Zeigt mir einen Stern!
von
HARLAN ELLISON

 

Als Kett­ridge sich nie­der­beug­te, um die flin­ke ro­te Ei­dech­se zu fan­gen, schlug das Ding zu, das in den Schat­ten ge­lau­ert hat­te.

Es rich­te­te sich auf sei­nen kräf­ti­gen, mus­kel­be­pack­ten Hin­ter­bei­nen auf. Es maß über drei Me­ter, hat­te einen schil­lern­den, glei­ßen­den Pelz und äh­nel­te zu­gleich ei­nem Go­ril­la, ei­nem in­di­schen Was­ser­büf­fel, ei­nem Ko­diak­bä­ren und ei­ner Viel­zahl an­de­rer ter­ra­ni­scher Tie­re. Aber es war kei­nes von ih­nen.

Der Ver­gleich war so kurz und ver­wischt wie Kett­ridges letz­te schreck­er­füll­te Au­gen­bli­cke des Be­wußt­seins. Er sah, wie ei­ne der rie­sen­haf­ten Pran­ken auf ihn her­abs­aus­te. Dann war es vor­bei, und Kett­ridge lag be­sin­nungs­los am Bo­den.

Ge­dan­ke: Das ist der Auf­takt zur Fas­ten­zeit. Durch sei­ne Grö­ße er­setzt der Selt­sam­ge­form­te vie­le Kat­zen­wür­fe. Er ist warm und ver­liert nicht das Sein. Wenn der Dieb des Seins von den Him­meln her­ab­kreischt, wird der Selt­sam­ge­form­te vie­le Fest­mahl­zei­ten für mich dar­stel­len. Er be­deu­tet Si­cher­heit und Fort­dau­er des Seins. O Glücks­fang, der mir schließ­lich ge­währt wur­de. Dem Herrn des Him­mels wen­den sich all mei­ne Ge­dan­ken zu. Lad­nars Sein ge­hört dir in Ewig­keit.

Das Rie­sen­ge­schöpf beug­te sich nach un­ten, in­dem es in der Tail­le scharf ab­knick­te. Es hob den Mann in dem eng­an­lie­gen­den, me­tal­li­schen An­zug auf. Das Ding wisch­te ver­är­gert über den Werk­zeug­gurt, den der Frem­de um­ge­schnallt hat­te, und sah über die mas­si­ge Schul­ter hin­weg zum Him­mel hin­auf. Noch wäh­rend Lad­nar das dunkle All be­ob­ach­te­te, riß ein Blitz die Wol­ken aus­ein­an­der und jag­te hin­ab in den Dschun­gel.

Lad­nar blin­zel­te und zog ganz un­be­wußt die Se­kun­där­li­der über die Au­gen. So fil­ter­te er das grells­te Licht. Er zuck­te zu­sam­men, als der Don­ner über den Him­mel roll­te.

Ge­dan­ke: Vie­le Auf- und Un­ter­gän­ge der Großen Wär­me­s­pen­de­rin sind ver­gan­gen. Nun kommt die Zeit des Fas­tens und wird uns so bald nicht mehr ver­las­sen. Die Große Wär­me­rin ver­birgt sich, und Käl­te brei­tet sich über dem Land aus. Lad­nar muß sich sei­nen Fast­platz su­chen. Der Selt­sam­ge­form­te wird sei­nen Hun­ger vie­le Ma­le stil­len.

Er klemm­te sich den Mann un­ter einen der pelz­be­deck­ten Ar­me. Lad­nars Au­gen wa­ren ver­ängs­tigt. Er wuß­te, daß die Zeit des To­des kam, die Zeit, in der man nicht her­um­strei­fen konn­te.

Er hielt auf die Ber­ge zu.

Als Kett­ridge er­wach­te, sah er zu­erst den Kopf des Ge­schöp­fes. Das Licht der Blit­ze er­hell­te ihn geis­ter­haft. Das Trom­meln des Re­gens, der sich in brei­ten Vor­hän­gen über den Dschun­gel er­goß, und das grel­le Weiß der Blit­ze er­höh­ten noch die Un­heim­lich­keit sei­ner Zü­ge.

Die brei­te stump­fe Na­se hat­te drei rie­si­ge Na­sen­lö­cher. Die großen Au­gen mit den Dop­pel­li­dern schie­nen von in­nen her­aus zu leuch­ten wie zwei fla­ckern­de Ko­me­ten. Das Ge­schöpf be­saß ei­ne ho­he, be­haar­te Stirn. Un­ter den Ba­cken­kno­chen sah man ei­ne Zeich­nung, die an einen schwar­zen Halb­mond er­in­ner­te.

Das Ding schi­en zu knur­ren. Es hät­te sei­ne spit­zen Fän­ge nicht bos­haf­ter ent­blö­ßen kön­nen.

Kett­ridge war ein Mann, der die Blü­te sei­ner Ju­gend weit hin­ter sich hat­te. Er war nicht stark. Bei dem Knur­ren der Bes­tie ver­lor er das Be­wußt­sein zum zwei­ten­mal.

Es folg­te ei­ne kur­ze Span­ne des Halb­schlafs, die er­füllt war von quä­len­den, ver­wirr­ten Bil­dern. Schließ­lich blin­zel­te Kett­ridge und stütz­te sich auf sei­ne Ell­bo­gen.

Lad­nar hat­te sei­ne mäch­ti­gen Bei­ne über­kreuzt und saß im Ein­gang ei­ner klei­nen Höh­le. Er be­trach­te­te Kett­ridge ru­hig.

»Was – was bist du?« stöhn­te Kett­ridge. »Wir ha­ben kei­ne so großen Le­be­we­sen er­war­tet. Die ober­fläch­li­che Un­ter­su­chung er­gab …« Kett­ridge ver­stumm­te ängst­lich.

Ge­dan­ke: Was ist das? Der Selt­sam­ge­form­te spricht in mei­nem Kopf. Er ist nicht das­sel­be wie die jun­gen Kat­zen. Sie kön­nen nicht spre­chen. Ist er ein Sym­bol, ein Omen? Vom Herrn des Him­mels ge­schickt?

Was willst du wis­sen, Selt­sam­ge­form­ter?

Kett­ridge fühl­te den An­sturm der frem­den Ge­dan­ken in sei­nem In­nern. Er spür­te, wie sie an sei­nen Ner­ven zerr­ten. Sie bran­de­ten auf wie ein Echo, das von weit, weit her kommt.

Mein Gott, das Ding ist te­le­pa­thisch!

»Du hast te­le­pa­thi­sche An­la­gen«, mur­mel­te er, im­mer noch un­gläu­big.

Ge­dan­ke: Was will er da­mit sa­gen? Was bringst du mir, Selt­sam­ge­form­ter? Was ist es, das du mir sagst und das ich wie das Sein selbst le­se? Wes­halb sprichst du? Bist du der Herr des Him­mels?

Lad­nars wuls­ti­ge, le­der­ar­ti­ge Lip­pen hat­ten sich nicht be­wegt. Die spit­zen Fän­ge schim­mer­ten reg­los. Aber Kett­ridge schi­en es, als sei ein drit­tes We­sen in der Höh­le. Ein Spre­cher, der mit star­ker, kla­rer Stim­me in sei­nem In­nern tob­te.

Ge­dan­ke: Wir sind al­lein. Hier ist der Ort des Fas­tens. Lad­nar hat ihn von al­len Spu­ren frü­he­rer Fas­ten­der ge­rei­nigt. Du ant­wor­test nicht. In dein We­sen hat sich Furcht ge­mischt – wie bei den Kat­zen, die ich bis­her ver­zehr­te. Und doch bist du kei­ne Kat­ze. Sprich! Bist du ein Omen?

Kett­ridges Lip­pen be­gan­nen zu zit­tern. Er starr­te mit Grau­en auf die er­staun­lich leuch­ten­den Au­gen mit ih­ren dop­pel­ten Li­dern. Er hat­te er­kannt, daß das Ge­schöpf nach bei­den Rich­tun­gen te­le­pa­thisch war. Es konn­te nicht nur Ge­dan­ken in sein Ge­hirn sen­den, son­dern nahm eben­so­gut die Ge­dan­ken auf, die in ihm, Kett­ridge, wühl­ten.

»Ich – ich kom­me von der Er­de«, flüs­ter­te Kett­ridge und lehn­te sich ge­gen die war­me Stein­wand der Höh­le.

Ge­dan­ke: Das Heim des Himm­li­schen! Ich hät­te es wis­sen sol­len. Der Herr des Him­mels hat dich zu mir ge­sandt, um mir vie­le Mahl­zei­ten zu schen­ken.

Wäh­rend der we­ni­gen Se­kun­den, die Lad­nar zu Kett­ridge sprach, er­hielt die­ser ein voll­stän­di­ges geis­ti­ges Bild von dem un­glaub­li­chen Le­ben die­ses Ge­schöpfs. Er hat­te ge­wußt, daß es auf Ble­sto­ne Le­be­we­sen gab – selt­sa­me Ar­ten oft, die auf ei­ner un­ge­mein nied­ri­gen Stu­fe stan­den und sich kaum aus ih­ren Ver­ste­cken her­vor­wag­ten. Aber die Vor­un­ter­su­chun­gen hat­ten ihn nicht auf so ein kom­ple­xes Le­ben vor­be­rei­tet. Of­fen­sicht­lich war Lad­nars Ras­se am Aus­ster­ben.

Kett­ridge ver­such­te sei­ne Ge­dan­ken aus­zu­schal­ten, aber es ge­lang ihm nicht.

Ge­dan­ke: Du kannst das Spre­chen in mei­nem Kopf nicht ab­stel­len.

Kett­ridge wur­de von Pa­nik er­faßt. Er wuß­te ge­nau, was das Ding vor­hat­te. Er hat­te ein geis­ti­ges Bild emp­fan­gen, auf dem sich die Krea­tur er­bar­mungs­los über ihn beug­te und mit grau­sa­mer Ziel­stre­big­keit sei­nen rech­ten Arm aus den Ge­len­ken riß. Das Bild war er­schre­ckend deut­lich.

Ge­dan­ke: Du hast das Mahl ge­se­hen. Du bist nicht wie die Kat­zen, die vor Angst wim­mern, wenn ich sie ver­zeh­re. Kann man dich nicht es­sen? Bist du kein Omen des himm­li­schen Herrn?

Kett­ridge spür­te, wie sich sei­ne Hals­mus­keln zu­sam­men­zo­gen. Sei­ne Hän­de in den wär­me­iso­lie­ren­den Hand­schu­hen ball­ten sich zu Fäus­ten. Er fühl­te, daß sich sein Al­ter wie ein schwe­rer Man­tel um ihn leg­te.

»Ich bin ein frem­der Öko­lo­ge«, sag­te Kett­ridge, ob­wohl er wuß­te, daß der an­de­re ihn nicht ver­ste­hen wür­de.

Ge­dan­ke: Das hat kei­ne Be­deu­tung für mich.

»Ich kom­me von der Er­de. Ich stam­me von ei­nem der an­de­ren …« Er hielt in­ne, at­me­te schnell und zog sich das nach­gie­bi­ge Ma­te­ri­al des An­zugs vor den Mund. Das We­sen konn­te ja nichts von den an­de­ren Pla­ne­ten wis­sen. Es konn­te kei­nen ein­zi­gen Stern se­hen. Nur hin und wie­der brach die Son­ne durch. Die dich­te Wol­ken­de­cke von Ble­sto­ne ver­barg für im­mer den Raum vor sei­nen Bli­cken.

Ge­dan­ke: Er­de! Das Heim des Himm­li­schen! Ich wuß­te es, ich wuß­te es!

Ju­bel und Glück schwan­gen in dem Ge­dan­ken mit – ein Ge­fühls­aus­bruch, der zu­gleich un­ver­ständ­lich und er­schre­ckend war. Aber Mensch­lich­keit war in ihm – ei­ne selt­sa­me Wär­me.

Ge­dan­ke: Ich will jetzt schla­fen. Spä­ter hal­te ich mein Mahl.

Mit der Ziel­stre­big­keit, die das Le­ben in der Na­tur mit sich bringt, schüt­tel­te das We­sen die Of­fen­ba­rung sei­ner Re­li­gi­on ab und ge­horch­te den Be­feh­len sei­nes Kör­pers. Er­mü­det von der Jagd, leg­te sich Lad­nar schla­fen.

Die Ge­dan­ken in Kett­ridges Ge­hirn wur­den schwä­cher. Sie ver­flüch­tig­ten sich wie Rauch­krin­gel, als Lad­nar sich zur Sei­te leg­te und in dem düs­te­ren Raum aus­streck­te. Er blo­ckier­te den Ein­gang zur Höh­le.

Kett­ridges Hand schloß sich um den Dienst­re­vol­ver in sei­nem Gurt. Es war be­ru­hi­gend, zu wis­sen, daß die La­dun­gen stark ge­nug wa­ren, um ein Tier von be­trächt­li­cher Grö­ße fern­zu­hal­ten.

Der Ge­dan­ke be­un­ru­hig­te ihn. Er wuß­te, daß er tö­ten muß­te – oder selbst ge­tö­tet wur­de. Und doch …

 

Drau­ßen flamm­ten und tob­ten die Blit­ze um die Höh­le. Der lan­ge Sturm hat­te ein­ge­setzt.

Durch den schma­len Spalt, der zwi­schen den Fel­sen und Lad­nars Kör­per frei­b­lieb, konn­te Kett­ridge se­hen, daß sich der Him­mel mit dem An­wach­sen des Stur­mes ver­dun­kel­te. Je­den Au­gen­blick war­fen sich neue Feu­er­strah­len durch die Luft in die Tie­fe.

Ble­sto­nes At­mo­sphä­re be­trug die für mensch­li­che Be­din­gun­gen un­er­träg­li­che Wär­me von hun­dert­fünf­zig Grad Fah­ren­heit. Und die Kör­per­wär­me des frem­den We­sens war fast eben­so hoch. Die Nä­he des Tie­res hät­te in der Tat Kett­ridges Tod ver­ur­sacht, wenn ihn nicht der Iso­lier­an­zug ge­schützt hät­te.

Er drück­te sich eng an die Wand. Der rau­he Fels mach­te sich durch den An­zug hin­durch be­merk­bar.

Er wuß­te, daß der Strahl der Je­re­my Bent­ham auf sei­nen An­zug ein­ge­stellt war, aber er wuß­te auch, daß man ihn erst wie­der her­auf­ho­len wür­de, wenn sei­ne For­schungs­zeit um war. Er war nicht der ein­zi­ge Öko­lo­ge auf dem For­schungs­schiff, das Ble­sto­ne un­ter­such­te. Aber die Ex­pe­di­ti­on hat­te nur we­ni­ge Mit­tel zur Ver­fü­gung, und man spar­te Geld, in­dem man die For­scher sich selbst über­ließ.

Das hieß, daß sie erst in sechs Stun­den nach ihm se­hen wür­den.

In sechs Stun­den war Lad­nar mit Ge­wiß­heit hung­rig ge­wor­den.

Kett­ridge ließ sich noch ein­mal al­les durch den Kopf ge­hen. Er sah Tat­sa­chen durch, wäg­te In­for­ma­tio­nen ab und be­rech­ne­te das End­er­geb­nis. Die Sa­che sah nicht gut aus. Wirk­lich nicht gut.

Er wuß­te mehr über das frem­de We­sen, als ihm Lad­nar hät­te sa­gen kön­nen. Und das war zu­min­dest ein Plus. Er kann­te sei­ne Re­li­gi­on, sei­ne Ta­bus, sei­ne – und hier schluck­te er tro­cken – Eß­ge­wohn­hei­ten, sei­nen In­tel­li­genz­grad und sei­ne Kul­tur. Das We­sen hat­te nichts vor ihm ver­bor­gen, und so konn­te Kett­ridge mit er­staun­lich ge­nau­en Da­ten ar­bei­ten.

An so et­was hast du ei­gent­lich nicht ge­dacht, als du den Ver­trag un­ter­schriebst, Ben? Auf­ge­schreckt von sei­nen halb­laut hin­ge­mur­mel­ten Wor­ten, schüt­tel­te er den Kopf und dach­te mü­de: Nein, nicht im ge­rings­ten.

Was wür­de Lad­nar den­ken, wenn er ihm sag­te, daß er kein Ge­sand­ter des Him­mel­rei­ches war, son­dern ein aus­ge­höhlter, er­schöpf­ter Ver­tre­ter ei­ner Zi­vi­li­sa­ti­on, die nicht einen Deut um Lad­nar oder sei­ne Re­li­gi­on gab?

Ver­mut­lich wür­de er mich in Stücke rei­ßen und ver­schlin­gen, dach­te Kett­ridge. Iro­nisch füg­te er hin­zu: Was er oh­ne­hin tun wird. Es be­darf ei­ner star­ken Waf­fe, ihn da­von ab­zu­hal­ten.

Es schi­en so selt­sam. Vor zwei Ta­gen noch war er an Bord der Je­re­my Bent­ham ge­we­sen, ein Jahr weg von der Haupt­stadt. Und nun diente er ei­nem Urein­woh­ner von Ble­sto­ne als Haupt­ge­richt.

Doch das La­chen woll­te sich nicht ein­stel­len.

Es woll­te sich nicht ein­stel­len, weil Ben­ja­min Kett­ridge alt und mü­de war, und weil er wuß­te, wie ge­recht es war, hier zu ster­ben, fern von je­der Hoff­nung. Lad­nar folg­te le­dig­lich sei­nen Na­tur­in­stink­ten. Er schütz­te sich selbst. Er woll­te nicht un­ter­ge­hen.

Und das ist mehr, als du wäh­rend der letz­ten zehn Jah­re ge­tan hast, Ben, sag­te er sich.

Denk dar­über nach, Ben. Denk dar­über nach. Jetzt ist schließ­lich al­les vor­bei. Im Al­ter von Sechs­und­sech­zig Jah­ren stol­perst du aus dem Le­ben. Den­ke an die Ver­wüs­tung und die Trä­nen und an das biß­chen Über­zeu­gung, das dich hät­te rei­ten kön­nen. Denk über al­les noch ein­mal nach.

Und dann roll­te die gan­ze Ge­schich­te noch ein­mal ab. Sie ent­fal­te­te sich für Ben Kett­ridge, der da drau­ßen im Zwie­licht des Uni­ver­sums war­te­te. Im Lau­fe we­ni­ger Mi­nu­ten war ihm klar, daß das Le­ben in die­ser dunklen Ge­dan­ken­welt sei­nem gan­zen frü­he­ren Le­ben vor­zu­zie­hen war.

Er sah sich selbst wie­der als den be­rühm­ten Wis­sen­schaft­ler, der mit an­de­ren sei­ner Art an ei­nem Pro­jekt ar­bei­te­te, das für die Mensch­heit von weit­rei­chen­den Fol­gen sein soll­te. Er er­in­ner­te sich an das war­nen­de Ge­fühl in sei­nem In­nern, als er sich kühn auf das Ex­pe­ri­ment stürz­te.

Wie­der hör­te er die dunkle Stim­me Fe­ni­mo­res, als er sich mit ihm über die Sa­che un­ter­hielt. Er kann­te noch ge­nau den In­halt des Ge­sprächs. Die Er­in­ne­run­gen zuck­ten grel­ler um ihn als die Blit­ze drau­ßen …

 

»Charles, ich glau­be nicht, daß wir es so an­pa­cken soll­ten. Wenn et­was schief­geht …«

»Ben, es kann ein­fach nichts schief­ge­hen – wenn wir vor­sich­tig ge­nug sind. Die Zu­sam­men­set­zung ist si­cher. Das weißt du. Zu­erst be­wei­sen wir sei­ne An­wend­bar­keit. Dann las­sen wir die­se Dumm­köp­fe Ze­ter und Mor­dio schrei­en. Denn wenn sie erst ein­mal ein­ge­se­hen ha­ben, was es wert ist, wer­den sie die ers­ten sein, die uns Bei­fall klat­schen.«

»Aber ver­stehst du denn nicht, Fe­ni­mo­re? Die For­mel ent­hält zu vie­le Feh­ler­mög­lich­kei­ten. Sie hat ei­ne grund­sätz­li­che Lücke. Wenn ich den Feh­ler nur fest­stel­len könn­te …«

»Hör mir zu, Ben. Ich spie­le nicht gern den Vor­ge­setz­ten, aber du läßt mir kei­ne Wahl. Ich bin auch kein stur­er Mensch, aber die­sen Traum he­ge ich seit mehr als zwan­zig Jah­ren, und ich las­se mich durch dei­ne un­be­grün­de­te Zim­per­lich­keit nicht da­von ab­brin­gen. Am Don­ners­tag tes­ten wir die Zu­sam­men­set­zung.«

Und Fe­ni­mo­res Traum hat­te sich über Nacht in einen Alp­traum ver­wan­delt. Fünf­und­zwan­zig­tau­send To­te, und in den Kran­ken­häu­sern wim­mer­ten die Pa­ti­en­ten vor Schmer­zen.

Der Alp­traum hat­te sei­ne gie­ri­gen Ten­ta­kel aus­ge­streckt und auch Kett­ridge in den Stru­del ge­zo­gen. In we­ni­gen Ta­gen war ei­ne Kar­rie­re, die auf jah­re­lan­gen Ent­beh­run­gen auf­ge­baut war, zu ei­nem Nichts zu­sam­men­ge­fal­len. Er war den Ver­hö­ren nicht ent­kom­men. Das letz­te Rest­chen an gu­tem Ruf hat­te ihn und ei­ni­ge an­de­re vor der Gas­kam­mer be­wahrt.

Zehn Jah­re Kampf um die nack­te Exis­tenz – denn nie­mand bot ihm auch nur die schmut­zigs­te Ar­beit an – hat­ten Ben­ja­min Kett­ridge im­mer tiefer sin­ken las­sen. Noch war in ihm ein Fun­ke An­stand, der ihn vor dem völ­li­gen Zu­sam­men­bruch be­wahr­te – ei­ne Art un­be­wuß­ter Trieb, wei­ter­zu­le­ben.

Kett­ridge kam nie – wie ei­ni­ge der an­de­ren, die ge­flo­hen wa­ren – in die Ir­ren­an­stalt. Er be­ging auch nicht Selbst­mord. Er wur­de ein­fach an­onym. Ein Nichts.

Sein Ver­mö­gen schmolz da­hin, bis ihm nur noch auf­ge­schnit­te­ne Puls­adern oder die Fla­sche blie­ben.

Um die­se Zeit war Kett­ridge für bei­des zu alt. Und im­mer stand ne­ben ihm das Wis­sen, daß er das Pro­jekt hät­te auf­hal­ten kön­nen.

Schließ­lich ret­te­te ihn die Stel­le auf dem For­schungs­schiff. Ben Kett­ridge hat­te sich un­ter falschem Na­men für drei Jah­re ver­pflich­tet. Er hat­te die En­ge und den Schmutz des Schif­fes ehr­lich be­grüßt. Sei­ne Auf­ga­be un­ter den Ster­nen hat­te ihm ge­hol­fen, den Selbstre­spekt wie­der­zu­ge­win­nen und geis­tig ge­sund zu blei­ben.

Ben Kett­ridge war Öko­lo­ge ge­wor­den. Ein un­be­kann­ter Öko­lo­ge. Und jetzt, ein Jahr von der Haupt­stadt ent­fernt, droh­te er wie­der wahn­sin­nig zu wer­den.

Die Bil­der hör­ten auf, ihn zu ver­fol­gen. Er hat­te sich mit Grau­en aus der dunklen Schat­ten­welt zu­rück­ge­zo­gen und be­fand sich nun wie­der in sei­nem Stein­ge­fäng­nis, be­wacht von ei­nem hung­ri­gen Urein­woh­ner.

Lad­nar reg­te sich.

Was für ein phan­tas­ti­sches We­sen, dach­te Kett­ridge. Es lebt in ei­ner Welt, de­ren Hit­ze einen Men­schen tö­ten wür­de, und er­schau­ert vor Furcht, wenn es einen Blitz sieht.

Ein selt­sa­mes Mit­leid über­kam Kett­ridge. Wie sehr äh­nel­te doch die­se Krea­tur den Men­schen. An­ge­trie­ben von sei­nem Hun­ger und sei­nem Exis­ten­zwil­len. Be­herrscht von ei­ner Re­li­gi­on, die von der Furcht be­grün­det und vom Ter­ror ge­nährt wur­de. Den Blitz hielt das Ding für den Dro­her des Him­mels. Die hin und wie­der durch­bre­chen­de Son­ne war die Große Wär­me­s­pen­de­rin.

Kett­ridge dach­te über die Ein­fach­heit und die pri­mi­ti­ve Zweck­mä­ßig­keit von Lad­nars Re­li­gi­on nach.

Wenn sich die Stür­me zu­sam­men­ball­ten, wenn sie schließ­lich Blitz und Don­ner er­zeug­ten, wuß­te Lad­nar, daß die große Käl­te ein­set­zen wür­de. Käl­te war sein Tod­feind. Er wuß­te, daß ihm die Käl­te die Kraft nahm und daß der Blitz ihn nie­der­schlug.

So stahl er sich einen Wurf jun­ger Kat­zen und ver­barg sich ei­ni­ge Wo­chen – bis sich der ge­wal­ti­ge Sturm be­ru­higt hat­te. Sei­ne ho­he Kör­per­wär­me be­fahl ihm, sich mit mehr Nah­rung zu ver­sor­gen, wenn die Um­ge­bung­stem­pe­ra­tur sank. Und wenn kein Kat­zen­wurf auf­zu­trei­ben war, blieb als ein­zi­ge Mög­lich­keit, daß man den frem­den Öko­lo­gen tö­te­te und ver­speis­te.

Er hat­te es nicht mit ei­nem dum­men Tier zu tun, sag­te sich Ben Kett­ridge.

Es war in der Tat selt­sam, daß ei­ne so furchter­re­gen­de Si­tua­ti­on einen Mann zur Er­kennt­nis sei­ner selbst brin­gen konn­te.

Hier ist ei­ne Chan­ce, dach­te er. Der Ge­dan­ke kam un­er­war­tet.

Vier ein­fa­che Wor­te: Hier ist ei­ne Chan­ce. Nicht nur die Mög­lich­keit, am Le­ben zu blei­ben – das war et­was, das er schon seit lan­gem nicht mehr be­wußt an­streb­te –, son­dern die Mög­lich­keit, wie­der­gutz­u­ma­chen. Und wenn es nur in sei­nen ei­ge­nen Au­gen ei­ne Wie­der­gut­ma­chung war.

Vor ihm war ein Ein­ge­bo­re­ner, ein An­ge­hö­ri­ger ei­ner aus­ster­ben­den Ras­se, ein ge­duck­tes, ge­knech­te­tes Höh­len­we­sen. Vor ihm war ei­ne Krea­tur, die nicht in den Sturm hin­aus­ging, weil sie sich vor den Blit­zen fürch­te­te. Ei­ne Krea­tur, die von ih­rer pri­mi­ti­ven Re­li­gi­on in Bann ge­hal­ten wur­de und da­zu ver­ur­teilt war, nie den Him­mel zu se­hen.

In die­sem kur­z­en Au­gen­blick klü­gel­te Ben Kett­ridge einen Plan aus, um Lad­nars See­le zu ret­ten.

Es gibt Zei­ten, in de­nen Men­schen einen Bi­lanz­strich un­ter ihr Le­ben zie­hen und er­ken­nen, daß die ne­ga­ti­ve Sei­te über­wiegt. Lad­nar wur­de plötz­lich zum Sym­bol für all die un­schul­di­gen Men­schen, die je­ner Mas­sen­tod da­hin­ge­rafft hat­te. Im In­nern ei­nes al­ten, mü­den Man­nes sind vie­le Din­ge mög­lich.

Ich muß hier her­aus! sag­te sich Ben Kett­ridge. Er sag­te es wie­der und wie­der. Aber noch mehr als das war er ent­schlos­sen, die­se arm­se­li­ge Mas­se, die da vor ihm lag, zu ret­ten. Und in­dem er Lad­nar ret­te­te, ret­te­te er sich selbst. Lad­nar wuß­te nicht, was ein Stern war. Nun, Ben Kett­ridge wür­de es ihm er­zäh­len. Hier­in lag die Chan­ce.

 

Kett­ridge preß­te sich flach an die Wand, bis sein Rücken von dem gro­ben Stein schmerz­te. Es war ein ent­setz­li­cher An­blick, das Un­ge­heu­er von Ble­sto­ne er­wa­chen zu se­hen.

Der gi­gan­ti­sche Kör­per wälz­te und ar­bei­te­te sich mit An­stren­gung hoch. Die mas­si­ge, keil­för­mi­ge Brust rich­te­te sich auf, der grau­en­haf­te Kopf, der mäch­ti­ge Nacken und die mus­kel­be­pack­ten Ar­me. Ei­ne dün­ne, nas­se Spur lief von ei­nem Mund­win­kel über das Kinn. Das Un­ge­heu­er setz­te sich auf und dach­te: Lad­nar ist hung­rig.

»O Gott im Him­mel, bit­te gib mir Zeit. Gib mir Zeit für die­se ei­ne klei­ne Auf­ga­be.«

Kett­ridge be­merk­te, daß er die Hän­de über der Brust ge­fal­tet hat­te und zum Dach der Höh­le em­por­starr­te. Zum ers­ten­mal fühl­te er Trä­nen auf sei­nen Wan­gen.

Ge­dan­ke: Du sprichst mit dem Herrn des Him­mels.

Lad­nar schi­en von Ehr­furcht er­grif­fen. Er be­ob­ach­te­te den Mann. Sei­ne Au­gen wa­ren plötz­lich groß ge­wor­den.

Kett­ridge schick­te dem We­sen sei­ne Ge­dan­ken zu. Lad­nar! Ich kom­me vom Herrn des Him­mels. Ich kann dir zei­gen, wie du un­be­sorgt durch den Sturm ge­hen kannst. Ich zei­ge dir, wie du …

Das Brül­len Lad­nars be­täub­te Kett­ridge. Mit die­sem Brül­len kam ein geis­ti­ger Auf­schrei. Kett­ridge fühl­te sich von den macht­vol­len Ge­dan­ken weg­ge­ris­sen und wur­de hef­tig ge­gen die Fel­sen ge­schleu­dert.

Der Ein­ge­bo­re­ne sprang auf, hob sei­ne kral­len­be­wehr­ten Ar­me und bell­te vor Wut.

Ge­dan­ke: Du sprichst ver­bo­te­ne Wor­te! Du sagst die Un­wahr­heit. Kein Mensch geht nach drau­ßen, wenn der Dieb des Seins in der Nacht spricht. Du bist ein schreck­li­ches We­sen. Lad­nar hat Angst!

»Hä­re­sie, ich ha­be ihn durch Hä­re­sie be­lei­digt!«

Kett­ridge hät­te sich am liebs­ten die Zun­ge aus dem Mund ge­ris­sen.

Ge­dan­ke: Ja, du hast et­was Un­rei­nes und Un­wah­res aus­ge­spro­chen.

Kett­ridge duck­te sich angst­voll. Das frem­de Ge­schöpf war jetzt wirk­lich wü­tend. Wie konn­te es sich nur fürch­ten, wenn es so kraft­voll und mas­sig war?

Ge­dan­ke: Ja, Lad­nar hat Angst. Angst!

Dann er­reich­ten die Wel­len der Furcht Kett­ridge. In sei­nem Kopf dröhn­te es. Je­de Fa­ser sei­nes Ge­hirns wur­de er­schüt­tert und ver­zerrt und ver­dreht.

Hör auf, Lad­nar, hör auf! Ich spre­che die Wahr­heit. Ich zei­ge dir, daß du eben­so wie ich im Sturm ge­hen kannst.

Und dann sprach er – sanft und drän­gend. Er ver­such­te ein We­sen zu über­zeu­gen, des­sen ein­zi­ge Gott­heit ein brül­len­des Ding war, das die Welt mit Feu­er­stö­ßen be­droh­te. Er sprach von sich selbst und von sei­nen Fä­hig­kei­ten. Er sprach von sei­nen Fä­hig­kei­ten so ernst und ru­hig, als ob er selbst an sie glaub­te. Er rühm­te sich selbst.

Lang­sam wur­de Lad­nar ru­hi­ger, und die Wo­gen der Furcht ver­lie­fen sich. Noch blie­ben das Zit­tern und die Ehr­furcht, aber in sei­nem Ge­hirn war ein Fun­ke des Glau­bens auf­ge­sprun­gen.

Kett­ridge wuß­te, daß er wei­ter­ar­bei­ten muß­te.

»Ich kom­me vom Heim des Himm­li­schen, Lad­nar. Ich spre­che als Bot­schaf­ter des Him­mels. Ich bin stär­ker als der lau­si­ge Dieb des Seins, den du so fürch­test.«

Wie um sei­ne Wor­te zu be­to­nen, jag­te vor der Höh­le ein Blitz in den Bo­den, der den Raum einen Au­gen­blick grell er­leuch­te­te.

Kett­ridge fuhr fort. Er sprach im­mer schnel­ler. »Ich kann im Sturm hin­aus­ge­hen, und der Dieb des Seins wird mir nichts an­ha­ben. Laß mich hin­aus­ge­hen, Lad­nar, da­mit ich dir mei­ne Wor­te be­wei­se.«

Ge­dan­ke: Hör auf!

»Wes­halb, Lad­nar? Ich kann dir zei­gen, wie ich in die Nacht hin­aus­ge­he, wäh­rend der Dieb des Seins tobt. Ich kann dir zei­gen, wie man auf sein To­ben rea­giert und wie man ihn ver­höhnt.«

Kett­ridge dach­te dar­an, daß das We­sen nicht dumm war. Es fürch­te­te nicht nur den Zorn sei­ner Gott­heit und den To­dess­trahl des Blit­zes. Es wuß­te auch, daß es ver­hun­gern muß­te, wenn es den Mann ge­hen ließ.

»Laß mich ge­hen, Lad­nar. Ich brin­ge dir Kat­zen, da­mit du wäh­rend der Käl­te le­ben kannst. Ich zei­ge dir, wie ich in das Dun­kel ge­he, und ich brin­ge dir oben­drein Fut­ter. Einen Wurf Kat­zen, Lad­nar!«

Ge­dan­ke: Wenn du mich nicht be­lügst, wes­halb sprichst du dann mit dem Herrn des Him­mels?

Kett­ridge biß sich auf die Lip­pen. Er ver­gaß im­mer wie­der …

»Ich möch­te dem Herrn des Him­mels zei­gen, daß ich eben­so groß bin wie er. Ich will ihn da­von über­zeu­gen, daß ich ihn nicht fürch­te und daß mei­ne Ge­be­te zu ihm ei­ne Un­ter­hal­tung zwi­schen Glei­chen sind.«

Der Ter­ra­ner wuß­te, daß er einen Vor­teil be­saß: Lad­nar hat­te bis­her noch nie ge­hört, daß sich je­mand ge­gen sei­nen Gott ge­wandt hät­te.

Be­vor das Ding zum Über­le­gen kam, brach­te Kett­ridge schon wie­der sei­ne Bit­te vor:

»Ich brin­ge dir einen Wurf Kat­zen, Lad­nar. Laß mich ge­hen! Laß mich es be­wei­sen! Laß mich be­wei­sen, daß auch du dem Sturm trot­zen kannst.«

Ge­dan­ke: Du wirst flie­hen!

Ein Zö­gern, ein kind­li­cher Trotz lag in dem Ein­wand. Kett­ridge wuß­te, daß er den ers­ten Schritt ge­macht hat­te.

»Nein, Lad­nar. Hier ist ein Seil.« Er nahm ein dün­nes Pla­sti­me­tall-Seil von sei­nem Werk­zeug­gurt. Sei­ne Hand streif­te den Re­vol­ver, und er lä­chel­te bei dem Ge­dan­ken, wie nutz­los die Waf­fe jetzt ge­wor­den war.

Er hät­te den Re­vol­ver auf kei­nen Fall be­nutzt. Nur durch sei­nen Ver­stand konn­te er ge­win­nen. Es stand jetzt mehr auf dem Spiel als die Selbs­t­er­hal­tung.

»Hier ist ein Seil«, sag­te er und streck­te die Rol­le aus. »Ich bin­de es um mich. Sieh mich an – so. Du nimmst das an­de­re En­de. Wenn du es ganz fest hältst, kann ich nicht ent­flie­hen. Es ist lang ge­nug, daß ich nach Kat­zen su­chen kann. Ich wer­de dich da­von über­zeu­gen, daß es mög­lich ist, in die Nacht hin­aus­zu­ge­hen.«

Zu­erst wei­ger­te sich Lad­nar und sah die silb­rig­glän­zen­de Schnur aus angst­er­füll­ten Au­gen an. Doch Kett­ridge sprach im­mer wei­ter, und bald be­rühr­te Lad­nar das Seil.

Er zog sei­ne mit sie­ben Klau­en be­wehr­te Pran­ke so­fort wie­der zu­rück. Er ver­such­te es noch ein­mal.

Und beim drit­ten­mal hielt er die Schnur fest.

Du hast so­eben dei­ne Re­li­gi­on auf­ge­ge­ben, dach­te Kett­ridge.

Lad­nar hat­te mit sei­nem Ver­stand einen Kat­zen­wurf ›ge­ro­chen‹, der sich na­he der Höh­le auf­hal­ten muß­te. Aber er wuß­te nicht, wo die Tie­re Zu­flucht ge­nom­men hat­ten.

Kett­ridge tauch­te im dunklen Ein­gang der Höh­le auf und ging hin­aus in den dröh­nen­den Mahl­strom des elek­tri­schen Sturms.

Kett­ridge stand mit ge­spreiz­ten Bei­nen da und beug­te sich vor. Er muß­te die Hand vor die Au­gen hal­ten, um nicht von dem wei­ßen Licht ge­blen­det zu wer­den.

Er war ein klei­ner, schma­ler Mann, und wenn ihn das Seil nicht ge­hal­ten hät­te, wä­re er wohl von Sturm und Re­gen mit­ge­ris­sen wor­den.

Kett­ridge stand auf­recht da und be­schat­te­te die Au­gen mit der Hand. Nur das Licht der Blit­ze leuch­te­te ihm.

Er tat einen kur­z­en Schritt nach vor­ne.

Durch einen Spalt in der Berg­ket­te jag­te ein Blitz auf ihn zu. Er kam von nir­gends und über­all. Er riß einen Gra­nit­block mit sich, der vor Kett­ridges Fü­ßen zer­schell­te. Kett­ridge fiel flach zu Bo­den. Der Don­ner roll­te über sei­nen Kopf hin­weg.

Die Wir­kung des Blit­zes auf sei­nen Kör­per war ent­setz­lich.

Er hör­te nicht mehr. Sei­ne Bei­ne und Hüf­ten wur­den steif. In sei­nen Au­gen tanz­ten die grel­len Ster­ne des Blit­zes.

Ge­dan­ke: Der Dieb des Seins hat ge­spro­chen, und du bist ge­fal­len.

Das Seil spann­te sich, und Kett­ridge fühl­te, daß er zu­rück in die Höh­le ge­zo­gen wur­de.

»Nein!« rief er ver­zwei­felt. Das Seil lo­cker­te sich. »Nein, Lad­nar. Der Dieb des Seins hat ge­droht. Nun wird er mei­ne Macht füh­len. Ich wer­de es dir zei­gen, Lad­nar.«

Kett­ridge nütz­te den Fehl­schlag zu sei­nem ei­ge­nen Vor­teil aus. »Sieh, Lad­nar! Der Dieb des Seins hat mich ge­trof­fen, aber ich le­be im­mer noch. Ich wer­de auf­ste­hen und wei­ter­ge­hen.«

Über­all brann­ten die Blit­ze. Sie zo­gen split­tern­de Bah­nen durch den Wald. Die gan­ze Welt schi­en er­füllt von dem Lärm der stür­zen­den Bäu­me und vom Heu­len der Ele­men­te.

Zit­ternd kam er auf die Knie. Sei­ne Bei­ne wa­ren schwach und ge­fühl­los. Aber sei­ne Au­gen konn­ten wie­der se­hen. Er er­hob sich halb, sank auf ein Knie zu­rück und er­hob sich von neu­em. Sein Kopf fühl­te sich ent­setz­lich schwer an.

Doch schließ­lich stand er auf­recht da.

Und er ging.

Um ihn wü­te­te der Sturm. Im­mer wie­der schlu­gen Blit­ze ein, aber er ließ sich nicht ent­mu­ti­gen.

Bald kam er zur Höh­le zu­rück.

Ge­dan­ke: Du bist ein Gott. Da­von bin ich über­zeugt. Aber der Herr des Him­mels hat auch den Dieb des Seins aus­ge­sandt. Er ist mäch­tig, und Lad­nar wird sein Sein ver­lie­ren, wenn er hin­aus­geht.

»Nein, Lad­nar. Ich wer­de dir zei­gen, wie du dich schüt­zen kannst.« Kett­ridge war schwach von dem Gang in das to­ben­de Un­wet­ter. Schweiß be­deck­te sei­nen gan­zen Kör­per. Die Taub­heit sei­ner Glied­ma­ßen er­faß­te nun den ge­sam­ten Rumpf. Er konn­te nichts hö­ren. Nur Lad­nars Wor­te durch­dran­gen sein Ge­hirn.

Ru­hig be­gann er den Iso­lier­an­zug aus­zu­zie­hen. Nach ein paar Mi­nu­ten hat­te er ihn ab­ge­streift. Er war jetzt so zu­sam­men­ge­schrumpft, daß er in ei­ne Ho­sen­ta­sche ge­paßt hät­te.

Der Sturm hat­te die Tem­pe­ra­tur fast bis auf den Ge­frier­punkt sin­ken las­sen.

»Lad­nar, nimm das«, sag­te Kett­ridge. »Komm, ich hel­fe dir.«

Das Ge­schöpf sah ihn aus großen, ver­ständ­nis­lo­sen Au­gen an. Der Ter­ra­ner fühl­te sich dem frem­den We­sen ir­gend­wie nä­her als al­len Men­schen, die er in den ein­sa­men Jah­ren sei­nes Exils ken­nen­ge­lernt hat­te.

Kett­ridge nahm Lad­nars klau­en­be­wehr­te Pran­ke. Er streif­te ihm den Är­mel des An­zugs über, und die­ser dehn­te sich um fast das Dop­pel­te sei­ner ur­sprüng­li­chen Grö­ße.

Nach vie­lem Zie­hen und Zer­ren steck­te Lad­nar end­lich in dem Iso­lier­an­zug.

Kett­ridge woll­te la­chen, als er das un­för­mi­ge Ding in den Plas­tik­me­tall­an­zug ein­gehüllt sah. Aber das La­chen kam nicht.

»Jetzt zieh die Hand­schu­he an, Lad­nar. Nimm sie nie ab, so­lan­ge der Sturm nicht vor­bei ist. Du mußt die­sen An­zug im­mer tra­gen, wenn der Dieb des Seins brüllt. Dann bist du si­cher.«

Ge­dan­ke: Jetzt kann ich in die Nacht hin­aus­ge­hen?

»Ja – komm.« Sie gin­gen ge­mein­sam auf den Höh­len­ein­gang zu. »Jetzt kannst du dir die Kat­zen selbst ho­len. Ich wuß­te, daß du mir glau­ben wür­dest und ha­be des­halb kei­ne mit­ge­bracht. Komm, Lad­nar.«

Er wink­te ihm.

Ge­dan­ke: Wie kannst du oh­ne den An­zug hin­aus?

Kett­ridge fuhr sich mit der schwie­li­gen Hand durch das wei­ße Haar. Er war froh, daß Lad­nar die­se Fra­ge ge­stellt hat­te. Die Blit­ze er­füll­ten die Luft mit grel­lem Licht, und die Don­ner roll­ten oh­ren­be­täu­bend.

Kett­ridge konn­te den Lärm nicht hö­ren.

»Ich ha­be Brü­der, die in dem Großen Haus von jen­seits des Him­mels auf mich war­ten. Sie brin­gen mich zu­rück zum himm­li­schen Heim. Sie wer­den mir ent­ge­ge­nei­len und mich schüt­zen.«

Er sag­te Lad­nar nicht, daß sei­ne For­schungs­zeit na­he­zu um war und daß die Je­re­my Bent­ham mit Ra­dar­strah­len nach sei­nem An­zug su­chen wür­de.

»Geh, Lad­nar, geh!« rief er und brei­te­te die Ar­me aus. »Und er­zähl dei­nen Brü­dern, daß du dem Dieb des Seins ge­trotzt hast.«

Ge­dan­ke: Ich ha­be es ge­tan.

Lad­nar trat vor­sich­tig ins Freie, ängst­lich und zö­gernd. Dann spann­te er sei­ne kräf­ti­gen Mus­keln an und sprang hin­aus in das vol­le In­fer­no des Sturms, der ver­ge­bens an der mas­si­gen Ge­stalt zerr­te.

»Ei­nes Ta­ges wird der Mensch kom­men und Freund­schaft mit dir schlie­ßen, Lad­nar«, sag­te Kett­ridge lei­se. »Er wird aus dem Him­mel kom­men und dir zei­gen, wie du le­ben kannst, oh­ne dich ver­ber­gen zu müs­sen.«

Kett­ridge sank an die in­ne­re Höh­len­wand. Er war plötz­lich zu er­schöpft, um auf­recht zu ste­hen.

Er hat­te ge­won­nen. Er hat­te sei­ne Selbst­ach­tung wie­der­ge­fun­den. Er hat­te da­zu bei­ge­tra­gen, Tau­sen­de von Le­ben zu ver­nich­ten, aber jetzt hat­te er ei­ne Ras­se vor dem Aus­ster­ben be­wahrt.

Er schloß zu­frie­den die Au­gen. So konn­ten ihm auch die Blit­ze nichts an­ha­ben. Er sah sie nicht. Er wuß­te, daß Lad­nar sei­nen Brü­dern von dem Sieg er­zähl­te.

Er wuß­te, daß das Schiff zu ihm kom­men wür­de.

Lad­nar kam den Hang hin­auf und sah das Boot auf sich zu­schwe­ben. Es schim­mer­te phos­pho­res­zie­rend.

Ge­dan­ke: Dei­ne Brü­der ho­len dich!

Er sprang durch die an­ge­seng­ten, schar­ti­gen Fel­sen auf die Höh­le zu.

Kett­ridge er­hob sich und ging hin­aus in den Wind und Re­gen.

Er lief ein paar Schrit­te und hob win­kend die Ar­me. Das Boot än­der­te sei­nen Kurs und kam mit er­höh­ter Ge­schwin­dig­keit auf ihn zu.

Der Blitz schlug zu.

Es schi­en, als ken­ne der Strahl sein Ziel. Er über­hol­te das Boot und warf sich zi­schend und dröh­nend auf Kett­ridge. Er schleu­der­te ihn hoch in die Luft und trug ihn weit weg von Lad­nar.

Sein Kör­per lan­de­te vor dem Höh­len­ein­gang, ver­krümmt und ver­brannt, aber im­mer noch war Le­ben in ihm.

Ge­dan­ke: Du bist ge­fal­len. Steh auf, steh auf! Der Dieb des Seins …

Die Ge­dan­ken wa­ren hys­te­risch, angst­voll. Hät­te Lad­nar die Fä­hig­keit be­ses­sen zu wei­nen, so hät­te er jetzt hem­mungs­los ge­schluchzt.

Der al­te Mann lag blind da. Das Sein woll­te ihn ver­las­sen.

Er dach­te: Lad­nar! An­de­re wer­den kom­men. Sie wer­den zu dir kom­men, und du mußt ih­nen dei­ne Ge­dan­ken ent­ge­gen­sen­den. Merk dir die­sen Satz, Lad­nar, und schi­cke ihn ih­nen ent­ge­gen: ZEIGT MIR EINEN STERN! Ver­stehst du mich, Lad­nar? Ver­stehst …

Noch wäh­rend Lad­nar ihn be­ob­ach­te­te, ver­rann das Sein. Im In­nern des Ge­schöp­fes war ei­ne ab­grund­tie­fe Lee­re. Aber auch Zu­frie­den­heit. Ein selt­sa­mer Frie­de war in ihn ein­ge­kehrt. Lad­nar wuß­te, daß das Sein des Got­tes, der durch die Nacht geht, un­end­lich stark war.

Der Ein­ge­bo­re­ne stand auf den Fel­sen un­ter­halb der Höh­le und be­ob­ach­te­te, wie das Boot lan­de­te. Er sah, wie ei­ner der an­de­ren Göt­ter auf den ver­krümm­ten Kör­per zu­lief.

In sei­nem Ge­hirn hat­te sich, ein­ge­brannt wie durch den Blitz, der Satz er­hal­ten:

Ge­dan­ke: Zeigt mir einen Stern.