In diesem Kapitel lernen Sie Beate, Helmut und Anja kennen, die große Probleme mit dem Aufschieben haben, und die Sie durch dieses Buch begleiten werden. In einem ersten Überblick geht es um die hauptsächlichen Erscheinungsweisen und die wichtigsten Ursachen des Aufschiebens: die Vermeidung von Angst, Scham und Unlust, perfektionistische Haltungen und den Schutz Ihres Selbstwertgefühls. Sie erfahren etwas über die Mechanismen des Aufschiebens, zu denen vor allem Impulsivität, Unachtsamkeit und Pessimismus gehören, aber auch eine Fixierung auf Ergebnisse. Die negativen Folgen des Aufschiebens sind bekannt. Hier aber können Sie schließlich noch einen Blick auf die heimlichen Freuden werfen, die es Ihnen gestattet.
Beate ist jetzt seit zwei Jahren im Verlag. Sie ist ehrgeizig und möchte Karriere machen. Gerne würde sie die Verlagsleitung mit einem neuen Marketingkonzept für den Bereich Kinderbücher beeindrucken. Im Verlagsalltag ist sie zu sehr eingespannt und kommt nicht dazu, ihre Vorschläge zu formulieren. Also setzt sich Beate an diesem Samstag zu Hause an den Schreibtisch. In zwei Wochen tritt der Vorstand zusammen und könnte über ihr Konzept beraten, wenn es vorläge. Zwar hat Beate schon einen Stapel von Notizen und Aufzeichnungen, inzwischen 16 Seiten, aber ausformuliert ist das alles noch nicht. Sie hat hohe Ansprüche an sich, und sie möchte ihren Chef, der große Stücke auf sie hält, nicht enttäuschen. Eigentlich möchte sie ein Konzept vorlegen, das ihn einfach vom Stuhl haut. Und deswegen muss sie sich jetzt ganz besondere Mühe geben. Das muss sie übrigens bei allem, was sie tut. Beate ist nicht nur perfektionistisch, sondern zu allem Überfluss auch noch überbeschäftigt. Sie hat in den acht Semestern ihres Wirtschaftsstudiums eine Menge geleistet, vor allem für andere. So war sie hochschulpolitisch aktiv, hat bei einer Bürgerinitiative gegen Kahlschlagsanierung mitgemacht, bei |38|einer anderen gegen Ausländerfeindlichkeit auch. Zusätzlich hat sie sich in ein paar Dritte-Welt-Gruppen engagiert. Überall hat sie sich um perfekte Ergebnisse bemüht, was dazu geführt hat, dass sie als aktives Mitglied immer wieder angesprochen wurde, wenn es um Sonderaktionen ging, wie zum Beispiel frühmorgens Flugblätter zu verteilen. Manchmal hätte sie gerne Nein gesagt, aber das hat sie sich nicht getraut. Irgendwie ist sie dann einfach zu spät gekommen. Manche Termine dieser Gruppentreffen hat sie auch verschusselt. Mit einigen der Aufgaben, die sie übernommen hatte, ist sie immer noch beschäftigt. Sie hat so viel zu tun, dass sie leider oft zu erschöpft ist, um ihre Zusagen einzuhalten. Außerdem ist über all diese Aktivität ihr Privatleben zu kurz gekommen. Öfter haben Freunde Schluss gemacht, weil sie sich vernachlässigt fühlten. Beate ist daher meistens solo, so auch jetzt wieder.
Helmut, Sachbearbeiter in einem großen Versicherungsunternehmen, sitzt im Büro und ärgert sich. Im Eingangskorb stapelt sich die Post, und dabei ist er mit der Beantwortung von Kundenanfragen aus der letzten Woche noch nicht fertig. Missmutig fischt Helmut die Post aus dem Korb und sortiert sie. Die großen Umschläge aufeinander, dann die normalen kleinen, die länglichen getrennt von den kurzen. Er stapelt sie der Höhe nach am linken Rand des Schreibtisches. So, jetzt den Brieföffner her und schon kann es losgehen. Kurz denkt er an die Stapel rechts, die Post der vergangenen Tage. Oder Wochen? Und vor ihm liegt der Vermerk, den sein Chef ihm gab: Er soll ihm am Freitag einen Bericht abliefern über die Schadensentwicklung des letzten Jahres, mit Vorschlägen für tarifliche Anpassungen. Heute ist Dienstag, und noch hat Helmut keine Zeile zu Papier gebracht. Kurz packt ihn Panik, aber dann beruhigt er sich innerlich und denkt an seinen Namensvetter und großes Vorbild, den ehemaligen Bundeskanzler, der ein Meister im Aussitzen war. Und ausgerechnet in Helmuts Bereich fallen so viele junge männliche Versicherungskunden, die ja am häufigsten Unfälle bauen. Andere betreuen die Hausfrauen, die immer schön vorsichtig fahren, mit ihren Lady-Tarifen. Dabei fällt Helmut seine Frau ein, die neulich mit Blick auf ihr gemeinsames Auto meinte, das müsse auch wieder einmal gewaschen werden. Soll sie sich doch selbst drum kümmern. Helmut mag es nicht, wenn man ihm etwas sagt. Er lässt sich doch nicht rumkommandieren. Nicht mit ihm! Entschlossen schlitzt Helmut den ersten Brief von heute auf, den, der ganz oben liegt.
|39|Nach dem Mittagessen in der Kantine beschleichen ihn andere Gefühle. Ein Kollege hat Helmut geraten, seine Versetzung zu beantragen. Es gäbe da eine freie Gruppenleiterstelle in der Personalabteilung. Schon seit Jahren schlägt Helmut sich mit dem Gedanken herum, sich woanders zu bewerben. Aber er kann einfach keinen Entschluss fassen. Auf seiner jetzigen Stelle ist er zwar nicht zufrieden, aber er weiß wenigstens, was er hat. Was ihn woanders erwartet, kennt er nicht, und Unbekanntes mag er nicht. Über seine Veränderungswünsche hat Helmut immer wieder mit seiner Frau und seinem besten Freund gesprochen, die ihm zurieten. Aber der Schritt heraus aus seiner Abteilung, wo er nun schon seit zehn Jahren ist, erscheint ihm als ein zu großes Risiko.
Anja liegt im Wohnzimmer auf der Couch und schluchzt. Ihre beste Freundin Jutta ist gerade eingetroffen und tröstet sie. Anja kann einfach nicht mehr. Von morgens bis abends ist sie auf den Beinen und sorgt für Alexander, den Vierjährigen, und die zweijährige Steffi. Diese verdammte Routine, immer dasselbe: aufstehen, Kinder fertig machen, um neun in den Kindergarten bringen, nach Hause, aufräumen, einkaufen, wieder nach Hause, Einkäufe einsortieren, Wäsche waschen, Staub saugen, Badezimmer putzen, überhaupt das ewige Saubermachen. Und Horst, ihr Mann, weigert sich einfach, eine Putzfrau einzustellen. Wie fies er neulich erst sagte: »Was willst du denn dann den ganzen Tag lang machen?« Anja hat oft so eine Wut. Horst hält sich fein raus, verschanzt sich hinter seiner Rechtsanwaltskanzlei, seinen Mandanten und seinen Terminen. »Sei doch froh, dass du nicht arbeiten musst!«, hat er neulich tatsächlich gesagt. Typische Männersprüche! Dabei hat sie so viele Ideen! Sie könnte groß rauskommen, wenn sie nur wollte. Sie müsste endlich eine Mappe mit ihren Fotos und Zeichnungen zusammenstellen, um sich für das Studium an der Kunsthochschule zu bewerben. Oder sich bei der Modelagentur melden, deren Anzeige sie vor einiger Zeit aus der Zeitung ausgeschnitten hatte. Mit ihrer Figur könnte sie den Supermodels Paroli bieten! Anja wäre auch gerne Besitzerin einer chicen Modeboutique. Stattdessen muss sie sich von morgens bis abends um die Familie kümmern!
Jutta kennt Anjas Klagen, die sie seit der Geburt der Kinder vorbringt, bis zum Überdruss. Nichts hat sich seitdem verändert. Wie oft hat sie ihrer Freundin schon vorgeschlagen, wieder in ihrem Beruf zu arbeiten, wenigstens stundenweise. Als Apothekenhelferin |40|wäre das möglich, und ihre ehemalige Chefin habe ihr das doch sogar schon angeboten. Von dem Geld könnte sie dann selbst eine Putzfrau bezahlen und in ihrer Freizeit an ihren Fotos oder Zeichnungen für die Bewerbungsmappe arbeiten. Aber Anja findet immer Argumente, warum das nicht infrage kommt: Horst würde das nie erlauben, dann gäbe es jeden Tag Ärger, die Beziehung würde sich noch weiter verschlechtern. Und außerdem sei sie über die Apotheke hinausgewachsen, sie würde jetzt lieber kreativ arbeiten. Horst würde sie dieser Pläne wegen auslachen, überhaupt sei er ein richtiger Spießer. Anja rastet förmlich aus vor Wut, wenn sie nur an ihn denkt. Für ihn ist es selbstverständlich, dass sie die Partys für seine blöden Geschäftsfreunde ausrichtet. Und wie er sich aufführt, wenn was schief geht, wie neulich, als sie die Einladungskarten zu spät abgeschickt hatte.
Jutta hat angeregt, dass beide einmal zu einer Paarberatung gehen, aber auch das lehnt Anja ab: Das würde Horst nicht mitmachen. Seit einiger Zeit nimmt sie Tabletten, um dem Stress gewachsen zu sein und ihm zu zeigen, wie fertig das alles sie macht. Jutta hat ihr besorgt geraten, doch lieber autogenes Training zu lernen, aber Anja hat gekontert: Solche Kurse gäbe es nur abends, und da könne sie nicht weggehen, das wäre Horst nicht recht und die Kinder seien noch so klein und bräuchten sie.
»Ja«, sagt Anja auf Juttas Vorhaltungen, »du hast ja Recht, ich müsste wirklich mal mit Horst reden und meine Träume endlich realisieren, aber jetzt hat er gerade so viel um die Ohren, da kann ich ihn nicht auch noch damit belasten.«
In der Art, wie Beate, Helmut und Anja aufschieben, finden sich viele Ähnlichkeiten: Alle drei verbringen zu viel Zeit um die eigentlichen Aufgaben herum, anstatt sie direkt anzugehen. Sie haben sich unzählige Male vorgenommen, nicht mehr aufzuschieben, aber es scheint, als zwinge eine innere Kraft sie dazu, ihre Vorhaben zu verschieben oder gänzlich zu meiden, auch wenn sie wissen, dass unangenehme Folgen drohen. Weil sie immer wieder aufschieben, leiden sie an Selbstzweifeln: Werden sie es jemals schaffen, sich zu ändern? Sie suchen noch nach Ausreden, Entschuldigungen und Rechtfertigungen und verschleiern damit die Erkenntnis, dass sie ein Aufschiebeproblem haben. Gleichzeitig kreisen sie besessen darum, was sie eigentlich tun sollten oder müssten. Wie alle ernsthaften Aufschieber erleben |41|sie Reue und fühlen sich schuldig, womit sie ihre Lebensfreude beeinträchtigen und sich seelisch eher ab- als aufbauen. Sie verlieren ihren Optimismus, ihren Schwung und die Lust an kreativen Herausforderungen.
Beate ist eine Idealistin mit unrealistischen Vorstellungen darüber, wie viel Zeit und Energie ein Projekt wie das Anfertigen eines neuen Marketingkonzepts braucht. Sie ist perfektionistisch und chronisch überlastet. Ihren Freunden erscheint sie geradezu als Workaholic, denn ständig hetzt sie zu irgendwelchen Terminen. Die vielen Verpflichtungen bilden ein Bollwerk gegen Intimität und Nähe. Ihre Ängste vor Versagen und Hilflosigkeit versucht sie durch unendliche Aufmerksamkeit für die kleinsten Details zu bannen.
Helmut wandelt seine Gefühle von Unzuverlässigkeit und Unkontrollierbarkeit in Ärger und Wut auf andere und auf seine Arbeits- und Lebenssituation um. Im Hintergrund lauert seine Entschlusslosigkeit, mit der er seit Jahren jede berufliche Veränderung sabotiert: Er kann sich einfach nicht entscheiden, das Risiko eines Wechsels auf sich zu nehmen. Er erstickt an seinen Sorgen und ist auch deswegen oft unleidlich und verärgert, weil er sich selbst nicht versteht und ablehnt.
Anja fühlt sich als Ehefrau und Mutter in der Falle von kleinbürgerlicher Langeweile und Routine gefangen. Sie träumt von einem ganz anderen Leben, tut aber nichts dafür, weil sie die Konflikte fürchtet, die sie dann mit ihrem Mann austragen müsste. Außerdem ist sie sich doch nicht so sicher, ob sie das Zeug hat, ihre Träume auch wirklich umzusetzen. Dem Test in der Wirklichkeit kann sie ausweichen, indem sie sich hinter ihrem Mann versteckt, den sie für den Stillstand in ihrem Leben verantwortlich macht. Das Risiko, Ängste und unbequeme Auseinandersetzungen auf sich nehmen zu müssen, scheut sie.
Die bisherigen Erfolge, die alle drei zu verzeichnen haben, spielen für sie keine Rolle mehr. Beate hat viele altruistische Aktivitäten, ihr Studium und die zwei Jahre im Beruf trotz Perfektionismus gut bewältigt, doch das zählt nicht, weil sie auf das vor ihr liegende Vorhaben fixiert ist. Gleiches gilt für Anja, die keinen Stolz darauf empfindet, die schwierige Situation der Umstellung vom begehrten und umschwärmten Partygirl zur Ehefrau und zweifachen Mutter bewältigt zu haben, sondern ihren idealisierten Träumen nachhängt.
Auch Helmut geht von strengen Idealvorstellungen aus, insbesondere der Idee, dass es gerecht zugehen und er völlige Sicherheit haben |42|müsse, bevor er eine Entscheidung treffen kann. Dass Kollegen ihm einen beruflichen Aufstieg zutrauen, den er durch seine provokative Strategie des Aufschiebens gefährdet, fällt ihm gar nicht auf. Mit anderen Worten: Gutes halten Aufschieber für selbstverständlich und beachten es nicht weiter. Voll konzentriert darauf, wie es eigentlich sein müsste, verbergen sie hinter dem Herauszögern übertrieben strenge Anforderungen an sich selbst, an andere Menschen und an das ganze Leben. Dies führt dazu, dass sie sich zwangsläufig oft mit inneren Konflikten herumschlagen.
Konflikt heißt, dass Sie das Bedürfnis spüren, etwas tun zu wollen oder tun zu müssen, um bestimmte Ziele, die Sie haben, zu erreichen – und gleichzeitig fühlen Sie ein Widerstreben dagegen. Sie erleben sich als festgefahren, bis der Konflikt sich irgendwie löst. Im Fall des Aufschiebens geschieht das meistens ohne große Bewusstheit. Sie schlagen sich eine Zeit lang mit Ihrem Vorhaben und einer spürbaren Unlust herum, dann folgen Sie einem ablenkenden Impuls, geben dem Widerstand nach und sind für heute weg vom Fenster. Dabei gerät auch in den Hintergrund, dass Sie vielleicht gar nicht so richtig wussten, wie Sie Ihr Vorhaben optimal planen und angehen konnten.
Wer viel aufschiebt weiß, wie man das Schwierigere zugunsten der unmittelbaren Entlastung von Spannungen vertagen kann. Er weiß nicht, wie man geduldig, konzentriert und mit einer optimistischen Konzentration auf den Vorgang der Entscheidung oder Erledigung des Vorhabens, also mit einer Prozessorientierung, vorgeht. Prozessorientierung heißt, mehr auf die Vorgänge des Arbeitens selbst, auf die Tätigkeit der Aufgabenerledigung zu achten als auf die Ergebnisse. Doch auch dies kann erlernt werden.
Gründe für das Aufschieben
In den vorgestellten Beispielen sind bestimmte Gründe für das Aufschieben erkennbar, die im Kapitel Jede Menge Stress ausführlich dargestellt werden.
Generell werden Entscheidungen, Aufgaben, Vorhaben und Pläne aufgeschoben, die Angst und Unlust auslösen. Dies ist häufig eine automatisch ablaufende Vermeidungsreaktion, die sich besonders zu Beginn oder bei dem Abschluss von Vorhaben einstellt, vorausgesetzt, |43|Sie haben einen zeitlichen Spielraum. Motor des Aufschiebens ist hier die Furcht, Ängste und andere negative Gefühle aushalten zu müssen.
Darüber hinaus soll das Aufschieben gefürchtete Fremd- oder Selbstverurteilungen verhindern. Aus Angst, die geforderte Leistung nicht gut genug erbringen zu können und Schwächen zu zeigen, wird das Projekt gar nicht erst in Angriff genommen – ein Abwehrmechanismus, der das Selbstwertgefühl schützen und vor Beschämung sichern soll. Perfektionisten sind besonders gefährdet, da ihr Anspruch, vollkommene Ergebnisse produzieren zu müssen, auf unmittelbarem Weg Aufschieben erzeugt.
Die Mechanismen des Aufschiebens
Beate, die am Samstag bei schönstem Sommerwetter arbeiten will, merkt, dass sie noch nicht in Stimmung ist, und beschließt, richtig zu beginnen, nachdem sie die Zeitung gelesen hat. Nach der Zeitungslektüre fällt ihr Blick auf den Abwasch, der seit Tagen auf sie wartet. Den wird sie jetzt erst einmal erledigen, danach geht es bestimmt besser voran. Einer leisen kritischen Stimme in ihrem Inneren hält sie rechthaberisch entgegen: Ordnung zu schaffen kann doch nicht verkehrt sein!
Kaum wieder am Schreibtisch, klingelt das Telefon. Beate führt ein längeres Gespräch mit ihrer Freundin Heike. Wenn Heike doch nur endlich zum Ende käme! Als sie den Hörer auflegt und auf die Uhr schaut, packt sie leichte Panik: Schon sind mehr als zwei Stunden ungenutzt vergangen, dabei hätte sie schon lange an ihrem Konzept sitzen sollen. Nun muss es aber endlich losgehen, doch Beate fühlt sich noch immer nicht zu 100 Prozent energiegeladen. Vielleicht kommt die große Lust, wenn sie erst einmal den Schreibtisch aufräumt und ihre Papiere sortiert und sichtet. Nachdem sie das erledigt hat, liest sie ihre Notizen erneut durch. Ein Buch, aus dem sie etwas über Kundenbindung zitieren will, steht im Regal, sie sucht passende Stellen heraus und notiert die Seitenzahlen. Dabei fällt ihr ein, dass es neulich einen Artikel in einer Marketingfachzeitschrift gegeben hat, da standen doch auch so ein paar tolle Sachen drin über neue Verkaufsstrategien. Den müsste sie doch unbedingt in ihr Konzept einbauen. Wie lautete da bloß der Titel? Beate wirft den |44|Computer an und begibt sich ins Internet, zur Literaturrecherche. Mehr als eine Stunde sucht sie in Online-Datenbanken, bis ihr die Augen brennen. Dann schaut sie noch einmal auf ein paar andere Websites – und bleibt im Internet hängen.
Am späten Nachmittag ist Beate unzufrieden, der Tag hat es echt nicht gebracht, ihr Arbeitszimmer ist ihr inzwischen zuwider, sie greift nach ihren Badesachen: Wenn sie sich beeilt, schafft sie es noch ins Schwimmbad, bevor die schließen ...
Beate schämt sich am Abend dafür, dass sie wieder nicht zu Potte gekommen ist. Als sie Freunden in der Kneipe davon berichtet, brechen die in Lachen aus: Ach was, so wild ist das doch nicht. Und dann erzählen die anderen, wie sie auf den letzten Drücker die unglaublichsten Arbeiten noch hingekriegt haben. Schöpferische Kopfarbeiter sind eben keine Beamten mit Dienstplan oder Fließbandarbeiter mit Taktzeiten, so lautet die Devise. Kreatives Chaos, lange Zeit nichts, dann der große Wurf. Beate schöpft neue Hoffnung. Morgen, am Sonntag, klappt es ja vielleicht besser. Bevor sie gegen zwei Uhr ins Bett sinkt, sie hat leider etwas zu viel getrunken, stellt sie den Wecker auf sieben. Beim Einschlafen denkt sie noch: Wenn sie wirklich nicht ausgeschlafen sein sollte, kann sie ja noch ein Stündchen dranhängen.
Beates Samstag zeigt einen zentralen Mechanismus des Aufschiebens: Das Sich-von-Entscheidung-zu-Entscheidung-Hangeln. Kennen Sie auch den Beate-Modus? Es beginnt mit Ihrem Entschluss, eine Aufgabe anzupacken, die auch unangenehme Aspekte hat. Die nächste Entscheidung betrifft die Frage, wann Sie anfangen werden. Sie vertagen den Start, geraten nach einiger Zeit aber unter inneren Druck und fangen dann doch an. Bald fühlen Sie sich jedoch müde oder abgelenkt und beschließen, dass Sie nach einem Ruhepäuschen erfrischt weitermachen werden. Wenn Sie dann wieder an Ihr Vorhaben gehen, müssen Sie eventuell Ihre Notizen noch einmal durchgehen oder sich in anderer Weise Ihre früheren Ergebnisse erneut vergegenwärtigen. Nicht alles gefällt Ihnen, manches scheint nicht gelungen. Sie nehmen sich vor, die schon vorhandenen Sachen zu überarbeiten. Sie fangen damit an und schieben es nach einer Weile wieder auf. Wenn Sie unter zeitlichen Druck geraten, werden Sie sich spätestens jetzt in einem unfreundlichen Monolog Vorwürfe machen, womit Sie Ihre Anspannung vergrößern und Ärger erzeugen. Weil Sie sich |45|frustriert fühlen, empfinden Sie immer mehr Vorbehalte gegen Ihr Vorhaben. Wenn es nicht anders geht, reißen Sie sich schließlich zusammen, legen ein paar Nachtschichten ein und erledigen die Sache. Anschließend geloben Sie sich, dass Ihnen das nicht noch einmal passieren werde. Beim nächsten Mal aber machen Sie es genauso. Wiederholt sich das einige Male, dann fangen Sie an, sich als Aufschieber zu betrachten, der seine Sachen einfach nicht auf die Reihe kriegt. Sie beginnen, sich zu schämen, beschließen, das Aufschieben zu bekämpfen und verzetteln sich in hektischer Aktivität. Mit dieser Tarnung decken Sie allerdings Ihre Probleme nur zu.
Wenn man Menschen, die aufschieben, beobachtet oder sie selbst beschreiben lässt, wie sie in konkreten Situationen mit prioritären Vorhaben umgehen, erhält man ein Röntgenbild des Aufschiebens. Es zeigt die folgenden Kernmerkmale:
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Geschäftigkeit und plötzlicher Wechsel zu anderen Tätigkeiten
Als Aufschiebe-Profi sind Sie dauernd unter Strom. Sie klagen meistens zu Recht über das Gefühl, viel um die Ohren zu haben. Sie sind eher aktiv und rennen herum. Wenn Sie an einer Sache dran sind, beschäftigen Sie sich oft zu lange hintereinander damit und arbeiten mit überlangen Arbeitseinheiten (mehr als 90 Minuten ohne Pause). Besonders kennzeichnend ist Ihr abrupter Wechsel von einer Aufgabe mit hoher Priorität zu einer anderen mit geringerer, die Sie oft ohne vorherige Planung, völlig unvermittelt, vornehmen. -
Fixierung auf Arbeitsergebnisse
Wer aufschiebt, vernachlässigt die konkreten Arbeitsschritte. Sobald es bei der Erledigung einer wichtigen Sache schwierig wird, denken Sie weniger an die Art der aufgetretenen Probleme, die abzustellen wären, sondern vermehrt an das Ergebnis, das Sie gefährdet sehen. Statt größere Genauigkeit aufzuwenden, steigern Sie in solchen Situationen Ihr Arbeitstempo. Schließlich wenden Sie sich Aufgaben mit geringerer Priorität zu, die aber ein schnelles Ergebnis versprechen. -
Angst vor Handlungen, die zur Beachtung durch andere führen können
Vorhaben, die möglicherweise eine Bewertung durch andere nach sich ziehen, werden Sie besonders häufig aufschieben. Die weniger |46|wichtigen Dinge, auf die Sie ausweichen, sind wahrscheinlich nicht mit diesem Risiko behaftet. Wenn Sie beispielsweise an einem Vortrag arbeiten, den Sie demnächst halten sollen, so brechen Sie die Arbeit am Redetext ab und räumen erst einmal Ihr Büro auf. -
Unrealistische Ansichten
Als jemand, der aufschiebt, haben Sie unrealistische Ansichten darüber, wie prioritäre Aufgaben erledigt werden müssten. Sie glauben, dass Sie »inspiriert« sein müssten und nur in der richtigen Stimmung anfangen könnten, dass »Augen zu und durch« der angemessene Umgang mit Schwierigkeiten sei, und Sie sind überzeugt von der segensreichen Wirkung von Marathon-Arbeitssitzungen. Forderungen nach Ordnung und Pünktlichkeit beantworten Sie mit Feindseligkeit, Deadlines und Fristen lehnen Sie ab.
Diese Kernmerkmale paaren sich mit Impulsivität, Unachtsamkeit und Pessimismus. Ihre Impulsivität veranlasst Sie dazu, jedem ablenkenden Reiz, der aus ihrem Inneren oder aus der Umgebung kommt, nachzugeben. Die Neigung zu impulsiven Handlungen verstärkt sich, wenn prioritäre schwierige Aufgaben zu erledigen sind, und Sie sich in der Klemme zwischen selbst auferlegten Einschränkungen und dem ungeduldigen Verlangen nach Befreiung von Spannungen befinden. Sie fliehen oder vermeiden impulsiv die schwierigen, aber wichtigen Sachen, indem Sie sich schnell und achtlos einfacheren, weniger prioritären Aufgaben zuwenden, die plötzlich als überaus dringlich erscheinen und auf kurze Sicht ein besseres Feeling versprechen. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten ungenügende Selbstmanagement-Fertigkeiten. Die meisten Aufschieber haben keine Ahnung, was sie tun können, wenn ein scheinbar unwiderstehlicher Impuls sie ergreift.
Hinzu kommt Unachtsamkeit. Sie haben Schwierigkeiten, ein konsequentes Aufgabenmanagement anzuwenden, das heißt, die anstehenden Aufgaben in der richtigen Art zu bearbeiten. Wer unachtsam ist, beginnt seinen Arbeitsprozess ohne klare Arbeitsziele, die richtunggebend und belohnend sind, arbeitet ohne Zeitgeber für Start, Pausen und Schluss, hat keine kleinen, regelmäßigen und zeitlich begrenzte Arbeitseinheiten und macht keine Pausen, in denen neu geplant und nachgedacht werden kann. Unachtsamkeit führt auch dazu, sich keine angemessenen Hilfen zu organisieren und sich keine Strategien für die Bewältigung von Fehlschlägen zurechtzulegen. Wenn Entscheidungsprozesse aufgeschoben werden, zeigen sich |47|ähnliche Defizite. Verantwortlich für diese geringe Sorgfalt in der Planung und Steuerung von komplizierten Arbeits- und Entscheidungsprozessen ist die Ergebnisorientierung. Sind Sie zu sehr auf das Ergebnis fixiert, dann wird die aufmerksame Konzentration auf Arbeits- oder Entscheidungsprozesse vernachlässigt. Wenn Sie auf Ergebnisse fixiert sind und bei einem Arbeitsvorhaben in Schwierigkeiten geraten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie auf etwas Einfacheres ausweichen und somit die falschen Probleme lösen.
Menschen, die aufschieben, sind häufig Pessimisten, die weder von den Umständen noch von sich selbst etwas Gutes erwarten. Negative Erwartungen in Bezug auf sich selbst (»Ich werde es nicht schaffen!«) oder eine Aufgabe zu haben (»Ist unlösbar!«), ist wie ein Garantieschein für niedrige Effizienz. Mit dieser Einstellung werden Sie auch bei einem Maximum an Einsatz nur einen geringen Ertrag an Leistung und Zufriedenheit haben. Gelingt Ihnen doch einmal etwas, schreiben Sie es womöglich dem Zufall zu. Geht aber etwas schief, dann scheint sich Ihre negative Prognose über die Umwelt oder Sie selbst bestätigt zu haben. Meistens geben Sie sich für das Problem ohnehin selbst die Schuld. In diesem Fall ist Ihr Sozialmanagement gestört, die geeignete Zuschreibung von Ursachen und Verantwortlichkeit für Gelingen oder Scheitern funktioniert nicht.
Die Folgen des Aufschiebens
Frust
Sie schieben Dinge auf, bei denen Sie sich unbehaglich und unsicher fühlen, weil Sie nicht wissen, wie Sie anfangen sollen, wenn Sie nicht schon von vornherein motiviert sind. Wenn Sie in der Vergangenheit mit ähnlichen Aufgaben Misserfolge hatten oder unter den Vorhaben gelitten haben, fällt es Ihnen besonders schwer, sich ihnen zu widmen. Nach der ersten Verzögerung setzen Sie sich selbst unter Druck, indem Sie die Messlatte höher legen: Wenn Sie schon aufgeschoben haben, dann müssen Sie das durch ein besonders gutes Ergebnis rechtfertigen. So denken Sie besonders dann, wenn Sie ganz auf das Ergebnis fixiert und nicht prozessorientiert sind. Dazu können noch |48|unrealistische Überzeugungen von Talent kommen und darüber, wie ein talentierter Mensch arbeitet. Sich Hilfe zu holen, schließen Sie aus, denn Ihre Devise ist: Ich muss es allein schaffen! Innerlich können Sie gegenüber denjenigen, die Ihnen die Aufgabe gestellt haben, vorwurfsvoll sein. Anteilnahme anderer können Sie als Überwachung oder bedrängende Kritik erleben. Weil Sie nicht gelernt haben, Stress zu reduzieren, fressen Sie immer mehr Spannung in sich hinein.
Allmählich müssen Sie loslegen, aber dann gehen Sie mit einem Maximum an Aufmerksamkeit für Ihre negativen Gefühle ans Werk. Wegen Ihrer Gewohnheit, auf den letzten Drücker zu arbeiten, haben Sie kein Gefühl dafür entwickeln können, wie lange Arbeitsvorgänge dauern, wenn Sie sie mit Augenmaß und Sorgfalt, verteilt auf einen angemessenen Zeitraum, erledigen. Außerdem sind Sie daran gewöhnt, sich auf die begleitenden Gefühle von Angst vor Versagen, Hilflosigkeit, Vermeidung, Zeitdruck, und auf die Anforderungen des sozialen Umfelds zu konzentrieren. Schließlich wird Ihnen alles zu viel, scheint Sie zu überwältigen, Sie geraten unter Druck, fürchten Versagen und Scheitern und versuchen es mit mehr und härterer Arbeit, mit Verzicht auf Vergnügen und Freizeit, kurz mit Selbstkasteiung und Selbstbestrafung. Natürlich steigern sich dadurch Ihre schlechte Laune und Anspannung, Sie verlieren die Motivation und schieben auf. Auch wenn Sie (noch) keine negativen Folgen der Außenwelt zu spüren bekommen haben, sind Sie doch sehr wahrscheinlich mit Ihrem eigenen Verhalten unzufrieden.
Die schlimmste Konsequenz des Aufschiebens besteht darin, dass Sie lernen, immer mehr und hartnäckiger aufzuschieben. Da sich die herausgezögerten Aufgaben vor Ihnen auftürmen, haben Sie immer mehr Angst und Unlust, also immer mehr Spannung zu vermeiden. Auch Ihre freie Zeit wird vom schlechten Gewissen vergiftet. Sie leben im Wartestand, schauen zurück auf die schon vergangene Zeit und entwickeln im günstigeren Fall nur ein elegisches Lebensgefühl:
»... das Leben floss nutzlos dahin, ohne jegliches Vergnügen, sinnlos war es vertan, für nichts und wieder nichts; für die Zukunft blieb nichts mehr zu hoffen, und blickte man zurück, so gab es nichts als Verluste ... Warum taten die Menschen immer gerade das nicht, was nötig war?« (Tschechow, 1998, S. 56)
Wenn Sie aber Pech haben, geht es Ihnen schließlich so wie Helmut: |49|Manchmal packt Helmut die Verzweiflung. Die Stapel mit Kundenanfragen wachsen unaufhaltsam. Dazu kommt dieser Bericht, auf den der Chef wartet. Die Arbeitssituation ist verfahren. Helmut hat das Gefühl, zu stagnieren. Sollte er nicht doch in die Personalabteilung wechseln? Ob er einen Neuanfang packen würde? Diese Gedanken verfolgen ihn regelrecht. Er joggt, um Abstand zu gewinnen. Aber selbst beim Laufen kann er nicht abschalten. Und nun auch noch die Schlafstörungen! Helmut grübelt beim Einschlafen darüber nach, dass er diese Stapel endlich abtragen und sich zwingen muss, den Bericht bis zum Freitag abzugeben – oder sollte er sich krank melden? Dann hätte er noch das Wochenende, um sich irgendwelche Vorschläge für die geforderten Tarifanpassungen auszudenken.
Wenn Sie immer wieder aufschieben, verändert sich allmählich auch Ihre Selbstwahrnehmung und irgendwann gelangen Sie zu dem Schluss: Ich bin ein Aufschieber. Vielleicht ist das für Sie ein sehr herabsetzender Begriff und Sie empfinden sich als minderwertig und inkompetent. Menschen, die sich als ewige Aufschieber erleben, beschreiben ihre Defizite so: Sie halten sich für ängstlich, depressiv und lahm. Ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstachtung sind herabgesetzt, was sie jedoch häufig hinter einer selbstsicheren Fassade verstecken.
Diese negativen Selbsteinschätzungen stellen ein eigenes Problem dar. Sie steigern die Ängste und damit auch die Vermeidungstendenzen und verstärken somit den Hang zum Aufschieben. Auch können sie zu neuen emotionalen Belastungen führen, wie Aggressionen und Schamgefühlen. Diese Gefühle, die aus dem Aufschieben heraus entstehen können, machen häufig Anstrengungen erforderlich, sich gegen sie zu wehren oder sie zu unterdrücken. Das kostet Kraft, die Ihnen dann wieder an anderer Stelle fehlt. Im Kapitel Jede Menge Stress erfahren Sie mehr über die emotionalen Strapazen, die durch das Aufschieben ausgelöst werden.
Außer den seelischen Folgen kann das Aufschieben natürlich eine Fülle von körperlichen, sozialen und materiellen Konsequenzen haben, die dann wiederum auf Ihr seelisches Befinden zurückwirken. Sie können ernsthaft krank werden, wenn Sie fällige Untersuchungen oder vorbeugende Impfungen außer acht lassen. Sie können in soziale Isolation geraten, wenn Sie es aufschieben, mit Ihren Bekannten und Freunden den Kontakt zu pflegen. Man bittet Sie nicht mehr um einen Beitrag für eine Zeitschrift, wenn Sie sich den Ruf erworben haben, |50|immer erst vier Wochen nach der Deadline zu liefern. Sie können Ihren Job verlieren, wenn Sie dauernd zu spät kommen und daran trotz Abmahnung nichts ändern. Und die Versicherungsgesellschaften profitieren davon, dass viele von uns es aufschieben zu prüfen, ob wir die Policen überhaupt noch brauchen oder Kündigungsfristen verstreichen lassen.
Horst, Anjas Ehemann, der Rechtsanwalt ist, erzählt ihr von einem seiner Mandanten, der vor fünf Jahren die letzte Einkommensteuererklärung abgegeben hat. Danach kam er nicht mehr klar damit, seine Belege zu sammeln und seine Unterlagen aufzubereiten. Seinen Steuerberater, der ihn jahrelang mahnte, mied er, Schreiben des Finanzamts ignorierte er. Auch als seine wirtschaftliche Lage sich verschlechterte, machte er dem Amt keine Meldung davon. Schließlich wurden seine Einkünfte geschätzt. Fassungslos suchte er Horst auf, mit dem Bescheid, 120 000 Euro Steuerschulden nachzahlen zu müssen.
In solchen Fällen wird die selbstschädigende Wirkung des Aufschiebens überdeutlich. Sie hängt mit einer Verleugnung der Wirklichkeit zusammen, die in ihrer Unerbittlichkeit als so überwältigend wahrgenommen wird, dass das Abtauchen vor ihr, das Ausblenden von Wahrnehmungen erforderlich wird. Dass Menschen sich selbst Schaden zufügen, wird traditionell mit Schuldgefühlen erklärt, die dadurch ausgelöst werden, dass jemand eine ungeheure Aggressivität mit sich herumträgt, für die er sich unbewusst bestraft. Die negativen Folgen des Aufschiebens wären so eine Art Selbstbestrafung für inneren Zorn, die Seelenqual eine Bußleistung. Sicher gibt es Menschen, bei denen diese Erklärung zutrifft.
Sich als Aufschieber selbstschädigend zu verhalten heißt, in unangenehmen Gefühlslagen und mit der Aussicht auf schnelle Erleichterung eine schlechte Wahl zu treffen. Sie treffen eine schlechte Wahl, wenn Sie unwichtigere Aufgaben mit größerer unmittelbarer Erfolgsaussicht erledigen und Umstände schaffen, die zukünftige Probleme verursachen. Als Student ist es beispielsweise keine gute Entscheidung, wenn Sie es ewig aufschieben, den Hochschullehrer, der Sie prüfen soll, einmal in der Sprechstunde aufzusuchen und sich bekannt zu machen. Sie könnten sich beschnuppern und einen Eindruck vom jeweiligen Gesprächsstil gewinnen. Wenn Sie ihm in der |51|Prüfung zum ersten Mal gegenüberstehen, sind Sie beide einander fremd, was das Risiko von Missverständnissen und Kommunikationsproblemen steigert.
Die eindrucksvollsten Beispiele für selbstschädigende Wirkungen sind dort zu finden, wo von Krankheit bedrohte oder bereits erkrankte Personen die erforderlichen Untersuchungen aufschieben beziehungsweise sich nicht an die Anweisungen der Ärzte halten. Die Noncompliance, also die mangelnde Bereitschaft, einsehbar vernünftige und verbal bejahte ärztliche Anordnungen zu befolgen, stellt ein großes Problem dar. Viele Menschen nehmen die ihnen verordneten Medikamente gar nicht, nur über zu kurze Zeit oder kombinieren sie mit anderen, selbst verordneten. Die Folgen bestehen dann häufig in einer Verschlimmerung der Erkrankungen oder einer Gefährdung der bereits erreichten Heilungserfolge.
Wenn Sie Ihr Aufschieben durch Selbsthilfe verändern möchten, ist es wichtig, dass Sie sich selbst gegenüber ein möglichst hohes Maß an Compliance entwickeln. Ihre Bereitschaft, bei der Überwindung des Aufschiebens Einsatz zu zeigen, ist dann am größten,
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wenn Sie an einer Verbesserung Ihrer Leistungsfähigkeit ebenso interessiert sind wie an einer Steigerung Ihres Wohlbefindens;
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wenn Sie die Bereitschaft haben, Vorschläge auszuprobieren, von denen Sie glauben, dass sie vernünftig sind und Ihnen möglicherweise helfen können;
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wenn Sie eher seit drei oder dreizehn Jahren und nicht schon seit dreißig Jahren aufschieben;
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wenn Sie sich darauf einstellen können, dass Ihre negativen Gefühle langsam, aber sicher, nicht jedoch auf einen Schlag verschwinden werden;
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wenn Sie bereit sind, ein paar Ihrer Gewohnheiten zu verändern und neue zu erwerben.
Die negativen Folgen des Aufschiebens bestehen in materiellen, sozialen oder seelischen Risiken. Sie können Geld verlieren, Ihre Freunde verprellen und ein zunehmend geringer werdendes Selbstwertgefühl beklagen. Der kurzfristige Gewinn, sich von unangenehmen Spannungen zu entlasten, hat leider einen Pferdefuß. Langfristig führt Ihr Vermeidungsverhalten dazu, dass Sie nicht nur keine neuen Kenntnisse und Bewältigungsfertigkeiten erwerben, sondern die vorhandenen auch noch verlieren. Sie schädigen sich selbst. Mit der Bereitschaft, |52|eingefahrene Gewohnheiten zu modifizieren und Neues auszuprobieren, können Sie jedoch der Mañana-Falle entrinnen.
Lust
Ihre Unzufriedenheit verstellt Ihnen eventuell den Blick auf die Befriedigungen, die das Aufschieben Ihnen vermittelt, und die Sie sich vielleicht noch nicht so bewusst gemacht haben. »Welche Befriedigungen?«, wundern Sie sich vielleicht. Ihnen geht es doch schlecht und es kommt überhaupt nichts raus beim Aufschieben. Wenn das nur so wäre, würden Sie es dann nicht vielleicht doch schon aufgegeben haben? Aber Aufschieben kann ein Symptom sein, und in einem Symptom verbindet sich immer beides, die verbotene Lust und die offene Last.
In den vielen Workshops und Seminaren, die ich mit Aufschiebern durchgeführt habe, klagen sich die meisten Teilnehmer zunächst an: Wie langsam sie seien, wie weit zurück mit lächerlich einfachen Aufgaben, wie wenig in der Lage, den inneren Schweinehund zu überwinden. Disziplinlos, haltlos, unverantwortlich! Mir ist dann immer wieder aufgefallen, dass sich eine gute Stimmung ausbreitet, wenn die Gruppenteilnehmer beschreiben, wie sie aufschieben. Das Ergebnis des Aufschiebens ist zwar oft traurig bis trostlos, aber der Vorgang der Vermeidung, wie man sich selbst austrickst, überlistet und sich in den Schlendrian wegsacken lässt, das wird häufig mit Spaß und Genuss geschildert. Manche Aufschieber beeindrucken durch ungeahnten Wortwitz und launige Pointen. Gut, manches ist Galgenhumor und es werden auch Schamgefühle weggelacht. Aber neben allem Leid und Selbstvorwürfen sind offenbar auch Befriedigungen im Spiel, die von den anderen Teilnehmern in der Gruppe, die ja alle Experten im Aufschieben sind, meist auch schnell aufgespießt werden. Der Psychotherapeut C. G. Jung hat diesen Sachverhalt so beschrieben:
»Ich anerkenne, dass ein psychischer Faktor in mir tätig ist, der sich meinem bewussten Willen in der unglaublichsten Weise entziehen kann. Er kann mir außerordentliche Ideen in den Kopf setzen, mir ungewollte und unwillkommene Launen und Affekte verursachen, mich zu erstaunlichen Handlungen, für die ich keine Verantwortung übernehmen kann, veranlassen, meine Beziehungen |53|zu anderen Menschen in irritierender Weise stören und so weiter. Ich fühle mich ohnmächtig dieser Tatsache gegenüber, und was das Allerschlimmste ist: Ich bin in sie verliebt, sodass ich sie erst noch bewundern muss.« (Jung, 1990, S. 112, Hervorhebung H. W. R.)
Wenn Sie diese Verliebtheit in etwas Subversives in Ihnen, das sich Ihren bewussten Zielen entgegenstellt, erkennen, kann Ihnen das helfen, die wirklichen Gründe für Ihr Aufschieben besser zu verstehen und sie zu verändern.
Womöglich erleben Sie Ihre Vorhaben, Aufgaben und Pläne nur noch als Verpflichtungen. Sie müssen sie nicht einmal als lästige Pflichten empfinden, sodass Sie erwarten könnten, dass Sie sich drücken wollen, sondern es sind Pflichten, die auch aus Ihrer Sicht erledigt werden müssen. Sie verhalten sich dann wie ein Auftraggeber, der auf rasche und pünktliche Erledigung pocht. In dieser Rolle schimpfen Sie über sich, dass Sie in Verzug sind, die Sachen nicht ordentlich erledigt haben und überhaupt unzuverlässig sind. Genauso würden Sie sich auch in der Autowerkstatt verhalten, wo Ihr Wagen nun schon seit Wochen zur Reparatur steht und Sie vom einen auf den andern Tag vertröstet würden. Allerdings sind Sie als Aufschiebeexperte auch der Auftragnehmer, also der Werkstattchef. Für den ist unter Umständen Ihr Auto wirklich nicht so wichtig. Und je mehr Sie drängen, desto mehr schaltet er auf stur. Druck erzeugt Gegendruck. Sie sind der Arbeitgeberverband und die Gewerkschaft in einer Person. Moderne Methoden der Konfliktlösung sind Ihnen in beiden Rollen unbekannt, deswegen versuchen Sie es mit Autorität einerseits (»Klappe halten und arbeiten! Rund um die Uhr, sonst gibt’s Ärger!«) und einer Art Sitzstreik andererseits. In der verschärften Form sperren Sie sich gleichzeitig aus und demonstrieren vor Ihrem Werkstor gegen sich. Was Ihnen fehlt, ist ein Vermittler.
In der Sprache der Psychoanalyse sagt man, dass Sie sich mit Ihrem Über-Ich (der Ort, in dem die Gebote und Verbote stecken) identifiziert haben und gleichzeitig vom Es (Ihrer triebhaften Seite) her unter ständigem Sperrfeuer liegen. Wenn Sie über kein starkes Ich verfügen, das beide Seiten wahrnehmen kann, ohne ihnen gleich zu folgen, dann werden Sie zum Diener mal der einen, mal der anderen Seite. Um es sich mit keiner endgültig zu verderben, schieben Sie auf. Das Über-Ich kommandiert, dass dieses und jenes gemacht |54|werden müsse und droht Ihnen ein paar saftige Strafen an. Sie knallen verängstigt und gehorsam die Hacken zusammen und wollen loslegen, aber da kommt so ein verführerischer kleiner Triebimpuls: Man könnte doch erst einmal ein bisschen trödeln, fernsehen, ausweichen, und lächelnd folgen Sie ihm. Das Über-Ich aber sinnt auf Rache und setzt Sie das nächste Mal noch mehr unter Druck. Und umso leichter gehen Sie jetzt auf die geringste Verlockung ein, weil Sie ja noch viel geängstigter sind, also schneller und dringender eine unmittelbare Entlastung von der Angst und dem Unbehagen brauchen. Und vielleicht haben Sie auch ein subversives Vergnügen daran, den Befehlshabern ein Schnippchen zu schlagen und ein bisschen herumzusumpfen. Im anderen Fall werden Sie zum Workaholic, sind unentwegt beschäftigt, gaukeln Ihrem Über-Ich vor, dass Sie allen Anforderungen nachkommen und signalisieren Ihrem Es, dass Sie kein Lustfeind, sondern nur leider zu beschäftigt sind, um Vergnügen zu suchen.
Ein starkes Ich ist wie ein Vermittler, der beide Parteien erst einmal anhört und befragt, bevor er Vorschläge macht, wer in welchem Fall Recht bekommt. Solange das Verfahren dauert, kann sich keine Seite durchsetzen, der Fall ist noch nicht entschieden. Ein guter Schlichter würde Sie fragen, wie Ihr Verhältnis zu den vielen Muss-Projekten ist, die Sie wegen Verzugs anklagen. Und er würde Sie fragen, welche angenehmen Befriedigungen Sie sich dauerhaft wünschen, sich aber viel zu selten gönnen.
Beate träumt seit langem davon, mehr Zeit für sich zu haben. Wie gerne würde sie einmal Ferien machen, richtig ausspannen und irgendwo im Süden in der Sonne liegen. Im Alltag hat sie den Eindruck, nie Zeit zu haben. Die Freiräume, die sie sich durch das Aufschieben nimmt, erlebt sie gar nicht mehr positiv als freie Zeit, die sie selbst gestalten könnte, sondern als zusätzliche Belastung zwischen Terminen und Verpflichtungen.
Helmut wäre gerne irgendwo Chef und würde in seinem Bereich herrschen wie ein kleiner König. Nur er würde bestimmen, die anderen hätten nichts zu melden. Stattdessen jedoch empfindet er ständige Fremdbestimmung, vom Chef bis zu seiner Frau. Seine heimliche Befriedigung besteht in einer entstellten Form der Selbstbestimmung, indem er sich trotzig den vermeintlichen oder tatsächlichen Vorgaben der anderen widersetzt. Nur führt dieser Widerstand |55|nicht zu dem ersehnten Genuss daran, selbst auch Macht auszuüben.
Anja sehnt sich nach mehr öffentlicher Beachtung, als ihre Rolle als Ehefrau und Mutter hergibt. Ihre Szenen, ihre regelmäßigen Zusammenbrüche sind Möglichkeiten, sich etwas von diesen Wünschen zu erfüllen: Immerhin dreht sich dann eine Zeit lang alles um sie. Zwar erreicht sie so nur einen kleinen Teil dessen, was sie sich wünscht, aber dennoch gibt es ihr etwas, wenn ihre Freundinnen sorgenschwer herbeieilen, oder ihr Mann, statt über mitgebrachten Akten zu brüten, mit ihr sprechen muss – und sei es vorwurfsvoll.
Natürlich sind diese Befriedigungen ein schaler Ersatz für das eigentlich Ersehnte. Es direkt anzustreben, trauen sich weder Beate noch Helmut und Anja zu. Sie ahnen allerdings auch, dass sie ihre gewohnten Verhaltensweisen, die ihnen wenigstens »die halbe Miete« des Erwünschten verschaffen, aufgeben müssten, wenn sie sich verändern wollten. Und das ist nicht leicht, denn hier folgt die Seele oft dem Prinzip »Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach«.
Erschwert wird eine Veränderung auch durch weniger deutliche Befriedigungen. Wer sich in die Gewohnheit des Aufschiebens geflüchtet hat, genießt beispielsweise Möglichkeiten, aus Konventionen auszubrechen, in die er sich ansonsten eingesperrt fühlt. Aufschieben bietet Nervenkitzel und Spannung, man kann andere subtil ärgern und bestrafen, man kann sich Alibis dafür holen, richtig schlecht gelaunt zu sein und es auch zu zeigen. Wer aufschiebt, ist oft insgeheim von seiner besonderen Bedeutung überzeugt. Manchmal hat sich diese heimliche Selbsteinschätzung entwickelt als Versuch, Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit und geringer Leistung etwas kompensatorisch entgegenzusetzen, also ein Minderwertigkeitsgefühl auszubügeln. In anderen Fällen ist das Gefühl der Überlegenheit, die zu besonderen Privilegien berechtigt, von Anfang an da, aber durch die Anpassung an die Spielregeln der Gemeinschaft oberflächlich gehemmt.
Beate ist nicht wirklich von ihrer Leistungsfähigkeit und Großartigkeit überzeugt. Ihre vielen Verpflichtungen und die Tatsache, dass sie dabei ernst genommen wird, zerstreuen jedoch ihre grundsätzlichen Zweifel immer ein wenig. Wenn diese wiederkommen, schiebt sie einen neuen Termin ein.
|56|Helmut, der stets der Jüngste und Kleinste war, fühlte sich zurückgesetzt und ist darüber noch heute voller Zorn. Als Kind hing er oft Rachefantasien nach. Jetzt hat er einen klammheimlichen Weg gefunden, tatsächlich an anderen Rache zu üben.
Anja war das begabte Wunderkind und ist in der Überzeugung aufgewachsen, dass ihr außerordentliche Beachtung zustünde. Als Kind bekam sie diese wegen ihrer viel versprechenden Talente auch. Jetzt aber müsste sie sich eine Position, die ihr nicht einfach in den Schoß fällt, erarbeiten – aber sie hat nie gelernt, das zu tun. Sie weiß einfach nicht, wie sie es machen soll. Ihre schlechte Laune, die sie als perfekte Ehefrau ihrer Meinung nach natürlich auch nicht haben dürfte, kann sie in Szenen und Zusammenbrüchen ausleben, ebenso ihren Ärger auf ihren Mann. Wenn sie dann – wie bei der wichtigen Party für die Geschäftsfreunde neulich – etwas »vergisst« (nämlich die Getränke zu besorgen), hat sie eine Möglichkeit gefunden, ungestraft aus der Rolle zu fallen. Denn wer kann von einer so kreativen und durch die Kinder strapazierten Frau verlangen, solchen »Kleinigkeiten« Wichtigkeit beizumessen?
Alle Gewohnheiten geben Sicherheit. Auch die Gewohnheit des Aufschiebens erzeugt Gefühle, die Ihnen eventuell zutiefst vertraut sind: Von Chaos umgeben zu sein, in Hektik zu leben, unter einer Bedrohung zu stehen, high pressure living. Unter Hochdruck in letzter Minute eine wichtige Arbeit zu erledigen und dabei eine bestimmte Portion Angst zu erleben, gibt Ihnen einen Kick, den ersehnten Adrenalinstoß des Abenteuers. Das Aufschieben bringt Aufregung in Ihr Leben, die Sie sonst eventuell vermissen. Es geht Ihnen wie einem Spieler im Kasino, und es steht ja tatsächlich oft viel auf dem Spiel. Ihr Einsatz ist Alles oder Nichts, Gewinn oder Versagen. Ihr Erfolg verschafft Ihnen Bewunderung bei denjenigen, die miterlebt haben, wie Sie im allerletzten Moment doch noch die Kurve gekriegt haben. Ihr Scheitern verschafft Ihnen einen Opferbonus, denn mit Ihrem Gasgeben in letzter Minute sind Sie jedenfalls spektakulär aus der Kurve getragen und nicht einfach nur in einem ganz normalen Rennen abgehängt worden. Ihre wirklichen Gefühle bleiben dabei maskiert und mögliche Lösungen verborgen.
|57|Zusammenfassung
Sicherlich sind Ihnen die Nachteile des Aufschiebens wohlbekannt: Immer wieder konkreter Frust und die Selbstachtung im Sinkflug! Dennoch haben Sie bislang weiter die Dinge vor sich her geschoben, von denen Sie behaupten, dass Sie sie erledigen müssen. Durch Ihr Aufschieben beweisen Sie jedoch, dass Sie einen Handlungsspielraum haben und dem Befehl in Ihrem Kopf nicht gehorchen müssen.
Entscheidend ist, dass Sie sich erst einmal zum Anfangen entscheiden, was bereits eine Quelle von Problemen sein kann. Pessimistische Erwartungen machen Ihnen den Beginn schwer, Impulsivität und Unachtsamkeit stören Sie bei der Erledigung Ihrer Vorhaben. Wenn es nicht auf Anhieb klappt, können Sie sich ungeduldig einengen auf die negativen Seiten der Arbeit und sich schließlich durch kopflose Handlungen von Spannungen erleichtern. Wenn Sie das Aufschieben anschließend durch Bildung guter Vorsätze verdrängen, statt eine Fehleranalyse zu machen, zeigt sich erneut, dass Ihre Einstellungen zur Durchführung von Entscheidungen und Vorhaben verbesserungsbedürftig sind. Wenn Sie das erkannt haben, können Sie Ihr Aufschiebeproblem anpacken!