Kapitel 9

Dem Mann war die Kehle durchgeschnitten worden. »

Mistkerl. «

Als Joe aufblickte, sah er Barbara Eisley, die ganz in der Nähe stand. Sie trat näher, um sich die Leiche anzusehen, die jemand in die Büsche gerollt hatte. »Der Wachposten? «

»Was machen Sie hier?«

»Wundert Sie das etwa? Sie reißen mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf, wollen unbedingt hierher

fahren, um meine Mitarbeiter zu stören, und dann erwarten Sie, dass ich mich wieder ins Bett lege und wei-terschlafe? « Sie schaute zum Haus, in dem alle

Fenster erleuchtet waren. »Ich trage hier die

Verantwortung. Wo ist Jane MacGuire? «

»Keine Ahnung.«

»Die Heimleiterin sagte, sie sei nicht in ihrem Zimmer.

Der Wachmann ist tot. Ist sie womöglich auch tot?«

» Könnte sein.« Als Eisley zusammenzuckte, fügte er hinzu: »Aber ich glaube es nicht. Aus ihrem Fenster hängt ein verknotetes Bettlaken.«

»Dann ist sie also rausgeklettert - und dem Mörder direkt in die Arme gelaufen. «

»Vielleicht auch nicht.«

Eisley musterte ihn. »Eve Duncan. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich von dem Kind fern halten«, fluchte sie.

»Und sie hat Ihnen gesagt, dass das Kind in Gefahr ist.

Sie wollten nicht auf sie hören. Sie können nur beten, dass Eve eher bei ihr war als der Mörder Ihres

Wachmanns.« Er erhob sich. »Sorgen Sie dafür, dass niemand etwas berührt, bis die Leute von der Spurensicherung eintreffen.«

»Wo wollen Sie hin? «

»Jane MacGuire suchen.«

»Falls Eve Duncan sie aus dem Heim geholt hat, ist das Entführung.« Sie zögerte. »Aber da hier mildernde Umstände vorliegen, könnte ich vielleicht auf eine Anklage verzichten, wenn sie das Kind innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder hier abliefert.«

»Ich werde Ihr großzügiges Angebot übermitteln.

Vorausgesetzt, sie nimmt noch mal Kontakt zu mir

auf.«

»Sie müssen doch wissen, wo sie ist. Das Kind muss gefunden werden.« In ihrer Stimme schwang ein wenig Panik mit. »Sie sind doch befreundet, oder?«

»Das dachte ich bisher auch.«

Er spürte ihren Blick, als er zu seinem Wagen ging.

Sie sind doch befreundet, oder?

Freunde. All die Jahre hatte er sich gezwungen, diese Beziehung zu akzeptieren, und jetzt nahm sie ihm

auch noch das.

Zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt.

Zum Teufel mit der Freundschaft. Zum Teufel mit der Hoffnung. Mir reicht's.

Aber ruf wenigstens an und sag mir, dass der

Scheißkerl dich nicht erwischt hat.

Mark parkte den Wagen vor dem Apartmenthaus in der Peachtree Street. » Wer wohnt hier? «

»Meine Mutter und ihr Verlobter«, erwiderte Eve. »Sie ist die Einzige, die mir eingefallen ist. Ich denke, sie wird Mike aufnehmen. «

Jane blickte an dem dreizehnstöckigen Gebäude hinauf. »Ihre Mutter?«, fragte sie zweifelnd.

»Sie hat es geschafft, mich großzuziehen. Ich denke, wir können ihr Mike anvertrauen. «

»Vielleicht.«

Eve seufzte verzweifelt. Sie würde nicht nur ihre Mutter überreden müssen, noch dazu musste ihre Mutter

Janes Einverständnis gewinnen. »Dort ist er in Sicherheit, Jane. Das Gebäude hat eigene Sicherheitsleute und mein Freund Joe hat noch zusätzlichen Schutz für meine Mutter angeordnet. Mike bekommt was zu

essen und ist in Sicherheit. Was willst du mehr? «

Jane antwortete nicht, als sie mit Mike im Schlepptau den Haupteingang ansteuerte.

Eve warf Mark einen Blick zu. »Kommen Sie mit?«

»Ich glaube nicht. Es ist nach eins in der Früh. Ich würde lieber unserem Serienkiller begegnen, als Ihre Mutter und ihren Freund aus dem Schlaf zu reißen und ihnen beizubringen, dass sie auf die Schnelle Eltern werden sollen. Ich warte lieber hier. «

»Feigling.«

Er lächelte. » Stimmt. «

Sie eilte den Kindern hinterher. Sie war auch nicht gerade wild auf die Aufgabe, die vor ihr lag. Sie kannte Ron Fitzgerald kaum. Sie hatte ihn nur einmal gesehen, bevor sie nach Tahiti abgereist war. Er hatte einen freundlichen und intelligenten Eindruck gemacht und schien ihre Mutter aufrichtig zu lieben. Aber er schuldete Eve absolut nichts.

Also musste sie zuerst ihn bearbeiten. Obwohl es ihr nicht behagte, ihre Mutter um Hilfe zu bitten, zweifelte sie nicht daran, dass sie auf sie zählen konnte. Doch auf keinen Fall wollte sie eine Beziehung

durcheinander bringen, die ihrer Mutter am Herzen lag.

Sie würde Sandra bitten, die Kinder mit in die Küche zu nehmen und ihnen etwas zu essen zu machen,

während sie Ron die Situation erklärte und um seine Unterstützung warb.

»Nein«, sagte Ron geradeheraus. »Ich möchte nicht, dass Sandra in irgendwas Illegales verwickelt wird.

Bringen Sie die Kinder zur Polizei.«

»Das kann ich nicht. Ich habe Ihnen doch erklärt ... «

Eve unterbrach sich und holte tief Luft. »Ich verlange ja nicht, dass Sie Jane aufnehmen. Das könnte Sie beide in Gefahr bringen. Aber Dom hat kein Interesse an Mike, sonst wäre er schon nicht mehr am Leben. Aber jemand muss sich um ihn kümmern, bis ich dieses

ganze Durcheinander hinter mir habe.«

»Er ist von zu Hause weggelaufen. Ihn nicht seinen Eltern zurückzubringen, zieht ernsthafte Konsequen-zen nach sich.«

»Mein Gott, Jane sagt, er lebt schon seit Tagen auf der Straße und kein Mensch hat ihn als vermisst gemeldet.

Haben Sie den Eindruck, dass seine Eltern sich um ihn kümmern? «

»Es verstößt gegen Recht und Gesetz.«

Und wer sollte das besser wissen als ein

Rechtsanwalt. »Ich brauche Hilfe, Ron.«

»Das ist mir klar, aber meine Sorge gilt Sandra. Ich würde Ihnen gern helfen, aber ich kann nicht zulassen, dass sie ... «

»Wir machen es. « Ihre Mutter stand im Türrahmen.

»Hör auf, den Beschützer zu spielen, Ron.«

Er drehte sich um. »Wie lange stehst du schon da?«

»Lange genug.« Sie kam näher. »Eve wäre nicht zu

mir gekommen, wenn es eine andere Möglichkeit

gäbe.«

»Lass mich das erledigen, Sandra.«

Sie schüttelte den Kopf. »Dieser kleine Junge ist total verängstigt. Wir werden ihn nicht seinen Eltern ausliefern und ich werde Eve nicht abwimmeln, wenn sie

mich braucht. Das habe ich oft genug getan, als sie noch ein Kind war.« Sie zögerte einen Augenblick.

»Aber sie ist nicht deine Tochter. Ich werde Mike mit zu mir nach Hause nehmen. «

Er wirkte verärgert. »Den Teufel wirst du tun.«

»0 doch.« Sie sprach mit ruhiger, fester Stimme. »Ich bin sehr glücklich mit dir, aber in meinem Leben gibt es noch mehr als nur dich, Ron. «

»Einen Ausreißer zu beherbergen ist gegen das Ge-

setz und ich möchte nicht, dass du ... «

»Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, wie oft Eve von zu Hause weggelaufen ist, als ich noch auf Crack war?« Sie sah Eve an. »Er ist nicht herzlos. Aber er weiß nicht, wie das ist. «

»Ich möchte dir keinen Ärger machen, Mom.«

»Wenn ich mit Ron Ärger bekomme, weil ich ein Kind aus der Kälte hole, dann stimmt was mit unserer

Beziehung nicht.« Sie wandte sich wieder an Ron.

»Hab ich Recht?«

Er sah sie einen Augenblick lang an, dann rang er sich ein Lächeln ab. »Du bist zäh, Sandra.« Er zuckte die Achseln. »Okay, du hast gewonnen. Wir werden den

Nachbarn sagen, dass er der Sohn meines Bruders

aus Charlotte ist.«

Eve atmete erleichtert auf. »Danke.«

Sandra schüttelte den Kopf. »Du willst sonst immer alles allein schaffen und keine Hilfe annehmen. Es ist schön, mal etwas für dich tun zu können. «

Eve sah Ron fragend an.

»Es ist in Ordnung. Es gefällt mir nicht, aber es ist in Ordnung.« Er legte Sandra den Arm um die Hüfte.

»Aber Sie halten sich von ihr fern, bis dieser

Scheißkerl hinter Gittern ist. Ist das klar? Ich will nicht, dass Sandra in Gefahr gerät.«

»Etwas anderes hatte ich auch nicht vor. Lass dein Handy eingeschaltet, Mom. Ich werde in regelmäßigen Abständen anrufen, um zu hören, ob alles okay ist.«

Sie stand auf. »Jetzt hole ich Jane und verschwinde von hier. «

»Ich bin fertig. « Jane stand im Türrahmen. »Mike isst noch einen Pfannkuchen, Mrs Duncan. Wenn Sie nicht aufpassen, kriegt er heute Nacht Bauchschmerzen. «

»Noch einen? Meine Güte, er hat doch schon sechs

verputzt.« Sandra eilte in die Küche.

Jane trat ins Wohnzimmer. »Wir sollten jetzt abhauen.

Ich habe Mike alles erklärt, aber vielleicht fängt er an, Theater zu machen, wenn er merkt, dass ich gehe. «

Sie warf Ron einen Blick zu. »Passen Sie gut auf ihn auf. Vielleicht hat er zuerst Angst vor Ihnen. Sie sind genauso groß wie sein Vater. «

»Ich werd schon aufpassen.«

Sie musterte ihn. »Sie wollen es gar nicht.« Sie wandte sich an Eve. »Vielleicht sollten wir nicht ... «

»Ich sagte, ich passe auf ihn auf«, erwiderte Ron gereizt. »Ich muss es ja nicht gern tun. Ich habe es versprochen, also tue ich es auch.«

Jane runzelte immer noch die Stirn.

Höchste Zeit, von hier zu verschwinden. »Komm

schon, Jane.« Eve schob sie zur Wohnungstür. »Sie kommen allein klar. «

» Ich weiß nicht ...«

Eve zog sie auf den Flur und schloss die Tür. »Er macht das schon. Mom wird sich darum kümmern. «

»Sie kann nicht besonders gut kochen. Die Pfann-

kuchen waren nicht richtig fest.«

»Kochen ist nicht gerade ihre Stärke, aber sie ist in Ordnung. Sie wird dir gefallen, wenn du sie erst kennen lernst. «

»Sie gefällt mir. Sie ist ein bisschen wie ... wie Fay.«

»Und Fay war immer für dich da, stimmt's?« »Stimmt.«

Sie schwieg. »Aber dieser Mann.« » Er ist ein netter Kerl. Er wird Mike nichts tun. « » Er gefällt mir nicht. «

Auch Eve hatte ihn bei ihrer ersten Begegnung sympathischer gefunden. Aber niemand war ohne Fehler und sie konnte froh sein, dass er sich so um Sandra kümmerte. »Er macht sich Sorgen um meine Mutter.

Glaubst du, ich würde Mike dort lassen, wenn ich ihm nicht vertrauen würde? «

Jane sah sie stirnrunzelnd an, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht. Wohin gehen wir? «

»Wir suchen uns ein Motel außerhalb der Stadt, wo wir schlafen können. Ich bin müde, du nicht? «

»Doch.«

Die Erschöpfung stand dem Mädchen ins Gesicht ge-

schrieben. Sie war starr und bleich vor Anspannung und dennoch hatte sie tapfer durchgehalten, bis Mike untergebracht war.

Jane schwieg, bis sie im Aufzug waren. »Warum?«,

flüsterte sie. »Warum passiert das alles?«

»Ich werd's dir erzählen, aber nicht jetzt. Vertrau mir. «

»Warum sollte ich? «

Was sollte sie darauf antworten? Wie sollte Jane

nach dem, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden durchgemacht hatte, noch jemandem vertrauen?

»Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich an deiner Stelle irgendwem vertrauen würde. Aber ich denke, ich bin die beste Wahl für dich. «

»Das muss nicht viel heißen.«

Sie spürte Frustration in sich aufsteigen und wurde wütend. »Nun, das ist alles, was du von mir erwarten kannst. Mehr kann ich dir nicht geben.«

»Sie müssen ja nicht gleich pampig werden.«

»Doch, muss ich. Ich fühle mich pampig. Ich bin

stinksauer und ich habe es nicht nötig ... « Sie biss sich auf die Lippe. »Tut mir Leid. Es ist alles ein bisschen viel. «

Jane schwieg, bis sie den Vordereingang des

Apartmenthauses erreichten. » Schon in Ordnung. Mir ist es lieber, wenn Sie pampig sind, aber ehrlich. Ich kann diese schleimigen Sozialarbeiter nicht ausstehen, die einen bloß voll labern.«

Als Kind hatte sie die auch nicht leiden können, aber jetzt, wo sie erwachsen war, hatte sie das Gefühl, sie in Schutz nehmen zu müssen. »Sie wollen doch nur

...« Ach, zum Teufel. Sie war zu müde, um zu

heucheln. »Ich verspreche dir, dass ich dich nicht voll quatschen werde.« Sie hielt die hintere Wagentür auf.

»Steig ein. Wir müssen hier weg. «

Mark warf ihnen über die Schulter einen Blick zu. »Wie ich sehe, haben wir schon eins unserer Waisenkinder verloren. «

»Mom wird sich um ihn kümmern.«

»Und wohin soll's jetzt gehen?«

»Nichts wie weg. Und zwar schnell. Die Polizei wird als Erstes bei meiner Mutter aufkreuzen, wenn sie mich suchen. Wir können von Glück reden, dass wir

vor ihnen da waren. Bringen Sie uns aus der Stadt raus, am besten in ein Motel. «

»Haben Sie ein bestimmtes im Sinn?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hauptsache, wir sind in Sicherheit. «

»Vor Dom oder vor Joe Quinn?« Joe.

Mark sah sie im Rückspiegel mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Joe wird Sie sowieso finden, Eve. «

Das wusste sie selbst. Es war nur eine Frage der Zeit und diese Zeit musste sie nutzen. »Mit Joe werde ich mich später auseinander setzen.«

Er pfiff leise durch die Zähne. »Besser Sie als ich.«

Ob es ihr gefiel oder nicht, sie musste Joe auf jeden Fall anrufen. Sie musste ihm von der Blutspur auf dem Karton und von dem Knochen erzählen. Vielleicht hatte Dom irgendeine winzig kleine Spur hinterlassen.

Bisher hatte er keine Fehler begangen.

Aber zeigte er nicht erste Anzeichen von Unachtsamkeit? Nur wenige Stunden nach dem Mord an Fay

Sugarton hatte er riskiert, entdeckt zu werden, als er diesen Knochen unweit des Tatorts abgelegt hatte.

Vielleicht war er gar nicht so unverwundbar. Vielleicht hatte er diesmal einen Hinweis auf seine Identität hinterlassen.

Zieh dir eine kugelsichere Weste über, ruf Joe an und erzähl ihm alles.

Mark Grunard fuhr sie zu einem Motel in der Nähe von Elijay, Georgia. Er mietete ein Einzelzimmer für sich und ein Doppelzimmer für Eve und Jane.

»Ganz, wie Sie es bestellt haben.« Er übergab Eve den Schlüssel. »Wir sehen uns morgen früh.«

» Danke, Mark. «

»Wofür? Ich könnte Ihnen jetzt erzählen, dass ich das alles für die Sicherheit des Mädchens tue, aber in Wirklichkeit bin ich nur an der Story interessiert.«

»Trotzdem danke. «

Sie schob Jane ins Zimmer und verschloss die Tür.

»Geh ins Bad und wasch dich.« Gott, war es hier kalt.

Sie drehte die Heizung auf. »Heute Nacht musst du in deinen Sachen schlafen, morgen besorge ich dir was Neues.«

Jane gähnte. »Okay.«

Sie wählte Joes Handynummer, nachdem Jane im Bett neben ihr eingeschlafen war.

»Joe?«

»Wo zum Teufel steckst du?«

» Es geht mir gut. Und Jane MacGuire ist bei mir, sie ist in Sicherheit. «

»Ich habe schon die ganze Stadt nach dir abgegrast.

Und deine Mutter hat kein Wort gesagt. «

»Wird sie von der Polizei belagert?«

»Natürlich. Was hast du denn gedacht? «

» Hilf ihr, Joe. «

»Soweit ich das kann. Sie ist schließlich nicht diejenige, hinter der sie her sind. Wo steckst du?«

Sie beantwortete die Frage nicht. »Ich habe dich angerufen, um dir zu erzählen, dass es in der Gasse in der Nähe der Luther Street möglicherweise brauchbare Beweismittel gibt. Dom hat auf einem Pappkarton eine Botschaft aus Blut und den Finger eines Kindes hinterlassen. «

»Janes Finger? «

»Nein.«

Bonnie.

Nicht an Bonnie denken. »Jane geht es gut. Den Um ständen entsprechend. Ich habe keine Ahnung, von

wem das Blut stammt.«

»Aber ich weiß es. Von dem Wachmann des Fürsor-

geheims, in dem Jane untergebracht war. «

» O Gott. « Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter, als ihr klar wurde, dass Dom womöglich dort gewesen

war, um Jane zu verfolgen. »Wie lange ist er schon tot?«

»Wir wissen es noch nicht. Es war kalt heute Nacht.

Der Zeitpunkt des Todes ist schwer zu bestimmen,

wenn die Leiche niedrigen Temperaturen ausgesetzt war. Er wurde zuletzt um zwanzig Uhr fünfzehn lebend gesehen. «

Also konnte der Tod am frühen Abend eingetreten

sein, mehrere Stunden, bevor sie am Tatort aufge-

taucht war. Vielleicht war das unheimliche Gefühl, das sie beschlichen hatte, als sie unter Janes Fenster stand, doch keine Einbildung gewesen.

»Das macht eine Entführung und einen Mordverdacht.

Kompliment. «

»Mord?«

»Du warst am Tatort. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass irgendjemand dich ernsthaft des Mordes verdächtigt. «

» Sehr tröstlich. «

»Aber du bist eine wichtige Zeugin und man wird dich verhören wollen. Und dann ist da noch die Entführung.

Die Fahndung nach dir ist schon eingeleitet. «

»Du weißt, warum ich Jane da rausholen musste. Dom hat mir gedroht, wenn ich es nicht täte, würde er es tun. «

»Das dachte ich mir.« Seine Stimme war ausdruckslos.

» Es wäre nett gewesen, du hättest mich angerufen und mit mir darüber gesprochen. «

O Gott, er war ja wirklich wütend. »Ich musste es allein tun.«

»Tatsächlich? Soweit ich mich erinnere, stecke ich bis zum Hals mit drin. Warum hast du beschlossen, mich von deiner Liste zu streichen? «

»Du weißt, warum. Ich musste Jane da rausholen,

Gesetze hin oder her. Aber du bist Polizist, Joe. «

»Glaubst du, das hätte mich davon abgehalten, dir zu helfen? Ich hätte es für dich getan, verdammt noch mal. «

»Ich weiß.« Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. »Ich konnte es nicht zulassen.«

»Du konntest nicht zulassen ...« Er musste sich unterbrechen, um seinen Tonfall zu mäßigen. »Wer zum Teufel gibt dir das Recht, für mich irgendwelche Entscheidungen zu treffen?«

»Ich habe es mir genommen.«

»Und mich ausgeschlossen.«

»Ich habe dich ausgeschlossen. Und dabei soll es

auch bleiben, Joe. «

»Das könnte dir so passen. Du hast mich schon viel zu oft in den Hintergrund gedrängt. Damit kann ich leben, aber ich will nicht, dass du dich von mir entfernst. «

»Ich wäre keine gute Freundin, wenn ich zulassen

würde, dass du ... «

»Scheiß auf die Freundschaft.« Seine Stimme war

heiser vor kaum beherrschter Wut. »Ich hab die

Schnauze voll davon. Genau wie ich die Schnauze voll hab, am Rand rumzustehen, während du mich

behandelst wie einen alten Köter, dem man ab und zu mal den Kopf tätschelt.«

Sie war schockiert. »Joe. «

» Das ist oft genug vorgekommen, Eve.«

»Blödsinn.«

»Von wegen Blödsinn. Du merkst es nicht einmal. Du verdrängst alles, und was du nicht verdrängst, legst du dir so zurecht, dass es dir in den Kram passt. Du schaltest dein Telefon aus und verschließt die Augen vor dem, was du nicht sehen willst.«

»Ich habe es nie für selbstverständlich genommen, dass du da bist«, sagte sie mit zitternder Stimme, »und ich habe dich nie anders als einen sehr lieben Freund behandelt. «

»Und warum hast du mich dann nicht eingeweiht?

Warum sagst du mir nicht, wo du bist? « Er holte tief Luft und legte seine ganze Überzeugungskraft in seine Stimme. »Also, letzter Versuch. Lass mich zu dir kommen. Danach werde ich mich zurückziehen. Du kannst den Kopf in den Sand stecken und ... «

»Es geht nicht. Du kannst mir nicht helfen. Diesmal nicht. «

Er schwieg eine Weile, doch sie spürte seine heftigen Gefühle. » Es ist deine Entscheidung. Weißt du was, ich bin fast erleichtert. Aber ich werde dich finden. Ich werde dafür sorgen, dass du mich nicht mehr ausschließt, und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass dieser Scheißkerl dich tötet. «

»Ich will nicht, dass du mich suchst. Wenn du mich anrufst, lege ich auf. Kapiert?«

»Ich werde dich finden.« Er legte auf.

Sie zitterte, als sie ihr Handy abschaltete. Joe war wie ein starker Fels in ihrem Leben und sie hatte das Gefühl, als sei dieser Fels soeben unter ihren Füßen explodiert. Sie hatte ihn auch zuvor schon wütend erlebt, aber diesmal war es anders gewesen. Er hatte sie angegriffen. Er hatte schreckliche, falsche Dinge gesagt. Sie hatte seine Freundschaft nie für selbstver ständlich genommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne Joe aussehen würde. Warum

konnte er nicht verstehen, dass sie nur das Beste für ihn wollte?

Sie musste den Schmerz ersticken. Schlafen. Und vergessen.

Sie schaltete die Nachttischlampe aus.

Ich werde dich finden.

Seine Worte hatten wie eine Drohung geklungen. Der Joe, mit dem sie heute Abend gesprochen hatte, war der harte Polizist, der Ex-SEAL-Mann. Gnadenlos,

zielstrebig, tödlich.

Unsinn. Joe würde sie niemals bedrohen. Joe war ihr näher als ein Bruder, fürsorglicher als ein Vater.

Du behandelst mich wie einen alten Köter, dem man ab und zu mal den Kopf tätschelt.

Nicht an Joe denken. Sie konnte nicht noch mehr

Durcheinander in ihrem Leben gebrauchen.

Du verdrängst alles.

Ja, verdammt, sie würde Joe fürs Erste verdrängen und sie hatte absolut keine Lust auf Schuldgefühle.

Sie schloss die Augen und ignorierte den stechenden Schmerz hinter den Lidern. Sie musste jetzt schlafen.

Morgen würde sie einen Weg finden, Jane vor Dom in Sicherheit zu bringen. Das war sehr viel dringlicher als Joes verletzte Gefühle und sein Mangel an Verständnis. Dieses Problem konnte sie später lösen. Im

Augenblick ging es allein um Jane.

Ich habe die Schnauze voll, am Rand rumzustehen.

O Gott, das bedeutete doch nicht, dass Joe weniger wichtig war.

Nicht an ihn denken. Die Botschaft hinter seinen

Worten war so beunruhigend wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Sie hatte es immer gewusst, aber sie hatte vorgezogen, es nicht zu sehen. Und gerade jetzt konnte sie sich nicht erlauben, die Augen zu öffnen.

Sie drehte sich auf die Seite und versuchte einzuschlafen.

Ich werde dich finden.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus dem Schlaf.

Joe? Sie würde nicht rangehen. Sie wollte sich auf keine weitere Auseinandersetzung mit ihm einlassen.

Es klingelte wieder.

Verdammt, sie musste rangehen, sonst lief sie Gefahr, dass Jane aufwachte.

Sie flüsterte in den Hörer: »Hallo?«

»Sind Sie in der kleinen Gasse an der Luther Street gewesen? «

Dom.

»Ja.«

»Dann haben Sie also unsere kleine Jane. Ich dachte mir schon, dass sie darauf bestehen würde, ihrem kleinen Freund zu helfen. Sie scheint ihn ja sehr gern zu haben. Sowas hätten Sie als Kind auch getan,

stimmt's? Habe ich schon erwähnt, wie ähnlich Sie sich sind? «

»Sie haben den Wachmann ermordet.«

»Ich wollte Ihnen nur ein wenig behilflich sein. Er wäre Ihnen in die Quere gekommen. Wie haben Sie sie da rausgeholt? Über das Fallrohr? Ich hatte es in Er-wägung gezogen, aber ... «

»Warum rufen Sie an?«

» Ich mag Ihre Stimme. Wissen Sie eigentlich, wie viel Anspannung und Gefühl darin zum Ausdruck kommt?

Ich spüre jede Nuance. Sehr erregend. «

»Ich lege jetzt auf.«

»Dann komme ich doch besser gleich zu meinem An-

liegen, Ihnen die Richtung zu weisen, die Sie einschlagen sollen. Es ist zu gefährlich für uns beide, in Atlanta zu bleiben. Man könnte Sie wegen Entführung einsperren und das würde alles verderben. Sie könnten keine Beziehung zu Jane aufbauen und ich müsste ihr die Kehle durchschneiden. Und natürlich würden Sie dafür sorgen, dass sie massiv geschützt wird, und das macht es mir nur unnötig schwer, sie zu töten.«

Ihre Hand umklammerte das Telefon. »Wenn ich

eingesperrt werde, haben Sie doch keinen Grund

mehr, Jane zu töten. Ihr kleines Szenario wäre

verdorben. «

»Aber ich habe Ihnen mein Wort gegeben«, sagte er sanft. »Ich stehe zu meinem Wort. Also müssen Sie sich vorsehen, nicht gefasst zu werden, richtig? Deshalb möchte ich, dass Sie Atlanta verlassen.«

»Haben Sie Angst, ich könnte Sie aufspüren, wenn ich bliebe? «

»Im Gegenteil, es gefällt mir, Ihnen Hoffnung zu machen. Die Vorstellung, dass Sie nach mir suchen, finde ich wunderbar stimulierend. Ich habe schon lange nicht mehr solche Erregung verspürt. Ich war so sehr damit beschäftigt, die Morde perfekt und ohne Spuren

durchzuführen, dass mir gar nicht bewusst geworden ist, dass ich einen gewissen Grad an Interaktion be-nötige. «

»Die werden Sie nicht bekommen, wenn ich mich ir-

gendwo verstecke.

»Ich möchte nicht, dass Sie sich verstecken. Ich

möchte Sie lediglich außerhalb von Atlanta haben. Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie eine Reise nach Phoenix unternehmen. «

» Wie bitte? «

»Mir hat Phoenix schon immer sehr gut gefallen.«

»Ich weiß. Dort haben Sie schließlich gemordet.«

»Ach, das wissen Sie?«

»Das FBI kann Ihnen bereits zwei Morde nachweisen, die Sie dort vor Jahren begangen haben. So clever, wie Sie glauben, sind Sie nun auch wieder nicht. Wir werden Sie kriegen, Dom.«

»Aber nicht wegen dieser Morde. Man wird keinerlei Beweismittel finden. Ich war sehr vorsichtig, und wo ich es nicht war, hat die Natur nachgeholfen. Erst in jüngster Zeit war ich so gelangweilt, dass sich möglicherweise Fehler eingeschlichen haben. Eine kleine Chance, mich zu ergreifen, könnte sich Ihnen bieten, wenn Sie ein frisches Opfer finden.«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich fände es passend, wenn Sie die Frau finden, die uns zusammengebracht hat. Sie war nicht sonderlich interessant, aber dieser Mord hat mir klar gemacht, dass es so nicht weitergehen konnte, und mich letzt-endlich zu Ihnen geführt. Sie hat mir das Licht gezeigt und dann habe ich ihr das Licht gezeigt. «

»In Phoenix?«

»Ah, Sie klingen ja schon recht wissbegierig.« »Wie heißt sie?«

»Daran erinnere ich mich nicht. Es spielte keine Rolle.

«

»Und wann war das? «

»Vor fünf oder sechs Monaten. Ich weiß es nicht mehr genau. Es gab ein früheres Opfer, das mir einen

Hinweis auf mein Problem gab, aber diese hat mir den Weg erleuchtet. Wir sind darauf angewiesen, dass

man uns den Weg erleuchtet, nicht wahr? Finden Sie sie, Eve, dann finden Sie vielleicht auch mich.«

»Sagen Sie mir, wo sie ist.«

»Sie wissen doch, dass ich es Ihnen nicht so leicht machen werde. Sie müssen schon was dafür tun.«

Er schwieg einen Augenblick. »Sie hatte eine wunderschöne Stimme, soweit ich das beurteilen kann.

Sopran. «

» Sie war Sängerin? «

»Fahren Sie nach Phoenix. Nehmen Sie Jane mit.

Klammern Sie sich an sie, sorgen Sie für sie ... bemut-tern Sie sie. Haben Sie den Knochen gefunden? «

»Sie Schwein.«

Er lachte. »Sie bekommen vielleicht schon bald die restlichen Teile und ich werde wieder von vorn anfangen müssen. Hat Jane nicht eine interessante

Knochenstruktur? «

Nicht die Nerven verlieren. Er wollte sie mit seinem Gerede zermürben, um von ihren Emotionen zu zehren. »Machen Sie mit den Knochen, was Sie wollen.

Von Bonnie sind sie nicht. «

»Gar nicht schlecht. Man könnte fast meinen, Sie

glauben das wirklich. Fahren Sie nach Phoenix, Eve.«

»Sie Dreckskerl, warum sollte ich tun, was Sie von mir verlangen? «

»Phoenix. Das ist mein letztes Wort zu diesem Thema.

« Er legte auf.

Das letzte Wort. Wie viele letzte Worte mochte der Hundesohn in den letzten Jahren gehört haben, wie viele Schreie, wie viele Bitten um Gnade.

Ob die Frau in Phoenix um ihr Leben gefleht hatte?

»Das war er, stimmt's? «, fragte Jane aus der Dunkelheit.

Mist.

»War das der Mann, der Fay getötet hat? Warum hat er angerufen? «

»Das ist eine lange Geschichte, Jane.«

»Sie haben gesagt, dass er mich töten will. Warum?

Ich hab ihm doch nichts getan. Und Fay auch nicht.«

»Ich habe dir doch erklärt, dass er verrückt ist.« »Aber warum will er mich töten?« Janes Tonfall war

trotzig. »Erzählen Sie es mir, Eve.«

Eve zögerte. Wie viel konnte sie erklären, ohne das arme Mädchen zu Tode zu erschrecken? »Erzählen

Sie es mir.«

Okay, es war nicht länger an der Zeit, nett und be-schwichtigend zu sein. Jane musste über die Bedrohung Bescheid wissen und auch, von wem sie

ausging. Hätte Bonnie mehr über die Ungeheuer

gewusst, die draußen lauerten, wäre sie vielleicht noch am Leben.

»Also gut.« Sie schaltete das Licht ein. »Ich erzähl's dir, Jane.«

»Er hat nicht mit dem Finger geschrieben«, erklärte Spiro Joe, der neben dem Wagen am Eingang der

Gasse wartete. »Wäre ja auch zu schön gewesen. Wir haben hinter dem Karton einen Stock gefunden, ein Ende blutbeschmiert. Wahrscheinlich werden wir in dem Blut auf dem Karton Holzpartikel finden.

Außerdem untersuchen wir den Stock auf Fasern, da er sicherlich Handschuhe getragen hat. Was zum

Teufel hatte er überhaupt hier zu suchen? «

»Keine Ahnung.« Joe hielt den Blick auf die vier Beamten gerichtet, die immer noch um den Karton her-umwuselten. »Eve hat sich mir nicht anvertraut. Sie hat mir lediglich von dem Karton und dem Knochen

berichtet. «

»Der Schrecken muss ihr ja tief in den Knochen sitzen.

«

»Zweifellos.« Joe stieg wieder in den Wagen. »Wann können die Untersuchungsergebnisse vorliegen? « »In ein paar Tagen.«

»Ich wette, das Blut stammt von dem Wachmann.«

Er ließ den Wagen an. »Geben Sie mir so bald wie

möglich Bescheid. «

»Wo steckt sie, Joe?«

»Keine Ahnung.«

»Entführung ist ein schweres Delikt.«

»Ich weiß. « Er hob den Blick. »Und Sie wissen, warum sie es getan hat. «

»Das ist nicht mein Problem, das ist Sache des Gerichts. Meine Aufgabe ist es, sie zu finden.«

»Ihre Aufgabe ist es, Dom zu finden. Sie sollten wissen, wo Ihre Prioritäten liegen.«

Spiro deutete ein Lächeln an. »Ich kenne meine Prioritäten. Ich will Eve, weil sie mich am ehesten zu Dom führen kann.« Er sah Joe mit zusammengekniffenen

Augen an. » Wo ist sie, Joe? «

»Ich sagte doch bereits, dass ich es nicht weiß.«

Er hob erstaunt die Augenbrauen. »0 Gott, Sie

scheinen es wirklich nicht zu wissen.«

»Aber ich werde es herausfinden.« Er wandte den

Blick von Spiro ab und bemerkte in förmlichem Tonfall:

»Ich würde es begrüßen, wenn Sie mir jede noch so winzige Information zukommen ließen. «

»Mensch, das muss Sie hart getroffen haben. Sie sind ja völlig verzweifelt. «

»Ich muss sie finden.«

»Ich habe mich schon gewundert, dass Sie nicht versucht haben, Ihre Polizeikollegen davon abzubringen, sie zur Fahndung auszuschreiben. Sie wollen, dass sie gefunden wird, selbst wenn sie dann ins Gefängnis wandert. «

»Sie haben auch nicht versucht, die Fahndung zu

stoppen. Sie wollen auch nicht, dass sie sich irgendwo versteckt hält, wo Sie keinen Kontakt zu ihr aufnehmen können.« Spiro gab keine Antwort.

»Werden Sie mich informieren, wenn es was Neues

gibt?«

»Vielleicht.« Spiro zuckte die Achseln. »Meinetwegen.

Auch wenn ich nicht die geringste Hoffnung habe, dass Sie zu Gegenleistungen bereit sein werden. «

Joe startete den Wagen. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Wo Eve ist, ist auch Dom. Kann sein, dass ich Ihre Hilfe brauche.«

Spiro stand immer noch da, als Joe losfuhr. Im kalten Licht der Scheinwerfer wirkte er verbitterter und erschöpfter denn je. Würde er Joe wirklich Bescheid geben, sobald er eine Spur hatte, die zu Eve führte? Joe war sich da keineswegs sicher. Also vertraute er lieber nicht darauf, dass Spiro ihm alles erzählte.

Also gut, mehr konnte er hier nicht tun.

Jetzt war es an der Zeit, die Gefühle zurückzustellen und den Verstand einzuschalten.

Die Jagd konnte beginnen.

»Das ist doch Quatsch«, sagte Jane. »Ich hab

genauso wenig mit Ihnen zu tun wie Fay. « » Ich weiß.

«

»Mich nervt das. Und Sie nerven mich auch.«

Eve zuckte zusammen. Sie hätte mit dieser Reaktion rechnen müssen. »Das kann ich gut verstehen. Aber es ist nun mal eine Tatsache, dass Dom es auf dich abgesehen hat. Du musst mir helfen, dich zu

beschützen. «

»Ich muss gar nichts.«

»Also gut, du musst gar nichts. Du kannst weglaufen und vielleicht findet Dom dich nicht. Du kannst dich von der Fürsorge aufgreifen und von der Polizei beschützen lassen.« Sie ließ einen Augenblick verstreichen. »Aber du hast mir gesagt, dass du der Polizei nicht vertraust.«

Jane starrte sie an.

»Oder du kannst mit mir kommen und mithelfen, dich in Sicherheit zu bringen. «

»Ich will nirgendwo hingehen.« Sie schwieg einen

Moment. »Sie fahren nach Phoenix, stimmt's? Sie machen, was er will. «

»Ich habe keine Wahl, oder? Er muss gefasst werden, Jane. «

»Ja.« Sie lag steif wie ein Brett im Bett. »Er hat Fay getötet. Sie hat ihm nie was getan, trotzdem hat er sie umgebracht. Ich hasse ihn. Ich hasse dieses Schwein.

«

»Ich auch. Da haben wir ja schon was gemeinsam.«

»Denkt er wirklich, dass ich Ihre Tochter bin? Der muss total übergeschnappt sein.«

»Nein, aber er will, dass ich dich als meine Tochter betrachte. «

»War Bonnie mir sehr ähnlich?«

Eve schüttelte den Kopf. »Nein, sie war jünger, sanfter, verträumter. Du bist mehr so, wie ich in deinem Alter war. «

»Ich bin kein bisschen wie Sie.«

»Denk, was du willst.«

»Tu ich auch.«

»Aber ich glaube, du bist in Sicherheit, solange du bei mir bist. Er möchte, dass wir zusammen sind. Wirst du mit mir kommen, Jane? «

Sie drehte Eve den Rücken zu.

Sie durfte sie nicht drängen. Sie musste ihr Zeit lassen, darüber nachzudenken. Jane war ein intelligentes

Mädchen.

Eve schaltete das Licht aus. Ȇberleg's dir bis morgen.

«

Keine Antwort.

Was würde sie tun, wenn Jane sich weigerte, sie zu begleiten? Diese Möglichkeit machte ihr eine Höllenangst.

Denk darüber nach, wenn es so weit ist.

Du steckst den Kopf in den Sand.

Und nicht an Joe und seine unfairen Worte denken.

Sie brannten ihr in der Seele.

Joe ...

»Was soll das heißen? Sanfter?« »Wie bitte?«

» Ihre Tochter. «

»Ich habe sie sehr geliebt. Für sie sollte alles süß und sonnig sein. Erst vor kurzem habe ich gedacht, wenn ich ihr gezeigt hätte ... Ach, egal. «

»Sie meinen, Sie haben einen Fehler gemacht. So wie ich, weil ich Fay nicht alles erzählt habe.«

»Ja, das habe ich wohl gemeint.«

Erneutes Schweigen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie oft Fehler machen. «

» Einmal reicht. «

» Das stimmt. «

0 Gott. Sie sagte genau das Falsche. Jane hatte schon genug Schuldgefühle. »Der Tod von Fay hat nichts mit dir zu tun, Jane. Wenn jemand außer Dom

verantwortlich zu machen ist, dann ich. Lass mich da-für sorgen, dass dir nicht auch noch was passiert.«

Minuten vergingen.

Sie sollte einfach schlafen. Jane würde nicht antworten.

»Ich komme mit Ihnen«, sagte Jane.

Eve stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »

Gut. «

»Aber nicht, weil ich Sie mag. Ich empfinde überhaupt nichts für Sie. Mir ist egal, wenn er Sie tötet. Aber ich hasse ihn. Ich hasse ihn für das, was er Fay angetan hat. Ich hasse ihn dafür, was er mir antun will. Ich wünschte, jemand würde ihm die Kehle aufschlitzen.«

»Ich verstehe.«

Ja, sie verstand den Hass und die Hilflosigkeit, die Jane empfand, als waren es ihre eigenen Gefühle.

Als wäre Jane ihr eigenes Kind.

Sie wehrte sich auf der Stelle gegen diese Vorstellung.

Das war genau, was Dom wollte, die wachsende Ver-

bundenheit und Empathie, und sie würde ihm das nicht gönnen. Sie musste Distanz zu Jane halten. So

schwierig konnte das nicht sein, Jane war abweisend und wollte nichts mit Eve zu tun haben.

Zu Mike war sie überhaupt nicht abweisend gewesen.

Als sie ihn angelächelt hatte, hatte Eve an Bonnie denken müssen. Das gleiche strahlende und liebenswerte Lächeln ...

Verrückt.

Bonnie und Jane waren sich nicht im Mindesten ähnlich.

Gott sei Dank.

Also nicht mehr an die beiden denken. Stattdessen musste sie sich überlegen, wie sie in Phoenix Janes Sicherheit gewährleisten konnte.

Und es war an der Zeit, Dom das Heft aus der Hand zu nehmen.

Es war an der Zeit, ihn zu jagen.

Ihr Telefon klingelte erneut.

Wer zum Teufel ... ?

»Phoenix?«, fragte Mark nachdenklich. »Das ist weit weg von Atlanta. Dort ist es wahrscheinlich leichter, das Kind zu verstecken. «

Sie standen vor McDonald's und schauten hinein zu Jane, die drinnen saß und frühstückte.

»Blödsinn«, sagte Eve. »Entfernungen spielen heutzutage doch keine Rolle mehr. Dafür habt ihr Medien-leute doch gesorgt.«

»Technischer Fortschritt hat auch ein bisschen was damit zu tun.« Mark nahm einen Schluck Kaffee. »Es ist nicht ungefährlich, nach Phoenix zu gehen. « »Hier bleiben ist gefährlicher.« »Wie wollen Sie das Kind schützen? « »Ich hab da schon eine Idee.« »Aber Sie wollen mich nicht einweihen.« Sie schüttelte den Kopf.

»Und Sie wollen auch nicht, dass ich Sie nach Phoenix begleite. «

Sie schüttelte wieder den Kopf. »Bisher weiß niemand, dass Sie an der Entführung beteiligt waren. Sie haben mir schon genug geholfen.«

»Nicht ohne Grund. Ich will die Story. Das sind Sie mir schuldig. «

»Ich rufe Sie an, wenn ich nah an der Lösung bin.«

»Und ich soll Ihnen vertrauen?« »Ich werd Sie nicht hängen lassen. «

Er musterte sie. »Ich glaube Ihnen.« Er zuckte die Achseln. »Okay, ich gehe wieder an meine Arbeit.

Vielleicht stoße ich auf irgendwas, das Ihnen weiter helfen kann. Sie lassen mich wissen, wo Sie sind? «

» Ich halte Sie auf dem Laufenden. «

»Wie wollen Sie nach Phoenix kommen?«

»Ich hatte gehofft, Sie würden mir Ihren Wagen leihen.

Ich fahre nach Birmingham und lasse ihn am

Flughafen stehen. «

»Und wie wollen Sie ins Flugzeug kommen, ohne er-

kannt zu werden? Heute braucht man doch schon ei-

nen Ausweis, um aufs Klo zu gehen.«

»Das kriege ich schon hin.«

»Ich könnte Sie nach Phoenix fahren.«

» Sie haben doch schon genug getan. «

»Ich dachte einfach, ich versuch's mal.« Er betrachtete Jane. »Und sie wird Ihnen keinen Ärger machen? «

»Das habe ich nicht gesagt. Sie misstraut jedem, auch mir. Sie hat nicht mehr als zwei Sätze gesagt, seit wir heute Morgen aufgestanden sind. Aber zumindest

kann man mit ihr vernünftig reden.« Sie streckte die Hand aus. »Danke für alles, Mark.«

Er schüttelte ihr die Hand und gab ihr seine Auto-schlüssel. »Vergessen Sie nicht, Sie stehen in meiner Schuld. Ich lasse Sie jetzt vom Haken, aber ich will diese Story.«

»Die werden Sie bekommen.« Sie ging auf den Tisch zu, an dem Jane saß.

»Eve.« Sie blickte über die Schulter zurück.

Mark sah sie durchdringend an. » Sie sind verdammt zuversichtlich heute Morgen. «

Sie verzog das Gesicht. »Das täuscht.«

» Sie sind in besserer Verfassung als gestern Abend. «

»Morgens sieht alles strahlender aus.«

»Nicht unbedingt. Ich habe das Gefühl, Sie haben einen Trumpf in der Hinterhand, den Sie mir verschweigen. «

Sie winkte. »Auf Wiedersehen, Mark. Wir hören

voneinander. «

Er irrte sich. Sie war nicht im Geringsten zuversichtlich; sie war verängstigt und verwirrt. Was Mark für

Zuversicht hielt, war lediglich ein schwacher Hoff-nungsschimmer.

Aber sie würde sich daran festhalten.

Er wartete auf dem Parkplatz am Flughafen von Birmingham.

» Du bist verrückt. « Logan zog Eve eng an sich und küsste sie leidenschaftlich. »Und Joe ist ein krimineller Idiot, wenn er zulässt, dass du in solch einen Schlamassel gerätst. «

»Joe hat damit nichts zu tun.« Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn an. Es tat gut, ihn zu sehen: liebevoll, stark und vertraut. »Er weiß überhaupt nichts davon. «

»Du willst diesen Mistkerl doch nur in Schutz nehmen.«

»Lass uns nicht über Joe reden. Sie bedeutete Jane auszusteigen. »Hast du die Papiere?«

Er reichte ihr eine lederne Mappe. »Bargeld, gefälschte Geburtsurkunden, zwei Kreditkarten und ein

Führerschein. «

»Ist der ein Verbrecher?«, fragte Jane.

Logan musterte sie. »Kommt drauf an, wen du fragst. «

»Auf der Straße werden gefälschte Papiere an jeden verkauft, der sie haben will. «

»Ich verkaufe sie nicht, ich kaufe sie. Und du solltest froh sein, dass ich diese hier in so knapper Zeit besorgen konnte. «

»Jane, das ist John Logan. Er ist kein Verbrecher, er ist ein angesehener Geschäftsmann. «

»Und er ist der, der uns helfen will? «

»Ohne diese Papiere können wir keinen Flug buchen.«

»Ich habe euch ein Haus besorgt, in einem Außen-

bezirk von Phoenix. Zwei meiner besten Sicherheits-kräfte werden dort sein, um euch im Auge zu behalten.« Er nahm Eves Arm. »Also, gehen wir. «

»Wir verabschieden uns hier.« Sie blieb stehen. »Ich möchte nicht mit dir gesehen werden, Logan. «

»Wir verabschieden uns erst in Phoenix. Ich habe

veranlasst, dass ein Privatjet auf uns wartet. So gehst du kein Risiko ein, erkannt zu werden. «

»Nein.« Sie rührte sich nicht von der Stelle. »Als du heute Nacht angerufen hast, war ich einverstanden, dass du mir hilfst, aber ich will nicht, dass du mehr tust.

«

»Zu spät.« Er lächelte. »Ich liebe die Gefahr. Sieh mich nur an. «

»Ich will dich nicht ansehen. Ich will nicht, dass noch jemand in dieses Chaos hineingezogen wird. «

Sein Lächeln verschwand. »Hör mir gut zu. Ich werde mich nicht zu Hause aufs Sofa setzen, wenn du Probleme hast. Du hättest mich längst anrufen sollen, stattdessen muss ich mich aus zweiter Hand von

einem Geschäftspartner in Atlanta informieren lassen.«

»Geschäftspartner? Hast du mich beobachten lassen, Logan? «

»Ich behalte lediglich die Situation im Auge.« Er presste die Lippen zusammen. »Ich wollte wissen, was Joe anstellt, um dich hier zu behalten. «

»Joe ist mein Freund und er hat ... «

»Okay.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich bin bloß froh, dass du dich an mich wendest statt an ihn. Nur schade, dass ich ihn nicht treffen werde. Ich würde es ihm zu gern unter die Nase reiben. «

»Er hat mehr zu verlieren als du. Er ist Polizist und du

...«

»Nur irgend so ein kulturloser Geschäftsmann.« Logan schob sie zum Ausgang. »Der Geld genug hat, seine Spuren zu verwischen. Also lass dir helfen, verdammt noch mal. « Er warf Jane, die mit ihnen Schritt hielt, einen Blick zu. »Habe ich Recht, Kleine?«

Sie musterte ihn. »Ja. Lassen Sie ihn machen, Eve.«

Er wirkte ein wenig überrascht. »Ziemlich cool, die Kleine. «

»Ich will dich nicht ausnutzen«, erwiderte Eve.

»Warum nicht?«, fragte Jane. »Er will es doch. Vielleicht brauchen wir ihn ja.«

»Ein Kind mit klarem Verstand.« Er neigte den Kopf.

»Willst du nicht an meinem Ausbildungsprogramm für Führungskräfte teilnehmen? Ich habe eine Menge

Mitarbeiter, die ... «

»Wollen Sie mir Honig ums Maul schmieren? « Jane

warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Er will ausgenutzt werden, Eve.«

»Das Kind scheint keine sehr hohe Meinung von mir zu haben«, murmelte er. »Ich will ausgenutzt werden, Eve. «

»Also gut, bring uns nach Phoenix«, sagte Eve. »Und danach hältst du dich von uns fern, Logan.« »Darüber reden wir in Phoenix.«