Kapitel 1

TALLADEGA FALLS,

GEORGIA 20. JANUAR

6 UHR 35

Das Skelett hatte schon lange in der Erde gelegen. Joe Quinn hatte genügend Erfahrung, um das zu erkennen.

Aber wie lange?

Er wandte sich zu Sheriff Bosworth. »Wer hat es

gefunden?«

»Zwei Wanderer. Sie sind gestern am späten Abend

darüber gestolpert. Die starken Regenfälle der letzten Tage haben die Erde ausgewaschen und das Skelett

freigelegt. Der halbe Berg ist durch das verdammte Unwetter ins Rutschen gekommen. Alles ist

weggespült worden.« Er sah Joe stirnrunzelnd an. »Sie müssen ja wie der Blitz von Atlanta hergekommen

sein, sobald Sie davon erfahren haben. «

» Stimmt. «

»Glauben Sie, das hier hat mit einem Fall der

Krimanalpolizei Atlanta zu tun? «

»Vielleicht.« Er dachte nach. »Nein. Das hier war ein Erwachsener. «

» Sie suchen ein Kind? «

»Ja.« Jeden Tag, jede Nacht. Immerzu. Er zuckte die Achseln. »Aus dem ersten Bericht ging nicht hervor, ob es sich um einen Erwachsenen oder ein Kind handelt.«

Bosworth blickte ihn wütend an. »Tatsächlich? Ich muss sonst nie solche Berichte schreiben. Bei uns gibt es kaum Verbrechen. Wir sind hier nicht in Atlanta. «

»Immerhin kennen Sie sich so gut aus, dass Sie im Brustkorb eines Skeletts Stichwunden feststellen

können. Allerdings gebe ich Ihnen Recht, dass wir ganz unterschiedliche Probleme haben. Wie viele

Menschen leben hier?«

»Kommen Sie mir nicht so überheblich, Quinn. Wir

haben hier eine schlagkräftige Polizeitruppe. Wir brauchen keine Cops aus der Stadt, die sich in unsere Zuständigkeiten einmischen. «

Er hatte einen Fehler begangen, dachte Joe müde. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, aber das war keine Entschuldigung. Es war immer ein Fehler, die Polizisten vor Ort zu kritisieren, selbst wenn die kein Blatt vor den Mund nahmen. Bosworth war

sicherlich ein guter Polizist und er war freundlich gewesen, bis Joe sich abfällig über seine Arbeitsweise geäußert hatte. »Tut mir Leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«

»Sind Sie aber. Sie wissen nichts über unsere Probleme. Haben Sie eine Ahnung, wie viele Touristen jedes Jahr hierher kommen? Und wie viele von denen sich hier in den Bergen verirren oder verunglücken? Wir haben vielleicht keine Mörder und Drogendealer, aber wir kümmern uns um jeden Einzelnen unserer Bürger, und nicht nur um die Grünschnäbel aus Atlanta, die in unseren Naturparks zelten, in Schluchten fallen und überall Müll ... «

»Okay, okay.« Joe hob die Hand. »Ich sagte, es tut mir Leid. Ich wollte Ihre Probleme nicht herunterspielen.

Wahrscheinlich bin ich bloß neidisch.« Er ließ den Blick über die Berge und die Wasserfälle schweifen. Obwohl Bosworths Leute überall herumkletterten, das Gelände markierten und durchkämmten, bot sich ihm immer

noch ein unglaublich schöner Anblick. »Ich würde gern hier leben. Es muss wunderschön sein, jeden Morgen in dieser friedlichen Landschaft aufzuwachen.«

Bosworth war ein wenig besänftigt. »Das hier ist

Gottes Land. Die Indianer haben die Wasserfälle >Ort des fallenden Mondlichts< genannt.« Er setzte ein verdrießliches Gesicht auf. »Und hier gibt's

normalerweise keine Skelette. Das muss einer von

euch gewesen sein. Die Menschen bei uns bringen

sich nicht gegenseitig um und verscharren Leichen im Erdboden. «

»Kann sein. Wäre ein ziemlich weiter Transportweg.

Allerdings kann es in dieser Wildnis ewig dauern, bis eine Leiche entdeckt wird. «

Bosworth nickte. »Wenn diese Regenfälle und der

Erdrutsch nicht gewesen wären, hätten wir sie

wahrscheinlich in den nächsten zwanzig, dreißig

Jahren nicht gefunden.«

»Wer weiß, vielleicht liegt sie ja schon so lange da. Ich mach jetzt mal den Weg frei. Ich nehme an, Ihr Gerichtsmediziner wird an das Skelett heranwollen, um es zu untersuchen.«

»Wir haben hier einen Leichenbeschauer. Er ist der örtliche Bestatter. « Schnell fügte Bosworth hinzu:

»Aber Pauley ist immer bereit, um Hilfe zu bitten, wenn er sie braucht.«

»Er wird sie brauchen. An Ihrer Stelle würde ich eine offizielle Anfrage an unsere Gerichtsmediziner richten.

Die sind in der Regel sehr kooperativ.«

»Könnten Sie das für uns erledigen?«

»Das geht nicht. Ich kann gern ein Wort für Sie

einlegen, aber ich bin nicht in offiziellem Auftrag hier.«

Bosworth runzelte die Stirn. »Das haben Sie nicht erwähnt. Sie haben einfach Ihre Dienstmarke gezückt und angefangen, mir Fragen zu stellen.« Seine Augen weiteten sich plötzlich. »Mein Gott, Sie sind ja Quinn. «

»Das ist kein Geheimnis. Ich hab mich Ihnen

vorgestellt. «

»Aber mir war nicht klar, dass Sie der Quinn sind. Man hört seit Jahren von Ihnen. Der Skelett-Mann. Vor drei Jahren waren Sie doch drüben im Coweta County, um zwei Skelette zu untersuchen, die dort gefunden

worden waren. Dann gab es noch diese Leiche in den Sümpfen von Valdosta. Da waren Sie auch. Und dann noch das Skelett in der Nähe von Chattanooga, das Sie ... «

»Spricht sich ganz schön rum, was?« Joe lächelte

gequält. »Man sollte meinen, es gäbe interessantere Gesprächsthemen. Und? Machen diese Geschichten

mich zu einer Art Legende? «

»Nein, die Leute betrachten Sie eher als Kuriosität. Sie suchen nach diesen Kindern, stimmt's? Die dieser

Fraser getötet hat und von denen keiner weiß, wo sie begraben liegen.« Er legte die Stirn in Falten. »Aber ist das nicht schon fast zehn Jahre her? Mich wundert, dass Sie nicht längst aufgegeben haben. «

»Die Eltern haben nicht aufgegeben. Sie wollen ihre Kinder richtig beerdigen.« Er warf einen Blick auf das Skelett. »Die meisten Opfer haben ein Zuhause und eine Familie. «

»Das stimmt.« Bosworth schüttelte den Kopf. »Kinder.

Ich werde nie verstehen, warum jemand ein Kind tötet.

Die Vorstellung macht mich ganz krank. «

»Mich auch.«

»Ich habe drei Kinder. Wahrscheinlich würde es mir genauso gehen wie diesen Eltern. Mein Gott, man

kann nur hoffen, dass man das nie durchmachen

muss.« Bosworth schwieg einen Augenblick. »Diese

Fälle sind nach Frasers Hinrichtung doch sicherlich abgeschlossen worden. Wirklich nobel von Ihnen, dass Sie Ihre Zeit opfern, diese Kinder zu suchen.«

Ein Kind. Das von Eve. »Hat nichts mit nobel zu tun.

Ich kann einfach nicht anders.« Er wandte sich ab.

»Vielen Dank für Ihre Geduld, Sheriff. Rufen Sie mich an, wenn ich zwischen dem Leichenbestatter und der Polizei von Atlanta vermitteln soll. «

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar. «

Joe wandte sich zum Gehen, zögerte jedoch. Zum

Teufel mit seinem Bemühen, einem Kollegen nicht auf den Schlips zu treten. Der Sheriff war eindeutig

überfordert, und bis jemand eintraf, der sich

auskannte, konnte es zu spät sein, alle Beweismittel zu sichern. »Darf ich Ihnen ein paar Vorschläge

machen?«

Bosworth sah ihn misstrauisch an.

»Lassen Sie jemanden kommen, der die Leiche und

den ganzen Tatort fotografiert.

»Das hatte ich ohnehin vor.«

»Am besten sofort. Ich weiß, dass Ihre Leute sich alle Mühe geben, Beweismittel zu sichern, aber

wahrscheinlich zerstören sie mehr, als sie finden. Sie sollten einen Metalldetektor einsetzen, um

Beweismittel aufzuspüren, die noch in der Erde liegen.

Und holen Sie einen forensischen Archäologen, der das Skelett ausgräbt, und einen Entomologen, der

alles untersucht, was an toten Insekten und Larven da ist. Wahrscheinlich ist es zu spät für den Entomologen, aber man kann nie wissen. «

»Wir haben solche Leute hier gar nicht. «

»Die können Sie von einer Universität anfordern. So vermeiden Sie es, nachher dumm dazustehen. «

Bosworth dachte nach und sagte dann langsam:

»Vielleicht mach ich das.«

»Überlegen Sie es sich.« Joe ging den Hügel hinab zu seinem Wagen, der unten auf der Schotterstraße

geparkt war.

Schon wieder eine Niete; es war ohnehin nur ein

Schuss ins Blaue gewesen. Aber er hatte der Sache nachgehen müssen. Er musste jeder Spur nachgehen.

Eines Tages würde er Glück haben und Bonnie finden.

Ihm blieb nichts anderes übrig, er musste sie finden.

Bosworth schaute Quinn nach. Kein schlechter

Bursche. Vielleicht ein wenig zu kühl und beherrscht, aber das blieb wohl nicht aus, wenn man sich in der Großstadt mit all dem Abschaum herumschlagen

musste. Gott sei Dank hatte er hier draußen keine Verrückten. Nur vernünftige Leute, die sich bemühten, ein anständiges Leben zu führen.

Der Skelett-Mann. Er war nicht aufrichtig gewesen.

Quinn war tatsächlich eher eine Legende als eine

Kuriosität. Er war FBI-Agent gewesen, hatte aber den Dienst quittiert, nachdem Fraser hingerichtet worden war. Jetzt war er Detective bei der Kriminalpolizei Atlanta und dem Vernehmen nach ein guter Polizist.

Knochenhart und blitzsauber. In diesen Zeiten waren Polizisten in der Stadt zahlreichen Versuchungen

ausgesetzt, denen man sich nur schwer widersetzen konnte. Das war einer der Gründe, weswegen

Bosworth lieber im Rabun County blieb. Er wollte den Zynismus und die Verbitterung, die Quinn ins Gesicht geschrieben standen, nicht kennen lernen. Quinn war wahrscheinlich nicht einmal vierzig, aber er sah aus, als hätte er die Hölle schon hinter sich.

Bosworth warf einen Blick auf das Skelett. Mit so etwas war Quinn tagtäglich konfrontiert. Er legte es sogar regelrecht darauf an. Nun gut, sollte er doch. Er, Bosworth, wollte das Skelett so schnell wie möglich loswerden. Er wollte die Menschen hier nicht unnötig mit solchen schmutzigen Geschichten belasten.

Sein Funkgerät summte und er drückte auf Empfang.

» Bosworth. «

»Quinn! «

Joe blickte über die Schulter zu Bosworth hinauf, der oben auf dem Felsvorsprung stand. »Was gibt's?«

»Kommen Sie zurück. Mein Hilfssheriff hat mich eben benachrichtigt, dass unsere Leute in den Hügeln

drüben noch weitere Leichen gefunden haben ...

Skelette, genau genommen. «

Joe spannte sich an. »Wie viele?«

Bosworths rundes Gesicht wirkte ganz bleich im

frühmorgendlichen Licht. »Bislang acht«, antwortete er wie benommen. »Eins davon könnte ein Kind sein.«

Sie hatten die Talladega-Leichen gefunden.

Dom schaltete den Fernseher ab und lehnte sich im Sessel zurück, um darüber nachzudenken, was das für ihn bedeutete.

Seines Wissens war es das erste Mal, dass seine

Mordopfer entdeckt wurden. Er war immer sehr vor-

sichtig und systematisch vorgegangen, hatte stets noch ein paar Meilen zusätzlich zurückgelegt, in

diesem Fall sogar sehr viele. All diese Leute hatte er in Atlanta erlegt und ihre Leichen zu seinem damals

bevorzugten Friedhof transportiert.

Jetzt waren sie also entdeckt worden, und zwar nicht nach sorgfältiger Suche, sondern durch eine Laune der Natur. Oder war es Gottes Wille?

Ein religiöser Eiferer würde wahrscheinlich sagen, Gottes Hand hätte diese Leichen freigelegt, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Er lächelte. Zum Teufel mit diesen scheinheiligen Fa-natikern. Wenn es einen Gott gab, dann freute er sich schon jetzt darauf, sich mit ihm anzulegen. Wenn es soweit war, würde ihm diese Herausforderung gerade recht kommen.

Die Talladega-Leichen bedeuteten für ihn keine große Bedrohung. Als er diese Morde begangen hatte, war er erfahren genug gewesen, keinerlei Spuren zu hinterlassen. Sollte er dennoch irgendwelche Fehler

gemacht haben, hatten Regen und Schlamm sie längst beseitigt.

In seinen Anfangstagen war er nicht so umsichtig gewesen. Der Nervenkitzel war zu intensiv gewesen, die Angst zu groß. Seine Opfer hatte er sogar zufällig ausgewählt, um der Sache mehr Spannung zu

verleihen. Solche Dummheiten hatte er längst

überwunden. In letzter Zeit jedoch war er dermaßen systematisch geworden, dass die Erregung nachließ.

Wenn die Erregung ganz ausblieb, dann hatte das

Leben keinen Sinn mehr.

Hastig schob er den Gedanken beiseite. Das hatte er schon öfter durchgemacht. Er musste sich einfach nur ins Gedächtnis rufen, dass die Befriedigung in der Tat selbst lag. Alles andere war reine Dreingabe. Wenn er eine besondere Herausforderung brauchte, wählte er ein schwierigeres Opfer aus, jemanden mit Bindungen, der geliebt und vermisst wurde.

Die Funde in Talladega betrachtete er am besten als interessante Entwicklung, so konnte er mit Spannung und Vergnügen zusehen, wie die Hüter des Gesetzes sich abmühten, das Puzzle zusammenzusetzen.

Wer waren noch die Toten von Talladega? Er erinnerte sich schwach an eine blonde Prostituierte, einen

obdachlosen Schwarzen, einen Jugendlichen, der

seine Liebesdienste auf der Straße anbot ... und an das kleine Mädchen.

Komisch, bis zu diesem Augenblick hatte er das kleine Mädchen völlig vergessen.

GERICHTSMEDIZIN ATLANTA FÜNF TAGE SPÄTER

»Das Kind war sieben oder acht Jahre alt, weiblich, wahrscheinlich weiß.« Ned Basil, der

Gerichtspathologe, las aus dem Bericht auf seinem Schreibtisch vor, den ihm Dr. Phil Comden, ein

forensischer Anthropologe von der Georgia State

University, übermittelt hatte. »Das ist alles, was wir wissen, Quinn.«

»Wie lange hat sie schon in der Erde gelegen?«

»Ungewiss. Vermutlich zwischen acht und zwölf

Jahren. «

»Dann müssen wir weiter ermitteln.«

»Hören Sie, das ist nicht unser Problem. Die Skelette wurden im Rabun County gefunden. Der Chief hat sich schon dafür eingesetzt, dass ein forensischer

Anthropologe hinzugezogen wird, um die Leiche zu

untersuchen.«

»Ich möchte, dass Sie eine Empfehlung für eine

Gesichtsrekonstruktion aussprechen. «

Basil hatte das kommen sehen. Schon als man die

Gebeine des Kindes hereingebracht hatte, war es

unausweichlich gewesen. »Das ist nicht unser

Problem.«

»Ich mache es zu unserem Problem. Neun Leichen

wurden in Talladega gefunden, ich bitte lediglich um eine Rekonstruktion. «

»Hören Sie, Chief Maxwell hat keine Lust, in diesen Schlamassel hineingezogen zu werden. Sie wird es

ablehnen. Sie hat Ihnen nur deshalb gestattet, die Leiche des Kindes hierher zu bringen, weil sie genau weiß, dass all die Initiativen für verschwundene Kinder sie in der Luft zerreißen, wenn sie sich nicht

wenigstens bemüht zeigt. «

»Das reicht mir nicht. Ich muss wissen, wer dieses Kind ist. «

»Haben Sie mich nicht verstanden? Das wird nicht

passieren. Warum geben Sie's nicht auf?«

»Ich muss wissen, wer sie ist.«

Herrgott, Quinn war wirklich hartnäckig. Basil hatte zuvor schon einige Male mit ihm zu tun gehabt und der Detective hatte stets sein Interesse geweckt.

Oberflächlich betrachtet wirkte er ruhig, umgänglich, beinahe träge, aber jedes Mal waren Basil Quinns

messerscharfer Verstand und seine geistige

Beweglichkeit aufgefallen. Er hatte gehört, dass Quinn früher einmal bei der FBI-Spezialeinheit SEAL

gewesen war, und er konnte es sich gut vorstellen.

»Von mir kriegen Sie keine Empfehlung, Quinn. «

»Sie sollten Ihre Meinung überdenken.« Er schüttelte den Kopf.

»Haben Sie irgendwann in Ihrem Leben einen Fehler gemacht, Basil?«, fragte Quinn sanft. »Einen Fehler, von dem außer Ihnen niemand wissen sollte? «

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wenn es etwas gibt, dann werde ich es

herausfinden.«

» Wollen Sie mir drohen? «

»Ja. Ich würde Ihnen Geld bieten, aber Sie würden es ja doch nicht annehmen. Sie sind ziemlich ehrlich ...

soweit ich weiß. Aber jeder hat etwas zu verbergen.

Ich werde es rausfinden und ich werde es verwenden.«

» Sie Scheißkerl.«

»Sie brauchen nur diese Empfehlung zu schreiben,

Basil. «

»Ich habe nichts getan, was ... «

»Nie das Finanzamt übers Ohr gehauen? Nie einen

wichtigen Bericht übersehen, weil Sie überarbeitet waren? «

Verdammt noch mal, jeder machte falsche Angaben

bei der Steuererklärung. Aber städtische Angestellte konnten dafür gefeuert werden. Doch wie sollte Quinn herausfinden, dass er ...

Er würde es herausfinden. Basil presste die Lippen zusammen. »Sehe ich das richtig, dass ich den

Spezialisten für diese Arbeit gleich mit empfehlen soll?«

»Ja.«

»Eve Duncan.«

»Ganz genau.«

»Verdammt, Quinn. Jeder in der Abteilung weiß, dass Sie schon seit Jahren nach ihrem Kind suchen. Chief Maxwell wird sich darauf nicht einlassen. Duncan ist eine viel zu große Nummer, seit sie diesen -

politischen Skandal aufgedeckt hat. Wenn wir sie

einschalten, werden uns die Journalisten die Bude einrennen. «

»Das liegt schon ein Jahr zurück. Für die ist Eve längst kalter Kaffee. Und ich würde mich darum kümmern. «

»Ist sie zurzeit nicht irgendwo im Südpazifik?«

»Sie würde herkommen.«

Basil war sich sicher, dass Eve Duncan kommen wür-de. Allen Mitarbeitern der Kriminalpolizei Atlanta war ihre Geschichte bekannt. Sie war als uneheliches Kind in den Slums geboren, hatte sich gegen enorme

Widerstände durchgesetzt und sich aus den Slums

hochgearbeitet. Sie hatte ihr Studium fast beendet und war auf dem besten Weg, ein bürgerliches Leben zu führen, als ihr das Schlimmste zugestoßen war, was einer Mutter widerfahren konnte. Ihre Tochter Bonnie war von einem Serienmörder getötet worden und die Leiche wurde nie gefunden. Der Mörder, Fraser, war hingerichtet worden, ohne preiszugeben, wo die

Leichen der zwölf Kinder, deren Mord er gestanden hatte, sich befanden. Seitdem hatte Eve all ihre

Energie darauf verwandt, andere vermisste Kinder

aufzufinden, seien sie tot oder lebendig. Sie war wieder an die Universität gegangen, hatte Kunst

studiert und war Gesichtsrekonstrukteurin geworden.

Sie hatte sich in den Bereichen Altersbestimmung und Erstellung von Mischbildern qualifiziert und sich auf beiden Gebieten einen außerordentlichen Ruf

erworben.

»Warum zögern Sie noch?«, fragte Quinn. »Sie wissen doch genau, dass sie die Beste ist. «

Basil konnte es nicht leugnen. Sie hatte der Polizei schon in vielen Fällen geholfen. »Sie trägt ein

verdammt großes Päckchen mit sich herum. Die

Presseleute werden ... «

»Ich habe gesagt, dass ich mich darum kümmern

werde. Empfehlen Sie sie.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

Quinn schüttelte den Kopf. »Jetzt gleich. «

»Die Polizei wird die Kosten für ihren Flug nicht übernehmen. «

»Die trage ich. Setzen Sie einfach nur die Empfehlung durch. «

»Sie machen ziemlichen Druck, Quinn.«

»Das ist eines meiner besonderen Talente.« Er setzte ein Lächeln auf. »Aber Sie kriegen keine blauen

Flecken davon. «

Basil war sich da nicht so sicher. »Es ist

Zeitverschwendung. Chief Maxwell wird sich darauf nicht einlassen.«

»Sie wird. Ich werde ihr zu verstehen geben, dass ich Ihre Empfehlung an die Medien weitergebe, wenn sie sich weigert. Es läuft darauf hinaus, ob Eve in Ruhe an dem Schädel arbeiten kann oder ob die Presse die

Frage aufwirft, warum Chief Maxwell nicht alles

daransetzt, den Mord an dem kleinen Mädchen

aufzuklären.«

» Sie wird Sie feuern.«

»Das Risiko gehe ich ein.«

Offenbar war er bereit, alles zu riskieren, um sich in dieser Angelegenheit durchzusetzen. Basil zuckte die Achseln. »Also gut, ich mach's. Es wird mir ein

Vergnügen sein zuzusehen, wie Sie im hohen Bogen

rausfliegen. «

»Gut.« Quinn ging zur Tür. »In einer Stunde bin ich wieder da und hole das Empfehlungsschreiben ab. «

»Ich gehe erst mal Mittag essen. Kommen Sie in zwei Stunden.« Es war zwar nur ein kleiner Sieg, aber

besser als gar nichts. » Sie glauben, dass es die kleine Duncan ist, stimmt's?«

»Weiß nicht. Vielleicht.«

»Und dann wollen Sie, dass ihre Mutter den Schädel bearbeitet? Sie Scheißkerl. Und wenn es wirklich

Bonnie Duncan ist? Was glauben Sie, wie zum Teufel das auf ihre Mutter wirkt? «

Als Antwort auf die Frage schloss Quinn die Tür hinter sich.

EINE INSEL SÜDLICH VON TAHITI DREI TAGE

SPÄTER

Er kam.

Ihr Herz pochte heftig und schnell. Sie war viel zu aufgeregt. Eve Duncan atmete tief durch, während sie beobachtete, wie der Hubschrauber auf der Rollbahn landete. Meine Güte, man hätte denken können, sie erwarte den Engel Gabriel. Dabei war es bloß Joe.

Bloß? Ihr Freund, ihr Begleiter durch den Albtraum, der sie fast zerrissen hätte, und einer der Fixpunkte in ihrem Leben. Und sie hatte ihn seit einem Jahr nicht gesehen. Verdammt, sie hatte allen Grund, aufgeregt zu sein.

Die Tür wurde geöffnet und er stieg aus dem

Hubschrauber. Wie müde er aussah. Sein Gesicht

wirkte fast immer ausdruckslos und für jemanden, der ihn nicht kannte, nicht zu deuten. Aber sie kannte dieses Gesicht. Aus einer Unzahl verschiedener

Situationen konnte sie sich an jeden Blick, an jedes Zucken der Mundwinkel, an all die kleinen geheimen Zeichen erinnern, die so aufschlussreich waren. Sie bemerkte neue, tiefe Falten um den Mund herum und sein kantiges Gesicht war bleich.

Aber die Augen waren unverändert.

Und das Lächeln, das sein Gesicht bei ihrem Anblick aufleuchten ließ ...

»Joe ...« Sie fiel ihm um den Hals. Sicherheit.

Geborgenheit. Verbundenheit. Die Welt war in

Ordnung.

Er hielt sie eine Weile fest umschlungen, schob sie dann von sich weg und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Nase. »Du hast Sommersprossen.

Benutzt du auch brav deine Sonnencreme?«

Beschützend. Bestimmend. Besorgt. Zwei Minuten,

und alles war wieder genau so wie vor vielen Monaten, als sie sich von ihm verabschiedet hatte. Sie grinste ihn an und richtete ihre Nickelbrille. »Natürlich, aber hier ist es praktisch unmöglich, keine Sonne

abzubekommen.«

Er musterte sie von oben bis unten. »In diesen Shorts siehst du aus wie eine Aussteigerin.« Er neigte den Kopf. »Und du wirkst entspannt. Zwar nicht völlig, aber längst nicht mehr so überdreht wie damals, als ich dich zum letzten Mal sah. Logan kümmert sich gut um

dich.«

Sie nickte. »Er ist sehr nett zu mir.«

»Und sonst?«

» Sei nicht so neugierig. Das geht dich nichts an. «

»Das heißt, du schläfst mit ihm.«

»Habe ich nicht gesagt. Und wenn es so wäre?«

Er zuckte die Achseln. »Nichts. Nach allem, was du bei der letzten Rekonstruktion durchgemacht hast, ging es dir ziemlich schlecht. Es ist völlig natürlich, dass du Logans Nähe gesucht hast. Ein Milliardär, der dich vor den Medien rettet und auf seiner eigenen Insel im Südpazifik in Sicherheit bringt. Es hätte mich

gewundert, wenn du nicht prompt in sein Bett gefallen wärst, und noch mehr hätte es mich gewundert, wenn er dich nicht reingeschubst hätte.«

»Ich lasse mich nicht in irgendwelche Betten

schubsen. So was entscheide ich immer noch selbst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Und jetzt hör auf, über Logan herzuziehen. Ihr habt euch schon immer angeknurrt wie zwei Pitbulls. « Sie ging ihm voraus zum Jeep.

»Und hier ist er dein Gastgeber, also versuch, dich anständig zu benehmen. «

»Vielleicht.«

»Joe.«

Er lächelte. »Ich werde mir Mühe geben.«

Sie atmete erleichtert auf. »Hast du Mom getroffen, bevor du abgereist bist?«

»ja, sie lässt dir Grüße ausrichten. Du fehlst ihr.«

Eve kräuselte die Nase. »Nicht sehr. Sie ist immer noch mit Ron liiert. Hat sie dir erzählt, dass sie in ein paar Monaten heiraten wollen? «

Er nickte. »Und wie findest du das?«

»Was glaubst du wohl, wie ich es finde? Ich kann mir für sie nichts Besseres vorstellen. Ron ist nett und Mom hat eine gute Beziehung verdient. Ihr Leben war hart genug.« Das war noch untertrieben. Ihre Mutter war in den Slums aufgewachsen, war jahrelang

drogensüchtig gewesen und hatte im Alter von

fünfzehn Jahren Eve in dieser albtraumhaften

Umgebung zur Welt gebracht. »Es ist gut, dass sie jemanden hat. Sie brauchte immer jemanden und ich selbst war meistens viel zu beschäftigt, als dass ich ihr die nötige Aufmerksamkeit hätte schenken können. «

»Du hast getan, was du konntest. Du warst immer eher wie eine Mutter als wie eine Tochter zu ihr. «

» Lange Zeit war ich zu verbittert, um für sie da zu sein. Erst nachdem Bonnie geboren wurde, haben wir es geschafft, die Kluft zu überbrücken.« Bonnie. Die Geburt ihrer Tochter hatte Eves ganzes Leben

verändert. »Mom wird es jetzt besser haben.«

»Und was ist mit dir? Du hast auch nur sie.«

Eve ließ den Motor des Jeeps an. »Ich habe meine

Arbeit.« Sie lächelte ihn an. »Und ich habe dich, wenn du nicht gerade mit mir schimpfst. «

» Du erwähnst Logan nicht. Freut mich. «

»Wolltest du mich testen? Ich mag Logan sehr. «

»Aber noch hat er dich nicht am Wickel.« Joe nickte zufrieden. »Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es ihm gelingen würde. «

»Wenn du nicht damit aufhörst, über Logan zu reden, werfe ich dich hier an der Straße aus dem Wagen,

dann kannst du nach Tahiti zurück trampen.«

»Ganz schön fies. Hier legt kein Schiff an.«

»Genau.«

»In Ordnung. Ich bin hier eindeutig im Nachteil.«

Ja, allerdings. Und es kam selten vor, dass Joe im Nachteil war. »Wie geht's Diane? «

»Gut.« Er zögerte. »In letzter Zeit sehe ich sie nicht häufig. «

»Die Frau eines Polizisten führt ein Scheißleben.

Schon wieder ein komplizierter Fall? «

»Der komplizierteste überhaupt.« Er ließ den Blick über das Meer schweifen. »Aber ich hätte sie auch so nicht gesehen. Unsere Scheidung wurde vor drei

Monaten rechtskräftig. «

»Wie bitte?« Eve war schockiert. »Warum hast du mir nichts davon gesagt? «

»Da gab's nicht viel zu sagen. Diane konnte sich nie daran gewöhnen, mit einem Polizisten verheiratet zu sein. Sie wird glücklicher sein ohne mich.«

»Warum hat Mom es mir nicht erzählt?«

»Ich hatte sie gebeten, dich nicht zu beunruhigen. Du solltest dich einfach nur ausruhen. «

» O Gott, das tut mir Leid, Joe. « Sie schwieg eine Weile. »Bin ich daran Schuld?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Du bist mein Freund, du hast mir geholfen.

Meinetwegen bist du angeschossen worden, du wärst beinahe gestorben. Ich weiß, dass sie sauer auf mich war. «

Er leugnete es nicht. »Es wäre auch so passiert. Wir hätten nie heiraten dürfen. Es war ein Fehler.« Er wechselte das Thema. »Woran arbeitest du, seit du hier bist?«

Sie warf ihm einen frustrierten Blick zu. Die Scheidung musste ihn tief getroffen haben und sie hätte ihm gern geholfen. Aber er war ihr schon immer ausgewichen, wenn die Rede auf seine Ehe gekommen war.

Vielleicht würde sie später mehr von ihm erfahren.

»Ich habe nicht besonders viel zu tun. Meistens

Mischbilder und Altersbestimmungen. Ein paar Fälle von Gesichtsrekonstruktion, die mir die Kriminalpolizei Los Angeles geschickt hat. « Sie verzog das Gesicht.

»Ich habe schnell herausgefunden, dass die meisten Dienststellen Leute bevorzugen, die auf dem Festland leben. Ich bin hier ziemlich weit ab vom Schuss. Ich beschäftige mich sogar mit Bildhauerei, um etwas zu tun zu haben. «

»Und befriedigt dich das?«

»Mehr oder weniger.«

»Also eher weniger?«

»Es kommt mir ... seltsam vor.«

»Die meisten Leute würden es seltsam finden, mit

Schädeln zu arbeiten. Was sagt Logan dazu? «

»Logan glaubt, dass gewöhnliche Bildhauerei mir gut tut. Wahrscheinlich hat er Recht. «

»Und, tut es dir gut?«

»Nein, irgendwie ... fehlt was.«

» Ein Zweck. «

Es überraschte sie nicht, dass Joe sie verstand. Er hatte sie immer verstanden. »Es geht um die

Verschwundenen. Ich könnte mehr dazu beitragen,

den Verschwundenen ihr Zuhause zurückzugeben.

Logan glaubt, ich bräuchte mehr Distanz dazu. Er

meint, ich solle diese Arbeit aufgeben, er findet, dass ich mir den Beruf ausgesucht habe, der mir am

meisten schadet. «

»Und was antwortest du ihm?«

»Dass er sich um seinen eigenen Kram kümmern

soll.« Sie verzog das Gesicht. »Dasselbe, was ich dir sage. Ich wünschte, ihr beide würdet begreifen, dass ich ohnehin tue, was ich für richtig halte, egal, was ihr darüber denkt.«

Joe lachte. »Daran habe ich nie gezweifelt. Logan vermutlich auch nicht. Darf ich deine Kunstwerke mal sehen? Ich habe dich bisher nur an Schädeln arbeiten sehen. «

»Vielleicht später.« Sie warf ihm einen

durchdringenden Blick zu. »Wenn du dich Logan

gegenüber anständig benimmst.« Sie bog in die

Auffahrt ein, die zu einer riesigen weißen Villa führte.

»Er ist unglaublich nett zu mir, ich möchte nicht, dass du seine Gastfreundschaft missbrauchst.«

»Ein hübsches Haus. Wo arbeitest du?«

»Am Strand neben dem Haus hat Logan mir ein Labor bauen lassen. Hör endlich auf, immer das Thema zu wechseln. Wirst du nett sein zu Logan?«

»Du nimmst ihn ja richtig in Schutz. Soweit ich mich erinnere, kann Logan selbst auf sich aufpassen.«

»Ich nehme meine Freunde immer in Schutz.«

»Nur deine Freunde?« Er musterte sie eindringlich.

»Die Liebhaber nicht?«

Sie wandte den Blick von ihm ab. »Liebhaber können auch Freunde sein. Hör auf, mir auf den Zahn zu

fühlen, Joe. «

»Ist dir nicht wohl bei meinen Fragen? Oder bei der Sache selbst? Übt er zu viel Druck aus?«

»Nein, du bist derjenige, der Druck ausübt.« Sie parkte vor dem Haus und sprang aus dem Wagen. »Hör

endlich auf.«

» Schon gut. Ich denke, ich weiß die Antwort schon.«

Er nahm seinen Koffer vom Rücksitz. »Wenn ich

geduscht habe, bin ich bestimmt weniger kratzbürstig.

Soll ich Logan jetzt gleich begrüßen oder möchtest du mir lieber erst zeigen, wo ich mein müdes Haupt betten kann? «

Weniger kratzbürstig war eindeutig besser. »Es reicht, wenn du uns zum Abendessen Gesellschaft leistest. «

»Wenn ich mich fürs Abendessen in Schale werfen

soll, musst du mich wohl in die Küche verbannen. Ich habe nur diesen einen Koffer dabei.«

»Bist du verrückt? Du weißt genau, dass ich nicht so vornehm bin. Ich ziehe mich nur deshalb mehrmals

täglich um, weil es hier so heiß ist. «

»Man kann nie wissen. Neuerdings verkehrst du ja in gehobenen Kreisen. «

»Logan ist nicht so. Zumindest nicht hier auf der Insel.

Wir leben hier genauso zwanglos, wie ich es von

Atlanta gewöhnt war. «

»Er ist ganz schön clever.«

»Er arbeitet sehr viel. Genauso viel wie früher in den Staaten. Und dann spannt er gern aus, wenn er die Möglichkeit hat.« An der Haustür blieb sie stehen.

»Warum bist du hergekommen, Joe? Hast du Urlaub?«

»Nein, nicht direkt.«

»Was soll das heißen? «

»Na ja, ich hatte noch ein paar Wochen gut. Ich habe reichlich Überstunden gemacht, während du dir hier im tropischen Glück die Sonne auf den Bauch scheinen lässt. «

»Und warum sagst du, dass du >nicht direkt< Urlaub machst? Warum bist du hier, Joe? « »Um dich zu

sehen.«

»Nein, sag es mir.«

Er lächelte. »Um dich nach Hause zu holen, Eve.«

Logan trat vom Fenster weg, als sie in sein

Arbeitszimmer kam. »Wo ist er?«

»Ich habe ihm sein Zimmer gezeigt. Du wirst ihn beim Abendessen treffen. « Sie kräuselte die Nase. »Ich weiß, dass du es kaum erwarten kannst.«

»Mistkerl.«

Sie seufzte. Es ärgerte sie, dauernd zwischen diesen Männern, die sie beide mochte, die Vermittlerin spielen zu müssen. »Ich hätte ihn auch in Tahiti treffen

können. Du hast mir versprochen, ihn freundlich zu behandeln. «

» So freundlich, wie er sich mir gegenüber verhält. «

Logan hielt ihr seine Hand hin. »Komm her, ich möchte dich fühlen.«

Sie ging zu ihm und nahm seine Hand. » Warum? «

Er gab keine Antwort. »Wir wissen beide, warum er hier ist. Hat er schon mit dir gesprochen?«

»Er hat nur gesagt, er will mich nach Hause holen.«

Er stieß einen leisen Fluch aus. »Und was hast du ihm geantwortet? «

»Nichts. «

»Du kannst hier nicht weg, verdammt noch mal. Du

wirst nur wieder in dieses tiefe Loch fallen, in dem ich dich angetroffen habe. «

»So tief war es nun auch wieder nicht. Ich hatte Arbeit.

Ich hatte Ziele. Das hast du nie verstanden, Logan. «

»Ich verstehe nur, dass ich dich verlieren werde. « Er verstärkte den Griff seiner Hand. » Du bist doch glücklich hier bei mir, oder? «

»Ja.«

»Dann lass es nicht so weit kommen. Hör nicht auf diesen verdammten Rattenfänger.«

Sie starrte ihn hilflos an. Sie wollte ihm um Himmels willen nicht wehtun. John Logan war zäh, intelligent, charismatisch, ein erfolgreicher Unternehmer und au-

ßergewöhnlicher Geschäftsmann. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass er zugleich so verletzlich war.

»Es war nie die Rede davon, dass ich für immer hier bleiben würde. «

»Ich wünsche mir aber, dass es für immer sein soll. Ich wollte es nie anders. «

»Das höre ich zum ersten Mal.«

»Weil ich wie auf Eierschalen gehen musste, damit du mir nicht wegläufst. Ich sage es dir jetzt.«

Sie wünschte, er hätte es nicht gesagt. Es würde ihr die Entscheidung unnötig schwer machen. »Wir reden später darüber. «

»Du hast dich schon entschieden.«

»Nein.« Sie hatte sich an diesen lieblichen, friedlichen Ort gewöhnt. Sie hatte sich an Logan gewöhnt. Sie hatte hier eine Zeit voller Zärtlichkeit, Zuneigung und Frieden erlebt. Die Rastlosigkeit, die sie ebenfalls empfand, würde sich vielleicht irgendwann legen. »Ich bin mir nicht sicher. «

»Er wird dafür sorgen, dass du dir sicher bist.«

»Ich treffe meine Entscheidungen allein. Er wird keinen Druck auf mich ausüben. «

»Nein, dazu ist er zu clever. Dafür kennt er dich zu gut.

Was nicht heißt, dass er nicht jede Möglichkeit nutzen wird, dich zur Rückkehr zu bewegen. Hör nicht auf ihn.«

»Ich muss ihn zumindest anhören. Er ist mein bester Freund. «

»Tatsächlich?« Er berührte sanft ihre Wange. »Warum zerrt er dich dann in eine Welt, die dich zerstören könnte? Wie lange kannst du dich mit Schädeln und Morden herumschlagen, ohne einen Zusammenbruch

zu erleiden? «

»Irgendjemand muss es schließlich tun. Ich kann einer Menge Eltern Gewissheit verschaffen, die immer noch nach ihren Kindern suchen. «

»Soll es jemand anderes machen. Du bist zu stark

persönlich betroffen. «

»Wegen Bonnie? Sie hilft mir ja gerade dabei, diese Arbeit zu ertragen. Sie ist der Grund, dass ich mich umso mehr für all jene Eltern einsetze, die auch gern ihre Kinder nach Hause holen möchten.«

»Du wirst wieder zum Workaholic werden.«

Sie verzog das Gesicht. »Nicht auf dieser Insel. Ich bin nicht ausgelastet. «

»Ach, da liegt das Problem? Wir können in die Staaten zurückgehen. Wir können in meinem Haus in Monterey leben. «

»Lass uns später darüber reden«, wiederholte sie.

»Okay.« Er küsste sie leidenschaftlich. »Ich wollte einfach vor Quinn auf dem Spielfeld sein. Du hast die Wahl. Wenn dir nicht mehr gefällt, was ich dir biete, suchen wir etwas anderes. «

Sie umarmte ihn. »Wir sehen uns beim Dinner. «

»Denk darüber nach, Eve.«

Sie nickte und verließ das Zimmer. Natürlich würde sie darüber nachdenken. Sie mochte Logan. Aber liebte sie ihn? Was bedeutete das: Liebe? Sie kannte sich nicht besonders aus mit der Liebe zwischen Mann und Frau. Eve hatte geglaubt, Bonnies Vater zu lieben, aber da war sie gerade erst fünfzehn gewesen; später hatte sie erkannt, dass sie Leidenschaft für ihn

empfand, aber auch das Bedürfnis nach Trost in einer rauen Welt. Sie hatte noch einige weitere Beziehungen gehabt, aber die waren allesamt unwichtig gewesen und hatten sich, sobald sie sich ihrer Arbeit widmete, in nichts aufgelöst. Logan war nicht unwichtig und er würde sich dagegen wehren, von irgendetwas oder ir-gendjemandem in den Hintergrund gedrängt zu wer-

den. Er konnte ihre Leidenschaft wecken und er war freundlich und fürsorglich. Es würde sie traurig machen, wenn er aus ihrem Leben verschwände. Das

könnte in der Tat mit Liebe zu tun haben.

Sie hatte keine Lust, gerade jetzt darüber nachzudenken. Das konnte warten, bis sie mit Joe gesprochen hatte. Sie beschloss, solange in ihr Labor zu gehen und noch weiter mit Hilfe eines Fotos an der Simulation des Alterungsprozesses von Libby Crandall zu arbeiten, die im Alter von acht Jahren von ihrem Vater entführt worden war.

Eve ging den Flur entlang zu der Flügeltür, die zu ihrem Labor führte. Sonnendurchflutet. Alles auf dieser Insel war sonnendurchflutet und hell und sauber. Ein solches Leben würde Logan ihr am liebsten auf Dauer bieten, immer in der Sonne, weit weg von jeder Düsternis. Warum sollte sie ihn nicht gewähren lassen?

Der Schmerz würde nachlassen. Die Erinnerung an

Bonnie würde irgendwann verblassen. Jemand anders würde all den Kindern helfen, die irgendwo da draußen verschwunden waren.

Unmöglich. Niemals. Bonnie und die anderen Ver-

schwundenen waren zu sehr mit ihrem Leben und ih-

ren Träumen verwoben. Sie machten einen großen

Teil ihrer Identität aus, vielleicht den größten.

Logan kannte sie so gut, es war kaum denkbar, dass er diese Wahrheit nicht längst akzeptiert hatte.

Dass sie und die Dunkelheit zusammengehörten.

PHOENIX, ARIZONA

Dunkelheit.

Dom hatte die Nacht immer gemocht. Nicht weil man sich in ihr verbergen konnte, sondern weil ihn das Unbekannte erregte. Nachts wirkte die Welt anders und dennoch wurde für ihn alles umso deutlicher. Hatte nicht Saint-Exupery etwas darüber geschrieben?

0 ja, er erinnerte sich ...

Die heiß geliebte Nacht. Nachts, da schläft der menschliche Verstand und die Dinge sind nur noch ganz einfach da. Alles was wirklich wichtig ist, gewinnt wieder Gestalt, ersteht neu aus der zerstörenden Zergliederung des Tages. Der Mensch setzt seine Bruchstücke aneinander und wird wieder geruhsam, einem Baume gleich.

Er hatte nicht das Gefühl, aus Bruchstücken zu bestehen, die er wieder aneinander setzen musste, aber die Nacht machte ihn ruhig und stark. Bald würde die Ruhe vorbei sein, aber die Kraft würde in ihm an-schwellen wie ein tausendstimmiger Chor.

Chor. Er musste lächeln, als ihm auffiel, wie ein Gedanke den nächsten ergab.

Er richtete sich auf dem Fahrersitz auf. Sie verließ das Haus. Er hatte sie ausgesucht, weil er mal wieder eine besondere Herausforderung brauchte; er war sicher, dass sie ihn mehr stimulieren würde als sein letztes Opfer. Debby Jordan, blond, einunddreißig, verheiratet, zwei Kinder. Sie war Kassenwartin des Eltern-Lehrer-Ausschusses, hatte eine hübsche Sopranstimme und

sang im Chor der Hill Street Methodist Church. Sie war gerade auf dem Weg zur Chorprobe.

Sie würde nie dort ankommen.