Kapitel 6

Dom ließ Eve achtundvierzig Stunden warten, bevor er wieder anrief.

»Hat Ihnen mein Geschenk gefallen?«, fragte er. »Ich fand es fürchterlich. Das haben Sie doch gewusst. «

»Aber wie können Sie Ihr eigenes Fleisch und Blut fürchterlich finden? Oh, ist mir nur so rausgerutscht.

Kein Fleisch, kein Blut, bloß Knochen.«

»Wer ist sie? «

»Hab ich Ihnen doch gesagt, es ist Ihre Bonnie.«

»Nein, Sie wissen genau, wen ich meine. Wer ist diese Jane? «

»Nun, sie könnte ebenfalls Ihre Bonnie sein. Haben Sie über die Möglichkeit von ... « »Wie ist ihr

Familienname?«

»Sie ist zwar nicht so hübsch, aber sie hat die gleichen roten Haare. Leider hat sie diesmal ein härteres Leben als damals, als sie noch Ihre Bonnie war. Vier

Pflegefamilien.« Er kicherte. »Sehr traurig.«

»Wo ist sie?«

» Sie würden den Ort wiedererkennen. «

Plötzlich lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Ein Grab? »Ist sie am Leben?«

»Natürlich.«

»Haben Sie sie in Ihrer Gewalt?«

»Nein, bisher beobachte ich sie lediglich. Ich finde sie äußerst interessant. Sie wird Ihnen auch gefallen.«

»Sagen Sie mir ihren Nachnamen. Verdammt, Sie

wollen doch, dass ich es weiß. «

»Aber Sie müssen es sich verdienen. Das gehört zum Spiel. Versuchen Sie nicht, die Polizei einzuschalten, das würde mich sehr unglücklich machen. Ihr Mutter-instinkt wird Sie zu der kleinen Jane führen, da bin ich ganz sicher. Suchen Sie sie, Eve. Bevor ich

ungeduldig werde. « Er legte auf.

Sie schaltete ihr Handy ab.

»Kein Glück gehabt?«, fragte Joe.

Sie stand auf. »Wir fahren nach Atlanta.«

»Wieso das denn? «

»Er sagte, ich würde den Ort, an dem ich sie finden kann, wiedererkennen. Ich kenne Atlanta besser als jeden anderen Ort. Hast du Kontakte zur Familienfürsorge?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wer sonst könnte uns weiterhelfen? Er hat gesagt, sie sei in vier verschiedenen Pflegefamilien gewesen.

Darüber muss es doch Unterlagen geben.«

»Wir können es bei Mark Grunard versuchen. Er kriegt alles raus, was er wissen will, und er hat überall Kontakte. «

»Rufst du ihn an?«

»Wir können uns an die Kriminalpolizei von Atlanta wenden. Nachdem der kleine Devon identifiziert ist, haben sie keine andere Wahl, sie müssen uns helfen.

«

»Er will nicht, dass ich die Polizei einschalte. Er will, dass ich sie suche. Das Ganze ist ein Spiel für ihn. «

»Würdest du hier bleiben, während ich losfahre und nach ihr suche?«

»Ich habe dir doch gesagt, was er will. Er will, dass ich sie suche. Ich muss es tun. «

»Dann gib dem Dreckskerl eben nicht, was er will.«

»Und wenn er sie mir dann in einer Kiste herschickt?«, fragte sie aufgebracht. »Das Risiko kann ich nicht eingehen. Ich muss sie finden, und zwar möglichst schnell. «

»Okay, aber ich komme mit.« Er langte nach dem

Telefon. »Pack eine Zahnbürste und das Nötigste ein.

Ich rufe inzwischen Mark an und sage ihm, was wir brauchen. Er kann sich dann schon an die Arbeit

machen. «

»Verabrede ein Treffen mit ihm. Dom muss sehen,

dass ich etwas unternehme, um sie zu finden. Garantiert beobachtet er mich. «

»Kein Problem. Ich hatte Mark ohnehin versprochen, dass er dich möglichst bald treffen kann.«.

Joes Apartment lag in einem luxuriösen Hochhaus gegenüber des Piedmont Park. Er lenkte den Wagen in die gesicherte Tiefgarage, dann fuhren sie mit dem Aufzug in den siebten Stock.

»Wird auch langsam Zeit, Joe. Ich warte hier schon fast eine Stunde.« Mark Grunard grinste. »Ihnen ist wohl nicht klar, dass ich in dieser Stadt ein wichtiger Mann bin.« Er streckte Eve die Hand hin. »Freut mich, Sie wieder zu sehen, Miss Duncan. Auch wenn die

Umstände unerfreulich sind.«

»Ganz meinerseits.« Sie schüttelte ihm die Hand. Er sah noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte

- groß, sportlich, ein charmantes Lächeln auf den Lippen. Er war vielleicht Anfang fünfzig und hatte ein paar Lachfältchen mehr um die blauen Augen als vor einigen Jahren. »Ich bin froh, dass Sie uns helfen wollen. «

»Ich müsste dumm sein, wenn ich es nicht täte. Das ist eine Riesengeschichte. Man kriegt nicht oft die Gelegenheit zu einem Exklusivinterview, das einem vielleicht einen Journalistenpreis einbringt. «

»Was ist mit Ihren Kollegen?«, fragte Joe. »Sind wir vor denen sicher?«

»Ich denke schon. Ich habe in den Nachrichten gestern Abend eine falsche Fährte nach Daytona Beach

gelegt. Man muss sich schon was einfallen lassen.« Er runzelte die Stirn. »Ich habe mich mit unserem Problem an Barbara Eisley gewandt, die Leiterin der Familienfürsorge. Es wird nicht einfach sein, die Akten sind allesamt vertraulich.«

Verdammte Bürokratie, dachte Eve frustriert. Das

Leben eines Kindes war in Gefahr und sie mussten

sich mit elenden Verfahrensregeln herumschlagen.

»Kann man sie nicht überreden?«

»Barbara Eisley ist eine harte Nuss, sie würde eine fantastische Polizeiausbilderin abgeben. Können Sie nicht einen richterlichen Beschluss erwirken? «

Joe schüttelte den Kopf. »Der offizielle Weg kommt nicht in Frage. Eve befürchtet, dass Dom sich dann das Mädchen schnappt. «

»Barbara Eisley muss uns helfen«, sagte Eve.

»Ich habe gesagt, es wird nicht einfach, ich sagte nicht, es ist unmöglich«, erwiderte Grunard. »Müssen wir halt unseren Charme spielen lassen. «

»Kann ich mit Miss Eisley sprechen? «

Grunard nickte. »Ich dachte mir schon, dass Sie das wollen. Wir gehen heute Abend mit ihr essen.« Er hob abwehrend die Hände, als Joe den Mund aufmachte,

um zu protestieren. »Ich weiß, Eve kann sich nirgendwo blicken lassen, wo sie erkannt werden könnte. Ein Freund von mir besitzt ein italienisches Restaurant auf der Chattahoochee Street ein Stück außerhalb der

Stadt. Da gibt's gute Pasta und wir sind völlig unge-stört. Okay? «

»Okay.« Joe schloss die Apartmenttür auf. »Holen Sie uns um sechs Uhr im Park gegenüber ab. « »Ich werde dort sein.«

Eve sah Grunard nach, wie er zum Aufzug ging, dann folgte sie Joe in die Wohnung. »Er wirkt ...«, sie suchte nach dem passenden Wort, »vertrauenswürdig auf

mich. «

»Deshalb ist er auch so beliebt.« Er verschloss die Tür.

Eve ließ den Blick durch das Apartment schweifen.

»Meine Güte, du hast dir aber nicht besonders viel Mühe gegeben. Sieht ja aus wie ein Hotelzimmer.«

Er zuckte die Achseln. »Ich sagte doch, dass ich mich hier nur zum Schlafen aufhalte.« Er ging in die Küche.

»Ich mache uns Kaffee und Sandwiches. Ich glaube

kaum, dass wir bei diesem Treffen mit Barbara Eisley groß zum Essen kommen werden.«

Sie folgte ihm in die Küche. Sie bezweifelte zwar, dass sie einen Bissen herunterbekommen würde, aber sie musste etwas essen. Sie würde viel Kraft brauchen.

»Ich glaube, ich bin Miss Eisley schon einmal

begegnet. «

»Wann war das?«

»Vor vielen Jahren. Als ich noch ein Kind war. Es gab da eine Sozialarbeiterin ... « Sie schüttelte den Kopf.

»Vielleicht irre ich mich auch.«

»Erinnerst du dich nicht mehr?«

»Ich habe eine Menge Dinge aus jener Zeit verdrängt.«

Sie verzog das Gesicht. »Es war nicht gerade ein

angenehmer Lebensabschnitt. Mom und ich sind

dauernd umgezogen und jeden Monat drohte die Für-

sorge, mich meiner Mutter wegzunehmen und in eine Pflegefamilie zu stecken, wenn sie nicht endlich vom Crack loskam.« Sie öffnete die Kühlschranktür. »Puh, das ist ja alles vergammelt.«

»Dann mache ich einen Toast.«

»Wenn das Brot mal nicht verschimmelt ist.«

»Sei nicht so pessimistisch.« Er öffnete die Brotkiste.

»Nur ein bisschen pappig.« Er steckte zwei Scheiben in den Toaster. »Wenn man bedenkt, was du als Kind mitgemacht hast, wärst du in einer Pflegefamilie vielleicht besser aufgehoben gewesen.«

»Vielleicht. Aber ich wollte nicht weg. Es gab Zeiten, da habe ich Mom gehasst, aber sie war meine Mutter.

Ein Kind findet die eigene Familie immer besser als irgendwelche Fremden.« Sie holte die Butter aus dem Kühlschrank. »Deshalb ist es auch so schwierig, misshandelte Kinder aus ihren Familien herauszuholen. Sie haben immer die Hoffnung, dass alles wieder gut wird.

«

»Nur ist das leider nicht oft der Fall.«

»Bei der kleinen Jane anscheinend auch nicht. Sie ist schon bei der vierten Pflegefamilie. « Sie trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. » Du machst dir keine Vorstellung, wie hart es da draußen ist für ein Kind. «

»0 doch. Ich bin Polizist. Ich erlebe es ständig.«

»Aber du bist nicht auf der Straße aufgewachsen. «

Sie lächelte ihn über die Schulter an. »Reicher

Schnösel. «

»Mal nicht so hochnäsig. Ich kann schließlich nichts dafür. Ich habe alles versucht, damit meine Eltern mich verstoßen, aber sie wollten einfach nicht. Stattdessen haben sie mich nach Harvard geschickt.« Er stöpselte die Kaffeemaschine ein. »Hätte schlimmer kommen

können, zuerst wollten sie mich nach Oxford

schicken.«

»Hartes Brot. « Sie sah wieder aus dem Fenster. »Du sprichst nie über deine Eltern. Sie sind gestorben, als du im College warst, stimmt's? «

Er nickte. »Ein Bootsunglück vor der Küste von

Newport. «

»Warum willst du nicht über sie sprechen?«

»Da gibt's nicht viel zu sagen.«

Sie wandte sich ihm zu. »Verdammt, Joe, du bist doch auch nicht als Erwachsener in Atlanta vom Himmel

gefallen. Wie oft wollte ich schon mit dir über deine Familie sprechen und über deine Kindheit. Warum

weichst du immer aus? «

»Weil es nicht wichtig ist.«

»Es ist ebenso wichtig wie meine Kindheit.«

Er lächelte. »Nicht für mich.«

»Du machst aber nur fünfzig Prozent dieser Freundschaft aus. Und du weißt alles über mich. Hör endlich auf, mich auszuschließen.«

»Ich halte nichts von dieser Wühlerei in der Vergangenheit. «

»Wie zum Teufel soll ich dich wirklich kennen lernen, wenn du nicht mit mir redest? «

»Sei nicht albern. Du kennst mich.« Er lachte in sich hinein. »Himmel, wir sind seit mehr als zehn Jahren eng befreundet. «

Er wich schon wieder aus. »Joe.«

Er zuckte die Achseln. »Okay, du willst also etwas über meine Eltern erfahren. Ich habe sie nicht besonders gut gekannt. Sie haben aufgehört, sich für mich zu interessieren, als ich aufhörte, ein niedlicher kleiner Junge zu sein.« Er holte Tassen aus dem Küchen-schrank. »Ich kann es ihnen nicht vorwerfen, ich war kein einfaches Kind. Zu fordernd.«

»Du und fordernd? Kann ich mir gar nicht vorstellen.

Ich dachte eher, du bist dir selbst genug.«

» Stell es dir vor, nimm es hin. « Er goss Kaffee in die Tassen. »Ich fordere immer noch verdammt viel. Ich habe allerdings gelernt, es geschickt zu verpacken.

Setz dich und iss deinen Toast.«

»Von mir forderst du nie etwas.«

»Ich fordere deine Freundschaft. Ich fordere deine Gesellschaft. Vor allen Dingen fordere ich, dass du am Leben bleibst. «

»Das sind ja wohl die selbstlosesten Forderungen, die ich je vernommen habe.«

»Da irrst du dich gewaltig. Ich bin wahrscheinlich der selbstsüchtigste Mensch, der dir je begegnet ist.«

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Völliger Blödsinn. «

»Freut mich, dass ich dich so täuschen konnte. Aber irgendwann wirst du herausfinden, dass ich dich die ganzen Jahre hinters Licht geführt habe. Ihr Slumkids solltet uns reichen Schnöseln niemals über den Weg trauen. «

»Und schon hast du das Gespräch wieder auf mich

gelenkt. Warum tust du das? «

»Ich finde mich langweilig.« Er gähnte. »Falls du es bisher noch nicht bemerkt haben solltest, ich bin ein ziemlich öder Zeitgenosse.«

»Ach, hör doch auf.«

»Nun gut, ich muss zugeben, dass ich geistreich und ausgesprochen intelligent bin, aber meine Vergangenheit ist reichlich-banal.« Er setzte sich Eve gegenüber.

»Also, was ist mit Barbara Eisley? Woran erinnerst du dich? «

Sturer Hund, er hatte ihr gerade genug erzählt, um sie abzuspeisen. Wie so oft gab sie es auf. »Wie gesagt, ich bin nicht sicher, ob ich sie kenne. Ich habe damals so viele Sozialarbeiterinnen kennen gelernt und sie blieben nie lange in ihrem Job. Kann man ihnen nicht verübeln, Techwood war nicht das sicherste Viertel. «

»Denk nach.«

»Tyrann.« Also gut, sie musste ihr selbst auferlegtes Denkverbot über diese verdammte Gegend, in der sie aufgewachsen war, aufheben. Sie ließ die Erinnerung zurückkommen. Dreck. Hunger. Ratten. Der Gestank

von Angst und Sex und Drogen. »Ich habe da eine Sozialarbeiterin vor Augen, das könnte sie sein. Sie war Ende dreißig damals, für mich war sie schon alt. Sie kam zu den Häusern in der Market Street. Ich glaube, da war ich neun oder zehn ... «

»War sie verständnisvoll? «

»Ich glaube schon. Wahrscheinlich. Ich war viel zu aufsässig, als dass ich es hätte beurteilen können. Ich war wütend auf meine Mutter und auf die ganze Welt.

«

»Dann wird es dir vielleicht schwer fallen, heute Abend eine Beziehung zu ihr aufzubauen.«

»Ich muss keine Beziehung zu ihr aufbauen. Ich muss sie nur davon überzeugen, dass sie diese Akten öffnen und uns helfen muss, dieses Kind zu finden. Wir haben keine Zeit.«

»Nicht aufregen.« Er legte seine Hände auf ihre. »So oder so, wir werden die Unterlagen heute Abend bekommen. «

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Und wenn sie sich weigert, wirst du ein kleines Watergate im Büro der Fürsorge inszenieren, hab ich Recht? «

» Schon möglich. «

Er meinte es ernst. Ihr Lächeln schwand. »Nein, Joe, ich will nicht, dass du in Schwierigkeiten gerätst.«

»Na hör mal, ein guter Einbrecher lässt sich nicht schnappen. Und wer nicht geschnappt wird, gerät nicht in Schwierigkeiten. «

»Klingt ganz simpel.«

»Ist es. Und das Leben eines Kindes ist allemal ein kleines Risiko wert. Außerdem musst du sie nur überzeugen, dann brauch ich nicht zum Einbrecher zu werden. Vielleicht ist Barbara Eisley gar nicht so knallhart, wie Mark behauptet. Vielleicht ist sie ein ganz zahmes Kätzchen. «

»Verdammt, nein«, sagte Barbara Eisley. »Ich werde niemandem Einsicht in diese Unterlagen gewähren.

Nächstes Jahr gehe ich in Pension und ich werde keinerlei Risiko eingehen. «

Barbara Eisley war eindeutig kein zahmes Kätzchen, dachte Eve entmutigt. Schon vom ersten Augenblick an, als Grunard alle miteinander bekannt gemacht

hatte, hatte sie jedes Gespräch über die Akten

vermieden. Als Joe sie schließlich nach dem Dessert festnageln wollte, reagierte sie mit der Wucht eines Dampfhammers.

»Hören Sie, Barbara«, lächelte Grunard sie an, »niemand wird Ihnen wegen eines kleinen Verstoßes die Pension entreißen, zumal das Leben eines Kindes auf dem Spiel steht. Ohnehin sind Sie schon viel zu lange in dieser Abteilung. «

»Quatsch. Für den Geschmack des Bürgermeisters

und des Stadtrats bin ich nicht diplomatisch genug. Die warten nur auf einen Anlass, mich rauszuwerfen. Ich habe mich nur so lange auf dem Platz gehalten, weil ich weiß, wo so manche politische Leiche vergraben ist.« Sie sah Mark vorwurfsvoll an. »Und Sie haben mich vor zwei Jahren in diesem Fall von Kindes-misshandlung zitiert. In Ihrem Bericht stand meine Abteilung als ziemlich schlampig da.«

»Immerhin bat es zu wichtigen Reformen geführt. Und das wollten Sie doch erreichen.«

»Ich habe mir gewaltig die Finger verbrannt bei der Sache. Ich hätte den Mund halten sollen. Solche Risiken gehe ich nicht mehr ein. Alles nur noch streng nach Vorschrift. Wenn ich Ihnen heute bei dieser Geschichte helfe, finden die morgen einen Weg, es gegen mich zu verwenden. Ich werde nichts tun, was meine Pension in Gefahr bringt. Ich habe zu viele alte Leute in Sozialwohnungen gesehen, die ums Überleben

kämpfen. Mir wird es nicht so ergehen.«

»Warum haben Sie Marks Einladung dann überhaupt

angenommen? «, fragte Joe.

»Abendessen umsonst.« Sie zuckte die Achseln.

»Außerdem war ich neugierig.« Sie wandte sich Eve zu. »Ich habe über Sie gelesen, aber die Zeitungen produzieren viel heiße Luft. Ich wollte mir selbst ein Bild davon machen, was aus Ihnen geworden ist.

Erinnern Sie sich an mich? «

»Ich glaube schon. Aber Sie haben sich sehr ver-

ändert. «

» Sie auch. « Sie musterte Eves Gesicht. » Sie waren ein zähes kleines Mädchen. Ich erinnere mich noch daran, wie ich einmal mit Ihnen reden wollte und Sie mich nur angestarrt haben. Ich war sicher, mit vierzehn würden Sie auf den Strich gehen oder mit Rauschgift handeln. Ich hätte Ihnen gern noch eine Chance

gegeben, aber ich hatte zu viele Fälle.« Müde fügte sie hinzu: »Es sind immer zu viele Fälle. Zu viele Kinder.

Und meistens sind wir machtlos. Wir nehmen sie den Eltern weg und die Gerichte geben sie ihnen prompt wieder zurück. «

»Aber Sie geben sich Mühe.«

»Weil ich so dumm bin, dass ich die Hoffnung nicht aufgebe. Man sollte meinen, nach all diesen Jahren hätte ich dazugelernt, stimmt's? Aus Ihnen ist etwas geworden, aber damit hatte ich nichts zu tun. «

»Für manche Kinder spielen Sie gewiss eine wichtige Rolle. «

»Kann schon sein.«

»Jetzt können Sie wirklich etwas bewirken. Sie können ein kleines Mädchen retten.«

»Besorgen Sie mir einen Gerichtsbeschluss. Wenn es so wichtig ist, dürfte das ja kein Problem sein.«

»Das geht nicht. Ich habe Ihnen doch erklärt, dass ich den Amtsweg nicht beschreiten kann. «

Barbara Eisley schwieg.

»Also gut, Sie wollen uns die Unterlagen nicht geben, aber vielleicht erinnern Sie sich an das Kind«, sagte Joe.

Ein unbestimmbarer Ausdruck huschte über ihr Ge-

sicht. »Ich bin nicht mehr in der Sozialarbeit. Ich bin nur noch mit Papierkram beschäftigt.«

Eve beugte sich vor. »Aber Sie wissen irgendetwas.«

Eisley schwieg einen Augenblick. »Vor zwei Jahren musste ich mein Einverständnis geben, ein Mädchen aus einer Pflegefamilie herauszunehmen. Ihre Pflege-eltern behaupteten, sie sei gewalttätig und ungehorsam. Ich ließ das Mädchen kommen, um sie zu befragen. Sie sprach nicht mit mir, aber sie war übersät mit blauen Flecken. Ich sah mir den ärztlichen Untersuchungsbericht an und stellte fest, dass sie im Jahr zuvor zweimal mit Knochenbrüchen ins Grady Hospital eingeliefert worden war. Ich gab meine Zustimmung, dass man sie aus der Familie herausnahm. Außerdem strich ich die Leute von unserer Pflegeliste. « Sie lächelte. »Ich weiß noch, dass ich sie für ein ziemlich mutiges Mädchen gehalten habe. Sie hatte diesen

Leuten mächtig die Hölle heiß gemacht.«

»Wie heißt sie?«

Sie überhörte Eves Frage. »Sie war ein cleveres

Mädchen. Hoher IQ und gut in der Schule. Sie hatte sich ausgerechnet, dass die Familie sie als Einnahme-quelle aufgeben würde, wenn sie nur genügend Ärger machte. «

»Sie haben sie zu einer anderen Familie gegeben?«

»Wir hatten keine andere Wahl. Die wenigsten Pfle-geeltern misshandeln die Kinder, aber manchmal machen wir natürlich auch Fehler. Wir versuchen unser Bestes. «

» Sagen Sie mir ihren Namen. «

Eisley schüttelte den Kopf. »Nicht ohne Gerichts-

beschluss. Was ist, wenn ich mich irre?«

»Und was ist, wenn Sie richtig liegen? Er könnte sie umbringen, verdammt noch mal. «

»Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, Kin-

dern zu helfen. Jetzt muss ich an mich selbst denken.

«

» Bitte. «

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe viel gearbeitet. Ich arbeite immer noch viel. Sie glauben wahrscheinlich, in meiner Position bräuchte man keine Arbeit mit nach Hause zu nehmen.« Sie deutete mit dem Kopf auf ihre Aktentasche, die neben dem Stuhl stand. »Aber ich muss noch einige alte Akten durchsehen, die auf

Diskette gespeichert sind. Deshalb muss ich jetzt auch gehen. «

Eve schöpfte Hoffnung. »Das ist sehr bedauerlich.«

»So ist das Leben.« Sie erhob sich. »Es war ein interessanter Abend. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte.« Sie lächelte. »Ich gehe noch schnell auf die Toilette. Wahrscheinlich werden Sie schon gegangen sein, wenn ich zurückkomme. Ich hoffe, Sie finden das Mädchen.« Ihr Blick blieb auf Eve haften. »Mir fällt gerade ein, das Mädchen hat mich an Sie erinnert. Sie starrte mich mit diesen großen Augen an und ich

dachte, sie würde jeden Moment auf mich losgehen.

Dieselbe zähe kleine ... Stimmt was nicht? «

Eve schüttelte den Kopf.

Barbara Eisley wandte sich an Mark. »Danke für die Einladung. Trotzdem habe ich Ihnen nicht verziehen, dass Sie mich in dieser Geschichte zitiert haben.« Sie drehte sich um und ging zwischen den Tischen hindurch zu den Toiletten.

»Gott sei Dank.« Eve langte nach der Aktentasche. Sie war unverschlossen und in der Seitentasche steckte nur eine Diskette. Sie hätte Barbara Eisley küssen können. Schnell steckte sie die Diskette in ihre Handtasche. »Sie will, dass wir sie nehmen.«

»Du meinst, sie stehlen«, murmelte Joe und warf einige Dollarnoten auf den Tisch.

»Damit ist sie jedenfalls aus dem Schneider.« Eve drehte sich zu Mark um. »Haben Sie einen Laptop

dabei? «

»Im Kofferraum. Ich habe ihn immer bei mir. Wir

können uns den Inhalt der Diskette gleich auf dem Parkplatz ansehen. «

»Gut. Sie müssen morgen früh in Barbara Eisleys Büro fahren und die Diskette auf ihrem Schreibtisch deponieren. Ich möchte nicht, dass sie Ärger bekommt. «

Sie stand auf. »Gehen wir. Wir müssen weg sein,

bevor sie zurückkommt. Vielleicht ändert sie doch noch ihre Meinung.«

»Unwahrscheinlich«, sagte Joe. »Es war nicht zu

überhören, dass du sie als Kind ziemlich beeindruckt hast. «

» Oder Jane. « Sie ging zur Tür. » Oder vielleicht ist sie einfach eine Frau, die in einer falschen Welt das Richtige zu tun versucht. «

Auf der Diskette befanden sich siebenundzwanzig Berichte. Mark benötigte zwanzig Minuten, um die ersten sechzehn zu überfliegen.

»Jane MacGuire«, las er vor. »Das Alter stimmt. Vier Pflegefamilien. Die Beschreibung passt. Rote Haare, braune Augen.«

»Können Sie es ausdrucken?«

Mark schloss einen kleinen Kodak-Drucker am Laptop an. »Sie wohnt zurzeit bei einer Fay Sugarton, die noch zwei weitere Kinder in Pflege hat. Chang Ito, zwölf Jahre alt, und Raoul Jones, dreizehn.«

»Die Adresse?«

»Luther Street 1248.« Er reichte Eve den Ausdruck.

»Brauchen Sie einen Stadtplan?«

Eve schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wo das ist.« Wie Dom gesagt hatte, sie würde den Ort wiedererkennen.

»Das ist mein altes Viertel. Also los.«

»Willst du heute Abend noch hinfahren?«, fragte Joe.

»Es ist fast Mitternacht. Diese Fay Sugarton wird nicht erfreut sein, wenn sie von wildfremden Leuten aus dem Bett geklingelt wird. «

»Mir ist es egal, ob sie erfreut ist. Ich möchte nicht ... «

»Und was willst du ihr sagen?«

»Was meinst du wohl? Ich werde ihr von Dom erzählen und sie bitten, Jane in unsere Obhut zu übergeben, bis die Gefahr vorüber ist.«

»Das wird einige Überredungskünste erfordern, wenn sie nur halbwegs an dem Kind hängt. «

»Dann musst du mir eben dabei helfen. Wir können sie nicht an einem Ort lassen, wo ... «

»Wir sind darauf angewiesen, dass Fay Sugarton mit uns zusammenarbeitet«, sagte Joe ruhig. »Du darfst sie nicht auf dem falschen Fuß erwischen.«

Also gut, sie musste nachdenken. Dom hatte sie auf diese Fährte geführt, weil er wollte, dass sie Kontakt zu Jane MacGuire aufnahm. Wahrscheinlich würde er sich ruhig verhalten, bis sie ...

Wahrscheinlich? Herrgott, wollte sie aufgrund von Wahrscheinlichkeiten das Leben eines Kindes riskieren? Vielleicht war er in diesem Augenblick in dem Haus in der Luther Street. »Ich will heute Nacht noch hin.«

»Es wäre besser ...«, setzte Mark an.

Sie schnitt ihm das Wort ab. »Ich will mich nur vergewissern, dass dort alles in Ordnung ist. Ich werde nicht hineingehen und alle aus dem Bett werfen. «

Mark zuckte die Achseln und ließ den Motor an. »Wie Sie wollen.«

Das Haus in der Luther Street war klein, die graue Farbe auf den Verandastufen blätterte ab, doch ansonsten wirkte das Haus sauber und gepflegt. Fröhliche Plas-tikpflanzen in Übertöpfen zierten die Veranda.

»Zufrieden?«, fragte Mark.

Die Straße war menschenleer. Keine Autos, nichts

regte sich. Eve war nicht zufrieden, aber etwas beruhigt. »Ich denke schon.«

»Gut. Dann bringe ich Sie beide jetzt zu Joes Apartment und komme wieder her, um das Haus zu beob-

achten. «

»Nein. Ich werde hier bleiben. «

»Das habe ich mir schon gedacht.« Joe holte sein

Handy hervor. »Ich werde einen Polizisten in Zivil anfordern, der heute Nacht hier Wache schiebt. Sobald der Mann irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt, soll er ins Haus gehen. Okay? «

»Ich werde auch hier bleiben«, sagte Mark.

Unentschlossen blickte sie von einem zum anderen.

Dann öffnete sie die Wagentür. »Also gut. Wenn Sie irgendetwas sehen oder hören, rufen Sie uns an. «

»Wollen Sie zu Fuß gehen? Ich kann Sie doch nach

Hause fahren.«

»Wir nehmen ein Taxi. «

»In dieser Gegend?«

»Dann laufen wir eben so lange, bis wir eins finden. Ich möchte nicht, dass Sie sich von hier fortbewegen.«

Mark warf Joe einen Blick zu. »Könnten Sie ihr bitte klar machen, dass sie in diesem Viertel nicht herum-spazieren kann? Es ist zu gefährlich.«

»Jane MacGuire läuft jeden Tag in diesem Viertel

herum«, wies Eve ihn zurecht. »Sie hat überlebt.« Genau wie auch Eve überlebt hatte. Gott, die alten Er-innerungen kamen wieder in ihr hoch.

»Der Wagen wird in fünf Minuten hier sein.« Joe und Eve stiegen aus dem Wagen. »Keine Sorge, ich pass auf sie auf«, sagte er zu Mark. »Oder vielleicht muss sie auf mich aufpassen. Das hier ist ihr Revier. «

»Morgen früh um acht sind wir wieder hier.« Sie

machte sich auf den Weg. Nichts hatte sich verändert.

Immer noch wuchs Gras in den Ritzen des Gehwegs

und auf das Pflaster waren obszöne Parolen gemalt.

»Und wie kommen wir zurück in die Zivilisation?«, fragte Joe.

»Das hier ist die Zivilisation, reicher Schnösel«, gab Eve zurück. »Die Wilden hausen vier Blocks weiter südlich. Du wirst bemerken, dass wir nach Norden

gehen. «

»Und wo hast du gewohnt? «

»Im Süden. Du bist doch Polizist, die Gegend müsste dir vertraut sein. «

»Aber nicht zu Fuß. In diesem Viertel wird auf Polizisten geschossen, wenn die sich nicht gerade

gegenseitig umlegen. «

»>Die<. Die Ominösen >die<. Wir sind nicht alles Kriminelle hier. Wir wollen leben und überleben wie jeder andere auch. Warum zum Teufel ... «

»Halt die Luft an. Du weißt verdammt gut, wovon ich rede. Warum gehst du so auf mich los?«

Er hatte Recht. »Tut mir Leid. Vergiss es.«

»Ich denke nicht, dass wir es einfach vergessen sollten. Du redest, als würdest du immer noch in der Luther Street wohnen.«

»Ich hatte nie das Glück, in der Luther Street zu wohnen. Ich habe dir doch gesagt, das hier ist die bessere Gegend. «

»Du weißt, was ich meine.«

Sie wusste es. »Ich bin nicht mehr hier gewesen, seit wir nach Bonnies Geburt weggezogen sind. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so reagieren würde.«

» Wie denn? «

»Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt.« Sie lächelte reumütig. »Ich glaubte mich zur Wehr setzen zu müssen.«

»Genauso hat Barbara Eisley Jane MacGuire be-

schrieben.«

»Sie wird ihre Gründe haben, dass sie diejenige sein will, die zuerst zuschlägt. «

»Ich bezweifle nicht, dass sie ihre Gründe hat. Aber ich denke, du solltest dir klar machen, was es für dich bedeutet, wieder hier zu sein. Du gegen den Rest der Welt.« Bedächtig setzte er hinzu: »Oder vielleicht du und Jane MacGuire gegen den Rest der Welt.«

»Unsinn. Ich kenne das Kind nicht einmal. «

»Vielleicht solltest du sie auch gar nicht kennen lernen.

Ich denke, ich sollte morgen früh allein zu ihr gehen. «

Sie schaute ihn an. »Wovon redest du?«

»Was glaubst du, warum Dom ein Mädchen aus die-

sem Viertel gewählt hat? Warum holt er dich hierher zurück? Denk darüber nach. «

Sie ging eine Weile schweigend neben ihm her. »Er möchte, dass ich mich mit ihr identifiziere«, flüsterte sie. Um Himmels willen, sie tat es bereits. Sie war durch dieselben Straßen gegangen, hatte wie Jane

Verlassenheit und Elend gekannt und gegen

Einsamkeit und Schmerz angekämpft. »Er treibt sein Spiel mit mir. Zuerst erzählt er mir was von

Wiedergeburt und dann wählt er Jane MacGuire aus.

Es reicht ihm nicht, ein Kind zu töten und mir die Schuld in die Schuhe zu schieben. Er möchte, dass ich mich emotional an sie binde. «

» So sehe ich es auch. «

Dieser Scheißkerl. »Ich soll leiden, als würde ich meine Tochter noch einmal verlieren.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Er will Bonnie noch einmal töten.«

»Und deshalb solltest du dich von Jane MacGuire

fern halten. Du entwickelst schon jetzt eine Beziehung zu ihr, ohne sie überhaupt zu kennen. «

» Ich kann meine Distanz wahren.«

»Natürlich.«

» So schwer wird es nicht sein, schon gar nicht, wenn sie so ist, wie ich in dem Alter war. Ich war nicht gerade zugänglich. «

»Ich hätte einen Zugang zu dir gesucht.«

»Und ich hätte dir ins Gesicht gespuckt.«

»Du solltest sie nicht kennen lernen.« »Ich

muss.«

»Ich weiß«, erwiderte Joe grimmig. »Er hat dir keinen Ausweg gelassen. «

Keinen Ausweg.

Natürlich gab es einen Ausweg. Sie hatte einen Weg aus diesem Viertel gefunden. Sie hatte einen Weg gefunden weiterzuleben, nachdem Bonnie ermordet worden war. Sie würde sich von diesem Kerl nicht in die Falle locken lassen. Joe irrte sich. Sie liebte Kinder, aber sie war kein sentimentales Seelchen. Sie war in der Lage, Jane MacGuire des Leben zu retten und dieses Ungeheuer zu besiegen. Sie musste lediglich zu diesem kleinen Mädchen, das sie nicht einmal kannte, Distanz wahren.

Aber Dom würde keine Distanz zu Jane wahren. Sein Schatten lag bereits bedrohlich über ihr.

Sie durfte nicht darüber nachdenken. Am nächsten

Tag würden sie und Joe mit Fay Sugarton sprechen.

Bis dahin wurde Jane MacGuire bewacht und schlief friedlich.

Das kleine Mädchen würde heute Nacht in Sicherheit sein.

Hoffentlich.

»Ich hab dich gesucht, Mike. Du solltest doch in die Gasse hinter der Mission gehen.« Jane setzte sich ne ben den Pappkarton. »Hier ist es nicht gut.«

»Mir gefällt's«, erwiderte Mike. »Wo

Leute sind, ist es sicherer.«

»Hier bin ich aber nicht so weit weg von zu Hause.«

Mike griff begierig nach der Papiertüte, die sie ihm hinhielt. »Hamburger?«

»Spagetti. «

»Hamburger mag ich lieber.«

»Ich muss nehmen, was ich kriege.« Was sie stehlen konnte, genau genommen. Aber richtig stehlen war es nun auch wieder nicht. Der Besitzer vom Cusanelli's gab die Essensreste an »Essen auf Rädern« oder an die Heilsarmee, statt sie wegzuwerfen. »Nun iss schon und dann geh zur Mission. «

Hastig schlang er die Spagetti hinunter. »Warum bist du so spät gekommen? «

»Ich musste warten, bis das Restaurant zumacht.« Sie stand auf. »Ich muss nach Hause. «

»Jetzt schon?« Er war enttäuscht.

»Wenn du zur Mission gegangen wärst, hätte ich

länger bei dir bleiben können, aber jetzt ist es zu spät geworden. «

»Du hast doch gesagt, Fay hat einen festen Schlaf und wacht nicht auf. «

»Ich muss durchs Küchenfenster klettern und Chang und Raoul haben das Zimmer gleich neben der Küche.

«

»Hoffentlich kriegst du keinen Ärger. «

Aber er war einsam und wollte, dass sie blieb. Sie seufzte und setzte sich wieder hin. »Aber nur bis du fertig gegessen hast.« Sie lehnte sich gegen die

Mauer. »Du musst rüber zur Mission gehen. Es ist

nicht gut, allein zu sein. Hier wimmelt es von

schmierigen Typen, die dir was tun könnten. «

»Ich renn immer weg, wie du es mir gesagt hast.«

»Aber hier hört dich niemand, wenn du um Hilfe rufst. «

» Quatsch. Ich hab keine Angst. «

Sie wusste, dass er es nicht begreifen würde. Angst hatte er nur, wenn sein Vater da war. Überall war es sicherer als zu Hause. Wahrscheinlich würde heute

Nacht nichts passieren, sie hatte den Widerling schon seit Tagen nicht mehr gesehen. »Wie lange bleibt dein Vater denn immer, wenn er nach Hause kommt?«

»Eine Woche, vielleicht auch zwei.«

»Eine Woche ist doch schon um. Vielleicht ist er ja wieder weg. «

Mike schüttelte den Kopf. »Gestern nach der Schule war ich da. Er saß mit meiner Mutter auf der Veranda, aber er hat mich nicht gesehen. «

»Und deine Mom?«

»Ich glaub schon, aber sie hat schnell weggekuckt.« Er starrte auf die Spagetti. »Sie kann nichts dafür. Sie hat genauso Angst. «

»Ja. «

»Es wird alles gut, wenn er erst wieder weg ist.«

Nichts würde gut werden. Mikes Mom ging auf der

Peachtree Street auf den Strich und sie war mehr unterwegs als zu Hause, und dennoch nahm er sie in

Schutz. Jane war immer wieder überrascht, dass Kinder ihre Eltern niemals so sahen, wie sie wirklich waren. »Bist du fertig mit den Spagetti?«

»Noch nicht ganz. «

Er wollte nicht aufessen, damit sie noch nicht gehen konnte.

»Erzähl mir von den Sternen.«

»Das könntest du alles selber rausfinden, wenn du lesen lernen würdest. Das steht alles in dem Buch mit den Sagen in der Schulbibliothek. Du musst lesen lernen, Mike, aber du kannst nicht lesen lernen, wenn du nicht zur Schule gehst.«

»Ich habe diese Woche nur einmal gefehlt. Erzähl mir von dem Mann auf dem Pferd.«

Eigentlich sollte sie jetzt gehen. Sie würde ohnehin nur noch wenige Stunden Schlaf bekommen, bevor Fay sie aufweckte. Mr Brett hatte sie gestern angeschrien, weil sie in der dritten Stunde eingeschlafen war.

Mike kuschelte sich enger an sie.

Er war einsam und hatte wohl doch mehr Angst, als er zugeben wollte. Na gut, solange sie bei ihm war,

konnte sie wenigstens dafür sorgen, dass sich kein mieser Typ an ihn heranmachte. »Gut, ich bleibe noch ein bisschen. Aber nur, wenn du mir versprichst, dass du nicht mehr hierher kommst. «

»Versprochen.«

Sie legte den Kopf in den Nacken. Sie liebte die Sterne, genau wie Mike. Sie hatte sie niemals wahrgenommen, bevor sie bei den Carbonis eingezogen war. Sie konnte sich erinnern, wie sie aus dem Fenster gestarrt und versucht hatte, ihre Angst zu vertreiben, indem sie sich Sternenbilder ausdachte. Dann hatte sie das Buch in der Bibliothek entdeckt und es war eine große Hilfe gewesen. Bücher und Sterne. Die hatten ihr geholfen; vielleicht konnten sie auch Mike helfen.

Die Nacht war klar und die Sterne leuchteten heller als sonst. Hell und klar und weit weg von dieser Gasse abseits der Luther Street.

»Der Typ da auf dem Pferd heißt Sagittarius, aber er reitet gar nicht auf einem Pferd. Er ist halb Pferd, halb Mensch. Siehst du diese Sternenreihe? Das ist die Sehne seines Bogens, den er gerade gespannt hat,

weil ... «

Kapitel 7

»Ich verstehe nicht recht.« Fay Sugarton starrte ihre drei Besucher an. »Jane?«

»Sie ist in Gefahr«, sagte Eve, die zwischen Joe und Mark auf dem Sofa saß. »Bitte glauben Sie mir.«

»Aber warum? Nur weil sie das passende Alter hat, rothaarig ist und in vier Pflegefamilien war, bevor sie zu mir gekommen ist? Sie geben doch selbst zu, dass Sie ihren Namen praktisch aus dem Hut gezaubert

haben. «

»Die Beschreibung trifft genau auf sie zu«, erwiderte Joe.

»Haben Sie die Archive des County und die der Stadt überprüft? «

»Wir gehen davon aus, dass Dom gezielt ein Kind aus dieser Gegend ausgesucht hat. «

»Kann sein, muss aber nicht. Es gibt bestimmt noch mehr Kinder im County, auf die die Beschreibung zutrifft. Sie haben längst nicht alle Möglichkeiten überprüft. « Fay verschränkte die Arme vor der Brust. »Und vielleicht ist der Bursche, der Sie angerufen hat, nur ein durchgeknallter Witzbold. «

»Er wusste von den beiden Kindern in Talladega«,

setzte Eve nach.

»Das heißt noch lange nicht, dass er es auf Jane abgesehen hat. «

»Wollen Sie es darauf ankommen lassen?«

»Natürlich nicht.« Sie starrte Eve an. »Aber ich habe nicht vor, mir Jane entreißen zu lassen, solange ich nicht davon überzeugt bin, dass es notwendig ist. Seit ihrem zweiten Lebensjahr ist sie von einer Familie zur nächsten geschoben worden. Ich bin jetzt für sie verantwortlich und möchte nicht, dass sie wieder aus ihrem Zuhause gerissen wird und sich zu Tode fürchtet.

«

»Wir sind nicht diejenigen, die ihr Todesangst einjagen werden.«

»Liefern Sie mir den Beweis und zeigen Sie mir, wie Sie sie beschützen wollen, dann lasse ich sie gehen.«

Eve holte tief Luft. »Der Beweis könnte zu spät

kommen. «

»Ihnen scheint nicht klar zu sein, wie geschädigt dieses Kind ist. Ich will die Chance haben, ihr Vertrauen zu gewinnen.« Sie wandte sich an Mark Grunard.

»Und wenn Sie mich ins Fernsehen bringen, verklage ich den Sender. «

Mark hob abwehrend die Hände. »Ich bin hier nur

Beobachter.« Er ließ einen Augenblick verstreichen.

»Aber ich würde darüber nachdenken, wenn ich Sie

wäre. Wir wollen dem Mädchen nichts Böses, im

Gegenteil. Wir wollen ihr das Leben retten, Miss

Sugarton.«

Nach kurzem Zögern schüttelte Fay den Kopf. »Bringen Sie mir Beweise und Sie können sie mitnehmen.«

»Sie setzen das Kind einer großen Gefahr aus«,

wandte Eve ein.

Fay warf Eve einen durchdringenden Blick zu. »Sie werden garantiert nicht zulassen, dass ihr etwas zu-stößt. Ich wette, Sie haben schon einen Aufpasser auf sie angesetzt. «

»Das reicht vielleicht nicht. Wir müssen sie in ein Versteck bringen.«

»Sie verstecken sich doch auch nicht.«

»Das ist meine Entscheidung. Diese Wahl kann ein

Kind nicht treffen. «

Fay verzog das Gesicht. » Sie kennen Jane nicht. «

» Sie ist noch ein Kind, verdammt. «

»Ja, ein Kind, das fast sein ganzes Leben lang misshandelt und vernachlässigt wurde. Sie hält jetzt schon nicht viel von Erwachsenen und ich soll ihr erzählen, dass jemand sie umbringen will, bloß weil es ihm Spaß macht? «

»Welche Art Beweis brauchen Sie?«, fragte Joe.

»Ich habe das Gefühl, dass Sie Jane einfach zu

schnell gefunden haben. Ich möchte, dass die Leute von der Fürsorge alle Unterlagen durchgehen, sowohl die der Stadt als die des County, und sicherstellen, dass Jane wirklich die Einzige ist, auf die die

Beschreibung zutrifft. Und schicken Sie diesen FBI-Mann Spiro zu mir, damit ich mit ihm reden kann. Dem FBI traue ich.« Sie sah Joe an. »Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber meine Kinder haben ständig Ärger mit der örtlichen Polizei und es gefällt mir nicht, dass Sie hier mit diesem Fernsehmann auftauchen.«

Eve warf Joe einen Blick zu. »Dom wollte nicht, dass wir die Polizei einschalten, da wird er nicht begeistert sein, wenn das FBI hier aufkreuzt.«

Er zuckte die Achseln. »Mir gefällt es auch nicht, aber immerhin wissen wir jetzt, wo Jane wohnt. Er kann sich ihr nicht nähern, ohne dass wir es erfahren. «

Eve wandte sich wieder an Fay. »Also abgemacht, Sie werden mit Robert Spiro reden. Bitte hören Sie auf ihn.

Wie gesagt, die Familienfürsorge wird uns nicht

weiterhelfen. «

»Ich verspreche, ihn anzuhören. Mehr nicht.« Sie

stand auf. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich muss meine Hausarbeit erledigen und einkaufen gehen.« Sie wandte sich an Eve. »Tut mir Leid, aber ich muss ganz sichergehen. Jane ist ein schwieriger Fall. Diese Sache könnte mir jede Chance vermasseln, an sie heranzukommen. «

»Um Gottes willen, helfen Sie uns.«

»Ich werd sehen, was ich tun kann. Im Moment ist sie in der Crawford Middle School in der Thirteenth Street.

« Fay trat an eine Kommode, kramte in der obersten Schublade und reichte Eve ein Foto. »Das ist ein

Klassenfoto vom vorigen Jahr. Sie hat um drei Schluss und geht zu Fuß nach Hause. Es sind nur vier Blocks.

Behalten Sie sie im Auge, aber ich möchte nicht, dass Sie sie ansprechen.« Mit entschlossener Stimme fuhr sie fort: »Wenn Sie ihr Angst einjagen, bringe ich Sie um. «

»Danke.« Eve verstaute das Foto in ihrer Handtasche.

»Aber Sie machen einen Fehler.«

Fay zuckte die Achseln. »Ich mache ständig Fehler, aber ich kann auch nur mein Bestes versuchen. In den vergangenen sechs Jahren hatte ich zwölf

Pflegekinder und ich glaube, den meisten geht es

besser, seit sie bei mir waren.« Sie ging zur Tür und öffnete sie. »Auf Wiedersehen. Bringen Sie mir den Beweis, dann sehen wir weiter. «

Draußen auf der Straße sagte Mark Grunard: »Diese Frau ist zäh. Und anscheinend nicht im Geringsten beeindruckt von meinem Ruf und meiner schillernden Persönlichkeit. «

»Mir gefällt sie.« Eve legte die Stirn in Falten. »Obwohl ich ihr am liebsten den Hals umdrehen würde. Warum hört sie nicht auf uns? «

»Sie will nur das Beste für das Kind«, sagte Joe. »Und sie lässt sich nichts vorreden, sondern denkt in Ruhe über alles nach. «

»Also, was machen wir jetzt?«, fragte Mark.

» Sie fahren nach Hause und gehen erst mal schlafen.

Sie waren die ganze Nacht wach«, erwiderte Joe. »Ich rufe Spiro an und bitte ihn, herzukommen und mit Fay Sugarton zu reden.« Er sah zu Eve. »Und dann

werden wir vermutlich vor der Schule warten und dafür sorgen, dass das Kind wohlbehalten nach Hause

kommt, hab ich Recht?«

Sie marschierte zum Auto. »Das ist der Plan.«

»Ich hänge hier fest. Ich kann jetzt nicht kommen«, sagte Spiro.

»So wichtig kann es doch nicht sein. Wir brauchen Sie«, drängte Eve.

»Es ist wichtig. Wir haben noch eine Leiche gefunden, gegenüber den Wasserfällen. Die ganze Gegend wird jetzt umgegraben. «

» O Gott. « Das waren schon zwölf Leichen. Wie viele noch?

»Aber ich werde versuchen, mich heute Abend los-

zueisen und zu Ihnen zu kommen. Aber ich werde

nicht lange bleiben können.«

»Wann können Sie hier sein?«

»Vor neun und dann fahren wir zusammen zu der

Frau«, sagte er müde. »In Ordnung?«

»Wenn es nicht früher geht, müssen wir eben warten.

«

Joe nahm den Hörer. »Wir fahren nicht in die Hütte.

Schicken Sie mir Charlie her, falls ich Eve eine Zeit lang allein lassen muss.« Er hörte zu. »Nein, es ist keine gute Idee, Charlie mit Fay Sugarton sprechen zu las sen. Er hat ungefähr so viel Ausstrahlung und Autorität wie ihre Pflegekinder. Wir brauchen Sie, um sie zu beeindrucken. Was ist mit Spalding von der CASKU?

Na gut, wenn er schon wieder in Quantico ist, müssen Sie selbst herkommen. Ist mir egal, ob sich das wie ein Befehl anhört. Es ist ein Befehl. « Er legte auf.

»Sehr diplomatisch, Respekt«, sagte Eve. »Er ver-

sucht, uns zu helfen.«

»Es geht ihm nur darum, Dom zu fassen.«

»Es ist nun mal seine Aufgabe, Mörder zu fassen.«

»Nicht ganz. Er ist Profiler. Er soll Analysen und Be richte anfertigen und sich nicht an der Jagd beteili gen.« Er presste die Lippen zusammen. »Aber er will diesen Scheißkerl genau wie wir hinter Gittern sehen.

« »Wir sollten ihm dankbar sein.«

»Ich bin dankbar.« Er verzog das Gesicht. »Manch

mal. Solange er nicht FBI-Angelegenheiten vor den Schutz ... «

»Hör auf, Joe.«

»Okay, Spiro tut nur seine Arbeit. Bin wohl etwas gereizt. «

Das ging nicht nur ihm so. Eves Nerven waren zum

Zerreißen gespannt.

Joe ließ den Wagen an. »Komm, ich spendiere dir einen Hamburger, dann fahren wir zur Schule.«

»Meine Güte, ich hatte ganz vergessen, wie schnell Kinder rennen können, wenn die Schule vorbei ist.«

Joe lachte in sich hinein. » Sie sind wie eine Herde Büffel, die Wasser riecht. Bist du auch in diese Schule gegangen?«

»Nein, als ich klein war, gab's die noch gar nicht.« Sie ließ den Blick über die Menge schweifen. »Ich sehe keine Rothaarige. Wo mag sie stecken? «

»Du hast doch das Foto.« Er ließ einen Augenblick verstreichen. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum du noch keinen Blick darauf geworfen hast. «

»Ich hab's vergessen.«

»Tatsächlich?«

Sie sah ihn an. »Was denn sonst? Hör auf, einer ein-fachen Gedankenlosigkeit tiefere Bedeutung beizu-

messen. «

»Bei dir ist überhaupt nichts einfach. Es wird Zeit, dass du dir das Foto ansiehst, Eve.«

»Hatte ich gerade vor.« Sie holte das Foto aus ihrer Handtasche. Sie ist nur ein kleines Mädchen. Sie hat nichts mit Bonnie zu tun.

Sie atmete erleichtert auf. »Nicht besonders hübsch, oder?« Das Kind auf dem Foto lächelte nicht und die kurzen roten Locken legten sich um ein schmales, spitzes Gesicht. Das einzig Anziehende an ihrem Gesicht waren die großen braunen Augen, die grimmig in die Kamera starrten. »Offensichtlich wollte sie nicht fotografiert werden. «

»Dann muss sie Charakter haben. Ich wollte auch nie fotografiert werden. «

Joe musterte Eves Gesichtsausdruck. »Du wirkst

erleichtert. Du hattest befürchtet, sie würde Bonnie ähneln. «

»Anscheinend hat Dom ein schlechtes Augenmaß. Sie und Bonnie sind sich kein bisschen ähnlich. Verdammt, vielleicht ist die ganze Geschichte gelogen. Vielleicht hat er sie nie gesehen. «

»Wenn er damals in der Gegend war, muss er zumin-

dest ein Foto von ihr gesehen haben. Die Medien haben das ganze Viertel damit gepflastert.«

Weil sie hübsch und niedlich war und so voller Lebensfreude, hatten alle sie gemocht, dachte Eve. Nicht wie Jane MacGuire, die aussah, als würde sie jeden Moment zuschlagen. »Dass Dom meint, ich könnte

mich mit ihr identifizieren, beweist doch nur, wie verrückt er ist. Deine Sorgen waren völlig unnötig. «

»Ach ja? Na hoffentlich.« Er richtete sich auf dem Fahrersitz auf. »Da ist sie. Sie ist gerade aus dem Haupteingang gekommen. «

Jane MacGuire war klein für eine Zehnjährige, trug Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Sie trug eine grüne Schultasche auf dem Rücken und marschierte drauf-los, ohne nach rechts und links zu sehen.

Sie bummelte nicht. Sie blieb nicht stehen, um mit Freundinnen zu reden, wie Bonnie es gemacht hatte.

Bonnie hatte so viele Freundinnen ...

Sie war nicht fair. Bonnie war in einer liebe- und ver-trauensvollen Umgebung aufgewachsen. Jane Mac-

Guire hatte allen Grund, misstrauisch zu sein. Dennoch war Eve froh, dass dieses Kind Bonnie in keiner Weise ähnelte. » Es geht los. Lass den Wagen an. «

Der Widerling hatte einen anderen Wagen. Größer,

neuer, grau statt blau.

Vielleicht war es auch ein anderer Widerling, dachte Jane. Es wimmelte nur so von Widerlingen.

Sie fiel in den Laufschritt und rannte um die Ecke. Sie wartete. Der blaue Wagen bog langsam um die

Ecke. Sie spannte sich an. Folgte er ihr?

Ein Mann und eine Frau? Vielleicht waren es gar kei ne Widerlinge.

Vielleicht aber doch. Besser kein Risiko eingehen. Sie kletterte über den Maschendrahtzaun, rannte über den Hof und stieg über den Zaun auf der anderen Seite.

Zum Tor hinaus, das auf die Gasse führte. Sie blickte sich um.

Kein Wagen.

Weiterlaufen. Ihr Herz raste.

Dann verlangsamte sie das Tempo. Sie durfte sich

von den Widerlingen nicht solche Angst einjagen las sen. Das wollten die ja gerade. Einem Angst machen und wehtun. Das durfte sie nicht zulassen.

Alles war in Ordnung.

Noch zwei Blocks und sie war zu Hause. Vielleicht würde sie Fay von den Widerlingen erzählen. Fay war wie die Lehrer in der Schule. Wenn sie die Gefahr be griff, tat sie alles, um ihr zu helfen. Aber wenn Fay nicht verstand, dass sie ...

Jane rannte aus der Gasse auf die Straße. Das Haus war nicht mehr weit. Noch ein halber Block.

Sie sah sich um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Der blaue Wagen. Er kam um die Ecke.

Sie hatten sie nicht verloren. So schnell sie konnte, rannte sie auf Fays Haus zu.

Fay würde sie beschützen. Sie würde die Polizei ru fen und die würde vielleicht sogar kommen. Zumindest wäre sie nicht allein. Fay würde dort

sein.

Sie rannte die Stufen hinauf, riss die Tür auf und warf sie hinter sich zu.

Sicher. Sie war in Sicherheit.

Vielleicht war es Blödsinn, so viel Angst zu haben.

Vielleicht sollte sie Fay gar nichts davon erzählen.

Nein, das wäre Blödsinn. Sie würde es ihr erzählen.

»Fay.«

Keine Antwort.

Es war still im Haus.

Fay musste in der Küche sein. Sie war immer

zu Hause, wenn Jane und die Jungs aus der Schule

kamen.

Ja, Fay war in der Küche. Jane war sicher, dass sie die lose Diele neben dem Waschbecken hatte quietschen hören.

Aber warum antwortete sie nicht?

Langsam ging sie durch das Wohnzimmer zur Küche.

»Fay?«

»Fay Sugarton wird nicht begeistert sein.« Joe parkte den Wagen vor dem Haus. » Sie möchte nicht, dass

wir mit dem Kind reden. «

»Mir egal. Verdammt, wir haben ihr Angst eingejagt.

Ich will nicht, dass sie Albträume bekommt.« Eve

öffnete die Wagentür. »Du bist ein prima Beschatter.

Ich hatte dich gebeten, sie nicht merken zu lassen, dass wir ihr folgen.«

»Sie ist ziemlich aufgeweckt.« Joe stieg aus. »Ich hatte den Eindruck, dass sie damit gerechnet hat.«

Eve warf ihm einen überraschten Blick zu. »Du meinst, sie weiß, dass sie beobachtet wird? «

»Das müssen wir sie wohl selbst fragen.« Joe ging die Stufen hinauf und klingelte an der Haustür. »Falls Fay Sugarton uns ins Haus lässt.«

»Ihr bleibt keine andere Wahl. Sie hat das Mädchen gern. Wir wollen Jane schließlich nicht erzählen, dass

... Warum macht sie nicht auf? «

Joe klingelte noch einmal. »Sie wollte doch noch einkaufen gehen. Vielleicht ist sie gar nicht zu Hause und die Kleine hat Angst, die Tür aufzumachen. «

»Sie hatte stundenlang Zeit einzukaufen.« Eve drückte die Klinke nieder. »Abgeschlossen.«

»Das war die Kleine.« Er dachte nach. »Andererseits, vielleicht auch nicht. Scheiß drauf.« Er drückte mit der Schulter gegen die Tür, bis sie aufsprang. »Lieber ein kleiner Gesetzesverstoß als ... Verdammt! « Er

fiel zu Boden, als ihn ein Baseballschläger an den Kniescheiben traf.

Jane wirbelte zu Eve herum und knallte ihr den

Schläger gegen den Brustkorb. Sie konnte gerade

noch ausweichen, als das Mädchen mit dem Schläger nach ihrem Kopf schlug.

»Widerlinge.« Tränen liefen Jane über das Gesicht.

»Verfluchte Widerlinge.« Sie holte wieder zum Schlag aus. »Ich bring euch um, ihr dreckigen ... «

Joe machte einen Hechtsprung und brachte Jane zu

Fall.

»Tu ihr nicht weh«, japste Eve.

»Nicht wehtun? Ich werde neue Kniescheiben brau-

chen. « Er setzte sich rittlings auf Jane, die wild um sich schlug. »Und dir hätte sie beinahe den Schädel eingeschlagen. «

»Sie hat Angst. Wir sind hier eingebrochen. Sie musste denken ...« Blut. Das Mädchen war blutüberströmt. Ihr Gesicht, die Lippen, die Hände ... » 0 mein Gott, sie ist verletzt, Joe. Er hat sie verletzt.« Sie fiel neben dem Mädchen auf die Knie und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.

Jane schlug ihr die Zähne in die Hand.

Joe presste ihre Zähne auseinander und Eve zog die Hand weg. »Vorsichtig.« Er hielt ihr die Hand über den Mund und sah ihr in die Augen. »Wir tun dir nichts, verdammt noch mal. Wir sind gekommen, um zu

helfen. Wo ist Miss Sugarton?«

Jane starrte zu ihm hoch.

»Polizei. Detective Quinn.« Er langte in seine Tasche und holte die Dienstmarke hervor. »Wir sind hier, um zu helfen. «

Das Mädchen entspannte sich ein wenig.

»Wo bist du verletzt?«, fragte Eve.

Jane ließ Joe nicht aus den Augen. »Gehen Sie runter von mir. «

»Lass sie los, Joe.«

»Das könnte ein Fehler sein.« Joe stand auf und nahm den Schläger an sich.

Jane setzte sich langsam auf. »Scheißbullen. Warum seid ihr nicht eher gekommen? « Immer noch liefen ihr die Tränen über das Gesicht. »Nie seid ihr da, wenn man euch braucht. Scheißbullen. Scheißbullen ...

« »Jetzt bin ich ja da. Wo bist du verletzt?« »Ich doch nicht. Sie ist verletzt.« Eve erstarrte. »Miss Sugarton?« »Fay.« Jane blickte zur Küche

hinüber. »Fay.«

» 0 Gott. « Eve sprang auf und rannte in die Küche.

Blut.

Noch mehr Blut.

Auf dem Küchentisch.

Auf dem umgekippten Küchenstuhl.

Auf dem Fliesenboden, wo Fay Sugarton zusammen-

gesunken lag, mit offenen Augen und aufgeschlitzter Kehle.

»Bleib stehen.« Joe war neben ihr. »Vielleicht gibt es Spuren, wir dürfen nichts verändern.«

»Sie ist tot«, sagte Eve benommen.

»Ja.« Er drehte Eve um und versuchte sie in Richtung Wohnzimmer zu schieben. »Kümmere dich um die

Kleine, ich sage den Kollegen Bescheid. Versuch

herauszufinden, ob sie jemanden gesehen hat.«

Sie konnte den Blick nicht von den starren toten Augen wenden. »Dom«, flüsterte sie. »Das kann nur Dom

gewesen sein.«

» Geh schon. «

Sie nickte und ging langsam aus der Küche.

Jane saß zusammengekauert mit angezogenen Knien

an der Wand. » Sie ist tot, oder? «

»Ja.« Eve ließ sich neben ihr auf den Boden gleiten.

»Hast du jemanden gesehen?«

»Ich habe versucht, ihr zu helfen. Sie hat geblutet. Ich habe versucht, das Blut zu stoppen ... aber ich konnte nicht. Ich konnte es nicht stoppen. Unser Lehrer hat gesagt, bei einem Unfall ist es das Wichtigste, die Blutung zu stoppen. Es ging nicht. Ich konnte nichts machen. «

Eve hatte das Bedürfnis, Jane in die Arme zu nehmen, aber sie spürte die Mauer, die das Kind um sich herum errichtet hatte. »Du kannst nichts dafür. Bestimmt war sie schon tot.«

»Vielleicht auch nicht. Wenn ich nicht so dumm wäre, hätte ich ihr vielleicht helfen können. Ich hab dem Lehrer gar nicht richtig zugehört. Ich wusste doch nicht

... «

Eve ertrug es nicht länger. Sie streckte die Hand aus und berührte das Mädchen zaghaft an der Schulter.

Jane zuckte zurück. »Wer sind Sie überhaupt?«, fragte sie hitzig. »Sind Sie auch ein Bulle? Warum sind Sie nicht hier gewesen? Warum haben Sie das nicht

verhindert? «

»Ich bin nicht bei der Polizei, aber ich muss wissen, was passiert ist. Hast du jemand gesehen ... « Ach Mist. Das Kind war nicht in der Verfassung, Fragen zu beantworten. »Wollen wir raus auf die Veranda gehen und auf die Polizei warten? «

Zuerst dachte sie, Jane würde sich weigern, doch dann erhob sie sich, ging hinaus und setzte sich auf die oberste Verandastufe.

Eve nahm neben ihr Platz. »Ich heiße Eve Duncan.

Der Detective heißt Joe Quinn. «

Das Mädchen starrte geradeaus.

»Du bist Jane MacGuire, stimmt's?«

Das Mädchen antwortete nicht.

»Du musst nicht sprechen, wenn du keine Lust hast.

Du hast Miss Sugarton bestimmt sehr gern gehabt.«

»Ich habe sie nicht gern gehabt. Ich wohne nur bei ihr. «

»Das glaube ich zwar nicht, aber darüber müssen wir jetzt nicht sprechen. Wir müssen überhaupt nicht

reden. Ich dachte bloß, du fühlst dich besser, wenn wir keine Fremden mehr sind. «

»Zu reden bedeutet gar nichts. Sie sind immer noch eine Fremde. «

Und die Kleine würde dafür sorgen, dass es auch dabei blieb, dachte Eve. Sie hatte aufgehört zu weinen und saß aufrecht und starr da. Die Mauer des Miss-trauens war höher als je zuvor. Man konnte es ihr nicht verübeln. Jedes andere Kind wäre hysterisch geworden - was vielleicht gesünder war, als sich zu verschließen. »Ich habe auch keine große Lust zu reden.

Lass uns einfach hier sitzen und warten. Okay? «

Jane blickte starr geradeaus. »Okay.«

Eve wurde plötzlich bewusst, dass das Mädchen im-

mer noch voller Blut war. Sie sollte sie in die Wanne stecken.

Nicht jetzt. Sie beide waren überhaupt nicht in der Lage, etwas anderes zu tun, als nur dazusitzen. Eve lehnte ihren Kopf gegen den Treppenpfosten. Der Anblick der toten Augen ging ihr nicht aus dem Kopf. Fay Sugarton war ein guter Mensch gewesen, sie hatte

versucht, ihr Bestes zu geben. Sie hatte es nicht verdient ...

»Ich war nicht ehrlich.« Jane hielt den Blick immer noch starr geradeaus gerichtet. »Ich glaube ... ich mochte sie.«

»Ich auch.«

Jane verfiel wieder in Schweigen.

Barbara Eisley traf zusammen mit dem ersten Streifenwagen ein.

Die Polizisten marschierten ins Haus, während Barbara Eisley vor Jane stehen blieb. Ihr Gesichtsausdruck war von unglaublicher Sanftheit, als sie das Mädchen ansprach. »Erinnerst du dich an mich, Jane?

Ich bin Miss Eisley. «

Jane starrte sie ausdruckslos an. »Ich erinnere mich. «

»Du kannst hier nicht bleiben.«

» Ich weiß. «

»Ich bin gekommen, um dich abzuholen. Wo sind

Chang und Raoul? «

»In der Schule. Basketball-Training.«

» Ich werde jemanden zu ihnen schicken.« Sie streckte die Hand aus. »Komm mit. Wir werden dich erst einmal waschen und dann sprechen wir miteinander. «

»Ich habe keine Lust zu reden.« Jane stand auf und ging zu dem Wagen, der am Bordstein parkte.

»Wohin bringen Sie sie?«, fragte Eve.

»Zum Heim der Familienfürsorge.«

»Ist sie da sicher?«

»Es gibt Aufsichtspersonal und sie wird von lauter Kindern umgeben sein. «

»Ich denke, wir sollten sie mitnehmen ...«

»Blödsinn.« Barbara Eisley drehte sich zu ihr um und fuhr sie heftig an. »Ich trage die Verantwortung für sie und keiner von Ihnen wird sie anfassen. Ich hätte mich auf diese ganze Geschichte nicht einlassen dürfen. Die Zeitungen und der Stadtrat werden über mich herfallen wie die Aasgeier.«

»Wir müssen für ihre Sicherheit sorgen. Es ging dem Mörder nicht um Miss Sugarton, die ist ihm

wahrscheinlich nur in die Quere gekommen. «

»Und Sie waren nicht in der Lage, das zu verhindern, hab ich Recht?« Barbara Eisley betrachtete sie mit bohrendem Blick. »Fay Sugarton war eine anständige Frau, eine außergewöhnliche Frau, die schon

Dutzenden von Kindern geholfen hat. Warum musste

sie sterben? Sie wäre noch am Leben, wenn ich Ihnen nicht ...«

»Dann wäre vielleicht Jane tot.«

»Ich hätte mich da raushalten sollen und das werde ich von nun an auch tun. Bleiben Sie mir vom Leib und lassen Sie die Finger von Jane MacGuire.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging zum Wagen.

Eve sah hilflos zu, wie der Wagen davonfuhr. Jane saß aufrecht auf dem Beifahrersitz, dennoch wirkte sie fürchterlich klein und zerbrechlich.

»Mehr konnten wir nicht tun.«

Sie wandte sich um und sah Joe im Türrahmen stehen.

»Ich hatte gehofft, wir könnten sie von hier

wegbringen, bevor jemand von der Fürsorge

auftaucht.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe Eisley

benachrichtigt. «

Sie riss die Augen auf. »Wie bitte?«

»Die Familienfürsorge muss in solchen Fällen

informiert werden. Sie schützen die Kinder vor den Medien und bei Polizeiverhören. Sie wird Jane vor dem Schlimmsten bewahren. «

»Wir hätten sie beschützen können.«

»Ob sie das zugelassen hätte? Wir sind Fremde für sie. Im Heim sind viele Kinder und Personal. Sie ist dort sehr viel sicherer aufgehoben und wir können sie trotzdem im Auge behalten.«

Eve war immer noch aufgebracht. »Aber du hättest

nicht ... «

»Sie ist eine wichtige Zeugin in einem Mordfall, Eve.

Hat sie mit dir gesprochen? «

Eve schüttelte den Kopf.

»Dann werde ich heute Abend zu ihr fahren.«

»Kannst du sie nicht ... « Natürlich konnte er Jane nicht in Ruhe lassen. Möglicherweise hatte sie etwas

gesehen. »Barbara Eisley wird vielleicht nicht

zulassen, dass du mit ihr sprichst. Sie war ziemlich sauer auf uns. «

» So eine Dienstmarke kann manchmal ganz nützlich sein.« Er half ihr auf die Füße. »Komm. Ich fahre dich nach Hause. Die Leute von der Spurensicherung werden jeden Moment hier eintreffen, dann muss ich wieder hier sein, aber du kannst dir das ersparen.«

»Ich warte, bis du fertig bist. «

»Nein, das wirst du nicht. Das kann Stunden dauern und außerdem hat sich die Presse angekündigt.« Er schob sie die Stufen hinab. »Ich habe Charlie angerufen. Er wartet schon in meinem Haus und wird auf dich aufpassen, bis ich wiederkomme. « Er hielt ihr die Beifahrertür auf. »Sobald du zu Hause bist, ruf Spiro und Mark an und erzähl ihnen, was vorgefallen ist.«

Sie nickte. »Ich werde auch Barbara Eisley anrufen.

Vielleicht lässt sie sich ja auf ein Treffen mit mir ein. «

»Warte lieber ab, Eve. Sie muss sich erst einmal

beruhigen. «

Sie schüttelte den Kopf. Sie wurde das Bild von Jane MacGuire nicht los, wie sie stocksteif im Wagen

gesessen hatte, aus Angst zusammenzubrechen,

sobald sie ihren Schutzpanzer lockerte.

Dom konnte sie zerbrechen und sie niedermetzeln.

Wie nah war Jane ihm in der Küche gekommen?

Dieser Gedanke versetzte Eve in Panik. Sie musste ihn unterdrücken. Die unmittelbare Gefahr für Jane war vorüber.

Wirklich? »Ich rufe sie an, sobald ich in der Wohnung bin. «

»Nein«, sagte Barbara Eisley kalt. »Ich möchte mich nicht wiederholen, Miss Duncan. Jane bleibt in unserer Obhut. Sollten Sie sich nicht von ihr fern halten, sorge ich dafür, dass Sie ins Gefängnis wandern.«

»Sie verstehen nicht. Dom hat Fay Sugarton am hell-lichten Tag getötet. Er hat sich Einlass ins Haus ver-schafft und hat ihr in ihrer eigenen Küche die Kehle durchgeschnitten. Was sollte ihn davon abhalten, das Gleiche mit Jane im Heim zu machen? «

»Die Tatsache, dass wir es jeden Tag mit gewalttätigen Eltern und drogenabhängigen Müttern zu tun haben, die ihre Kinder holen wollen. Wir wissen, was wir zu tun haben. Die Lage des Heims ist nur Eingeweih-ten bekannt. Und selbst wenn er es finden sollte, er hat keine Möglichkeit, unsere Sicherheitsvorrichtungen zu passieren. «

» Sie hatten noch nie mit so jemandem ... «

»Auf Wiederhören, Miss Duncan.«

»Einen Moment noch. Wie geht es ihr?«

»Nicht gut. Aber sie wird sich erholen. Morgen früh schicke ich sie zum Therapeuten. « Sie legte auf.

Eve konnte sich sehr gut erinnern an diese Therapeuten. Sie saßen da, löcherten einen mit Fragen und unterdrückten mühsam ihren Ärger, wenn man sie nicht an sich heranließ. Jane würde sie genauso auflaufen lassen, wie Eve es damals getan hatte.

»Kein Glück gehabt?«

Sie drehte sich zu Charlie um, der am anderen Ende des Zimmers saß. »Kein bisschen. Ich probier es

morgen noch mal. «

»Sie sind ganz schön hartnäckig. «

»Hartnäckigkeit ist meine einzige Waffe im Umgang mit Eisley. Manchmal funktioniert's. Manchmal auch nicht.« Gott, sie konnte nur hoffen, dass es diesmal funktionierte. »Haben Sie was von dem Agenten ge-hört, den Spiro nach Phoenix geschickt hat? «

»Nicht viel, nur dass die Kriminalpolizei dort kooperiert.

Ich wünschte, Spiro hätte mich fahren lassen. « Er lächelte. »Nicht, dass mir Ihre Gesellschaft nicht gefallen würde. Aber eigentlich bin ich zum FBI gegangen, um anspruchsvollere Jobs zu übernehmen als

Personenschutz. Immerhin lässt die zu schützende

Person mich kreuz und quer durch Georgia fahren,

damit ich mich nicht langweile.«

»Tut mir Leid. Möchten Sie Kaffee? Ich fürchte, zu essen gibt es hier nichts.«

»Ich habe in der Nähe ein thailändisches Restaurant mit Lieferservice gesehen. « Er holte sein Handy hervor. »Was hätten Sie gerne? «

Sie hatte zwar keinen Hunger, aber es würde ihr gut tun, etwas zu essen. »Irgendwas mit Nudeln. Und bestellen Sie auch was für Joe, wir stellen es dann in den Kühlschrank. Er nimmt sich nie die Zeit zu essen.«

»Okay.«

Sie nahm ihre Handtasche und wollte ins Schlafzimmer gehen. »Ich muss mit Spiro reden.«

»Nicht nötig. Habe ich schon getan, nachdem Joe mich angerufen hatte. Er hat geflucht wie ein Kutscher und wollte sich sofort auf den Weg machen. «

Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich und lehnte sich dagegen.

Eigentlich sollte sie Mark anrufen, aber sie fühlte sich nicht dazu in der Lage. Der Gedanke an Fay Sugarton ließ sie nicht los. Sie konnte Barbara Eisley ihren Zorn nicht verübeln.

Sie trat ans Fenster und blickte hinunter in den Park auf der anderen Straßenseite. Es war dunkel

geworden und die Straßenlaternen warfen ihr Licht auf die Bäume. Die Schatten der Nacht wirkten bedrohlich.

Bist du da unten, Dom? Liegst du schon wieder auf der Lauer, du Schwein?

Ihr Handy klingelte.

Joe? Spiro?

Es klingelte noch einmal.

Sie nahm das Handy aus ihrer Handtasche. »Hallo?«

»Wie kommen Sie denn so klar mit der kleinen Janie?«

» Dreckskerl. «

»Leider konnte ich bei Ihrem Treffen nicht dabei sein, ich war etwas in Eile. Ich hatte nicht einmal die Möglichkeit, das Kind aus der Nähe zu sehen.«

»Also haben Sie stattdessen Fay Sugarton getötet.«

»Sie wollen mich doch nicht dastehen lassen wie einen Stümper. Da gibt es kein >stattdessen<. Ich hatte nicht die Absicht, das Kind jetzt schon zu töten. Es ging mir um Fay Sugarton. «

»Warum, um Himmels willen? «

»Solange Sugarton noch auf der Bildfläche war,

konnten Sie zu Jane keine Beziehung aufbauen. Also

.musste sie aus dem Weg geräumt werden. Wie gefällt Ihnen denn unser kleines Mädchen? «

»Nicht besonders. Sie hat versucht, mir mit einem Baseballschläger den Schädel einzuschlagen. «

»Das kann Sie doch nicht abschrecken. Wahrschein-

lich bewundern Sie ihren Mut. Ich hätte wirklich keine bessere Wahl treffen können. «

»Sie haben eine erbärmliche Wahl getroffen. Sie hat absolut keine Ähnlichkeit mit Bonnie.«

»Sie werden schon noch Gefallen an ihr finden.«

»Das wird kaum möglich sein. Sie ist nicht bei mir.«

»Ich weiß. Wir werden uns etwas einfallen lassen

müssen, nicht wahr? Das hatte ich keineswegs so be-absichtigt. Holen Sie sie aus dem Heim.«

»Keine Chance.«

»Ich will, dass sie bei Ihnen ist. Finden Sie Mittel und Wege.«

»Sie hören mir nicht zu. Ich wandere in den Knast, wenn ich mich in ihre Nähe wage. «

Es herrschte Schweigen in der Leitung. »Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt.

Entweder Sie holen sie da raus oder ich gehe rein und hole sie mir. Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden.«

Panik überkam sie. »Ich weiß nicht einmal, wo sie steckt. «

»Finden Sie es heraus. Sie haben Beziehungen. Wo

ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich würde einen finden.«

»Die haben einen Sicherheitsdienst. Sie würden nie an sie herankommen, eher würden Sie im Knast landen. «

»Ich würde an sie herankommen. Es braucht nur einen Augenblick der Unachtsamkeit, einen gelangweilten, verstimmten Mitarbeiter. «

»Ich habe überhaupt nichts für dieses Kind übrig. Ich könnte nicht die geringste Zuneigung für sie ... «

»0 doch, das könnten Sie. Sie müssen sie nur erst kennen lernen. Sie haben Jahre Ihres Lebens damit verbracht, Kinder zu schützen und aufzufinden, die Sie gar nicht kannten. Jetzt habe ich Ihnen ein eigenes Kind gegeben. Bei der Vorstellung dürften Sie gar nicht mehr wissen, wo Ihnen der Kopf steht. «

»Ich werde die Polizei anrufen, sobald ich aufgelegt habe.«

»Und Janes Schicksal besiegeln? Denn das würde es bedeuten und das wissen Sie. Ich werde niemals

aufgeben. Wenn ich jetzt keine Möglichkeit sehe,

werde ich warten. Eine Woche, einen Monat, ein Jahr.

Und das Erfreuliche ist, je mehr Zeit vergeht, umso leichter wird es für mich. Die Menschen vergessen, ihre Aufmerksamkeit lässt nach ... und Sie werden nicht bei ihr sein, um mich aufzuhalten.

Vierundzwanzig Stunden, Eve.« Er legte auf.

Er war verrückt, dachte Eve. Eisley hatte behauptet, niemand könne in das Fürsorgeheim eindringen.

Aber Eve hatte da ihre Zweifel.

Es braucht nur einen Augenblick der Unachtsamkeit, einen gelangweilten, verstimmten Mitarbeiter.

War es nicht genau das, was sie selbst die ganze Zeit befürchtet hatte? Hatte sie Eisley nicht deshalb ge-drängt, Jane ihr zu überlassen?

Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Er würde seine Drohung wahr machen. 0 Gott, er würde einen Weg

finden, Jane zu töten, wenn es ihr nicht gelang, das Mädchen aus dem Heim zu holen.

Ihr blieben vierundzwanzig Stunden.

Joe. Sie musste Joe verständigen.

Als sie die Nummer zur Hälfte gewählt hatte, legte sie auf. Was wollte sie bezwecken? Wollte sie ihn wirklich bitten, seinen Job aufs Spiel zu setzen, indem er ein Kind aus dem Heim entführte?

Aber sie brauchte ihn.

Also was? Sie musste ihren Egoismus zurückstellen und selbst tun, was getan werden musste.

Aber wie? Sie wusste nicht einmal, wo Jane sich

überhaupt aufhielt.

Sie haben Beziehungen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich würde einen finden.

Sie wählte eine andere Nummer.

Mark Grunard ging beim zweiten Klingeln dran. Er

war nicht gut auf sie zu sprechen. »Nett, dass Sie mich über Fay Sugarton informieren. Ich bin zusammen mit dem Rest der Journalisten dieser Stadt bei ihrem Haus eingetroffen. «

»Ich wollte Sie anrufen, aber es ist so viel passiert.«

»Wir hatten eine Vereinbarung. « »Es wird nicht

wieder vorkommen.«

»Allerdings. Ich steige nämlich aus. Sie und Joe hät ten ... «

»Ich brauche Ihre Hilfe. Dom hat sich wieder ge

meldet. «

Schweigen. »Und?«

»Die Fürsorge hat das Kind im Heim untergebracht.

Er will, dass sie bei mir ist. Er gibt mir vierundzwanzig Stunden, sie da rauszuholen.«

»Und was, wenn Sie es nicht tun?«

»Was glauben Sie wohl? Er wird sie umbringen, ver dammt noch mal. «

»Es ist nicht leicht, sie ... «

»Er wird es tun. Wir dürfen nichts riskieren.«

»Was sagt Joe dazu?«

»Nichts. Ich habe es ihm nicht gesagt. Ich will ihn da raushalten. «

Er stieß einen Pfiff aus. » Das wird ihm nicht gefallen.«

»Er hat schon genug für mich getan. Ich möchte

nicht, dass er Ärger bekommt, wenn er mir hilft. «

»Aber da Sie mich anrufen, nehme ich an, dass Sie durchaus bereit sind, meine Wenigkeit zu opfern. «

»Sie haben weniger zu verlieren und mehr zu ge-

winnen. «

»Und was erwarten Sie von mir?«

»Ich muss wissen, wo sie steckt. Haben Sie eine Ahnung?

»Vielleicht.«

»Was soll das heißen, vielleicht? «

»Die Lage des Heims ist ungefähr so geheim wie die Untersuchungsberichte der Seuchenbehörde.«

»Aber Sie wissen, wo es sich befindet?«

»Nun ja, ich bin Eisley einmal gefolgt, als sie wäh rend eines wichtigen Prozesses ein Kind dorthin ge bracht hat. «

Dann konnte Dom ihr ebenfalls gefolgt sein.

»Es ist ein großes altes Haus in der Delaney Street, das früher einmal als Genesungsheim gedient hat.

Vielleicht sind sie auch längst umgezogen. Das war vor mehr als zwei Jahren. «

»Wir werden es versuchen. Eisley sagte, es gäbe

Wachpersonal. «

»Einen Wachmann, der über das Gelände patrouilliert.

Wahrscheinlich soll ich ihn ablenken, richtig? «

»Richtig.«

»Und dann? Wo wollen Sie sie hinbringen?«

»Ich weiß es noch nicht. Ich werde schon einen Ort finden. Helfen Sie mir?«

»Sie bringen mich in Teufels Küche.«

»Ich werde dafür sorgen, dass es sich für Sie lohnt.«

»Daran zweifle ich nicht.« Und in schärferem Tonfall fügte er hinzu: »Ich werde Ihnen nämlich keinen Schritt von der Seite weichen.«

»Ich kann unmöglich ... « Sie holte tief Luft. »Okay, uns wird schon was einfallen. Holen Sie mich hier ab. Wir treffen uns im Park gegenüber. «

»Nicht vor Mitternacht. «

»Mark, es ist erst halb sechs. Ich will sie da rausholen.

«

»Okay, um elf. Wenn Sie unbedingt früher hinwollen, müssen Sie es allein machen. Es reicht, dass wir

Gefahr laufen, dem Wachmann in die Finger zu fallen.

Ich will sichergehen, dass in dem Haus alle schlafen, bevor wir reingehen. «

Noch fünfeinhalb Stunden. Wie sollte sie es so lange aushalten? Sie war bereits jetzt ein Nervenbündel.

Okay, ganz ruhig. Dom hatte ihr vierundzwanzig

Stunden gegeben. »Okay. Ich werde zu Abend essen

und Charlie sagen, dass ich mich schlafen lege. Durch die Küche kommt man zum Waschraum, von da aus

auf den Flur. Ich kann mich rausschleichen und Sie um elf im Park treffen.«

»In Ordnung.«

Sie legte auf. Geschafft. Mark Grunard war zäher, als sie erwartet hatte. Doch sie konnte es ihm nicht

verübeln. Sie verlangte einen hohen Einsatz und es gab nicht viele Leute, die dafür keine Gegenleistung erwarten würden.

Außer Joe.

Nicht an Joe denken. Sie konnte ihn jetzt nicht

gebrauchen.

»Kommen Sie«, rief Charlie durch die Schlafzimmertür.

»Es gibt was zu essen.«

Sie straffte die Schultern. Sie musste das Abendessen hinter sich bringen und hoffen, dass sie verschwinden konnte, bevor Joe nach Hause kam.