Zeigt mir einen
Stern!
von
HARLAN ELLISON
Als Kettridge sich niederbeugte, um die flinke rote Eidechse zu fangen, schlug das Ding zu, das in den Schatten gelauert hatte.
Es richtete sich auf seinen kräftigen, muskelbepackten Hinterbeinen auf. Es maß über drei Meter, hatte einen schillernden, gleißenden Pelz und ähnelte zugleich einem Gorilla, einem indischen Wasserbüffel, einem Kodiakbären und einer Vielzahl anderer terranischer Tiere. Aber es war keines von ihnen.
Der Vergleich war so kurz und verwischt wie Kettridges letzte schreckerfüllte Augenblicke des Bewußtseins. Er sah, wie eine der riesenhaften Pranken auf ihn herabsauste. Dann war es vorbei, und Kettridge lag besinnungslos am Boden.
Gedanke: Das ist der Auftakt zur Fastenzeit. Durch seine Größe ersetzt der Seltsamgeformte viele Katzenwürfe. Er ist warm und verliert nicht das Sein. Wenn der Dieb des Seins von den Himmeln herabkreischt, wird der Seltsamgeformte viele Festmahlzeiten für mich darstellen. Er bedeutet Sicherheit und Fortdauer des Seins. O Glücksfang, der mir schließlich gewährt wurde. Dem Herrn des Himmels wenden sich all meine Gedanken zu. Ladnars Sein gehört dir in Ewigkeit.
Das Riesengeschöpf beugte sich nach unten, indem es in der Taille scharf abknickte. Es hob den Mann in dem enganliegenden, metallischen Anzug auf. Das Ding wischte verärgert über den Werkzeuggurt, den der Fremde umgeschnallt hatte, und sah über die massige Schulter hinweg zum Himmel hinauf. Noch während Ladnar das dunkle All beobachtete, riß ein Blitz die Wolken auseinander und jagte hinab in den Dschungel.
Ladnar blinzelte und zog ganz unbewußt die Sekundärlider über die Augen. So filterte er das grellste Licht. Er zuckte zusammen, als der Donner über den Himmel rollte.
Gedanke: Viele Auf- und Untergänge der Großen Wärmespenderin sind vergangen. Nun kommt die Zeit des Fastens und wird uns so bald nicht mehr verlassen. Die Große Wärmerin verbirgt sich, und Kälte breitet sich über dem Land aus. Ladnar muß sich seinen Fastplatz suchen. Der Seltsamgeformte wird seinen Hunger viele Male stillen.
Er klemmte sich den Mann unter einen der pelzbedeckten Arme. Ladnars Augen waren verängstigt. Er wußte, daß die Zeit des Todes kam, die Zeit, in der man nicht herumstreifen konnte.
Er hielt auf die Berge zu.
Als Kettridge erwachte, sah er zuerst den Kopf des Geschöpfes. Das Licht der Blitze erhellte ihn geisterhaft. Das Trommeln des Regens, der sich in breiten Vorhängen über den Dschungel ergoß, und das grelle Weiß der Blitze erhöhten noch die Unheimlichkeit seiner Züge.
Die breite stumpfe Nase hatte drei riesige Nasenlöcher. Die großen Augen mit den Doppellidern schienen von innen heraus zu leuchten wie zwei flackernde Kometen. Das Geschöpf besaß eine hohe, behaarte Stirn. Unter den Backenknochen sah man eine Zeichnung, die an einen schwarzen Halbmond erinnerte.
Das Ding schien zu knurren. Es hätte seine spitzen Fänge nicht boshafter entblößen können.
Kettridge war ein Mann, der die Blüte seiner Jugend weit hinter sich hatte. Er war nicht stark. Bei dem Knurren der Bestie verlor er das Bewußtsein zum zweitenmal.
Es folgte eine kurze Spanne des Halbschlafs, die erfüllt war von quälenden, verwirrten Bildern. Schließlich blinzelte Kettridge und stützte sich auf seine Ellbogen.
Ladnar hatte seine mächtigen Beine überkreuzt und saß im Eingang einer kleinen Höhle. Er betrachtete Kettridge ruhig.
»Was – was bist du?« stöhnte Kettridge. »Wir haben keine so großen Lebewesen erwartet. Die oberflächliche Untersuchung ergab …« Kettridge verstummte ängstlich.
Gedanke: Was ist das? Der Seltsamgeformte spricht in meinem Kopf. Er ist nicht dasselbe wie die jungen Katzen. Sie können nicht sprechen. Ist er ein Symbol, ein Omen? Vom Herrn des Himmels geschickt?
Was willst du wissen, Seltsamgeformter?
Kettridge fühlte den Ansturm der fremden Gedanken in seinem Innern. Er spürte, wie sie an seinen Nerven zerrten. Sie brandeten auf wie ein Echo, das von weit, weit her kommt.
Mein Gott, das Ding ist telepathisch!
»Du hast telepathische Anlagen«, murmelte er, immer noch ungläubig.
Gedanke: Was will er damit sagen? Was bringst du mir, Seltsamgeformter? Was ist es, das du mir sagst und das ich wie das Sein selbst lese? Weshalb sprichst du? Bist du der Herr des Himmels?
Ladnars wulstige, lederartige Lippen hatten sich nicht bewegt. Die spitzen Fänge schimmerten reglos. Aber Kettridge schien es, als sei ein drittes Wesen in der Höhle. Ein Sprecher, der mit starker, klarer Stimme in seinem Innern tobte.
Gedanke: Wir sind allein. Hier ist der Ort des Fastens. Ladnar hat ihn von allen Spuren früherer Fastender gereinigt. Du antwortest nicht. In dein Wesen hat sich Furcht gemischt – wie bei den Katzen, die ich bisher verzehrte. Und doch bist du keine Katze. Sprich! Bist du ein Omen?
Kettridges Lippen begannen zu zittern. Er starrte mit Grauen auf die erstaunlich leuchtenden Augen mit ihren doppelten Lidern. Er hatte erkannt, daß das Geschöpf nach beiden Richtungen telepathisch war. Es konnte nicht nur Gedanken in sein Gehirn senden, sondern nahm ebensogut die Gedanken auf, die in ihm, Kettridge, wühlten.
»Ich – ich komme von der Erde«, flüsterte Kettridge und lehnte sich gegen die warme Steinwand der Höhle.
Gedanke: Das Heim des Himmlischen! Ich hätte es wissen sollen. Der Herr des Himmels hat dich zu mir gesandt, um mir viele Mahlzeiten zu schenken.
Während der wenigen Sekunden, die Ladnar zu Kettridge sprach, erhielt dieser ein vollständiges geistiges Bild von dem unglaublichen Leben dieses Geschöpfs. Er hatte gewußt, daß es auf Blestone Lebewesen gab – seltsame Arten oft, die auf einer ungemein niedrigen Stufe standen und sich kaum aus ihren Verstecken hervorwagten. Aber die Voruntersuchungen hatten ihn nicht auf so ein komplexes Leben vorbereitet. Offensichtlich war Ladnars Rasse am Aussterben.
Kettridge versuchte seine Gedanken auszuschalten, aber es gelang ihm nicht.
Gedanke: Du kannst das Sprechen in meinem Kopf nicht abstellen.
Kettridge wurde von Panik erfaßt. Er wußte genau, was das Ding vorhatte. Er hatte ein geistiges Bild empfangen, auf dem sich die Kreatur erbarmungslos über ihn beugte und mit grausamer Zielstrebigkeit seinen rechten Arm aus den Gelenken riß. Das Bild war erschreckend deutlich.
Gedanke: Du hast das Mahl gesehen. Du bist nicht wie die Katzen, die vor Angst wimmern, wenn ich sie verzehre. Kann man dich nicht essen? Bist du kein Omen des himmlischen Herrn?
Kettridge spürte, wie sich seine Halsmuskeln zusammenzogen. Seine Hände in den wärmeisolierenden Handschuhen ballten sich zu Fäusten. Er fühlte, daß sich sein Alter wie ein schwerer Mantel um ihn legte.
»Ich bin ein fremder Ökologe«, sagte Kettridge, obwohl er wußte, daß der andere ihn nicht verstehen würde.
Gedanke: Das hat keine Bedeutung für mich.
»Ich komme von der Erde. Ich stamme von einem der anderen …« Er hielt inne, atmete schnell und zog sich das nachgiebige Material des Anzugs vor den Mund. Das Wesen konnte ja nichts von den anderen Planeten wissen. Es konnte keinen einzigen Stern sehen. Nur hin und wieder brach die Sonne durch. Die dichte Wolkendecke von Blestone verbarg für immer den Raum vor seinen Blicken.
Gedanke: Erde! Das Heim des Himmlischen! Ich wußte es, ich wußte es!
Jubel und Glück schwangen in dem Gedanken mit – ein Gefühlsausbruch, der zugleich unverständlich und erschreckend war. Aber Menschlichkeit war in ihm – eine seltsame Wärme.
Gedanke: Ich will jetzt schlafen. Später halte ich mein Mahl.
Mit der Zielstrebigkeit, die das Leben in der Natur mit sich bringt, schüttelte das Wesen die Offenbarung seiner Religion ab und gehorchte den Befehlen seines Körpers. Ermüdet von der Jagd, legte sich Ladnar schlafen.
Die Gedanken in Kettridges Gehirn wurden schwächer. Sie verflüchtigten sich wie Rauchkringel, als Ladnar sich zur Seite legte und in dem düsteren Raum ausstreckte. Er blockierte den Eingang zur Höhle.
Kettridges Hand schloß sich um den Dienstrevolver in seinem Gurt. Es war beruhigend, zu wissen, daß die Ladungen stark genug waren, um ein Tier von beträchtlicher Größe fernzuhalten.
Der Gedanke beunruhigte ihn. Er wußte, daß er töten mußte – oder selbst getötet wurde. Und doch …
Draußen flammten und tobten die Blitze um die Höhle. Der lange Sturm hatte eingesetzt.
Durch den schmalen Spalt, der zwischen den Felsen und Ladnars Körper freiblieb, konnte Kettridge sehen, daß sich der Himmel mit dem Anwachsen des Sturmes verdunkelte. Jeden Augenblick warfen sich neue Feuerstrahlen durch die Luft in die Tiefe.
Blestones Atmosphäre betrug die für menschliche Bedingungen unerträgliche Wärme von hundertfünfzig Grad Fahrenheit. Und die Körperwärme des fremden Wesens war fast ebenso hoch. Die Nähe des Tieres hätte in der Tat Kettridges Tod verursacht, wenn ihn nicht der Isolieranzug geschützt hätte.
Er drückte sich eng an die Wand. Der rauhe Fels machte sich durch den Anzug hindurch bemerkbar.
Er wußte, daß der Strahl der Jeremy Bentham auf seinen Anzug eingestellt war, aber er wußte auch, daß man ihn erst wieder heraufholen würde, wenn seine Forschungszeit um war. Er war nicht der einzige Ökologe auf dem Forschungsschiff, das Blestone untersuchte. Aber die Expedition hatte nur wenige Mittel zur Verfügung, und man sparte Geld, indem man die Forscher sich selbst überließ.
Das hieß, daß sie erst in sechs Stunden nach ihm sehen würden.
In sechs Stunden war Ladnar mit Gewißheit hungrig geworden.
Kettridge ließ sich noch einmal alles durch den Kopf gehen. Er sah Tatsachen durch, wägte Informationen ab und berechnete das Endergebnis. Die Sache sah nicht gut aus. Wirklich nicht gut.
Er wußte mehr über das fremde Wesen, als ihm Ladnar hätte sagen können. Und das war zumindest ein Plus. Er kannte seine Religion, seine Tabus, seine – und hier schluckte er trocken – Eßgewohnheiten, seinen Intelligenzgrad und seine Kultur. Das Wesen hatte nichts vor ihm verborgen, und so konnte Kettridge mit erstaunlich genauen Daten arbeiten.
An so etwas hast du eigentlich nicht gedacht, als du den Vertrag unterschriebst, Ben? Aufgeschreckt von seinen halblaut hingemurmelten Worten, schüttelte er den Kopf und dachte müde: Nein, nicht im geringsten.
Was würde Ladnar denken, wenn er ihm sagte, daß er kein Gesandter des Himmelreiches war, sondern ein ausgehöhlter, erschöpfter Vertreter einer Zivilisation, die nicht einen Deut um Ladnar oder seine Religion gab?
Vermutlich würde er mich in Stücke reißen und verschlingen, dachte Kettridge. Ironisch fügte er hinzu: Was er ohnehin tun wird. Es bedarf einer starken Waffe, ihn davon abzuhalten.
Es schien so seltsam. Vor zwei Tagen noch war er an Bord der Jeremy Bentham gewesen, ein Jahr weg von der Hauptstadt. Und nun diente er einem Ureinwohner von Blestone als Hauptgericht.
Doch das Lachen wollte sich nicht einstellen.
Es wollte sich nicht einstellen, weil Benjamin Kettridge alt und müde war, und weil er wußte, wie gerecht es war, hier zu sterben, fern von jeder Hoffnung. Ladnar folgte lediglich seinen Naturinstinkten. Er schützte sich selbst. Er wollte nicht untergehen.
Und das ist mehr, als du während der letzten zehn Jahre getan hast, Ben, sagte er sich.
Denk darüber nach, Ben. Denk darüber nach. Jetzt ist schließlich alles vorbei. Im Alter von Sechsundsechzig Jahren stolperst du aus dem Leben. Denke an die Verwüstung und die Tränen und an das bißchen Überzeugung, das dich hätte reiten können. Denk über alles noch einmal nach.
Und dann rollte die ganze Geschichte noch einmal ab. Sie entfaltete sich für Ben Kettridge, der da draußen im Zwielicht des Universums wartete. Im Laufe weniger Minuten war ihm klar, daß das Leben in dieser dunklen Gedankenwelt seinem ganzen früheren Leben vorzuziehen war.
Er sah sich selbst wieder als den berühmten Wissenschaftler, der mit anderen seiner Art an einem Projekt arbeitete, das für die Menschheit von weitreichenden Folgen sein sollte. Er erinnerte sich an das warnende Gefühl in seinem Innern, als er sich kühn auf das Experiment stürzte.
Wieder hörte er die dunkle Stimme Fenimores, als er sich mit ihm über die Sache unterhielt. Er kannte noch genau den Inhalt des Gesprächs. Die Erinnerungen zuckten greller um ihn als die Blitze draußen …
»Charles, ich glaube nicht, daß wir es so anpacken sollten. Wenn etwas schiefgeht …«
»Ben, es kann einfach nichts schiefgehen – wenn wir vorsichtig genug sind. Die Zusammensetzung ist sicher. Das weißt du. Zuerst beweisen wir seine Anwendbarkeit. Dann lassen wir diese Dummköpfe Zeter und Mordio schreien. Denn wenn sie erst einmal eingesehen haben, was es wert ist, werden sie die ersten sein, die uns Beifall klatschen.«
»Aber verstehst du denn nicht, Fenimore? Die Formel enthält zu viele Fehlermöglichkeiten. Sie hat eine grundsätzliche Lücke. Wenn ich den Fehler nur feststellen könnte …«
»Hör mir zu, Ben. Ich spiele nicht gern den Vorgesetzten, aber du läßt mir keine Wahl. Ich bin auch kein sturer Mensch, aber diesen Traum hege ich seit mehr als zwanzig Jahren, und ich lasse mich durch deine unbegründete Zimperlichkeit nicht davon abbringen. Am Donnerstag testen wir die Zusammensetzung.«
Und Fenimores Traum hatte sich über Nacht in einen Alptraum verwandelt. Fünfundzwanzigtausend Tote, und in den Krankenhäusern wimmerten die Patienten vor Schmerzen.
Der Alptraum hatte seine gierigen Tentakel ausgestreckt und auch Kettridge in den Strudel gezogen. In wenigen Tagen war eine Karriere, die auf jahrelangen Entbehrungen aufgebaut war, zu einem Nichts zusammengefallen. Er war den Verhören nicht entkommen. Das letzte Restchen an gutem Ruf hatte ihn und einige andere vor der Gaskammer bewahrt.
Zehn Jahre Kampf um die nackte Existenz – denn niemand bot ihm auch nur die schmutzigste Arbeit an – hatten Benjamin Kettridge immer tiefer sinken lassen. Noch war in ihm ein Funke Anstand, der ihn vor dem völligen Zusammenbruch bewahrte – eine Art unbewußter Trieb, weiterzuleben.
Kettridge kam nie – wie einige der anderen, die geflohen waren – in die Irrenanstalt. Er beging auch nicht Selbstmord. Er wurde einfach anonym. Ein Nichts.
Sein Vermögen schmolz dahin, bis ihm nur noch aufgeschnittene Pulsadern oder die Flasche blieben.
Um diese Zeit war Kettridge für beides zu alt. Und immer stand neben ihm das Wissen, daß er das Projekt hätte aufhalten können.
Schließlich rettete ihn die Stelle auf dem Forschungsschiff. Ben Kettridge hatte sich unter falschem Namen für drei Jahre verpflichtet. Er hatte die Enge und den Schmutz des Schiffes ehrlich begrüßt. Seine Aufgabe unter den Sternen hatte ihm geholfen, den Selbstrespekt wiederzugewinnen und geistig gesund zu bleiben.
Ben Kettridge war Ökologe geworden. Ein unbekannter Ökologe. Und jetzt, ein Jahr von der Hauptstadt entfernt, drohte er wieder wahnsinnig zu werden.
Die Bilder hörten auf, ihn zu verfolgen. Er hatte sich mit Grauen aus der dunklen Schattenwelt zurückgezogen und befand sich nun wieder in seinem Steingefängnis, bewacht von einem hungrigen Ureinwohner.
Ladnar regte sich.
Was für ein phantastisches Wesen, dachte Kettridge. Es lebt in einer Welt, deren Hitze einen Menschen töten würde, und erschauert vor Furcht, wenn es einen Blitz sieht.
Ein seltsames Mitleid überkam Kettridge. Wie sehr ähnelte doch diese Kreatur den Menschen. Angetrieben von seinem Hunger und seinem Existenzwillen. Beherrscht von einer Religion, die von der Furcht begründet und vom Terror genährt wurde. Den Blitz hielt das Ding für den Droher des Himmels. Die hin und wieder durchbrechende Sonne war die Große Wärmespenderin.
Kettridge dachte über die Einfachheit und die primitive Zweckmäßigkeit von Ladnars Religion nach.
Wenn sich die Stürme zusammenballten, wenn sie schließlich Blitz und Donner erzeugten, wußte Ladnar, daß die große Kälte einsetzen würde. Kälte war sein Todfeind. Er wußte, daß ihm die Kälte die Kraft nahm und daß der Blitz ihn niederschlug.
So stahl er sich einen Wurf junger Katzen und verbarg sich einige Wochen – bis sich der gewaltige Sturm beruhigt hatte. Seine hohe Körperwärme befahl ihm, sich mit mehr Nahrung zu versorgen, wenn die Umgebungstemperatur sank. Und wenn kein Katzenwurf aufzutreiben war, blieb als einzige Möglichkeit, daß man den fremden Ökologen tötete und verspeiste.
Er hatte es nicht mit einem dummen Tier zu tun, sagte sich Ben Kettridge.
Es war in der Tat seltsam, daß eine so furchterregende Situation einen Mann zur Erkenntnis seiner selbst bringen konnte.
Hier ist eine Chance, dachte er. Der Gedanke kam unerwartet.
Vier einfache Worte: Hier ist eine Chance. Nicht nur die Möglichkeit, am Leben zu bleiben – das war etwas, das er schon seit langem nicht mehr bewußt anstrebte –, sondern die Möglichkeit, wiedergutzumachen. Und wenn es nur in seinen eigenen Augen eine Wiedergutmachung war.
Vor ihm war ein Eingeborener, ein Angehöriger einer aussterbenden Rasse, ein geducktes, geknechtetes Höhlenwesen. Vor ihm war eine Kreatur, die nicht in den Sturm hinausging, weil sie sich vor den Blitzen fürchtete. Eine Kreatur, die von ihrer primitiven Religion in Bann gehalten wurde und dazu verurteilt war, nie den Himmel zu sehen.
In diesem kurzen Augenblick klügelte Ben Kettridge einen Plan aus, um Ladnars Seele zu retten.
Es gibt Zeiten, in denen Menschen einen Bilanzstrich unter ihr Leben ziehen und erkennen, daß die negative Seite überwiegt. Ladnar wurde plötzlich zum Symbol für all die unschuldigen Menschen, die jener Massentod dahingerafft hatte. Im Innern eines alten, müden Mannes sind viele Dinge möglich.
Ich muß hier heraus! sagte sich Ben Kettridge. Er sagte es wieder und wieder. Aber noch mehr als das war er entschlossen, diese armselige Masse, die da vor ihm lag, zu retten. Und indem er Ladnar rettete, rettete er sich selbst. Ladnar wußte nicht, was ein Stern war. Nun, Ben Kettridge würde es ihm erzählen. Hierin lag die Chance.
Kettridge preßte sich flach an die Wand, bis sein Rücken von dem groben Stein schmerzte. Es war ein entsetzlicher Anblick, das Ungeheuer von Blestone erwachen zu sehen.
Der gigantische Körper wälzte und arbeitete sich mit Anstrengung hoch. Die massige, keilförmige Brust richtete sich auf, der grauenhafte Kopf, der mächtige Nacken und die muskelbepackten Arme. Eine dünne, nasse Spur lief von einem Mundwinkel über das Kinn. Das Ungeheuer setzte sich auf und dachte: Ladnar ist hungrig.
»O Gott im Himmel, bitte gib mir Zeit. Gib mir Zeit für diese eine kleine Aufgabe.«
Kettridge bemerkte, daß er die Hände über der Brust gefaltet hatte und zum Dach der Höhle emporstarrte. Zum erstenmal fühlte er Tränen auf seinen Wangen.
Gedanke: Du sprichst mit dem Herrn des Himmels.
Ladnar schien von Ehrfurcht ergriffen. Er beobachtete den Mann. Seine Augen waren plötzlich groß geworden.
Kettridge schickte dem Wesen seine Gedanken zu. Ladnar! Ich komme vom Herrn des Himmels. Ich kann dir zeigen, wie du unbesorgt durch den Sturm gehen kannst. Ich zeige dir, wie du …
Das Brüllen Ladnars betäubte Kettridge. Mit diesem Brüllen kam ein geistiger Aufschrei. Kettridge fühlte sich von den machtvollen Gedanken weggerissen und wurde heftig gegen die Felsen geschleudert.
Der Eingeborene sprang auf, hob seine krallenbewehrten Arme und bellte vor Wut.
Gedanke: Du sprichst verbotene Worte! Du sagst die Unwahrheit. Kein Mensch geht nach draußen, wenn der Dieb des Seins in der Nacht spricht. Du bist ein schreckliches Wesen. Ladnar hat Angst!
»Häresie, ich habe ihn durch Häresie beleidigt!«
Kettridge hätte sich am liebsten die Zunge aus dem Mund gerissen.
Gedanke: Ja, du hast etwas Unreines und Unwahres ausgesprochen.
Kettridge duckte sich angstvoll. Das fremde Geschöpf war jetzt wirklich wütend. Wie konnte es sich nur fürchten, wenn es so kraftvoll und massig war?
Gedanke: Ja, Ladnar hat Angst. Angst!
Dann erreichten die Wellen der Furcht Kettridge. In seinem Kopf dröhnte es. Jede Faser seines Gehirns wurde erschüttert und verzerrt und verdreht.
Hör auf, Ladnar, hör auf! Ich spreche die Wahrheit. Ich zeige dir, daß du ebenso wie ich im Sturm gehen kannst.
Und dann sprach er – sanft und drängend. Er versuchte ein Wesen zu überzeugen, dessen einzige Gottheit ein brüllendes Ding war, das die Welt mit Feuerstößen bedrohte. Er sprach von sich selbst und von seinen Fähigkeiten. Er sprach von seinen Fähigkeiten so ernst und ruhig, als ob er selbst an sie glaubte. Er rühmte sich selbst.
Langsam wurde Ladnar ruhiger, und die Wogen der Furcht verliefen sich. Noch blieben das Zittern und die Ehrfurcht, aber in seinem Gehirn war ein Funke des Glaubens aufgesprungen.
Kettridge wußte, daß er weiterarbeiten mußte.
»Ich komme vom Heim des Himmlischen, Ladnar. Ich spreche als Botschafter des Himmels. Ich bin stärker als der lausige Dieb des Seins, den du so fürchtest.«
Wie um seine Worte zu betonen, jagte vor der Höhle ein Blitz in den Boden, der den Raum einen Augenblick grell erleuchtete.
Kettridge fuhr fort. Er sprach immer schneller. »Ich kann im Sturm hinausgehen, und der Dieb des Seins wird mir nichts anhaben. Laß mich hinausgehen, Ladnar, damit ich dir meine Worte beweise.«
Gedanke: Hör auf!
»Weshalb, Ladnar? Ich kann dir zeigen, wie ich in die Nacht hinausgehe, während der Dieb des Seins tobt. Ich kann dir zeigen, wie man auf sein Toben reagiert und wie man ihn verhöhnt.«
Kettridge dachte daran, daß das Wesen nicht dumm war. Es fürchtete nicht nur den Zorn seiner Gottheit und den Todesstrahl des Blitzes. Es wußte auch, daß es verhungern mußte, wenn es den Mann gehen ließ.
»Laß mich gehen, Ladnar. Ich bringe dir Katzen, damit du während der Kälte leben kannst. Ich zeige dir, wie ich in das Dunkel gehe, und ich bringe dir obendrein Futter. Einen Wurf Katzen, Ladnar!«
Gedanke: Wenn du mich nicht belügst, weshalb sprichst du dann mit dem Herrn des Himmels?
Kettridge biß sich auf die Lippen. Er vergaß immer wieder …
»Ich möchte dem Herrn des Himmels zeigen, daß ich ebenso groß bin wie er. Ich will ihn davon überzeugen, daß ich ihn nicht fürchte und daß meine Gebete zu ihm eine Unterhaltung zwischen Gleichen sind.«
Der Terraner wußte, daß er einen Vorteil besaß: Ladnar hatte bisher noch nie gehört, daß sich jemand gegen seinen Gott gewandt hätte.
Bevor das Ding zum Überlegen kam, brachte Kettridge schon wieder seine Bitte vor:
»Ich bringe dir einen Wurf Katzen, Ladnar. Laß mich gehen! Laß mich es beweisen! Laß mich beweisen, daß auch du dem Sturm trotzen kannst.«
Gedanke: Du wirst fliehen!
Ein Zögern, ein kindlicher Trotz lag in dem Einwand. Kettridge wußte, daß er den ersten Schritt gemacht hatte.
»Nein, Ladnar. Hier ist ein Seil.« Er nahm ein dünnes Plastimetall-Seil von seinem Werkzeuggurt. Seine Hand streifte den Revolver, und er lächelte bei dem Gedanken, wie nutzlos die Waffe jetzt geworden war.
Er hätte den Revolver auf keinen Fall benutzt. Nur durch seinen Verstand konnte er gewinnen. Es stand jetzt mehr auf dem Spiel als die Selbsterhaltung.
»Hier ist ein Seil«, sagte er und streckte die Rolle aus. »Ich binde es um mich. Sieh mich an – so. Du nimmst das andere Ende. Wenn du es ganz fest hältst, kann ich nicht entfliehen. Es ist lang genug, daß ich nach Katzen suchen kann. Ich werde dich davon überzeugen, daß es möglich ist, in die Nacht hinauszugehen.«
Zuerst weigerte sich Ladnar und sah die silbrigglänzende Schnur aus angsterfüllten Augen an. Doch Kettridge sprach immer weiter, und bald berührte Ladnar das Seil.
Er zog seine mit sieben Klauen bewehrte Pranke sofort wieder zurück. Er versuchte es noch einmal.
Und beim drittenmal hielt er die Schnur fest.
Du hast soeben deine Religion aufgegeben, dachte Kettridge.
Ladnar hatte mit seinem Verstand einen Katzenwurf ›gerochen‹, der sich nahe der Höhle aufhalten mußte. Aber er wußte nicht, wo die Tiere Zuflucht genommen hatten.
Kettridge tauchte im dunklen Eingang der Höhle auf und ging hinaus in den dröhnenden Mahlstrom des elektrischen Sturms.
Kettridge stand mit gespreizten Beinen da und beugte sich vor. Er mußte die Hand vor die Augen halten, um nicht von dem weißen Licht geblendet zu werden.
Er war ein kleiner, schmaler Mann, und wenn ihn das Seil nicht gehalten hätte, wäre er wohl von Sturm und Regen mitgerissen worden.
Kettridge stand aufrecht da und beschattete die Augen mit der Hand. Nur das Licht der Blitze leuchtete ihm.
Er tat einen kurzen Schritt nach vorne.
Durch einen Spalt in der Bergkette jagte ein Blitz auf ihn zu. Er kam von nirgends und überall. Er riß einen Granitblock mit sich, der vor Kettridges Füßen zerschellte. Kettridge fiel flach zu Boden. Der Donner rollte über seinen Kopf hinweg.
Die Wirkung des Blitzes auf seinen Körper war entsetzlich.
Er hörte nicht mehr. Seine Beine und Hüften wurden steif. In seinen Augen tanzten die grellen Sterne des Blitzes.
Gedanke: Der Dieb des Seins hat gesprochen, und du bist gefallen.
Das Seil spannte sich, und Kettridge fühlte, daß er zurück in die Höhle gezogen wurde.
»Nein!« rief er verzweifelt. Das Seil lockerte sich. »Nein, Ladnar. Der Dieb des Seins hat gedroht. Nun wird er meine Macht fühlen. Ich werde es dir zeigen, Ladnar.«
Kettridge nützte den Fehlschlag zu seinem eigenen Vorteil aus. »Sieh, Ladnar! Der Dieb des Seins hat mich getroffen, aber ich lebe immer noch. Ich werde aufstehen und weitergehen.«
Überall brannten die Blitze. Sie zogen splitternde Bahnen durch den Wald. Die ganze Welt schien erfüllt von dem Lärm der stürzenden Bäume und vom Heulen der Elemente.
Zitternd kam er auf die Knie. Seine Beine waren schwach und gefühllos. Aber seine Augen konnten wieder sehen. Er erhob sich halb, sank auf ein Knie zurück und erhob sich von neuem. Sein Kopf fühlte sich entsetzlich schwer an.
Doch schließlich stand er aufrecht da.
Und er ging.
Um ihn wütete der Sturm. Immer wieder schlugen Blitze ein, aber er ließ sich nicht entmutigen.
Bald kam er zur Höhle zurück.
Gedanke: Du bist ein Gott. Davon bin ich überzeugt. Aber der Herr des Himmels hat auch den Dieb des Seins ausgesandt. Er ist mächtig, und Ladnar wird sein Sein verlieren, wenn er hinausgeht.
»Nein, Ladnar. Ich werde dir zeigen, wie du dich schützen kannst.« Kettridge war schwach von dem Gang in das tobende Unwetter. Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper. Die Taubheit seiner Gliedmaßen erfaßte nun den gesamten Rumpf. Er konnte nichts hören. Nur Ladnars Worte durchdrangen sein Gehirn.
Ruhig begann er den Isolieranzug auszuziehen. Nach ein paar Minuten hatte er ihn abgestreift. Er war jetzt so zusammengeschrumpft, daß er in eine Hosentasche gepaßt hätte.
Der Sturm hatte die Temperatur fast bis auf den Gefrierpunkt sinken lassen.
»Ladnar, nimm das«, sagte Kettridge. »Komm, ich helfe dir.«
Das Geschöpf sah ihn aus großen, verständnislosen Augen an. Der Terraner fühlte sich dem fremden Wesen irgendwie näher als allen Menschen, die er in den einsamen Jahren seines Exils kennengelernt hatte.
Kettridge nahm Ladnars klauenbewehrte Pranke. Er streifte ihm den Ärmel des Anzugs über, und dieser dehnte sich um fast das Doppelte seiner ursprünglichen Größe.
Nach vielem Ziehen und Zerren steckte Ladnar endlich in dem Isolieranzug.
Kettridge wollte lachen, als er das unförmige Ding in den Plastikmetallanzug eingehüllt sah. Aber das Lachen kam nicht.
»Jetzt zieh die Handschuhe an, Ladnar. Nimm sie nie ab, solange der Sturm nicht vorbei ist. Du mußt diesen Anzug immer tragen, wenn der Dieb des Seins brüllt. Dann bist du sicher.«
Gedanke: Jetzt kann ich in die Nacht hinausgehen?
»Ja – komm.« Sie gingen gemeinsam auf den Höhleneingang zu. »Jetzt kannst du dir die Katzen selbst holen. Ich wußte, daß du mir glauben würdest und habe deshalb keine mitgebracht. Komm, Ladnar.«
Er winkte ihm.
Gedanke: Wie kannst du ohne den Anzug hinaus?
Kettridge fuhr sich mit der schwieligen Hand durch das weiße Haar. Er war froh, daß Ladnar diese Frage gestellt hatte. Die Blitze erfüllten die Luft mit grellem Licht, und die Donner rollten ohrenbetäubend.
Kettridge konnte den Lärm nicht hören.
»Ich habe Brüder, die in dem Großen Haus von jenseits des Himmels auf mich warten. Sie bringen mich zurück zum himmlischen Heim. Sie werden mir entgegeneilen und mich schützen.«
Er sagte Ladnar nicht, daß seine Forschungszeit nahezu um war und daß die Jeremy Bentham mit Radarstrahlen nach seinem Anzug suchen würde.
»Geh, Ladnar, geh!« rief er und breitete die Arme aus. »Und erzähl deinen Brüdern, daß du dem Dieb des Seins getrotzt hast.«
Gedanke: Ich habe es getan.
Ladnar trat vorsichtig ins Freie, ängstlich und zögernd. Dann spannte er seine kräftigen Muskeln an und sprang hinaus in das volle Inferno des Sturms, der vergebens an der massigen Gestalt zerrte.
»Eines Tages wird der Mensch kommen und Freundschaft mit dir schließen, Ladnar«, sagte Kettridge leise. »Er wird aus dem Himmel kommen und dir zeigen, wie du leben kannst, ohne dich verbergen zu müssen.«
Kettridge sank an die innere Höhlenwand. Er war plötzlich zu erschöpft, um aufrecht zu stehen.
Er hatte gewonnen. Er hatte seine Selbstachtung wiedergefunden. Er hatte dazu beigetragen, Tausende von Leben zu vernichten, aber jetzt hatte er eine Rasse vor dem Aussterben bewahrt.
Er schloß zufrieden die Augen. So konnten ihm auch die Blitze nichts anhaben. Er sah sie nicht. Er wußte, daß Ladnar seinen Brüdern von dem Sieg erzählte.
Er wußte, daß das Schiff zu ihm kommen würde.
Ladnar kam den Hang hinauf und sah das Boot auf sich zuschweben. Es schimmerte phosphoreszierend.
Gedanke: Deine Brüder holen dich!
Er sprang durch die angesengten, schartigen Felsen auf die Höhle zu.
Kettridge erhob sich und ging hinaus in den Wind und Regen.
Er lief ein paar Schritte und hob winkend die Arme. Das Boot änderte seinen Kurs und kam mit erhöhter Geschwindigkeit auf ihn zu.
Der Blitz schlug zu.
Es schien, als kenne der Strahl sein Ziel. Er überholte das Boot und warf sich zischend und dröhnend auf Kettridge. Er schleuderte ihn hoch in die Luft und trug ihn weit weg von Ladnar.
Sein Körper landete vor dem Höhleneingang, verkrümmt und verbrannt, aber immer noch war Leben in ihm.
Gedanke: Du bist gefallen. Steh auf, steh auf! Der Dieb des Seins …
Die Gedanken waren hysterisch, angstvoll. Hätte Ladnar die Fähigkeit besessen zu weinen, so hätte er jetzt hemmungslos geschluchzt.
Der alte Mann lag blind da. Das Sein wollte ihn verlassen.
Er dachte: Ladnar! Andere werden kommen. Sie werden zu dir kommen, und du mußt ihnen deine Gedanken entgegensenden. Merk dir diesen Satz, Ladnar, und schicke ihn ihnen entgegen: ZEIGT MIR EINEN STERN! Verstehst du mich, Ladnar? Verstehst …
Noch während Ladnar ihn beobachtete, verrann das Sein. Im Innern des Geschöpfes war eine abgrundtiefe Leere. Aber auch Zufriedenheit. Ein seltsamer Friede war in ihn eingekehrt. Ladnar wußte, daß das Sein des Gottes, der durch die Nacht geht, unendlich stark war.
Der Eingeborene stand auf den Felsen unterhalb der Höhle und beobachtete, wie das Boot landete. Er sah, wie einer der anderen Götter auf den verkrümmten Körper zulief.
In seinem Gehirn hatte sich, eingebrannt wie durch den Blitz, der Satz erhalten:
Gedanke: Zeigt mir einen Stern.