Der
Elektra-Komplex
von
CHARLES L. HARNESS
Bleib ruhig liegen und hör mir zu. Der Sonnenschein wird dir guttun, und außerdem sagte der Doktor, daß du nicht so viel sprechen solltest.
Ich komme gleich zum Thema.
Ich habe drei Männer geliebt. Der erste war der Liebhaber meiner Mutter. Der zweite war mein Mann. Der dritte …
Ich werde dir alles über diese drei Männer und mich erzählen. Einige Dinge sind dabei, die vielleicht ausreichen, um dich wieder zurück ins Krankenhaus zu bringen.
Nein, unterbrich mich nicht.
Ich habe meinen Vater nie gekannt. Ein paar Monate vor meiner Geburt wurde er gesetzlich für tot erklärt. Sie sagten mir, er sei eines Tages auf die Jagd gegangen und nicht wiedergekehrt. Theoretisch kann man etwas, das man nie gesehen hat, auch nicht vermissen. Aber derjenige, der diese Theorie aufstellte, hatte mich nicht gekannt. Mir fehlte mein vermißter Vater, als ich ein winziges Baby, ein storchenbeiniges Mädchen mit abstehenden Zöpfen und eine junge Dame in einer höheren Töchterschule in der Schweiz war.
Mutter machte es noch schlimmer. In unserem Haus waren Männer nie Mangelware, aber mit mir wollten sie nichts zu tun haben. Und das war ihr Fehler. Mutter sah hinreißend aus und zog die Männer unwiderstehlich an.
Mit zehn konnte ich genau sagen, was sie dachten, wenn sie sie ansahen. Als ich zwanzig war, hatten sich ihre Blicke immer noch nicht geändert.
Um diese Zeit war es auch, daß sie sich einen festen Liebhaber nahm und ich, von Haß und Entsetzen erfüllt, von ihr floh.
Ich finde nichts Besonderes dabei, wenn eine Tochter ihre Mutter haßt. Nur bei mir geschah es etwas heftiger als üblich. Den ganzen Haß, den ich aufgespeichert hatte, seit ich in den Windeln lag, ließ ich ah ihr aus.
Man erzählte, daß ich mich als Säugling weigerte, an ihrer Brust zu trinken. Ein ausgesprochenes Flaschenkind. Es war, als hätte, ich dadurch der Welt erklären wollen, daß ich nicht gewöhnlich auf die Welt gekommen war und daß diese Frau, die sich meine Mutter nannte, es in Wirklichkeit gar nicht war.
Wie du sehen wirst, hatte ich damit nicht einmal so unrecht.
Ich hatte schon immer das verrückte Gefühl, daß alles, was sie besaß, von Rechts wegen hätte mir gehören müssen und daß sie mir meinen Anteil vorenthielt.
Natürlich hatten wir den gleichen Geschmack. Diese Gleichheit prägte sich immer tiefer aus, je älter ich wurde. Was sie besaß, betrachtete ich als mir gehörig, und im allgemeinen versuchte ich auch, es ihr zu nehmen. Das traf besonders auf Männer zu. Mutter nahm sie zwar nie ernst (bis auf den letzten), aber das Ärgerliche dabei war doch, daß sie mich einfach übersahen. Bis auf den letzten.
Mutters Bereitwilligkeit, mir jeden ihrer Freunde zu überlassen, schien zwangsläufig mit sich zu bringen, daß sie keinerlei Lust verspürten, mir überlassen zu werden (bis auf den letzten).
Du glaubst vielleicht, das kam alles daher, daß ich keinen Vater hatte und im Unterbewußtsein ihren jeweiligen Freund als Vaterersatz ansah. Wenn du willst, kannst du es so erklären. Auf alle Fälle war es (bis auf die eine Ausnahme) immer das gleiche. Je lieber sie ihn losgeworden wäre, desto mehr sträubte er sich dagegen, etwas mit mir zu tun haben zu wollen.
Aber auf die Männer wurde ich nie wütend. Nur immer auf sie. Manchmal, wenn ich eine besonders schroffe Abfuhr erlitten hatte, sprach ich tagelang nicht mit ihr. Sogar ihr Anblick drehte mir den Magen um.
Mit siebzehn schickte sie mich auf den Rat eines Psychiaters in ein Internat in der Schweiz. Der Psychiater vertrat die Meinung, daß ich den schlimmsten Elektra-Komplex der ganzen Medizingeschichte hätte, obwohl ich nicht die geringsten Gründe dazu hätte. Er sagte, er hoffe nur, mein Vater sei wirklich tot, denn wenn er lebend auftauche … Hm, man sah ihm deutlich an, was er bei dieser Aussicht dachte.
Der äußere Grund für meine Reise in die Schweiz war, mir eine anständige Erziehung zu geben. Ich war siebzehn und konnte noch nicht einmal multiplizieren. Ich wußte nur eines – meine Mutter nannte es ›Schlagzeilen-Geschichte‹. Sie hatte mich aus der Public School herausgeholt, als ich erst in die zweite Klasse ging, und bestellte eine ganze Herde von Privatlehrern, die mich in Zeitgeschichte unterrichten sollten. Wenn man bedachte, daß sie ihren Lebensunterhalt damit verdiente, Zeitgeschehnisse vorauszusagen, bevor sie aktuell wurden, kann man ihre Erziehungsmethoden vielleicht entschuldigen. Aber es war die Art der Durchführung, die mir das Fach so gründlich verleidete. Damals jedenfalls. Mutter ließ sich auf keine der modernen Methoden des Geschichtsstudiums ein. Für Mutter gab es keine Analyse der Tendenzen und keine Zusammenschau internationaler Ereignisse. Meine zu entschuldigenden Lehrer wurden dafür bezahlt, daß sie mich jede Schlagzeile der New York Times bis zu dem Zeitpunkt auswendig lernen ließen, zu dem Counterpoint den Preakness gewonnen hatte – und das war wenige Monate vor meiner Geburt geschehen. Für dies und nichts anderes. Man schaltete sogar ein paar Experten für Gedächtnisübungen ein, die mir meine tägliche Ration verdauen halfen.
So war es mir egal, ob es der eigentliche Grund war, mich zum Studium in die Schweiz zu schicken oder nicht. Ich war heilfroh, dem Auswendiglernen von Schlagzeilen entkommen zu sein.
Aber ich greife den Ereignissen vor.
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen war eine große Party, die meine Mutter in Skyridge, unserem Landhaus, gab. Ich war sechs Jahre alt. Es war die Nacht nach Roosevelts Wiederwahl. Von all den befragten Hellsehern und Experten hatte nur Mutter richtig geraten. Sie und das Dutzend Firmen, die ihre Vorhersagen veröffentlichten. Ich sollte oben schlafen, aber das Gelächter und Singen weckte mich, und so ging ich nach unten und feierte mit. Niemand kümmerte sich darum. Jedesmal, wenn ein Mann Mutter umarmte und küßte, packte ich ihn am Arm und schrie: »Er gehört mir!«
Meine Methoden änderten sich im Laufe der Jahre. Meine Einstellung blieb.
Glaubst du, daß es ihr auch nur das geringste ausmachte?
Pah!
Je mehr ich ihr wegzunehmen versuchte, desto mehr schien sie sich darüber zu amüsieren. Sie konnte schallend über meine Bemühungen lachen. Wie kann man so etwas bekämpfen? Ich wurde nur um so wütender.
Du denkst vielleicht, ich hatte nicht das geringste Recht, so etwas zu tun. Aber das stimmt nicht.
Ich rechtfertigte mein Tun mit einem Gedanken: Sie liebte mich nicht.
Ich war ihr Fleisch und Blut, aber sie liebte mich nicht. Vielleicht mochte sie mich ganz gern, auf ihre lauwarme Art, aber in ihrem Innern war keine echte Liebe für mich. Und ich wußte es und haßte sie und versuchte, alles, was ihr gehörte, wegzunehmen.
Wir müssen ein komisches Paar abgegeben haben. Sie redete mich nie mit meinem Namen oder auch nur mit dem Personalpronomen an. Niemals sagte sie Dinge wie: »Liebling, könntest du mir den Toast reichen?« Statt dessen bekam ich ein: »Kann ich den Toast haben?« zu hören.
Es war, als betrachte sie mich als ein Glied von sich selbst, einen Arm vielleicht, der kein unabhängiges Leben führen konnte. Es war kränkend.
Andere Mädchen hatten vor ihren Müttern Geheimnisse. Ich konnte vor meiner Mutter nichts Wichtiges verbergen. Je mehr ich etwas verbergen wollte, desto sicherer wußte sie es. Das war ein weiterer Grund, weshalb ich es nicht schlimm fand, in die Schweiz geschickt zu werden.
Ich war sicher, daß sie nicht in meinem Innern lesen konnte. Um Telepathie handelte es sich bestimmt nicht. Sie kannte nicht die Telefonnummern, die ich auswendig gelernt hatte, und wußte auch nicht die Namen der fünfundzwanzig Fußballspieler der County-Liga. Alltägliche Dinge wie diese drangen im allgemeinen nicht zu ihr durch.
Und mit Telepathie könnte man auch nicht erklären, was sich in jener Nacht abspielte, als sich mein Wagen an der Haarnadelkurve von Sylvania überschlug. Es waren ihre Hände, die mich aus dem zersplitterten Fenster zogen. Sie hatte am Straßenrand gewartet. Kein Ambulanzwagen – einfach meine Mutter. Sie hatte gewußt, wo und wann es geschehen und daß mir nichts passieren würde.
Nach dieser Nacht konnte ich mir denken, daß die Firma meiner Mutter, Tomorrow AG, auf mehr aufgebaut war als dem Studium der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Tendenzen.
Aber worauf?
Ich habe sie nie gefragt. Ich glaubte nicht, daß sie es mir sagen würde, und ich wollte ihr nicht die Befriedigung geben, mir etwas abzuschlagen. Aber vielleicht war das nicht der einzige Grund. Ich hatte auch Angst, sie zu fragen. Später war es beinahe so, als wären wir zu der stillschweigenden Übereinkunft gekommen, ich sollte nicht fragen, da ich zur rechten Zeit ohnehin alles erfahren würde.
Die Tomorrow AG machte eine ganze Menge Geld. Mutters Fähigkeit, bedeutende öffentliche Entwicklungen richtig vorherzusagen, war unübertroffen. Denn sie riet nie falsch. Natürlich verdienten ihre Kunden noch mehr Geld als sie, denn sie konnten mehr investieren. Auf ihren Rat hin nahmen sie sich des stark gesunkenen Marktes an, zwei Wochen bevor man auf der Konferenz von Den Haag zu dem berühmten Übereinkommen von 1970 gelangte. Mutter war es auch, die den Erfolg von Bartellis Neutron-Versuchen mit Cerium vorhersagte – früh genug, daß die Cameron-Gesellschaft alle Monazit-Sand-Vorkommen aufkaufen konnte.
Ebensogut erriet sie Derby-Sieger, Gerichtsentscheidungen, Wahlergebnisse und Ähnliches. Sie sagte genau vorher, welche Rakete zum Mond Erfolg haben würde.
Sie war intelligent, aber kaum ein Genie. Ihre Kenntnisse des Wirtschaftslebens waren erstaunlich beschränkt. Sie studierte nie Volkswirtschaft oder kümmerte sich um Marktkurven. Die Tomorrow AG besaß in ihrem New Yorker Büro nicht einmal einen Börsentelegrafen. Und trotzdem war Mutter um 1975 herum die höchstbezahlte Frau der Vereinigten Staaten.
1976, während der Weihnachtsferien, die ich mit Mutter auf Skyridge verbrachte, lehnte Mutter einen Dreijahresvertrag mit Lloyd in London ab. Ich wußte es, weil ich die Papiere, die sie zerrissen hatte, wieder aus dem Papierkorb holte. Das vorgeschlagene Jahresgehalt war achtstellig. Ich wußte, daß sie viel Geld verdiente – aber ich wußte auch, daß dies ein einmaliges Angebot war. Ich stellte sie zur Rede.
»Ich kann keinen Dreijahresvertrag annehmen«, erklärte sie. »Ich könnte nicht einmal einen Einjahresvertrag annehmen. Denn nächsten Monat möchte ich mich von den Geschäften zurückziehen.« Sie sah über mich hinweg zum Wald hinüber. Sie konnte meinen Gesichtsausdruck nicht lesen. Sie murmelte: »Hast du gewußt, daß dein Mund jetzt ziemlich lange offenstand?«
»Aber du kannst dich nicht zurückziehen!« schrie ich ihr entgegen. Ich hätte mir hinterher die Zunge abbeißen können. Mein Protest war ein Eingeständnis, daß ich sie beneidete und daß ich mich in ihrem Glanz sonnte. Nun, sie hatte es vermutlich ohnehin gewußt.
»Gut«, meinte ich gleichgültig, »du ziehst dich also zurück. Und wohin? Was wirst du anfangen?«
»Oh, ich glaube, ich werde hier auf Skyridge bleiben.« Sie sagte es ganz fröhlich. »Ich werde alles neu herrichten, und das kann Monate dauern. Zum Beispiel die Gießbäche unter dem Balkon. Sie stören mich schon lange. Vielleicht lenke ich den Bach in ein neues Bett. Das Geräusch des fließenden Wassers ist mir nicht angenehm. Und dann das ganze Gestrüpp da draußen. Ich dachte daran, alles wegzuschaffen und einen kleinen Landeplatz zu bauen. Man weiß nie, ob man nicht einmal per Hubschrauber besucht wird. Ach ja – und das Heu. Ich glaube, wir sollten uns irgendwo einen Heustock anlegen. Heu hat so einen angenehmen Geruch – so anregend, wie man sagt.«
»Mutter!«
Sie runzelte die Brauen. »Aber wo könnte ich das Heu nur hintun?«
Ich verstand nicht, warum sie so kindliche Methoden wählte, um mich zu ärgern. »Warum nicht in die Schlucht?« fragte ich böse. »Sie wird austrocknen, wenn du den Bach umleitest. Du wärst berühmt als die einzige Frau der Welt, deren Heu in einer Schlucht gelagert wird.«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Das ist es! Du bist ein kluges Mädchen.«
»Und was geschieht, wenn es dort ist?«
»Oh, vermutlich wird es dort bleiben.«
»Vermutlich?»schrie ich. Endlich hatte ich sie erwischt! »Weißt du es denn nicht?«
»Ich weiß nur die Dinge, die während der nächsten sechs Monate geschehen werden – bis zum dritten Juni, Schlag Mitternacht. Über die Dinge, die danach geschehen, kann ich keinerlei Voraussagen treffen.«
»Das heißt, du willst es nicht?«
»Ich kann nicht. Mein Zurückziehen ins Privatleben geschieht nicht willkürlich.«
Ich sah sie ungläubig an. »Ich verstehe nicht. Du meinst – deine Fähigkeit – sie wird dich verlassen – so?« Ich schnippte mit den Fingern.
»Genau.«
»Aber kannst du das nicht ändern? Kann dein Psychiater nicht etwas dagegen tun?«
»Niemand kann etwas für mich tun, selbst wenn ich es wollte. Aber ich will gar nicht erfahren, was nach dem dritten Juni geschieht.«
Ich studierte beunruhigt ihre Gesichtszüge.
In diesem Augenblick schlug die Uhr – als hätte sie es so geplant. Es klang, als wollte sie mich an unsere stillschweigende Übereinkunft erinnern, nicht näher über ihre seltsame Begabung nachzuforschen.
Die Antwort würde ich in sechs Monaten erhalten. Im Augenblick ließ ich den Dingen ihren Lauf.
Ein Epilog zu unserer Unterhaltung an jenem Tag:
Ein paar Monate später, als ich schon wieder in der Schule in Zürich war, schrieb mir eine Freundin, daß erstens der Bach in ein anderes Bett umgeleitet worden war, zweitens die leere Schlucht unter unserem Balkon ausgetrocknet und drei Meter hoch mit Heu gefüllt worden war, drittens das Heu mit einer elektronischen Warnanlage versehen sei, die klingelte, sobald sich jemand dem Heustock näherte, viertens das Gestrüpp entfernt worden war und an seiner Stelle ein kleines Landefeld stand, und daß fünftens auf dem Landefeld ein kleiner Lazaretthubschrauber stünde, komplett mit Pilot und Arzt.
»In manchen Fällen«, schrieb meine Freundin, »kann Senilität schon verhältnismäßig früh auftreten. Es wäre vielleicht besser, wenn du heimkommst.«
Mir gefiel es in der Schule. Ich wollte nicht nach Hause. Und außerdem, wenn Mutter schon den Verstand verlor, konnte ich es auch nicht ändern. Ich hatte keine Lust, meine Ferienpläne für eine Italienreise aufzugeben.
Einen Monat später, es war Anfang Mai, schrieb meine Freundin wieder.
Offenbar war eines Nachts der Alarmmechanismus im Heustock losgegangen. Mutter und die Diener waren hinausgeeilt und hatten einen einäugigen Mann mit blutendem Gesicht gefunden, der mühsam über das Kiesufer der Schlucht kletterte. In einer Hand hielt er eine alte Pistole. Den Berichten zufolge hatte ihn Mutter in den Hubschrauber gepackt und in ein New Yorker Krankenhaus bringen lassen, wo er immer noch war. Er sollte am sechsten Mai entlassen werden. Am nächsten Tag also, wenn es stimmte.
Dann erfuhr ich noch, daß Mutter zwei Schlafzimmer auf Skyridge hatte neu herrichten lassen. Ich kannte die Räume. Sie lagen nebeneinander.
Noch bevor ich den Brief zu Ende gelesen hatte, wußte ich, daß mit Mutters Verstand alles in Ordnung war. Daß immer alles in Ordnung gewesen war. Diese Hexe hatte alles vorhergesehen.
Aber was das Wichtigste daran war und was allen außer Mutter und mir entging, war die Tatsache, daß sie sich nun endgültig verliebt hatte.
Das war ernst.
So ließ ich den Rest des Semesters und die Italienreise fallen und nahm den ersten Düsenjäger nach Hause. Ich hatte niemandem geschrieben, daß ich kommen würde.
So zahlte ich das Taxi am Eingang zu unserem Grundstück und ging unangemeldet durch das Wäldchen auf die Schlucht und unser Haus zu.
Das erste, was ich sah, war der Heustock, der über den Rand der Schlucht hinausragte. Er war besetzt.
Die Sonne schien, aber es war erst Anfang Mai und nicht sonderlich warm. Trotzdem trug Mutter einen dieser Sonnenanzüge. Vielleicht erzeugen Heustöcke eine Menge Wärme. Spontane Verbrennung.
Mutter sah nicht in meine Richtung. Sie beanspruchte sein gesundes Auge mehr, als es für ihn vermutlich gut war.
Ich hatte kein Geräusch gemacht, aber plötzlich wußte ich, daß sie mich erwartet hatte und daß sie meine Anwesenheit nun spürte.
Sie drehte sich um, setzte sich auf und lächelte mich an. »Hallo! Willkommen daheim. Oh, daß ich es nicht vergesse, das hier ist unser guter Doktor – äh – Brown. John Brown. Nenne ihn einfach Johnny.«
Sie zog sich ein Stück Heu aus dem Haar und grinste Johnny an.
Ich wiederum starrte die beiden an. Doktor Brown stützte sich auf einen Ellbogen und erwiderte meinen Blick, so freundlich es die schwarze Binde über dem einen Auge zuließ.
»Hallo, Honey«, sagte er ernst.
Dann brachen er und meine Mutter in Gelächter aus.
Es war das seltsamste Lachen, das ich je gehört habe. So, als gäbe es auf der ganzen Welt überhaupt nichts, was die beiden ernst nehmen würden.
In diesem Sommer sah ich Johnny oft. Die Dinge entwickelten sich rasch. Es wurde interessant. Schon nach kurzer Zeit fing ich diesen Blick von ihm auf, der besagte: »Ich würde ja gerne – aber …« Und das war alles. Trotzdem hatte ich das Gefühl, daß ich mit ihm weiter kommen würde als je mit einem von Mutters früheren Freunden.
Schließlich jedoch ärgerte ich mich über dieses ›bis-hierhin-und-nicht-weiter‹-Getue. Es wurde zu einer Herausforderung. Dann …
Vermutlich war es die Tatsache, daß er immer da war und daß ich wußte, wie es um ihn und Mutter stand, die die Dinge schließlich ihren Lauf nehmen ließen. Bei den Versuchen, ihn näher an mich zu bringen, ließ ich allmählich jede Vernunft fallen. Ich wurde richtiggehend schamlos. Ich begann seine Aufmerksamkeit bei jeder Gelegenheit auf mich zu lenken.
Wir unterhielten uns. Aber nicht über ihn. Wenn er wußte, was diesen Unfall verursacht hatte und wie er hierhergekommen war, so sprach er jedenfalls nie darüber. Zumindest nicht mit mir.
Wir unterhielten uns über Magnetronen.
Sieh mich doch nicht so verwundert an.
Wie du war er Experte für Magnetronen. Ich glaube, er wußte sogar noch mehr über Magnetronen als du. Und du dachtest, du seist der einzige Fachmann auf diesem Gebiet, nicht wahr?
Ich tat so, als hörte ich ihm zu, aber in Wirklichkeit verstand ich gerade noch die Grundbegriffe – daß Magnetronen eine Art Elektronen oder Gravitronen oder sonst etwas waren. Aber ich verstand zumindest, daß man durch ein magnetronisches Feld den Zeitfluß abwandeln und ziemlich eigenartige Ergebnisse erzielen konnte, wenn man einen Gegenstand diesem Feld aussetzte.
Wir sprachen eine Menge über Magnetronen.
Ich plante unsere Zusammentreffen oft Tage voraus. Ziemlich früh begann ich damit, mir Mutters Sonnenanzüge auszuborgen. Später, wenn er theoretisch nicht da sein konnte, sonnenbadete ich auch ohne. Außer einem Sonnenbrand brachte mir die Sache nichts ein.
Später stahl ich mich mit einem Schlafsack nachts ins Freie und schlief unter den Fichten. Ich konnte es nicht ertragen, zu wissen, wo er sich im Augenblick vermutlich aufhielt.
Nicht daß ich aufgegeben hätte.
Er baute einen Magnetronen-Erzeuger. Den ersten auf der ganzen Welt. Ich hatte ihm den ganzen Tag geholfen, einen Teil seiner Ausrüstung anzuschließen.
Er hatte das Balkongeländer niedergerissen und baute seine Maschine draußen auf dem Balkon, direkt über der Schlucht. Er konnte sie einstellen, sagte er. Ich meine damit, daß dieses Feld eine Art Linseneffekt hervorrief, und er konnte angeblich das Feld genau einstellen.
Das Komische daran war, daß der Brennpunkt jenseits des Balkons lag, als er ihn endlich eingestellt hatte. Direkt über der Schlucht. Er wollte nicht, daß jemand durch Zufall in den Brennpunkt stolperte.
Und durch die Linse konnte man Geräusche hören.
Die Schlucht war seit Monaten ausgetrocknet – seit dem Tag, an dem Mutter den Bach umgeleitet hatte. Doch jetzt hörte man durch diese Linse das endlose Rauschen von Wasser.
Im ganzen Haus konnte man es hören.
Der Lärm machte mich nervös. Er schien sogar die beiden niederzudrücken.
Das Geräusch machte mich verrückt. Ich schleppte meinen Schlafsack noch tiefer in das Wäldchen. Trotzdem hörte ich das Wasser.
Eines Nachts, eine Viertelmeile vom Haus entfernt, krabbelte ich aus dem Schlafsack und ging zurück ins Haus. Ich wollte ihn aufwecken und ihn bitten, das Ding abzustellen.
Das zumindest war meine Ausrede. Und es stimmte wirklich, daß ich nicht einschlafen konnte.
Ich hatte mir alles so schön ausgerechnet. Wie ruhig ich seine Tür öffnen, wie ich auf Zehenspitzen zu ihm schleichen würde. Wie ich mich über ihn beugen, meine Hand weich auf seine Brust legen und ihn sanft wecken würde.
Alles war vorherberechnet – bis auf eines.
Ich stand da, beugte mich über sein Bett und versuchte im Dunkeln die Umrisse seiner Gestalt auszumachen.
Ich streckte die Hand aus.
Es war nicht die Brust eines Mannes, die ich berührte.
»Was willst du?« flüsterte Mutter.
In der kurzen Spanne, in der ich mich von meinem Schrecken erholte, hatte mein Inneres entschieden, daß sie ihn auch nicht haben sollte, wenn ich ihn nicht haben konnte. Alles hat seine Grenzen. Der Augenblick der Abrechnung war gekommen.
Er hatte immer seine alte Pistole auf dem Tisch liegen, die, die er mitgebracht hatte. Geräuschlos griff ich nach ihr. Ich fand sie. Ich wußte, es war so dunkel, daß Mutter nicht sehen konnte, womit ich in diesem Augenblick auf sie zielte.
Ich war mir völlig im klaren darüber, was ich vorhatte und welche Folgen meine Tat hervorrufen würde. In Doktor Browns Schlafzimmer auf Skyridge wurde fünf Minuten vor Mitternacht am dritten Juni 1977 ein Mord vorbereitet.
»Wenn das Ding losgeht«, flüsterte Mutter, »wacht Vater vermutlich auf.«
»Vater …?« keuchte ich. Der Pistolengriff landete auf meiner Zehe. Ich merkte kaum, daß ich die Waffe fallen ließ.
Ich hatte genau gehört, was sie gesagt hatte. Aber plötzlich merkte ich, daß es keinen Sinn ergab. Sie hätten es mir schon lange gesagt, wenn es gestimmt hätte. Und er hätte mich nicht – so angesehen, Tag für Tag. Sie log.
Sie fuhr ruhig fort: »Willst du ihn wirklich haben?«
Wenn eine Frau einer anderen diese Frage stellt, dann will sie im allgemeinen ihr Besitzrecht betonen und nichts anderes. Die Tonskala reicht von einem feinen Spott bis zu offenem Triumph.
Aber Mutters Stimme war völlig ruhig und gleichgültig.
»Ja!« sagte ich rauh.
»So sehr, daß du auch ein Kind von ihm haben möchtest?«
Jetzt konnte ich nicht mehr zurück. »Ja.«
»Kannst du schwimmen?«
»Ja«, erwiderte ich mechanisch.
Nichts war in diesem Augenblick logisch und zusammenhängend. Da waren wir, zwei Hexen, die um Leben und Tod stritten, während unser Streitobjekt friedlich neben uns schlief.
Sie flüsterte: »Weißt du, von wann er kommt?«
»Du meinst woher?«
»Nein. Er kommt aus dem Jahre 1957. In diesem Jahr fiel er in ein magnetronisches Feld. In meinen Heustock vom Jahr 1977. Die Linse da draußen ist eingestellt …«
»… auf 1957?« fragte ich dumpf.
»Auf das frühe 1957«, ergänzte sie. »Sie ist auf einen Tag eingestellt, der einige Monate vor dem Unfall liegt. Wenn du ihn wirklich haben möchtest, brauchst du nur durch den Brennpunkt zu gehen, ihn im Jahre 1957 festzuhalten und ihn nicht mehr loszulassen. Aber gib acht, daß er nicht in das magnetronische Feld fällt.«
Ich fuhr mit der Zunge über meine spröden Lippen. »Und wenn es doch geschieht?«
»Dann warte ich hier auf ihn.«
Mir schwirrte der Kopf. »Aber, wenn ich in das Jahr 1957 zurückkehre, wie kann ich sicher sein, daß ich ihn rechtzeitig finde? Angenommen, er ist auf einer Safari in Südafrika?«
»Du wirst ihn finden. Hier. Er hat den Frühling und den Sommer des Jahres 1957 auf Skyridge verbracht. Das Haus war schon immer in seinem Besitz.«
Ich konnte ihre Augen nicht sehen, aber ich wußte, daß sie vor Spott funkelten.
»Die Sache mit dem Kind«, sagte ich kurz. »Was hat das mit ihm zu tun?«
»Deine einzige Chance, ihn für immer festzuhalten, ist das Kind«, sagte sie kühl.
»Das Kind?«
Das Ganze ergab keinen Sinn. Ich gab es auf, nachzudenken.
Eine lange Minute herrschte Schweigen zwischen uns, nur unterbrochen von dem leisen Atmen Johnnys und dem Murmeln des Wassers, das aus der Vergangenheit kam.
Ich blinzelte.
Ich mußte Johnny haben. Ich würde zurück ins Jahr 1957 gehen. Plötzlich fühlte ich mich erleichtert und froh.
Die Ganguhr begann Mitternacht zu schlagen.
In ein paar Sekunden war der dritte Juni 1977 Geschichte. Mutter würde weg sein, Vergangenheit, nicht einmal fähig, das Wetter vorherzusagen.
Ich zog meine Hausschuhe und meinen Schlafanzug aus. Ich schätzte die Entfernung zum Balkon ab.
Meine Stimme gehorchte mir nicht mehr. »Mutter!« schrie ich. »Gib uns eine letzte Vorhersage!«
Ich stieß mich ab und sprang – in eine andere Zeit. Mutters Antwort erreichte mich durch die Linse. Ich hörte sie im Jahre 1957 –
»Du hast ihn nicht gehalten.«
Sein richtiger Name war James McCarren. Es stimmte tatsächlich, daß er Doktor war. Physikprofessor. Alter – etwa vierzig. Hatte ich erwartet, er würde jünger sein? Er schien älter als ›Johnny‹. Und er hatte zwei gesunde Augen. Keine schwarze Binde.
Es stimmte – ihm gehörte Skyridge. Er verbrachte die Sommermonate dort. Ging auf die Jagd und zum Angeln, um sich von den Semestern zu erholen.
Und jetzt, mein Freund, wenn du dich ein wenig entspannst, erzähle ich dir, was sich in der Nacht zum fünften August 1957 zutrug.
Ich beugte mich über den Balkon und starrte hinunter in den rötlich erleuchteten Tumult der Wasserstrudel, als ich fühlte, daß Jim hinter mir stand. Ich spürte, wie seine Blicke über meinen Körper tasteten.
Noch vor einem Augenblick hatte ich tief eingeatmet und versuchte nun, langsam die Luft aus meinen angespannten Lungen zu lassen. Gleichzeitig schob ich Jims Pistole ein wenig höher in meine Achselhöhle. Der kalte Stahl ließ mich zusammenzucken.
Es war zu scheußlich. Seit zwei Monaten liebte ich ihn auf eine faszinierende Weise, wenn auch lange nicht so faszinierend, wie ich Johnny geliebt hatte (Ein paar Wochen mit Mutter können einen Mann wirklich verwandeln!). 1957 war Johnny – oder Jim – sehr zartfühlend und fürsorgend. Auf eine sonderbare Art keusch. Fast väterlich. Es war zu scheußlich, daß ich ihn als Jim zu lieben begann.
Und da war Mutters letzte Vorhersage. Ich hatte lange darüber nachgedacht. Soweit ich sehen konnte, gab es nur eine Möglichkeit, daß er nicht zu ihr ›durchbrannte‹.
»Komm doch auch heraus«, sagte ich und hielt ihm mein Gesicht entgegen, damit er mich küssen konnte.
Als er mich freigab, sagte ich: »Weißt du auch, daß es jetzt genau zwei Monate her ist, seit du mich da unten herausgefischt hast?«
»Die glücklichsten zwei Monate meines Lebens«, sagte er.
»Und du hast mich immer noch nicht gefragt, wie ich hierherkam oder wer ich bin – überhaupt nichts. Du gibst dich doch hoffentlich nicht der Illusion hin, daß ich diesem Friedensrichter meinen richtigen Namen sagte?«
Er grinste. »Wenn ich zu neugierig würde, müßte ich befürchten, daß du eines Tages wieder in den Strudeln verschwindest – wie eine Wassernymphe.«
Es war wirklich traurig. Ich zuckte verbittert mit den Schultern. »Ach, du und deine Magnetronen.«
Er sah beunruhigt auf. »Was? Wann hast du je etwas von Magnetronen gehört? Ich habe noch nie mit jemandem ein Sterbenswörtchen darüber gesprochen.«
Sein Mund öffnete und schloß sich langsam. »Du weißt nicht, was du sagst.«
»Es würde mich freuen, wenn es so wäre. Dann könnte alles gut werden. Denn erst wenn man logisch darüber nachdenkt, merkt man, wie unmöglich das Ganze ist. Es muß aufhören – und jetzt ist noch Zeit, es aufzuhalten.«
»Was aufhalten?« fragte er.
»Die Art und Weise, wie wir beide in der Zeit umherspringen. Besonders du. Wenn ich dich nicht aufhalte, gehst du durch die Linse, und Mutter bekommt dich wieder. Es war ihre letzte Vorhersage.«
»Linse?« stöhnte er.
»Die Maschine. Du weißt schon, die für die Magnetronen.«
»Wie?«
»Sie existiert natürlich noch nicht«, sagte ich halb zu mir selbst. »Zumindest nicht in Wirklichkeit. Der Plan dazu ist schon in deinem Kopf. Du wirst den Generator erst im Jahre 1977 bauen.«
»Ich kann die Teile jetzt nicht bekommen.« Seine Stimme war dumpf.
»Aber 1977 werden sie erhältlich sein.«
»1977?«
»Nachdem du die Maschine im Jahre 1977 gebaut hast, wirst du sie auf das Jahr 1957 einstellen, so daß du jetzt ins Jahr 1977 springen könntest. Aber ich lasse es nicht zu. Als Mutter ihre letzte Vorhersage traf, wußte sie nicht, zu welchen Mitteln ich greifen würde, um dich aufzuhalten.«
Er wischte sidi mit der Hand über das Gesicht. »Aber – aber – selbst wenn ich annehme, daß du aus dem Jahre 1977 kommst und daß ich im Jahre 1977 einen Magnetronen-Erzeuger baue, so kann ich doch nicht einfach in dieses Jahr springen und ihn konstruieren. Ich kann nicht zwanzig Jahre in die Zukunft gehen – durch ein magnetronisches Feld, das erst geschaffen und ausgestrahlt wird, wenn ich im Jahre 1977 angekommen bin. Es wäre das gleiche, wenn du behaupten würdest, die Pilgerväter hätten ihre Mayflower erst in Plymouth gebaut. Und außerdem bin ich ein Ehemann, der bald Vater wird. Ich habe nicht die leiseste Absicht, mich vor meinen Pflichten zu drücken.«
»Und doch wirst du zu ihr zurücklaufen, wenn alles normal weitergeht«, erklärte ich. »Heute abend bist du noch mein rechtmäßiger Mann und der Vater unseres Kindes. Dann – bing! Plötzlich befindest du dich im Jahre 1977 – ein Mann, der seine Frau verlassen hat, ein Schürzenjäger, der Liebhaber meiner Mutter. Ich werde es nicht zulassen. Nach alldem, was ich durchgemacht habe, werde ich es nicht erlauben, daß sie dich mir wegnimmt. Ich koche, wenn ich an sie denke, wie sie lächelt – im Jahre 1977. Sie hat mich auf eine kluge Art abgeschoben, damit sie dich ganz für sich hat. Und ich – in diesem Zustand!« Meine Stimme brach in einem kunstvollen Tremolo.
»Ich könnte auch auf normale Weise altern«, sagte er. »Ich könnte einfach bis 1977 warten und dann den Generator bauen.«
»Du hast es nicht getan – ich meine, du wirst es nicht tun. Als ich dich das letztemal im Jahre 1977 sah, wirktest du noch jünger als jetzt. Vielleicht durch die schwarze Binde.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wenn deine Gegenwart hier eine direkte Folge meiner Gegenwart dort ist, dann kann keiner von uns etwas gegen dieses Wechselspiel unternehmen. Ich will nicht durch das Feld gehen. Und was mich dazu zwingen könnte, weiß ich jetzt auch noch nicht. Aber fahren wir mit der Vermutung fort, daß ich gehe und du hilflos zurückbleibst. Wir müssen Pläne machen. Du wirst Geld brauchen. Wahrscheinlich mußt du sogar Skyridge verkaufen. Und dir eine Stelle suchen, wenn das Baby da ist. Wie steht es mit deinen Stenokenntnissen?«
»Im Jahre 1977 benutzt man statt Kurzschrift Vodeographen«, murmelte ich. »Aber mach dir keine Sorgen, du kleiner Zeitenbummler. Selbst wenn es dir gelänge, zu Mutter durchzubrennen, komme ich mit dem Baby schon zurecht. Als Beginn werde ich den Rest deines Bankkontos auf Counterpoint setzen, der nächsten Sonntag den Preakness gewinnt. Danach …«
Aber er hatte schon wieder etwas anderes im Kopf. »Als du mich im Jahre 1977 kanntest, waren wir – äh – sehr eng miteinander bekannt?«
Ich fauchte. »Kommt darauf an, was du unter ›wir‹ verstehst.«
»Was? Du meinst – ich und deine Mutter – also wirklich?« Er hüstelte und fuhr sich mit dem Finger zwischen Hemdkragen und Hals. »Es muß eine einfache Erklärung dafür geben.«
Ich sah ihn nur spöttisch an.
Er grinste. »Deine Mutter ist im Jahre 1977 – eine gutaussehende Frau, wenn mich nicht alles täuscht?«
»Eine runzlige, angemalte alte Schachtel«, sagte ich kühl. »Vierzig, würde ich sagen.«
»Hmmm. Wie du weißt, bin ich auch vierzig. Wenn man die Meinung der stürmischen Jugend außer acht läßt, ist das die beste Zeit des Lebens. Du wirst in zwanzig Jahren ähnlich denken.«
»Vermutlich«, sagte ich. »Etwa um die Zeit wird man mich aus dem Zuchthaus entlassen.«
Plötzlich schnippte er mit den Fingern. »Ich habe es! Phantastisch!« Er drehte sich um und sah über den Balkon hinweg wie Cortez über den Berggipfel. »Phantastisch, aber es muß so sein. Vollkommen logisch. Ich. Deine Mutter. Du. Das Kind. Die Magnetronen. Der ewige Kreislauf.«
»Du drückst dich sehr klar aus«, sagte ich vorwurfsvoll. »Du könntest wenigstens bis zum Ende normal bleiben.«
Er wirbelte herum und sah mich an. »Weißt du, wo sie heute abend ist?«
»Nein, und ich habe zwei Drittel unseres gemeinsamen Bankkontos dafür verbraucht, ihren Aufenthalt herauszubringen. Es ist, als hätte es sie nie gegeben.«
Seine Augen wurden immer größer. »Kein Wunder, daß du sie nicht gefunden hast. Du konntest es ja nicht wissen.«
»Was konnte ich nicht wissen?«
»Wer deine Mutter ist.«
Ich wollte ihn anschreien. Aber ich sagte nur: »Oh!«
Er war schon wieder bei einem anderen Gedanken. »Aber das ist nicht völlig ohne Präzedenzfall. Wenn sich eine Zelle spaltet, kann man nicht sagen, welcher Teil die Mutter und welcher die Tochter wird. Die Frage danach wäre Unsinn. Und so ist es auch mit dir. Die Zelle teilt sich im Raum. Du teilst dich in der Zeit. Es wäre Unsinn zu fragen, wer von euch beiden die Mutter und die Tochter ist.«
Ich stand einfach da und starrte ihn wortlos an.
Er überlegte weiter. »Aber selbst bei dieser Erklärung weiß ich nicht, weshalb ich durch das Feld gehen sollte. Dieser Schritt ist einfach nicht logisch. Weshalb sollte ich freiwillig zwanzig Jahre Leben zusammen mit dir aufgeben und überspringen? Wer wird sich um dich kümmern? Wie könntest du dir deinen Lebensunterhalt verdienen? Aber du mußt es geschafft haben. Denn du mußtest Skyridge nicht verkaufen. Du bist hiergeblieben. Du hast sie erzogen. Aber natürlich!« Er hieb sich mit der Faust gegen die Stirn.
»Daß ich darauf nicht gekommen bin«, meinte er strahlend. »Counterpoint gewinnt Preakness. Du wirst Vorhersagen treffen, die dann eintreten. Im Sport. Bei den Präsidentenwahlen. Bei Gerichtsentscheidungen. Alles weißt du vorher. Du mußt dich erinnern! Übe dein Gedächtnis. Damit kannst du viel Geld machen.«
Mein Mund stand weit offen.
»Wird es nicht so geschehen?« fragte er.
»Ich kenne bereits alle Schlagzeilen«, stammelte ich. »Nur daß Mutter dieses Geschäft aufmachte – sie hat sich damit über Wasser gehalten.«
»Mutter – Mutter – Mutter«, ahmte er mich nach. »Bei der großen Zeit, Kind! Kannst du denn die Logik nicht erkennen? Weigerst du dich einzusehen, daß du und deine Mutter und deine ungeborene Tochter ident…«
»Nein!« schrie ich.
Ich riß die Pistole heraus.
Ich hob sie langsam, als hätte ich die ganze Zeit der ganzen Geschichte zur Verfügung, und zielte sorgfältig. Ich schoß ihm durch den Kopf.
Noch bevor er auf dem Boden aufschlug, nahm ich seine rechte Hand und drückte die Pistole hinein.
Einen Augenblick später war ich draußen und rannte zur Garage.
Ich dachte, es sei das beste, wenn ich die Leiche nach einem Einkaufsbummel finden würde, nach einem Einkaufsbummel, bei dem ich ein paar Freunde getroffen hatte, die mich nun begleiteten.
Das einzige, was bei diesem Plan schiefging, war die Tatsache, daß er verschwunden war, als ich heimkam.
Man war der allgemeinen Ansicht, daß James McCarren von einem Jagdausflug nicht mehr heimgekehrt war. Der arme Kerl war in den undurchdringlichen Wäldern vermutlich verhungert. So nahm man an. Weder er noch seine Pistole wurden je gefunden. Ein paar Monate später erklärte man ihn gesetzlich für tot, und ich steckte die Versicherungssumme ein.
Ein paar harte Augenblicke hatte ich durchzustehen, als der Polizeibeamte und der Distrikt-Attorney eine dünne Spur vertrockneten Blutes fanden, die zum Rand des Balkons führte. Aber sie entdeckten natürlich nichts, als sie den Wildbach durchsuchten. Und als ich meinen Zustand andeutete, verwandelte sich ihr unausgesprochenes Mißtrauen in Mitgefühl.
Von da an hatte ich eine Menge Zeit, über die Sache nachzudenken. Besonders während der ersten mageren Monate der Tomorrow AG, als sich die Kunden erst allmählich einstellten.
Und dann dachte ich folgendes: Welche Frau wird so von einem Mann geliebt, daß er sich über zwanzig Jahre zu ihr hinschleppt, obwohl sie ihn ins Auge geschossen hat?
Das mindeste, was ich tun konnte, war, den Wildbach umzuleiten und die Schlucht mit Heu zu füllen. Damit dein Fall gedämpft wurde.
Sag mal ehrlich – gefällt dir mein neuer Bikini? Das rot-grüne Karo paßt doch wunderbar zu dem sanften Gelb des Heus. Soll ich wirklich zu dir hinüberkommen und mich neben dich setzen? Ach, die Leute sind mir doch egal. Die Diener sind im Dorf unten, und sie kommt erst in einer Stunde aus dem Wald. Die alte Schnüfflerin.
Aaaach, Johnny …!