Kapitel 3

»Hübsch.« Sandras Blick wanderte über die Hütte und hinab zum Bootssteg. » Gefällt mir, Joe. «

»Warum bist du dann nie gekommen, wenn ich dich

eingeladen habe?« Joe begann, das Gepäck aus dem

Kofferraum zu laden.

»Du weißt doch, ich bin eine Stadtpflanze.« Sandra holte tief Luft. »Aber hier könnte ich's aushalten. Eve hätte mir ja mal was von diesem wunderschönen Aus-blick auf den See erzählen können.«

»Habe ich gemacht«, wandte Eve ein. »Du wolltest

nichts davon hören.«

»Nun ja, es ist ziemlich einsam. Gibt's denn sonst keine Häuser an diesem See?«

»Nein, Joe hat den See mitsamt dem umliegenden

Land gekauft und will nichts davon verkaufen. «

Sandra grinste Joe an. »Das ist aber gar nicht nett.«

»Ich will meine Ruhe haben, wenn ich hier draußen bin.« Er schloss den Kofferraumdeckel. »In der Stadt habe ich genug Menschen um mich. Das Grundstück

ist auf den Namen meiner Bank eingetragen, somit

weiß niemand, dass es mir gehört. Nicht mal meine Dienststelle.« Er lächelte Eve an. »Nur einige wenige ausgewählte Freunde. «

»Na ja, auf jeden Fall wirkt die Hütte nett und

freundlich«, bemerkte Sandra.

Eve hatte das Giebelhäuschen immer gemocht. Es war klein und gemütlich und die vielen Fenster ließen die Sonne herein. »Komm rein und sieh es dir von innen an. «

»Ich muss zurück in die Stadt. Ron macht sich Sorgen, wenn ich zum Abendessen nicht da bin. «

»Du könntest ihn anrufen.«

Sandra schüttelte den Kopf. »Hör mal, ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen. Er soll sich gar nicht erst angewöhnen, allein zu essen. Ich ruf dich morgen an, dann können wir uns unterhalten.« Sie umarmte Eve herzlich. »Willkommen zu Hause, Kleines. Du hast mit gefehlt. « Sie trat einen Schritt zurück und sah Joe an.

»Soll ich dich mit zurück in die Stadt nehmen?«

»Ich habe einen Jeep hier stehen. Danke, Sandra.«

»Keine Ursache.« Sandra stieg wieder in den Wagen und ließ den Motor an. »Bis bald.«

Eve sah ihr nach, als der Wagen sich auf der Schotterstraße entfernte, dann half sie Joe, die Koffer die Verandastufen hinaufzutragen.

»Also, das kapier ich nicht.« Er schüttelte den Kopf.

»Ihr zwei habt euch über ein Jahr nicht gesehen, sie verschwindet zum Abendessen mit ihrem Freund und

du findest das in Ordnung?«

»Du brauchst es nicht zu kapieren. Wir verstehen

einander.« Niemand, der ihre höllische Kindheit nicht miterlebt hatte, würde sich in sie hineinversetzen können. Die Narben waren noch immer vorhanden und

würden nie vollständig verheilen, aber Sandra und sie hatten darauf aufgebaut und ein Zusammengehörig-keitsgefühl entwickelt, mit dem sie gut leben konnten.

»Mom hatte nie zuvor eine stabile Beziehung. Sie hat alles Recht, diese Beziehung zu schützen. Sie hat sich ihm wirklich mit Haut und Haaren verschrieben.«

»Tja.« Er schloss die Tür auf. »Aber es scheint sie nicht zu stören.«

»Nein.« Eve zögerte einen Moment. »Es wird komisch sein, ohne Diane.«

»Warum? Du warst doch schon hier, als ich noch gar nicht verheiratet war. Diane hat dieses Haus nie wirklich gemocht. Sie bevorzugt die Zivilisation. «

Eve sah sich um und musste an Joes Retriever

denken, der immer an ihr hochgesprungen war, um sie zu begrüßen. »Wo ist George? In deiner

Stadtwohnung?

»Nein, er ist bei Diane. Ich bin ja kaum zu Hause. Bei ihr ist er besser aufgehoben.«

» Das muss dir schwer gefallen sein. «

»Stimmt. Ich liebe diesen Hund.« Er öffnete die Tür und wies in eine Ecke des Zimmers.

»Großer Gott.« Videokameras, ein Computer, ein

Arbeitstisch und ein hoher, schlanker Sockel. »Wo hast du das alles her? «

»Ich habe dein Labor in der Stadt geplündert und die komplette Einrichtung hergeschafft, die die

Versicherungsgesellschaft nach dem Schaden im

letzten Jahr ersetzt hatte. Ich glaube, ich habe an alles gedacht. «

»Das glaube ich auch.« Sie ging hinein. »Du hast alle meine Wünsche erfüllt. «

»Das ist mein Lebensziel«, erwiderte er leichthin. »Ich habe auch Vorräte an Lebensmitteln eingekauft. Es ist kühl hier drinnen. « Er ging zum Kamin und kniete sich vor die Holzscheite. »Ich mache dir Feuer, bevor ich losfahre.«

»Du bleibst nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Reporter sind auf der Suche nach dir. Es ist nicht leicht, die Hütte ausfindig zu machen, aber auch nicht unmöglich. Ich muss mir was einfallen lassen, um sie auf die falsche Fährte zu locken.« Er zögerte. »Und ich werde Sandra sagen, dass sie nicht hierher kommen soll, bis du deine Arbeit abgeschlossen hast. Jemand könnte ihr folgen. Wenn du auf den neuesten Stand gebracht werden willst, mach es telefonisch. Okay? «

»Okay.« Er hatte alles angesprochen, nur das

Wichtigste nicht. »Und wann bekomme ich den

Schädel? «

»Morgen. Er ist noch an der Georgia State University bei Dr. Comden, dem Anthropologen, der den Bericht erstellt hat. Ich werde mir von meiner Dienststelle eine Freigabe besorgen und ihn morgen früh abholen, dann bringe ich ihn dir morgen Nachmittag. Wenn sich etwas ändern sollte, rufe ich dich an.« Er ging zur Tür. »Sieh zu, dass du in der Zwischenzeit ein bisschen Schlaf bekommst. Du hast während des Fluges höchstens

eine Stunde gedöst.«

»Okay.« Und bedächtig fügte sie hinzu: »Aber vorher rufe ich bei Logan an, um ihm zu sagen, dass wir gut angekommen sind.«

» Er wird nicht damit rechnen. «

»Aber er wird sich freuen. Ich will ihn nicht einfach so aus meinem Leben streichen, nur weil wir nicht mehr zusammen sind. Das hat er nicht verdient. «

Joe zuckte die Achseln. »Ich will mich nicht mit dir streiten, aber lass dich nicht von ihm durcheinander bringen. Du musst dich ausruhen. «

»Ich werde mich ausruhen.«

»Ich meine das ernst. Wir wissen beide nicht, wie du reagieren wirst, wenn du den Schädel des Kindes

siehst. Ich möchte nicht, dass du daran zerbrichst.«

» Ich werde nicht daran zerbrechen. «

»Schlaf ein bisschen«, wiederholte er und schloss die Tür hinter sich.

Sie trat ans Fenster und beobachtete, wie er um das Haus zur Garage ging. Nach ein paar Minuten erschien der Jeep in der Auffahrt und verschwand dann außer Sichtweite.

Sie war allein.

Die Sonne, die sich im See spiegelte, wirkte plötzlich schwächer und kälter. Die Pinien am gegenüberliegenden Ufer warfen dichte Schatten, die wie eine dunkle Decke wirkten. Sie fröstelte, trat nah an das prasseln-de Kaminfeuer und streckte die Hände aus. Die Wär-me tat gut und vertrieb die Kälteschauer, die sie so plötzlich überkommen hatten.

Alles Einbildung. Alles war noch genauso wie zuvor, als Mom und Joe noch da gewesen waren. Eve war es nur nicht mehr gewöhnt, allein zu sein. Auf der Insel war sie selten allein gewesen. Selbst wenn sie

gearbeitet hatte, war Logan nie weiter als fünf Minuten entfernt gewesen.

Sie durfte sich nichts vormachen. Nicht wegen des Alleinseins empfand sie die Kälte, vielmehr war es Angst und Nervosität. Sie war im Grunde genauso unsicher wie Joe, wie sie darauf reagieren würde, den Schädel in der Hand zu halten. Ob sie in der Lage sein würde, das Entsetzen auszublenden und ihre Aufgabe professionell zu erfüllen.

Natürlich würde sie das. Sie war es Bonnie schuldig.

Oder wer auch immer das kleine Mädchen sein

mochte. Sie durfte nicht davon ausgehen, dass es

Bonnie war, sonst könnten ihr Hände und Verstand

einen Streich spielen. Sie musste den Schädel völlig unvoreingenommen betrachten.

Zerknirscht fragte sie sich, ob sie dazu jemals in der Lage gewesen war. Jede Rekonstruktion eines verlorenen Kindes war ihr ans Herz gegangen und am Ende

fühlte sie sich jedes Mal gefühlsmäßig ausgelaugt.

Doch diesmal musste sie ihre Emotionen in besonderem Maße kontrollieren. Auf keinen Fall durfte sie in dieses dunkle Loch fallen.

Sie musste sich beschäftigen und nicht daran denken, was sie erwartete. Sie nahm das Telefon und wählte Logans Handynummer. Niemand ging dran. Lediglich

die Mailbox schaltete sich ein.

»Hallo, Logan, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich in Joes Hütte bin. Mir geht's gut und morgen soll ich den Schädel bekommen. Ich hoffe, bei dir ist alles in Ordnung. Pass auf dich auf. « Sie legte auf.

Dass sie Logan nicht erreicht hatte, verstärkte noch ihr Gefühl, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Das sichere, heile Leben mit Logan schien ihr schon jetzt unendlich weit entfernt und die Entfernung vergrößerte sich mit jeder Minute.

Herrgott noch mal, sie durfte sich nicht verrückt machen. Sie würde einen Spaziergang am See machen,

damit sie müde wurde und schlafen konnte.

Die Kleidung in ihren Koffern war für die Tropen gemacht, deshalb ging sie in Joes Schlafzimmer und holte sich Jeans und ein Flanellhemd. Sie schlüpfte in ihre Tennisschuhe und Joes Windjacke und eilte die Stufen hinunter.

Sie war allein. Dom beobachtete Eve Duncan, wie sie mit forschen Schritten den Fußweg zum See

hinabging. Sie hatte die Hände in die Jackentaschen geschoben und die Stirn leicht gerunzelt.

Sie war größer, als er sie in Erinnerung hatte, wirkte jedoch äußerst zerbrechlich in der viel zu großen Jacke. Doch sie war nicht zerbrechlich. Das konnte er an ihren Bewegungen ablesen und an der Art, wie sie das Kinn vorreckte. Stärke hatte häufig mehr mit dem Geist als mit dem Körper zu tun. Er hatte schon Opfer gehabt, von denen er geglaubt hatte, sie würden sich auf der Stelle ergeben, die sich dann aber doch erbittert gewehrt hatten. Sie war auch so ein Fall.

Das Täuschungsmanöver am Flughafen war unter-

haltsam gewesen, aber er war schon zu lang im Ge-

schäft, als dass er sich davon hätte beeindrucken lassen. Er hatte längst gelernt, dass man dem Gegner immer einen Schritt voraus sein musste, wenn man

seinen Lohn einstreichen wollte.

Und dieser Lohn lag nun in Reichweite. Nachdem er den Aufenthaltsort von Eve Duncan in Erfahrung gebracht hatte, konnte das Spiel losgehen.

GEORGIA STATE UNIVERSITY

» Morgen, Joe. Kann ich Sie kurz sprechen? «

Joe straffte die Schultern, als er den hoch gewachsenen Mann erkannte, der sich aus dem Schatten der

Mauer des Science Building löste. »Ich beantworte keine Fragen, Mark. «

Mark Grunard lächelte verbindlich. »Ich sagte sprechen, nicht fragen. Andererseits, wenn Sie das Bedürfnis verspüren, sich zu öffnen und ... «

»Was machen Sie hier?«

»Es gehörte nicht viel Fantasie dazu zu wissen, dass Sie hier auftauchen, um den Schädel zu holen. Ich bin bloß froh, dass meine Journalisten-Kollegen damit beschäftigt sind, Eve Duncan ausfindig zu machen. Dadurch habe ich Sie ganz für mich allein. «

Joe verfluchte im Stillen das Polizeirevier von Atlanta, weil sie den Aufbewahrungsort des Skeletts bekannt gegeben hatten. »Zu früh gefreut. Es gibt keine

Geschichte, Mark. «

»Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie zu Dr.

Comdens Büro begleite? Danach verschwinde ich auf der Stelle. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unter-breiten.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Mark? «

»Es wäre zu unserem beiderseitigen Nutzen.«

Er ging neben Joe her. »Wollen Sie's hören?«

Joe musterte ihn. Mark hatte ihn immer schon mit

seiner Aufrichtigkeit und Intelligenz beeindruckt. »Ich höre. «

»Sie kommen wegen des Kindes, richtig?« Dr. Phil

Comden erhob sich und gab Joe die Hand. »Tut mir

Leid, dass mein Bericht so dürftig ausgefallen ist.« Er ging auf die Tür am Ende des Korridors zu. »Ich habe gelesen, dass Eve Duncan die Rekonstruktion vorneh-men wird. «

» Stimmt. «

»Ihnen ist sicherlich bekannt, dass Gesichtsrekonstruktionen vor Gericht keine Beweiskraft haben. Sie sollten auf die DNA-Analyse warten. «

»Das dauert zu lange.«

»Kann ich verstehen.« Er führte Joe ins Labor zu der Reihe von Schubladen, die denen in Leichenhallen ähnelten. »Sie wollen nur den Schädel?«

»Den Rest des Skeletts können Sie zur Gerichtsmedizin zurückschicken. «

»Sie glaubt, dass es ihr Kind ist?«

» Sie hält es für möglich. «

»Das ist hart. « Er fasste den Griff und zog die

Schublade heraus. »Wenn man an einem dieser

Kinderskelette arbeitet, kommt man gar nicht umhin, sich Gedanken zu machen, wie sie ... Scheiße! «

Joe schob ihn zur Seite und warf einen Blick in die Schublade.

Eve ging beim ersten Klingeln ans Telefon.

»Es ist verschwunden«, sagte Joe gepresst.

»Wie bitte?«

»Das Skelett ist weg.«

Sie erstarrte. »Wie ist das möglich?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Dr. Comden behauptet, dass es noch in der Schublade war, als er gestern Abend das Labor verlassen hat. Heute Mittag war es nicht mehr da. «

Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Könnte es jemand von der Gerichtsmedizin abgeholt haben?«

»Das hätte Dr. Comden abzeichnen müssen.«

»Vielleicht ist etwas Unvorhergesehenes passiert und sie haben es abgeholt, ohne ... «

»Ich habe Basil angerufen. Niemand war befugt, das Skelett zu holen. «

Sie war vollkommen benommen. »Irgendjemand

muss... «

»Ich bin dabei herauszufinden, wie das passieren

konnte. Ich wollte nur nicht, dass du auf den Schädel wartest. Ich ruf dich an, sobald ich was weiß. «

»Also ist sie wieder ... verschwunden?«

»Ich werde sie finden. « Und nach einer Weile: »Vielleicht ist es nur ein makabrer Scherz. Du weißt ja, wie Studenten sind. «

»Glaubst du, einer der Studenten hat das Skelett gestohlen? «

»Das ist zumindest die Vermutung von Dr. Comden. «

Sie schloss die Augen. »O mein Gott.«

»Wir werden es zurückholen, Eve. Ich befrage jeden, der gestern Abend und heute in der Nähe des Labors war. «

»Okay«, erwiderte sie verstört.

»Ich rufe an, sobald ich etwas weiß«, wiederholte er und beendete die Verbindung.

Eve legte den Hörer auf. Bloß nicht aufregen. Joe würde das Skelett finden. Dr. Comden hatte

wahrscheinlich Recht. Wahrscheinlich steckte

irgendein Jungspund dahinter, der seinen Streich

wahnsinnig komisch fand und ...

Das Telefon klingelte. Noch einmal Joe?

» Hallo? «

»Sie war so ein hübsches kleines Mädchen.«

»Wie bitte? «

»Sie müssen mächtig stolz auf Ihre Bonnie gewesen sein.«

Sie erstarrte. » Wer ist da? «

»Ich hatte Mühe, mich an sie zu erinnern. Es waren so viele. Dabei war sie im Grunde unvergesslich. Sie war ganz besonders. Sie hat um ihr Leben gekämpft.

Wussten Sie, dass Kinder nur sehr selten kämpfen?

Sie nehmen es einfach hin. Deshalb wähle ich sie nur noch selten aus. Es ist, als würde man einen Vogel töten. «

» Wer ist da? «

»Sie flattern ein bisschen und dann sind sie ruhig.

Bonnie war nicht so.«

»Sie verlogenes Arschloch«, sagte sie heftig. »Sie sind ein Psychopath.«

»Nicht wie die anderen, das kann ich Ihnen versichern.

Nicht so wie Fraser. Obwohl ich ein ausgeprägtes Ego habe, brüste ich mich nicht mit Morden, die andere begangen haben.« Es war, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen versetzt.

»Fraser hat meine Tochter getötet.«

»Tatsächlich? Warum hat er Ihnen dann nicht gesagt, wo ihre Leiche ist? Wo all die anderen Leichen sind? «

»Weil er grausam war. «

»Weil er es nicht wusste.«

»Er wusste es. Aber er wollte uns leiden lassen.«

»Das stimmt. Und er wollte noch berühmter werden, indem er Morde gestand, auf die er kein Anrecht hatte.

Anfänglich war ich verärgert, später hat es mich

amüsiert. Ich habe sogar im Gefängnis mit ihm gesprochen. Ich habe ihm eine Nachricht übermitteln lassen, dass ich Journalist sei, und diese Chance ließ er sich nicht entgehen. Als er mich anrief, steckte ich ihm ein paar zusätzliche Details, mit denen er die Polizei füttern konnte. «

»Er wurde auf frischer Tat beim Mord an Teddy Simes verhaftet. «

»Ich habe nicht behauptet, er sei völlig unschuldig gewesen. Tatsächlich durfte er den kleinen Simes und vier weitere für sich beanspruchen. Aber die anderen gehören mir. « Er schwieg einen Moment. »Einschließ-

lich der kleinen Bonnie Duncan. «

Eve zitterte so heftig, dass sie kaum den Hörer halten konnte. Sie musste sich beherrschen. Dieser Anruf war ein übler Scherz. Irgendein Perverser, der ihr wehtun wollte. Schon während des Prozesses gegen Fraser

hatte sie einige derartige Anrufe erhalten. Doch dieser Mann klang so ruhig, so selbstsicher, beinahe gleichgültig.

Sie musste ihn dazu bringen, dass er weitersprach.

Damit er sich als Lügner verriet. »Sie sagten doch, es gefalle Ihnen nicht, Kinder zu töten. «

»Damals habe ich noch herumexperimentiert. Ich

wollte herausfinden, ob es sich lohnt, sich regelmäßig mit ihnen zu beschäftigen. Bonnie hätte mich beinahe davon überzeugt, aber die nächsten beiden waren eine grausame Enttäuschung. «

»Warum ... rufen Sie mich an?«

»Weil wir einander doch in gewisser Weise verbunden sind, nicht wahr? Wir haben Bonnie.«

.»Sie verlogener Scheißkerl.«

»Oder besser gesagt, ich habe Bonnie. Ich werfe gerade einen Blick auf sie. Sie sah viel hübscher aus, als ich sie vergraben habe. Ist doch traurig, dass wir alle als ein Haufen Knochen enden müssen.«

»Sie schauen sie an?«

»Ich erinnere mich, wie sie mir beim Schulpicknick durch den Park entgegenlief. Sie aß ein Erdbeereis im Hörnchen und ihre roten Haare leuchteten in der Sonne. Sie war so lebendig. Ich konnte nicht widerstehen.«

Dunkelheit. Nicht ohnmächtig werden.

»Sie haben dieselbe Ausstrahlung. Ich spüre das. Sie sind nur um so vieles stärker. «

»Ich werde jetzt auflegen.«

»Ja, Sie klingen ein wenig angeschlagen. Das kommt vor, wenn man unter Schock steht. Aber ich bin sicher, dass Sie sich bald wieder erholt haben. Ich melde mich wieder. «

»Hol Sie der Teufel. Warum tun Sie das?«

Er schwieg einen Augenblick. »Weil es notwendig ist, Eve. Nach unserem kleinen Schwätzchen bin ich

davon noch überzeugter als zuvor. Ich brauche Sie. Ich spüre Ihre Gefühle wie eine Flutwelle. Es ist ...

stimulierend. «

»Ich werde nicht ans Telefon gehen.«

»Doch, das werden Sie. Weil es immer noch die

Möglichkeit gibt, dass Sie sie zurückbekommen.«

»Sie lügen. Wenn Sie angeblich diese Kinder getötet haben, warum haben Sie dann nur Bonnie mit den Erwachsenen begraben?«

»Ich bin sicher, dass ich mehr vergraben habe, als gefunden wurden. Ich erinnere mich schwach an zwei

weitere Kinder. Warten Sie ... zwei Jungs. Älter als Bonnie. Zehn oder zwölf. «

»Es wurden nur die Gebeine eines Kindes gefunden. «

»Dann sind die anderen wohl übersehen worden. Sa-

gen Sie der Polizei, man solle in der Schlucht weitersuchen. Der Erdrutsch muss sie hinabgerissen haben.«

Die Verbindung war tot. Eve sackte an der Wand

entlang auf den Fußboden. Ihr war kalt. Eiskalt.

0 Gott. Mein Gott.

Sie musste etwas unternehmen. Sie konnte sich nicht einfach ihrem Schrecken überlassen. Joe. Sie musste Joe anrufen.

Mit zitternden Händen wählte sie seine Handynummer.

»Komm her«, sagte sie, als er antwortete. »Du musst herkommen. «

»Eve?«

»Komm her, Joe.«

»Was zum Teufel ist los? «

Es gab noch etwas, das sie ihm sagen musste.

»Talladega. Sag ihnen ... sie sollen die Schlucht absuchen. Zwei ... kleine Jungen. « Sie legte auf und lehnte sich gegen die Wand. Sie durfte nicht darüber nachdenken. Sie musste sich in ihre Benommenheit

einhüllen, bis Joe da war.

Sie durfte nicht ohnmächtig werden. Sie durfte den Schrei nicht herauslassen, der sich in ihr hochdrängte.

Sie musste warten, bis Joe eintraf.

Als Joe eine Stunde später ankam, saß sie immer

noch auf dem Fußboden.

Mit wenigen großen Schritten war er bei ihr und kniete sich neben sie. »Bist du verletzt?«

»Nein.«

»Und wieso jagst du mir dann einen solchen Schre-

cken ein? «, fuhr er sie an. Er trug sie zur Couch hin-

über. »Mich hätte fast der Schlag getroffen. Mein Gott, was fühlst du dich kalt an.«

»Der Schock. Er sagte ... ich stehe unter Schock.«

Er rieb ihre linke Hand, um sie zu wärmen.

» Wer hat gesagt, du stündest unter Schock? «

»Ein Anruf. Ich dachte erst, es wäre ein Irrer. Wie diese Anrufe, nachdem Bonnie ... « Sie brauchte eine Weile, bis sie sich gefasst hatte. »Aber es war kein Irrer. Hast du in Talladega angerufen?«

»Ja.« Er rieb ihr auch die andere Hand. »Erzähl mir alles. «

»Er hat behauptet, er hätte Bonnies Leiche.« Die

Taubheit ließ nach und sie fing an zu zittern. »Er meinte, sie wäre nicht mehr so hübsch wie damals, als er.... «

» Beruhige dich. « Er nahm die Decke vom Sessel und legte sie ihr über. Dann ging er zur Kochecke und begann, Kaffee zu kochen. »Tief durchatmen. Okay?«

» Okay. « Sie schloss die Augen. Tief durchatmen.

Den Schmerz und das Entsetzen abklingen lassen.

Einatmen, ausatmen. Loslassen oder es wird dich

zerreißen.

»Mach die Augen auf.« Joe saß neben ihr auf der

Couch. »Trink.«

Kaffee. Heiß. Zu süß.

Er sah zu, wie sie die Tasse zur Hälfte leerte.

»Besser? «

Sie nickte hastig.

»Jetzt erzähl mir alles. Langsam. Lass dir Zeit. Wenn es zu viel wird, hör auf. «

Sie musste drei Mal abbrechen, bevor sie zu Ende

sprechen konnte. Als sie schließlich schwieg, saß er einen Moment lang einfach nur da. »War das alles?

Hast du mir alles erzählt? «

»Reicht das etwa nicht?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Doch.« Er wies mit dem Kinn auf die Tasse. »Trink den Kaffee aus.«

»Er ist kalt.«

»Ich mach dir noch einen.« Er stand auf und ging zum Herd.

» Er hat Bonnie getötet, Joe. «

» Vielleicht war es wirklich nur ein Irrer. «

Sie schüttelte den Kopf. »Er hat sie getötet.«

»Du stehst total neben dir. Lass dir ein bisschen Zeit, wieder zu dir zu kommen. «

»Ich brauche keine Zeit. Er wusste sogar von dem

Eis.«

Er sah sie erstaunt an. » Welches Eis? «

»Er sagte, sie hätte an dem Tag im Park ein Hörnchen mit Erdbeereis gegessen.«

»Dieses Detail ist der Presse nie bekannt gegeben worden«, murmelte Joe.

»Fraser wusste es. Er hat der Polizei gegenüber ausgesagt, dass Bonnie ein Hörnchen mit Erdbeereis in der Hand hatte.«

»Er hat auch ihre Kleidung beschrieben.«

»Vielleicht hatte er das aus den Zeitungen. «

»Aber er wusste auch von dem Muttermal auf ihrem

Rücken. «

Eve rieb sich die schmerzenden Schläfen. Joe hatte Recht. Aus genau diesen Gründen war sie sich sicher gewesen, dass Fraser Bonnie getötet hatte. Wie hatte sie so sicher sein können? »Er hat behauptet, er hätte Fraser damals dazu gebracht, ihn zurückzurufen,

indem er sich als Reporter ausgab, und ihm

Einzelheiten gesteckt. Wäre das möglich?«

Joe dachte nach. »Durchaus. Fraser gab jedem ein

Interview, der ihm zuhörte. Sein Verteidiger war stinksauer deswegen. Und niemand hatte eine Ahnung vom Inhalt dieser Gespräche, weil man in Georgia eine Genehmigung braucht, um Telefonate aufzuzeichnen.

Warum hätte man die Gespräche auch aufnehmen sol-

len? Fraser hatte die Morde ja bereits gestanden. Es war klar, dass die Akte bald geschlossen würde.«

»Keine der Leichen, die er angeblich vergraben hatte, wurde je gefunden.«

»Das war für die Justiz nicht so wichtig wie für dich. «

Herrgott, daran konnte sie sich noch gut erinnern. Es war ihr vorgekommen, als liefe sie mit dem Kopf gegen die Wand, als sie versuchte, die Behörden auch nach dem Geständnis zur Weitersuche zu bewegen. »Hätte es aber sein sollen.«

Joe nickte. »Aber sie hatten ausreichend Gründe,

Fraser auf den elektrischen Stuhl zu schicken. Fall abgeschlossen.«

»Und das Eis ... «

»Es ist lange her. Vielleicht hat der Eismann es aller Welt erzählt. «

»Die Polizei hatte ihn angewiesen, nicht darüber zu sprechen.«

Joe zuckte die Achseln. »Für die meisten Leute war der Fall mit Frasers Hinrichtung erledigt.«

»Also gut, der Eismann könnte es irgendwem erzählt haben. Aber was, wenn nicht? Was, wenn Fraser sie gar nicht getötet hat? «

»Eve ...«

»Und wenn der Scheißkerl, der mich angerufen hat, sie getötet hat? Er hat das Skelett aus dem Labor ent-wendet. Warum sollte er das tun, es sei denn ... «

»Schsch.« Joe brachte ihr frischen Kaffee und setzte sich wieder neben sie. »Ich habe auch keine Antworten auf all diese Fragen. Ich spiele einfach nur den

advocatus diaboli, damit wir mit klarem Verstand an die Sache herangehen. «

»Warum sollten wir mit klarem Verstand denken?

Dieser Scheißkerl, der sie umgebracht hat, ist auch nicht bei Verstand. Du hättest ihn hören sollen. Es hat ihm Spaß gemacht, mir wehzutun. Er hat mir nach und nach immer mehr erzählt, bis ich völlig am Boden

war.«

»Okay, reden wir über den Kerl. Wie klang seine

Stimme? Jung oder alt?«

»Schwer zu sagen. Er hörte sich an, als spräche er aus der Tiefe eines Brunnens. «

»Das war ein Sprachverzerrer«, erklärte Joe. »Hatte er eine besondere Ausdrucksweise? Einen Akzent? Einen bestimmten Wortschatz? Sprach er Slang?«

Sie versuchte sich zu erinnern. Es fiel ihr schwer, die Sprechweise und den Inhalt der Worte, die ihr solche Schmerzen bereitet hatten, auseinander zu halten. »Er hatte keinen Akzent. Er wirkte ... redegewandt.

Vermutlich ist er gebildet.« Sie schüttelte müde den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich konnte keinen klaren

Gedanken mehr fassen, nachdem er Bonnie erwähnt

hatte. Nächstes Mal werde ich mir mehr Mühe geben.«

»Wenn es ein nächstes Mal gibt.«

»Davon gehe ich aus. Er fand es stimulierend, so hat er es genannt. Und warum sollte er mich einmal

anrufen und es dann dabei belassen? « Sie wollte

einen Schluck von ihrem Kaffee trinken, hielt aber in der Bewegung inne. » Das hier ist doch eine

Geheimnummer. Wie hat er die rausgekriegt? «

Joe schüttelte den Kopf. »Mich beunruhigt viel mehr, dass er dich überhaupt gefunden hat.«

»Vielleicht ein Zufallstreffer?«

»Könnte sein.« Er überlegte. »Wir müssen immer noch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass irgendein Student an der Uni dir einen üblen Streich spielen will.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Okay, dann gibt es noch die Möglichkeit, dass er der Mörder von Talladega ist, Bonnie aber gar nicht getötet hat, sondern sich nur damit brüstet, genau wie er es Fraser vorgeworfen hat. «

»Er wusste von dem Eis.«

»Oder er ist einer von denen, die jeden Mord gestehen, ohne irgendetwas damit zu tun zu haben. «

»Das werden wir ja bald wissen«, flüsterte Eve. »Wenn diese jungen in Talladega gefunden werden.«

»Die Suche ist im Gange. Ich habe sofort nach deinem Anruf mit Robert Spiro telefoniert.«

»Wer ist Robert Spiro? «

»Ein Mitglied der Abteilung für Verhaltensforschung des FBI. Er gehört zum Talladega-Team. Ein

ausgezeichneter Mann. «

»Kennst du ihn?«

»Er war schon zu meiner Zeit bei der Firma. Ein Jahr nach meinem Ausscheiden wechselte er in die

Abteilung für die Erstellung von Täterprofilen. Er ruft mich an, sobald sie irgendetwas gefunden haben.«

»Nein.« Sie stellte ihre Tasse ab und warf die Decke von den Schultern. »Ich muss nach Talladega.«

» Du brauchst Ruhe. «

»Blödsinn. Wenn sie die Leichen beim ersten Mal

wirklich übersehen haben, werde ich dafür sorgen, dass sie diesen Fehler nicht noch einmal machen.« Sie erhob sich. Gott, sie hatte ganz weiche Knie. Sie musste sich bewegen, dann würde es besser werden.

»Kann ich den Jeep nehmen? «

»Nur, wenn du mich mitnimmst. « Joe zog seine Ja-

cke an. »Und wenn du wartest, bis ich die Thermos-kanne mit Kaffee gefüllt habe. Es ist kalt draußen. Wir sind hier nicht auf Tahiti. «

»Außerdem hast du Angst, dass ich noch unter

Schock stehe. «

Er ging zur Kochnische. »Nein, du bist schon fast wieder normal. «

Sie fühlte sich nicht normal. Innerlich zitterte sie noch immer und ihre Nerven lagen blank. Wahrscheinlich wusste Joe Bescheid und ging taktvoll darüber

hinweg. Das Gleiche sollte sie tun. Einen Schritt nach dem anderen. Zuerst musste sie herausfinden, ob

dieser Scheißkerl ihr in Bezug auf Talladega Lügen aufgetischt hatte. Wenn diese Geschichte gelogen

war, dann hatte er auch in Bezug auf Bonnie gelogen.

Wenn er aber die Wahrheit sagte?

Es war nach Mitternacht, als sie bei den Wasserfällen von Talladega ankamen, aber die vielen Scheinwerfer tauchten die Abhänge in taghelles Licht.

»Willst du hier warten?«, fragte Joe, als er aus dem Jeep stieg.

Sie starrte einen Steilhang hinauf. »Wurden die

Leichen dort gefunden? «

»Das erste Skelett wurde auf dem nächsten Bergrü-

cken gefunden, alle anderen da oben. Das Kind lag am nächsten an der Schlucht.« Er sah sie nicht an. »Es ist nur ein Loch in der Erde. Es gibt dort nichts zu sehen.«

Doch die ganzen Jahre hatte an jener Stelle ein kleines Mädchen gelegen. Ein kleines Mädchen, das Bonnie

sein könnte. »Ich möchte die Stelle sehen.«

»Das habe ich mir gedacht. «

»Warum fragst du mich dann erst, ob ich hier warten will? « Sie stieg aus dem Wagen und marschierte los.

»Das liegt an meinem Beschützerinstinkt.« Er schaltete die Taschenlampe ein und folgte ihr. »Eigentlich sollte ich es langsam besser wissen.«

»Stimmt.« Am frühen Abend hatte es gefroren und der Boden knirschte unter ihren Füßen. Ob sie denselben Weg nahmen wie der Mörder, als er seine Opfer

hierher geschleppt hatte?

Sie vernahm das Dröhnen der Wasserfälle. Oben an-

gekommen, sah sie, wie das Wasser in einem langen silbrigen Strom in die Schlucht stürzte. Sie musste sich zusammenreißen. Bloß nicht umdrehen. Noch nicht.

»Weiter links«, sagte Joe ruhig.

Sie holte tief Luft und riss sich vom Anblick der Wasserfälle los. Sie entdeckte das gelbe Band, das die Ab-sperrung markierte, und dann ... das Grab.

Es war klein. So winzig klein.

»Alles in Ordnung?« Joe nahm ihren Arm.

Nein, nichts war in Ordnung. »Hier war sie vergraben?«

»Vermutlich. Auf jeden Fall wurde sie hier gefunden und man kann davon ausgehen, dass der Erdrutsch

sie lediglich freigelegt hat. «

»Hier war sie also. Die ganze Zeit ...«

»Vielleicht ist es gar nicht Bonnie.«

»Ich weiß«, erwiderte sie mit schwacher Stimme.

»Du brauchst mich nicht dauernd daran zu erinnern, Joe. «

»Doch, das muss ich. Vor allem musst du dich selbst daran erinnern.«

Der Schmerz war zu heftig. Sie musste ihn ausblenden. » Schön ist es hier. «

»Wunderschön. Der Sheriff erzählte, die Indianer

hätten die Wasserfälle >Ort des fallenden Mondlichts< genannt. «

»Aber bestimmt hat er sie nicht hier vergraben, weil es so schön ist«, sagte sie zitternd. »Er wollte, dass sie nie gefunden und zu den Menschen, die sie geliebt haben, zurückgebracht werden können. «

» Meinst du nicht, dass du lange genug hier warst? «

»Lass mir noch einen Augenblick.« »So viele du

möchtest.«

»Gott, ich hoffe, er hat ihr nicht wehgetan«, flüsterte sie. »Ich hoffe, dass es schnell vorbei war.«

»Jetzt reicht's.« Joe zog sie vom Grab weg. »Tut mir Leid, ich dachte, ich könnte es ertragen, aber es geht nicht. Ich muss dich von hier weg... «

»Stehen bleiben, keine Bewegung.« Ein großer,

schlanker Mann kam vom Rand des Steilhangs auf sie zu. In der einen Hand hielt er eine Taschenlampe, in der anderen einen Revolver. »Weisen Sie sich aus. «

»Spiro? « Joe stellte sich vor Eve. »Joe Quinn. «

»Was machen Sie hier oben?«, fragte Robert Spiro.

»Hier kann man sich leicht eine Kugel einfangen. Das ganze Gelände ist abgesperrt.«

»Vom FBI? Ich dachte, Sie wären nur in beratender Funktion hier. «

»Ursprünglich ja, aber mittlerweile haben wir die Ermittlungen übernommen. Sheriff Bosworth hatte

keine Einwände. Er wollte raus aus der Geschichte. «

»Glauben Sie, der Mörder könnte zurückkommen?

Überwachen Sie deshalb die Gräber?«, fragte Eve.

Spiro warf ihr einen Blick zu. »Und wer sind Sie?«

»Eve Duncan, und das ist Agent Robert Spiro«, sagte Joe.

» Oh, guten Abend, Miss Duncan. « Spiro schob die Waffe in sein Unterarm-Holster und hob die Lampe, um Eve zu betrachten. »Tut mir Leid, wenn ich Ihnen einen Schrecken eingejagt habe, aber Quinn hätte Bescheid geben sollen, dass Sie herkommen.«

Spiro war Ende vierzig, er hatte tief liegende, dunkle Augen und braunes Haar, das um die hohe Stirn schütter wurde, und tiefe Falten zu beiden Seiten des Mundes. Er wirkte so ausgebrannt, wie Eve es noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. »Glauben

Sie«, wiederholte sie, »dass er zurückkommen

könnte? Es ist nicht ungewöhnlich, dass Serienmörder zu den Gräbern ihrer Opfer zurückkehren. «

»Stimmt, selbst die Abgebrühtesten können sich diesem letzten Kick nicht entziehen.« Er wandte sich an Joe. »Wir haben noch nichts gefunden. Sind Sie

sicher, dass der Hinweis verlässlich ist? «

»Er ist verlässlich«, gab Joe zurück. »Werden Sie die Suche unterbrechen, bis es hell wird? «

»Nein. Sheriff Bosworth meint, seine Leute kennen die Schlucht wie ihre Westentasche. « Er blickte zu Eve.

»Es ist kalt hier an den Wasserfällen. Sie sollten lieber gehen. «

»Ich werde warten, bis Sie die Leichen der Jungen gefunden haben. «

Er zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen. Das kann

noch eine Weile dauern. « Zu Joe gewandt sagte er:

»Ich muss mit Ihnen über den >verlässlichen< Hinweis reden. Haben Sie etwas gegen einen Spaziergang einzuwenden? «

»Ich kann Eve nicht allein lassen.«

» Charlie! «, rief Spiro über die Schulter und ein Mann erschien mit einer Taschenlampe in der Hand. »Joe Quinn, Eve Duncan, und das hier ist Agent Charles Cather. Würdest du Miss Duncan zu ihrem Wagen

begleiten und bei ihr bleiben, bis Quinn zu-

rückkommt?«

Charlie Cather nickte. »Kommen Sie, Miss Duncan. «

»Es wird nicht lange dauern, Eve.« Joe wandte sich zu Spiro um. »Wenn wir schon herumlaufen, können wir auch gleich zur Einsatzzentrale gehen.«

»Von mir aus.« Spiro marschierte in Richtung des

Steilhangs los.

Eve beobachtete sie. Sie fühlte sich ausgeschlossen und war versucht, ihnen zu folgen.

»Miss Duncan?«, sagte Charles Cather höflich. »In Ihrem Wagen ist es angenehmer als hier draußen.

Ihnen muss doch ganz kalt sein. «

Sie blickte hinab auf das Grab. Ihr war wirklich kalt.

Und sie war müde und ausgepumpt. Der Anblick des

Grabes hätte sie beinahe innerlich zerrissen, sie musste sich ausruhen. Außerdem würde Joe sie nicht lange warten lassen. Sie gingen den Steilhang hinab.

»Kommen Sie, ich habe heißen Kaffee im Jeep.«

»Könnte ich noch eine Tasse bekommen?« Charlie

Cather lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück.

»Diese Kälte bringt mich um. Spiro meint, ich muss mich abhärten, aber ich sage ihm jedes Mal, das liegt daran, dass ich aus South Georgia stamme.«

Sie goss ihm Kaffee ein. »Wo in South Georgia?«

»Valdosta. Kennen Sie es?«

»Ich bin nie dort gewesen, aber ich habe von der

Universität gehört. Sind Sie schon mal in Pensacola gewesen? Ich habe dort manchmal mit meiner Tochter die Ferien verbracht.«

»In jedem Frühjahr war ich da. Schöner Strand.«

»Stimmt. Woher stammt Agent Spiro? «

»Aus New Jersey, glaube ich. Er redet nicht viel.« Er zog eine Grimasse. »Zumindest nicht mit mir. Ich bin neu bei der Firma und Spiro ist schon seit Ewigkeiten dabei. «

»Joe scheint große Achtung vor ihm zu haben.«

»Ich auch. Spiro ist ein großartiger Agent.« »Aber Sie mögen ihn nicht besonders.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Er zögerte. »Spiro

arbeitet jetzt schon fast zehn Jahre als Profiler. Das hinterlässt Spuren. «

»Inwiefern?«

»Er ist ... ausgebrannt. Profiler verkehren meist nur mit ihresgleichen. Vermutlich kann man, wenn man täglich mit Ungeheuern konfrontiert ist, kaum noch mit Leuten sprechen, die nicht dasselbe erleben.«

»Sie sind kein Profiler?«

Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich wurde gerade erst in die Abteilung aufgenommen und bin noch in der Ausbildung. Ich bin hier der Laufbursche für Spiro.« Er nahm noch einen Schluck Kaffee und fuhr dann ruhig fort: »Ich habe Ihr Foto in der Zeitung gesehen. «

»Tatsächlich?«

» Es täte mir Leid, wenn das kleine Mädchen, das

gefunden wurde, Ihre Tochter wäre. «

»Ich weiß schon lange, dass sie nicht mehr am Leben ist. Aber ich möchte Bonnie nach Hause holen und ihr eine Ruhestätte geben. «

Er nickte. »Mein Vater ist in Vietnam gefallen, seine Leiche wurde nie gefunden. Schon als Kind habe ich mich gefragt, wo er wohl sein mochte. Es schien mir nicht gerecht, dass er dort irgendwo verschollen war.«

»Das ist es auch nicht.« Sie wandte ihren Blick ab.

»Und meine Tochter war noch nicht mal im Krieg.«

»Wirklich nicht? Ich habe den Eindruck, dass überall Krieg herrscht. Man kann ja nicht mal ein Kind zur Schule schicken, ohne Angst zu haben, dass irgendein Mitschüler eine Knarre bei sich hat. Man muss dem Einhalt gebieten. Deshalb bin ich zum FBI gegangen. «

Sie lächelte. »Charlie, ich glaube wirklich, dass Sie einer von den Guten sind. «

Er verzog das Gesicht. »Hörte sich reichlich geprotzt an, stimmt's? Tut mir Leid. Ich weiß selbst, dass ich im Vergleich zu Spiro ein echter Grünschnabel bin.

Manchmal habe ich den Eindruck, er denkt, ich gehöre noch in den Kindergarten. Das ist ganz schön ent-mutigend.«

Eve konnte es sich gut vorstellen. Vermutlich alterte man in Spiros Beruf schneller. »Sind Sie verheiratet, Charlie? «

Er nickte. »Seit letztem Jahr. Sie heißt Martha Ann.«

Plötzlich glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Sie ist schwanger. «

»Glückwunsch.«

»Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, noch zu warten. Aber wir wollen unbedingt Kinder. Wir werden das schon schaffen. «

»Ganz bestimmt.« Sie fühlte sich gleich besser. Es gab mehr im Leben als Gräber und Monster. Es gab Leute wie Charlie und Martha Ann und ein Baby, das

unterwegs war. »Wollen Sie noch Kaffee?«

»Ich habe fast die ganze Kanne leer getrunken. Ich will nicht ... «

»Macht das Fenster auf.« Es war Joe, der sein Gesicht gegen das beschlagene Glas drückte.

Sie kurbelte das Fenster herunter.

»Man hat sie gefunden«, sagte Joe. »Zumindest hat man Knochen gefunden. Sie werden zur

Einsatzzentrale gebracht.«

Sie sprang aus dem Jeep.

»Kinder?«

»Keine Ahnung.« »Zwei? «

»Es sind zwei Schädel.«

»Sind sie intakt?« Joe nickte.

»Dann kann ich es feststellen. Bring mich hin.« »Kann ich dir das irgendwie ausreden?« Sie war schon

unterwegs. »Bring mich hin.«

Die Tragbahre wurde über einen Flaschenzug langsam nach oben befördert. Auf ihr lagen zwei in Decken gewickelte Bündel.

»Haben Sie Acht gegeben, die Skelette zu trennen? «, fragte Eve Spiro.

»So gut es ging. Ich kann nicht beschwören, dass die Knochen nicht durcheinander geraten sind. Der

Erdrutsch muss sie runtergespült haben. «

Die Tragbahre war oben angekommen und wurde auf

dem Boden abgesetzt. Spiro kniete sich hin und schlug eine Decke zurück. »Was meinen Sie?«

»Ich brauche mehr Licht.« Eve kniete sich neben Spiro. So viele Knochen. Zersplittert. Gebrochen. Wie die Knochen eines Tieres, das ein Raubtier ...

Sie musste sich zusammenreißen. Ihre Arbeit machen.

Der Schädel.

Sie nahm ihn in die Hand und untersuchte ihn. Keine Zähne. Joe hatte ihr gesagt, dass auch die anderen Schädel keine Zähne mehr gehabt hatten. Sie musste die Vorstellung, wie der Mörder sie herausgebrochen hatte, ausblenden und sich konzentrieren. »Der Schä-

del eines Kindes. Männlich. Höchstens zehn Jahre alt.

Weiß. «

»Sind Sie sicher?«, fragte Spiro.

»Nein. Anthropologie ist nicht mein Spezialgebiet, aber ich glaube, ich liege richtig. Ich habe hunderte

Rekonstruktionen von Kindern dieses Alters gemacht.

« Sie legte den Schädel vorsichtig ab und schlug die andere Decke zurück. Sie enthielt weniger Knochen und einen Schädel, der sie direkt anstarrte.

Bring mich nach Hause.

Verschwunden. So viele Verschwundene.

» Stimmt was nicht? «, fragte Spiro.

»Lassen Sie sie, Spiro«, schaltete sich Joe ein.

Was konnte schlimmer sein als eine Welt, in der Kinder umgebracht wurden? »Schon gut, ich habe mir nur den Schädel angesehen.« Sie nahm ihn in die Hand.

»Noch ein Junge. Auch höchstens zehn. Auch weiß.

Vielleicht ein bisschen älter als der andere.« Sie legte den Schädel ab und stand auf. »Ein forensischer Anthropologe muss es bestätigen.«

Sie wandte sich zu Joe um.

»Jetzt können wir gehen.«

» Halleluja. «

»Warten Sie«, sagte Spiro. »Joe hat mir von dem Anruf erzählt. Ich muss mit Ihnen reden.«

»Dann besuchen Sie sie in meiner Hütte.« Joe schob Eve den Abhang hinunter. »Wir sind jetzt weg.«

»Ich möchte jetzt mit ihr sprechen.«

Joe blickte über die Schulter zurück. »Drängen Sie sie nicht«, sagte er sanft. »Ich lasse es nicht zu, Spiro.«

Spiro zögerte, dann zuckte er die Achseln. »Na gut. Ich habe hier weiß Gott genug zu tun. «

Eve nahm auf dem Beifahrersitz Platz. »Du hättest nicht so einen Wind zu machen brauchen. Ich hätte mit ihm sprechen können.«

»Das weiß ich.« Er drückte das Gaspedal durch. »Und du hättest noch länger da oben am Steilhang stehen und diese Knochen anstarren können. Oder noch mal zu dem Grab des kleinen Mädchens zurückgehen.

Wahrscheinlich kannst du auch mit einem Satz über Wolkenkratzer hüpfen. Musst du dich unbedingt

quälen, um zu beweisen, dass du Superwoman bist?«

Sie lehnte sich gegen die Kopfstütze. Sie war so

unglaublich müde. »Ich will überhaupt nichts

beweisen.«

Er schwieg einen Augenblick. »Ich weiß.

Wahrscheinlich wäre es einfacher für mich, wenn es so wäre.«

» Er hat mir die Wahrheit gesagt. Es waren zwei weitere Kinder da oben. Vielleicht hat er auch in Bezug auf Bonnie die Wahrheit gesagt. «

»Eine Wahrheit bedingt nicht automatisch die

nächste.«

»Aber es macht seine Worte glaubwürdiger. «

Wieder Schweigen. »Das stimmt.«

»Und wenn es so ist, dann läuft er immer noch frei herum. Atmet, genießt das Leben. Als Fraser

hingerichtet wurde, hatte ich zumindest den Trost, dass Bonnies Mörder bestraft wurde. Aber es war ein Irrtum. «

»Du ziehst vorschnelle Schlüsse. «

Doch sie hatte das furchtbare Gefühl, dass sie Recht hatte. »Da waren doch diese zwei kleinen Jungen,

deren Mord Fraser gestanden hat. John Devon und

Billy Thompkins. «

»Ja, ich erinnere mich.«

»Wir brauchen nur nachweisen, dass die beiden Skelette zu diesen jungen gehören, dann haben wir die Verbindung zwischen Fraser und dem Anrufer. Ich

möchte, dass du Spiro überredest, mir einen der Schä-

del zur Rekonstruktion zu überlassen. «

»Das wird nicht so einfach sein. Das FBI hat seine ganz eigenen Verfahrensweisen.«

»Du kennst Spiro. Du warst selbst beim FBI. Vielleicht kannst du ihn dazu bewegen, eine Ausnahme zu

machen. «

»Ich kann's versuchen.«

»Tu's.« Sie lächelte freudlos. »Oder man wird bald ein weiteres Skelett vermissen. Wenn ich Bonnie nicht haben kann, dann will ich wenigstens einen dieser Jungen. «

»Du nennst sie schon Bonnie.«

»Irgendeinen Namen muss ich ihr ja geben.«

»Es gab noch ein vermisstes Mädchen im gleichen

Alter auf Frasers Tötungsliste.«

»Doreen Parker.« Sie schloss die Augen. »Verdammt, Joe. «

»Du verbeißt dich zu sehr in diese Idee. Ich will einfach nicht, dass du in einen Abgrund stürzt, wenn es sich als falsch herausstellt.«

»Besorg mir einen der Schädel.«

Er stieß einen resignierten Fluch aus. »Okay, okay.

Spiro dürfte für jede Hilfe in diesem Fall dankbar sein.«

»Umso besser. Wir werden ihn brauchen. Er kennt sich mit Ungeheuern aus. «

» Genau wie du. «

Nur mit einem Ungeheuer. Eines, das ihr Leben be-

herrschte, seit Bonnie verschwunden war. Sie hatte dieses Ungeheuer Fraser genannt und jetzt musste sie feststellen, dass das wahrscheinlich nicht sein Name war. »Ich weiß noch nicht genug darüber. Aber ich werde es lernen müssen. «

»Und du bist dir ganz sicher, dass er wieder Kontakt zu dir aufnimmt? «

»Er wird mich anrufen.« Eve lächelte verbittert. »Wie er schon sagte, wir sind einander in gewisser Weise

verbunden. «