hemd gedrückt, die nackten Knie zitterten.

»Los«, murmelte sie und versuchte ihre verkrampfte Blase dazu zu bringen, sich zu lockern. »Wenn du musst, dann mach. Mach einfach. Mach …«

Sie stöhnte vor Erleichterung, als Pisse zusammen mit dem Regen auf die Erde prasselte und den Abhang hinunterrann. Ihr rechtes Bein brannte noch mehr als zuvor, und die verdorrten Muskeln zitterten. Sie verzog gequält das Gesicht, als sie versuchte, ihre Hand auf dem Ast entlangwandern zu lassen und das Gewicht auf das andere Bein zu verlagern. In einem schrecklichen Augenblick rutschte ihr ein Fuß weg und sie fiel nach hinten, zog vor Schreck laut den Atem ein, und alles Denken wurde von der verworrenen Erinnerung des Fallens verdrängt. Sie biss sich auf die Zunge, als ihr Kopf auf den Boden schlug, dann rutschte sie ein oder zwei Schritte und blieb in einer nassen Senke voller verrottender Blätter liegen. Sie lag im plätschernden Regen, die Hosen um die Knöchel, und weinte.

Es war ein deprimierender Augenblick, keine Frage.

Sie heulte wie ein kleines Kind. Hilflos, achtlos, verzweifelt. Ihre Schluchzer schüttelten sie, erstickten sie, ließen ihren gequälten Körper erbeben. Sie wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal geweint hatte. Vielleicht nie. Benna hatte immer für sie beide geheult. Jetzt flossen all der Schmerz und die Angst eines Dutzends schwarzer Jahre aus ihrem verkniffenen Gesicht. Sie lag auf der Erde und quälte sich mit allem, was sie verloren hatte.

Benna war tot, und alles Gute in ihr war mit ihm gegangen. Die Art, wie sie miteinander gelacht hatten. Das Verständnis, das aus einem gemeinsamen Leben erwachsen war, alles weg. Er war ihr Zuhause, ihre Familie, ihr Freund und mehr gewesen, und all das hatte man getötet. Ausgelöscht wie eine billige Kerze. Ihre Hand war zerstört. Sie hielt das schmerzende, verhöhnende Überbleibsel an die Brust gepresst. Die Art, wie sie einen Degen gezogen, eine Feder geführt, jemandem fest die Hand geschüttelt hatte, all das war von Gobbas Stiefel zertreten worden. Die Art, wie sie gegangen, gelaufen, geritten war, all das war bei dem Sturz von Orsos Balkon vernichtet worden. Ihr Platz auf der Welt, zehn Jahre Arbeit mit ihrem Schweiß und Blut, der Platz, für den sie gekämpft, geackert hatte, war wie Rauch vergangen. Alle Mühen, alle Hoffnungen, alle Träume.

Tot.

Sie zog den Gürtel wieder hoch, nahm dabei ein paar abgestorbene Blätter mit und schloss ihn mit viel Anstrengung. Ein paar letzte Schluchzer, dann zog sie den Rotz in der Nase hoch und wischte sich den Rest mit der kalten Hand weg. Das Leben, das sie geführt hatte, es war vorbei. Die Frau, die sie einmal gewesen war, gab es nicht mehr. Was sie zerstört hatten, ließ sich niemals wieder kitten.

Aber es hatte keinen Zweck, jetzt deswegen zu heulen.

Sie kniete auf der Erde, zitterte in der Dunkelheit, schwieg. Diese Dinge waren nicht nur verschwunden, man hatte sie ihr gestohlen. Ihr Bruder war nicht nur tot, man hatte ihn ermordet. Abgeschlachtet wie ein Tier. Sie zwang ihre verdrehten Finger, sich zu krümmen, bis sie sich zu einer bebenden Faust formten.

»Ich werde sie umbringen.«

Sie rief sich ihre Gesichter ins Gedächtnis, eines nach dem anderen. Gobba, das fette Schwein, wie er in den Schatten lauerte. Eine Verschwendung von hübschem Fleisch. Ihr Gesicht zuckte, als sie seinen Stiefel auf ihre Hand trampeln sah und fühlte, wie die Knochen splitterten. Mauthis, der Bankier, der mit seinen kalten Augen auf den Leichnam ihres Bruders starrte. Der Getreue Carpi. Ein Mann, der neben ihr marschiert, gegessen, gekämpft hatte, Jahr um Jahr. Es tut mir wirklich leid. Sie sah, wie sein Arm zurückfuhr, bereit, sie zu durchbohren, fühlte die Wunde an ihrer Seite pochen, drückte durch das nasse Hemd dagegen und bohrte ihre Finger hinein, bis die Stelle wie wild brannte.

»Ich werde sie umbringen.«

Ganmark. Sie sah sein weiches, müdes Gesicht. Zuckte, als sein Degen durch Bennas Körper glitt. Das hätten wir. Prinz Ario, der in seinem Sessel lümmelte, das Weinglas locker in der Hand. Sein Messer hatte Bennas Hals aufgeschlitzt, bis das Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Sie erlebte jede Einzelheit noch einmal, erinnerte sich an jedes gesagte Wort. Auch an Foscar. Ich will damit nichts zu tun haben. Aber das änderte gar nichts.

»Ich werde sie alle umbringen.«

Und Orso schließlich auch. Orso, für den sie gekämpft, sich abgemüht, für den sie getötet hatte. Großherzog Orso, Herr von Talins, der sich wegen eines Gerüchts gegen sie gewandt hatte. Ihren Bruder ermorden ließ und sie vernichtete, für nichts. Aus Angst, sie würden ihm seinen Platz streitig machen. Ihr Kiefer tat weh, so fest biss sie die Zähne zusammen. Sie spürte seine väterliche Hand auf ihrer Schulter, und ihr zitterndes Fleisch erschauerte. Sie sah sein Lächeln, hörte seine Stimme, die in ihrem dröhnenden Kopf widerhallte.

Was täte ich nur ohne dich?

Sieben Männer.

Sie richtete sich mühsam auf, nagte an ihrer wunden Lippe und humpelte durch die dunklen Bäume. Wasser tropfte von ihrem durchweichten Haar und lief über ihr Gesicht. Der Schmerz nagte an ihren Beinen, ihrer Seite, ihrer Hand, ihrem Schädel, aber sie riss sich zusammen und zwang sich, weiterzugehen.

»Ich werde sie umbringen … ich werde sie umbringen … ich werde sie umbringen …«

Es war kaum der Erwähnung wert. Sie war mit dem Weinen fertig.

 

Der alte Pfad war fast völlig überwachsen und kaum noch zu erkennen. Äste schlugen nach Monzas schmerzendem Körper, Brombeerranken fassten nach ihren brennenden Beinen. Sie kroch durch eine Lücke in der überwachsenen Hecke und sah mit gerunzelter Stirn auf jenen Ort hinab, an dem sie geboren worden war. Sie wünschte, es wäre ihr jemals gelungen, der unbeugsamen Erde eine Ernte abzuringen, die so üppig wuchs wie jetzt die Dornen und Nesseln. Das obere Feld war bedeckt von totem Gesträuch. Das untere stand voller Dornensträucher. Die Ruine eines Bauernhauses blickte traurig vom Waldesrand darüber hinweg, und sie blickte traurig zurück.

Offenbar hatte die Zeit ihnen beiden übel mitgespielt.

Sie ließ sich in die Hocke sinken und biss die Zähne zusammen, als ihre verdorrten Muskeln sich um ihre verbogenen Knochen spannten, lauschte einigen Vögeln, die in der untergehenden Sonne krächzten, und sah zu, wie der Wind das wilde Gras niederduckte und an den Nesseln riss. Bis sie sicher war, dass der Ort tatsächlich so verlassen war, wie er aussah. Dann massierte sie sich langsam wieder Leben in ihre geschundenen Beine und humpelte zu den Gebäuden hinüber. Von dem Haus, in dem ihr Vater gestorben war, standen nur noch die Grundmauern und ein paar verrottende Dachbalken, und der Grundriss war so klein, dass es ihr unglaublich erschien, jemals hier gelebt zu haben. Sie und ihr Vater und Benna. Sie wandte den Kopf und spuckte auf die trockene Erde.

Wegen der bittersüßen Erinnerungen war sie schließlich nicht gekommen.

Sondern wegen ihrer Rache.

Der Spaten stand noch dort, wo sie ihn vor zwei Wintern hatte stehen lassen, und das Blatt, das unter Dreck und Müll in der Ecke der Scheune mit dem eingestürzten Dach gelegen hatte, war noch blank. Dreißig Schritte unter die Bäume. Schwer vorzustellen, dass sie diese langen, eleganten, lachenden Schritte einst so mühelos zurückgelegt hatte. Nun humpelte sie durch das Unkraut und zog den Spaten hinter sich her. Hinein in das ruhige Wäldchen, bei jedem Schritt zusammenzuckend, während gebrochene Muster aus Sonnenlicht über den gefallenen Blättern lagen, als der Abend verging.

Dreißig Schritte. Sie hackte die Brombeerranken mit der Kante des Spatens ab, konnte schließlich auch den verfaulenden Baumstamm zur Seite ziehen, und fing an zu graben. Es wäre selbst mit gesunden Armen und Beinen eine schwere Aufgabe gewesen. In ihrem jetzigen Zustand war es eine Qual. Sie stöhnte, schwitzte, biss die Zähne zusammen. Monza war nie jemand gewesen, der auf halber Strecke aufgab, egal, wie schwer es wurde. Du hast den Teufel im Leib, hatte Cosca immer gesagt, und er hatte recht gehabt. Das hatte er selbst erfahren müssen, auf die harte Tour.

Die Nacht zog herauf, als sie das hohle Dröhnen von Metall auf Holz vernahm. Sie kratzte die letzte Erde zur Seite und löste mit abgebrochenen Fingernägeln den eisernen Ring aus der Erde. Mit aller Kraft zog sie, stöhnte, und die gestohlenen Kleider klebten kalt an ihrer vernarbten Haut. Mit einem metallenen Kreischen öffnete sich die Falltür schließlich, und ein schwarzes Loch, in dessen Dunkelheit eine Leiter führte, gähnte darunter.

Sie kletterte hinab, ganz langsam, da sie nicht die Absicht hatte, sich noch mehr Knochen zu brechen. In der Schwärze tastete sie herum, bis sie das Regalbrett fand, dann kämpfte sie mit dem Flintstein in ihrem Gespött von einer Hand, bis es ihr gelang, die Lampe anzuzünden. Licht flackerte schwach unter der gewölbten Decke des Kellers und schimmerte auf den Metallkanten von Bennas vielen Vorsichtsmaßnahmen, die noch ganz unberührt dalagen, so wie sie sie verlassen hatten.

Er hatte stets vorausgeplant.

Von einer Reihe verrosteter Haken hingen Schlüssel. Schlüssel zu leerstehenden Gebäuden in ganz Styrien. Zu Verstecken. Auf einem Ständer an der Wand türmten sich Klingen, lange wie kurze. Sie öffnete die Truhe, die daneben stand. Kleidung lag darin, sorgfältig zusammengefaltet und ungetragen. Sie zweifelte daran, dass irgendetwas davon ihrem ausgemergelten Körper jetzt wirklich passte. Vorsichtig berührte sie eines von Bennas Hemden, und sie erinnerte sich daran, wie er die Seide dafür ausgesucht hatte, dann sah sie ihre eigene rechte Hand im Lampenlicht. Schnell griff sie nach einem Paar Handschuhe, warf einen weg und schob das verstümmelte Ding in den anderen, verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als sie die Finger hineinbugsierte. Der kleinste stand immer noch stur gerade ab.

An der Rückwand des Kellers waren Holzkisten aufgereiht, insgesamt zwanzig Stück. Sie humpelte zu der, die ihr am nächsten stand, und stieß den Deckel auf. Hermons Gold schimmerte darin. Ganze Haufen von Münzen. Schon allein in dieser Kiste ruhte ein kleines Vermögen. Sie führte ihre Fingerspitzen seitlich an den Kopf und fühlte die Erhebungen unter der Haut. Man konnte so viel mehr damit tun, als den eigenen Kopf zusammenzuhalten.

Ihre Hand griff in die Münzen und ließ sie über ihre Finger klimpern. So, wie man es irgendwie immer machen musste, wenn man mit einer Kiste voller Geld allein war. Diese kleinen goldenen Dinger würden ihre Waffen sein. Diese, und …

Sie ließ die behandschuhten Finger über die Klingen in dem Gestell fahren, hielt inne und nahm eine der Waffen in Augenschein, an der sie gerade vorübergeglitten war. Ein langer Degen aus schlichtem, grauem Stahl. Er war nicht besonders aufwendig verziert, aber in ihren Augen besaß er trotzdem eine furchterregende Schönheit. Die Schönheit eines Gegenstands, der seinem Verwendungszweck perfekt entspricht. Es war ein Calvez, vom besten Waffenschmied ganz Styriens. Ein Geschenk für sie von Benna, obwohl er eine gute Klinge nicht von einer Karotte hätte unterscheiden können. Er hatte die Waffe eine Woche lang getragen und sie dann gegen eine überteuerte Länge Metallschrott eingetauscht, die von einem blöden, vergoldeten Korb gekrönt wurde.

Gegen jene Klinge, die er zu ziehen versucht hatte, als sie ihn töteten.

Sie schloss die Finger um den kalten Griff, der sich in ihrer Linken seltsam anfühlte, und ließ ein paar Zoll Stahl aus der Scheide gleiten. Sie schimmerten hell und einsatzfreudig im Lampenlicht. Guter Stahl lässt sich biegen, bricht aber nie. Guter Stahl ist immer scharf und bereit. Guter Stahl fühlt keinen Schmerz, kein Mitleid und vor allem kein Bedauern.

Sie fühlte, dass sie lächelte. Zum ersten Mal seit Monaten. Das erste Mal, seit Gobbas Draht zischend um ihren Hals gefahren war.

Nun also Rache.