Die Weissagung des Abba-Dingo
von
CORDWAINER SMITH

 

Wir wa­ren in je­nen An­fangs­jah­ren wie toll vor Glück. Je­der, aber vor al­lem wir jun­gen Leu­te. Es wa­ren die ers­ten Jah­re der Wie­der­ent­de­ckung des Men­schen, als die In­stru­men­ta­li­tät tief in die Ta­sche griff und al­te Kul­tu­ren wie­der­her­stell­te, al­te Spra­chen – und so­gar die al­ten Sor­gen und Nö­te.

Der Alp­traum der Per­fek­ti­on hat­te un­se­re Vor­fah­ren an den Rand des Wahn­sinns ge­trie­ben. Nun er­ho­ben sich un­ter der Re­gie­rung von Lord Je­sto­cost und La­dy Ali­ce Mo­re die al­ten Kul­tu­ren wie große Land­mas­sen aus dem Meer der Ver­gan­gen­heit.

Ich selbst war der ers­te Mensch, der nach sech­zehn­tau­send Jah­ren wie­der einen Post­stem­pel auf einen Brief drück­te. Ich nahm Vir­gi­nia zu dem ers­ten Kla­vier­vor­trag ih­res Le­bens mit. Wir be­ob­ach­te­ten durch die Au­gen-Ma­schi­ne, wie in Tas­ma­ni­en die Cho­le­raqua­ran­tä­ne auf­ge­ho­ben wur­de, und wir sa­hen, wie die Tas­ma­nier glück­lich durch die Stra­ßen spran­gen, jetzt, da sie nicht mehr in ih­re en­gen Häu­ser ein­ge­sperrt wa­ren. Über­all wur­de das Le­ben auf­re­gend. Über­all ar­bei­te­ten Ma­ri­ner und Frau­en mit ei­ser­nem Wil­len dar­an, ei­ne we­ni­ger per­fek­te Welt auf­zu­bau­en.

Ich selbst be­gab mich in ei­ne Kli­nik und wur­de als Fran­zo­se ent­las­sen. Na­tür­lich konn­te ich mich an mein frü­he­res Le­ben er­in­nern. Und ich er­in­ner­te mich – aber es war mir gleich­gül­tig. Vir­gi­nia war auch Fran­zö­sin ge­wor­den, und die Jah­re der Zu­kunft la­gen vor uns wie rei­fe Früch­te in ei­nem Obst­gar­ten, in dem ewi­ger Som­mer herrscht.

Wir hat­ten kei­ne Ah­nung, wann wir ster­ben wür­den. Frü­her konn­te ich ins Bett ge­hen und den­ken: »Die Re­gie­rung hat mir vier­hun­dert Jah­re zu­ge­stan­den. Von jetzt an in drei­hun­dert­fünf­und­sieb­zig Jah­ren wer­den sie die In­jek­tio­nen ein­stel­len, und dann muß ich ster­ben.« Jetzt wuß­te ich nur, daß al­les ge­sche­hen konn­te. Die Si­cher­heits­vor­rich­tun­gen wa­ren ab­ge­schal­tet wor­den. Die Krank­hei­ten konn­ten sich un­ge­hin­dert aus­brei­ten. Mit Glück, Hoff­nung und Lie­be konn­te ich tau­send Jah­re le­ben. Oder ich starb mor­gen. Ich war frei.

Wir fei­er­ten je­de Mi­nu­te des Ta­ges.

Vir­gi­nia und ich kauf­ten die ers­te fran­zö­si­sche Zei­tung, die seit dem Fall der al­leräl­tes­ten Epo­che er­schi­en. Wir wa­ren ent­zückt von den Nach­rich­ten, ja selbst von den An­zei­gen. Manch­mal fiel es uns schwer, die Ver­gan­gen­heit zu re­kon­stru­ie­ren. Zum Bei­spiel war es nicht ein­fach, sich über Spei­sen zu un­ter­hal­ten, von de­nen nur noch die Na­men exis­tier­ten. Aber die Ho­mun­ku­li und Ma­schi­nen, die un­er­müd­lich in der tiefs­ten Ver­gan­gen­heit her­um­wühl­ten, brach­ten ge­nug Neu­hei­ten auf den Markt, um je­der­manns Herz mit Hoff­nung zu fül­len.

Wir wuß­ten, daß das al­les nur Vor­spie­ge­lung falscher Tat­sa­chen war, aber un­ser Ge­fühl woll­te es nicht wahr­ha­ben. Wir wuß­ten, daß die Epi­de­mi­en ab­ge­schal­tet wur­den, wenn die sta­tis­tisch er­rech­ne­te Men­schen­men­ge ge­stor­ben war. Und wenn die Un­fall­zif­fer zu hoch an­stieg, wür­de sie wie­der ab­fal­len, oh­ne daß wir wuß­ten, wie. Wir wuß­ten, daß über uns al­len die In­stru­men­ta­li­tät wach­te. Wir hat­ten Ver­trau­en zu Lord Je­sto­cost und La­dy Ali­ce Mo­re und hoff­ten, sie wür­den uns als Freun­de, nicht aber als Op­fer ei­nes Spiels be­han­deln.

Neh­men wir Vir­gi­nia als Bei­spiel. Frü­her hat­te sie Me­ne­ri­ma ge­hei­ßen, ein Na­me, in dem ihr Ge­burts­da­tum ver­schlüs­selt war. Sie war klein und hat­te einen Hang zur Pum­me­lig­keit. Um ih­ren Kopf rin­gel­ten sich dich­te brau­ne Lo­cken. Und ih­re Au­gen wa­ren von ei­nem so herr­lich tie­fen Braun, daß sich die Son­nen­strah­len dar­in fin­gen und die Iris gol­den auf­blit­zen lie­ßen. Ich hat­te sie frü­her schon ge­kannt, aber nie war sie mir so wie jetzt er­schie­nen. Ge­se­hen hat­te ich sie oft, doch nie mit dem Her­zen. Das ge­sch­ah erst, als ich sie vor dem Kran­ken­haus traf, das mich in einen Fran­zo­sen ver­wan­delt hat­te.

Ich freu­te mich, ei­ne al­te Be­kann­te zu tref­fen und woll­te sie in der Nor­mal­spra­che an­re­den, aber die Wor­te wa­ren ir­gend­wie ver­klemmt. Und sie selbst war nicht mehr Me­ne­ri­ma, son­dern ei­ne Schön­heit des Al­ter­tums – ei­gen­ar­tig und fremd. Je­mand, der aus dem Schatz­käst­lein der Ver­gan­gen­heit zu uns her­auf­ge­stie­gen war. So konn­te ich nur stam­meln:

»Wer bist du?« Und ich sag­te es in Alt­fran­zö­sisch.

Sie ant­wor­te­te in der glei­chen Spra­che. »Je m’ap­pel­le Vir­gi­nie.«

Sie an­se­hen und mich in sie ver­lie­ben war eins. In ihr war et­was Star­kes, Wil­des, ge­mil­dert von der wei­chen Ju­gend ih­res mäd­chen­haf­ten Kör­pers. Es war, als ob das Schick­sal durch die ru­hi­gen, brau­nen Au­gen zu mir sprach. Durch Au­gen, die mich si­cher und doch fra­gend an­sa­hen, mich und die neue Welt, die vor uns lag.

»Darf ich?« sag­te ich und bot ihr den Arm, wie ich es in den Stun­den der Hyp­no­pä­die ge­lernt hat­te. Sie nahm mei­nen Arm, und wir über­quer­ten die Stra­ße vor dem Kran­ken­haus.

Ich summ­te ei­ne Me­lo­die vor mich hin, die mir zu­sam­men mit der alt­fran­zö­si­schen Spra­che in den Sinn ge­kom­men war.

Sie zupf­te mich leicht am Är­mel und sah lä­chelnd zu mir auf. »Was ist das?« frag­te sie. »Oder weißt du es nicht?«

Die Wor­te ka­men ein­fach über mei­ne Lip­pen, und ich sang ihr das Lied lei­se vor.

 

Sie war nie­mals die Frau mei­ner Träu­me,

Durch Zu­fall traf sich un­ser Blick.

Ihr Fran­zö­sisch trieb mich auf die Bäu­me,

Denn sie hat­te es von Mar­ti­ni­que.

 

Sie war nicht reich, sie war nicht schick.

Aber sie hat­te einen Blick,

Der riß mich hin …

 

Plötz­lich wuß­te ich nicht mehr wei­ter. »Den Rest ha­be ich an­schei­nend ver­ges­sen. Das Lied heißt ›Ma­cou­ba‹ und hat ir­gend et­was mit ei­ner wun­der­vol­len In­sel zu tun, die die al­ten Fran­zo­sen Mar­ti­ni­que nann­ten.«

»Ich weiß, wo sie liegt«, sag­te sie auf­ge­regt. Sie hat­te die glei­chen Er­in­ne­run­gen er­hal­ten wie ich. »Man kann sie von Ear­th­port aus se­hen.«

Das war ei­ne plötz­li­che Rück­kehr in die Welt, in der wir auf­ge­wach­sen wa­ren. Ear­th­port stand auf ei­nem ein­zi­gen Pfei­ler, zwölf Mei­len hoch, am Ostrand des klei­nen Kon­tin­ents. Ganz oben ar­bei­te­ten die Lords in­mit­ten von Ma­schi­nen, die ih­re Be­deu­tung ver­lo­ren hat­ten. Dort ka­men auch die Schif­fe hin, wenn sie von den Ster­nen zu­rück­kehr­ten. Ich hat­te Bil­der da­von ge­se­hen, aber selbst war ich nie dort ge­we­sen. Wenn ich es recht be­den­ke, ken­ne ich nie­man­den, der auf Ear­th­port ge­we­sen war. Warum soll­ten wir auch hin­ge­hen? Viel­leicht wa­ren wir oben gar nicht will­kom­men, und die Bil­der der Au­gen­ma­schi­ne zeig­ten uns den Ha­fen eben­so gut. Für Me­ne­ri­ma – die ver­trau­te, lang­wei­li­ge, freund­li­che, lie­be klei­ne Me­ne­ri­ma – wä­re es dort oben un­heim­lich ge­we­sen. Das ließ mich dar­an den­ken, daß in der al­ten, per­fek­ten Welt die Din­ge gar nicht so klar und ein­fach wa­ren, wie wir im­mer ge­glaubt hat­ten.

Vir­gi­nia, die neue Me­ne­ri­ma, ver­such­te un­se­re al­te Sprache zu spre­chen, doch dann gab sie auf und griff zu Fran­zö­sisch.

»Mei­ne Tan­te«, sag­te sie und mein­te da­mit ei­ne ent­fern­te Ver­wand­te, denn Tan­ten gab es seit mehr als tau­send Jah­ren nicht mehr. »Mei­ne Tan­te war ei­ne Gläu­bi­ge. Sie nahm mich mit nach Ab­ba-din­go. Da­mit ich Glück hät­te und fromm wür­de.«

Mein al­tes Ich war ein we­nig scho­ckiert. Das fran­zö­si­sche Ich war be­un­ru­higt, daß die­ses Mäd­chen et­was Un­ge­wöhn­li­ches ge­tan hat­te, noch be­vor es Mo­de wur­de, un­ge­wöhn­lich zu le­ben. Das Ab­ba-din­go war ein lang ver­ges­se­ner Kom­pu­ter, der sich weit oben auf der Säu­le von Ear­th­port be­fand. Die Ho­mun­ku­li be­te­ten ihn wie einen Gott an, und manch­mal gin­gen auch Men­schen hin. Aber der Weg war müh­sam, und es galt als or­di­när, ihn zu ge­hen.

Frü­her je­den­falls. Bis al­les an­ders wur­de.

Ich ver­such­te den Un­mut in mei­ner Stim­me zu un­ter­drücken und frag­te sie: »Und wie war es?«

Sie lach­te leicht­hin, und doch war in ih­rem La­chen ei­ne No­te, die mich zu­sam­men­zu­cken ließ. Wenn die al­te Me­ne­ri­ma Ge­heim­nis­se ge­habt hat­te, was moch­te dann erst die neue Vir­gi­nia tun? Fast haß­te ich das Schick­sal, das aus­ge­rech­net sie mir zu­ge­führt hat­te. Denn die Be­rüh­rung ih­rer Hand auf mei­nem Arm war wie ei­ne un­zer­reiß­ba­re Fes­sel.

Sie lä­chel­te mir zu, oh­ne mei­ne Fra­ge’ zu be­ant­wor­ten. Der obers­te Weg wur­de ge­rich­tet. So stie­gen wir ei­ne Ram­pe zum ers­ten Stock der Un­ter­grund­stra­ße hin­ab, die ech­ten Men­schen, Ho­mi­ni­den und Ho­mun­ku­li zu­gäng­lich war.

Ich hat­te kein gu­tes Ge­fühl da­bei. Bis­her hat­te ich mich kaum wei­ter als zwan­zig Mi­nu­ten von mei­ner Ge­burts­stät­te ent­fernt. Die Ram­pe sah si­cher aus. In je­nen Ta­gen gab es bei uns nur we­ni­ge Ho­mi­ni­den, Män­ner von den Ster­nen, die (ob­wohl mensch­li­chen Ur­sprungs) so ver­än­dert wor­den wa­ren, daß sie die Be­din­gun­gen der vie­len Wel­ten er­tra­gen konn­ten. Die Ho­mun­ku­li wa­ren aus mo­ra­li­schen Grün­den ab­sto­ßend, ob­wohl ei­ni­ge von ih­nen nicht schlecht aus­sa­hen. Sie wur­den von Tier­for­men in Men­schen­for­men ge­züch­tet und über­nah­men die lang­wei­li­gen und schmut­zi­gen Ar­bei­ten, mit de­nen sich die ech­ten Men­schen nicht be­fas­sen woll­ten. Man mun­kel­te, daß ei­ni­ge von ih­nen sich mit ech­ten Men­schen ge­paart hät­ten, und ich woll­te mei­ne Vir­gi­nia nicht der Ge­gen­wart ei­ner sol­chen Krea­tur aus­set­zen.

Sie hielt im­mer noch mei­nen Arm fest. Als wir die Ram­pe hin­un­ter in die be­leb­te Gas­se stie­gen, mach­te ich mei­nen Arm frei und leg­te ihn schüt­zend um ih­re Schul­tern. Es war hell, hel­ler als das Ta­ges­licht, das wir hin­ter uns ge­las­sen hat­ten, aber den­noch war es selt­sam und ge­fähr­lich. In den al­ten Zei­ten hät­te ich mich lie­ber um­ge­dreht und wä­re nach Hau­se ge­gan­gen, an­statt mich der Ge­gen­wart sol­cher er­schre­cken­der Ge­schöp­fe aus­zu­set­zen. In die­sem Au­gen­blick aber konn­te ich mich nicht von mei­ner Liebs­ten tren­nen, und ich hat­te Angst, daß sie mich ver­las­sen wür­de, wenn ich zu mei­nem Ap­par­te­ment im Turm zu­rück­gin­ge. Au­ßer­dem wa­ren wir jetzt Fran­zo­sen, und die­ses Volk hat­te von je­her den Hauch des Aben­teu­er­li­chen an sich.

Vir­gi­nia plag­te kei­nen mei­ner Zwei­fel.

Sie hat­te mei­ne Fra­ge nicht be­ant­wor­tet, stell­te aber selbst Fra­gen über die Stra­ße, in der wir uns be­fan­den. Ich war als Kind erst ein­mal hier­ge­we­sen, aber es schmei­chel­te mir, ih­re ver­wun­der­te, un­ter­drück­te Stim­me ganz na­he an mei­nem Ohr zu hö­ren.

 

Dann ge­sch­ah es.

Zu­erst dach­te ich, er sei ein Mensch, den das Licht in dem Un­ter­grund­tun­nel ir­gend­wie ver­kürz­te. Als er nä­her­kam, er­kann­te ich, daß ich mich ge­täuscht hat­te. Sei­ne Schul­tern wa­ren et­wa eins­fünf­zig breit. Häß­li­che ro­te Nar­ben an der Stirn zeig­ten an, wo die Hör­ner her­aus­ge­mei­ßelt wor­den wa­ren. Es han­del­te sich um einen Ho­mun­ku­lus, der of­fen­sicht­lich von ei­nem Bul­len ab­stamm­te.

Und er war be­trun­ken.

Als er nä­her­kam, fing ich das wir­re Ge­dan­ken­mus­ter auf, das er aus­strahl­te.

»… sie sind kei­ne Men­schen, kei­ne Ho­mi­ni­den, kei­ne Ho­mun­ku­li – was wol­len sie hier? Die Wor­te, die sie den­ken, ver­wir­ren mich.« Er hat­te noch nie Fran­zö­sisch auf­ge­fan­gen.

Das war schlecht. Spre­chen konn­ten die meis­ten Ho­mun­ku­li, aber die Te­le­pa­thie be­herrsch­ten nur we­ni­ge Aus­er­wähl­te, die zu be­son­de­ren Ar­bei­ten ver­wen­det wur­den.

Vir­gi­nia klam­mer­te sich an mich.

Ich dach­te in kla­rer Um­gangs­spra­che: »Wir sind ech­te Men­schen. Mach Platz für uns.«

Als Ant­wort er­hiel­ten wir nur ein dump­fes Auf­brül­len. Ich weiß nicht, wo­mit er sich be­trun­ken hat­te. Je­den­falls er­reich­te ihn mei­ne Ant­wort nicht.

Ich konn­te er­ken­nen, wie sich sei­ne Ge­dan­ken zu Pa­nik, Hilf­lo­sig­keit, Haß stei­ger­ten. Dann tän­zel­te er kurz und jag­te auf uns los, als kön­ne er uns mit sei­nem Ge­wicht nie­der­wal­zen.

Mein Ver­stand kon­zen­trier­te sich. Ich schleu­der­te ihm den Be­fehl ent­ge­gen, so­fort an­zu­hal­ten.

Um­sonst.

Starr vor Schreck be­merk­te ich, daß ich ihm den Be­fehl in Fran­zö­sisch zu­ge­ru­fen hat­te.

Vir­gi­nia schrie auf. Der Bul­len­mensch kam auf uns zu.

Im letz­ten Au­gen­blick mach­te er einen Bo­gen um uns, zog blind an uns vor­bei und brüll­te los, daß der brei­te Gang er­zit­ter­te.

Im­mer noch Vir­gi­nia fest­hal­tend, dreh­te ich mich um, um zu se­hen, was uns ge­ret­tet hat­te.

Was ich er­blick­te, war wirk­lich merk­wür­dig.

Un­se­re Ge­stal­ten lie­fen den Kor­ri­dor ent­lang – mein schwarz-ro­ter Man­tel flat­ter­te, und Vir­gi­ni­as gol­de­nes Kleid schi­en sich um ih­re Bei­ne wi­ckeln zu wol­len. Die Bil­der wirk­ten völ­lig echt, und der Bul­len­mensch ver­folg­te sie.

Ich sah ver­wirrt um­her. Man hat­te uns ge­sagt, daß wir nach der Be­hand­lung nicht mehr auf Schutz und Si­cher­heit der In­stru­men­ta­li­tät rech­nen dürf­ten.

Ein Mäd­chen stand ru­hig ne­ben der Wand. Ich hat­te sie bei­na­he für ei­ne Sta­tue ge­hal­ten. »Kommt nicht nä­her«, sag­te sie, als sie merk­te, daß wir auf sie auf­merk­sam ge­wor­den wa­ren. »Ich bin ei­ne Kat­ze. Es war nicht schwer, ihn zu täu­schen. Aber für euch wä­re es an der Ober­flä­che si­che­rer.«

»Dan­ke«, sag­te ich, »dan­ke. Wie heißt du?«

»Ist das so wich­tig?« er­wi­der­te das Mäd­chen. »Ich bin kein Mensch.«

Ein we­nig ver­letzt, be­harr­te ich dar­auf. »Ich woll­te dir nur dan­ken.« Wäh­rend ich mit ihr sprach, sah ich, daß sie so schön und leuch­tend wie ei­ne Flam­me war. Ih­re Haut war rein und pfir­sich­far­ben, und das Haar – fei­ner als Men­schen­haar – leuch­te­te in dem wil­den Oran­ge der Per­ser­kat­zen.

»Ich bin K-mell«, sag­te das Mäd­chen. »Und ich ar­bei­te auf Ear­th­port.«

Das ver­blüff­te so­wohl mich wie auch Vir­gi­nia. Kat­zen­menschen stan­den un­ter uns, aber Ear­th­port war über uns und muß­te re­spek­tiert wer­den. In wel­che Ka­te­go­rie ge­hör­te nun K-mell?

Sie lä­chel­te, und ihr Lä­cheln galt eher mir als Vir­gi­nia.

»Zerbrecht euch nicht den Kopf we­gen der For­ma­li­tä­ten«, sag­te sie. »Hier geht die­se Trep­pe hin­auf. Ich hö­re ihn zu­rück­kom­men.«

Ich schnell­te her­um, um nach dem be­trun­ke­nen Bul­len­menschen zu se­hen. Er war nicht da.

»Schnell«, dräng­te K-mell. »Es sind Not­stu­fen. Ihr er­reicht die Ober­flä­che, wenn ihr hier ent­lang geht. Ich kann ihn nicht da­von ab­hal­ten, euch zu ver­fol­gen. War das üb­ri­gens Fran­zö­sisch?«

»Ja«, sag­te ich. »Wo­her weißt du …«

»Schnell«, wie­der­hol­te sie. »Tut mir leid, daß ich frag­te.«

Ich ging durch die schma­le Tür. Ei­ne Wen­del­trep­pe führ­te zur Ober­flä­che. Es war zwar un­ter un­se­rer Wür­de, als nor­ma­le Men­schen Trep­pen zu be­nut­zen, aber da mich K-mell so dräng­te, konn­te ich nichts an­de­res tun. Ich nick­te K-mell zu und zog Vir­gi­nia hin­ter mir her.

Oben blie­ben wir ste­hen.

»War das nicht ab­scheu­lich?« keuch­te Vir­gi­nia.

»Jetzt sind wir si­cher«, ver­such­te ich sie zu be­ru­hi­gen.

»Um die Si­cher­heit geht es mir gar nicht«, er­wi­der­te sie. »Es ist der Schmutz. Ent­setz­lich, daß du mit ihr spre­chen muß­test.«

Es war of­fen­sicht­lich, daß Vir­gi­nia K-mell mehr fürch­te­te als den Bul­len­menschen. Sie spür­te mei­ne Zu­rück­hal­tung, denn sie fuhr fort: »Das Trau­ri­ge ist, daß du sie wie­der­se­hen wirst …«

»Was? Wo­her willst du das denn wis­sen?«

»Ich weiß es nicht«, er­klär­te sie. »Ich er­ra­te es nur. Und ich ra­te gut, sehr gut. Schließ­lich war ich beim Ab­ba-din­go.«

»Ich bat dich schon vor­her, Lieb­ling, mir zu er­zäh­len, was du dort er­lebt hast.«

Sie schüt­tel­te stumm den Kopf und ging die Stra­ße hin­un­ter. Ich hat­te kei­ne an­de­re Wahl, als ihr zu fol­gen. Es är­ger­te mich.

»Wie war es?« frag­te ich noch ein­mal, dies­mal schär­fer.

Mit der Wür­de ei­nes be­lei­dig­ten klei­nen Mäd­chens sag­te sie: »Nicht be­son­ders. Es war ein lan­ger, stei­ler Weg. Die al­te Frau woll­te un­be­dingt, daß ich mit­kam. Oben stell­te sich dann her­aus, daß die Ma­schi­ne an die­sem Tag über­haupt kei­ne Aus­kunft gab. Wir er­hiel­ten die Er­laub­nis, mit dem Lift zu­rück­zu­fah­ren, bis wir wie­der auf ebe­nem Weg wa­ren. Es war ein ver­geu­de­ter Tag.«

Sie hat­te ein­fach vor sich hin­ge­se­hen, wäh­rend sie das er­zähl­te. Man hat­te den Ein­druck, daß sie nicht sehr gern an das Er­leb­nis zu­rück­dach­te.

Dann wand­te sie mir ihr Ge­sicht zu. Die brau­nen Au­gen bohr­ten sich in die mei­nen, als woll­ten sie mei­ne See­le er­for­schen. See­le – das ist üb­ri­gens ein Wort, für das es in un­se­rer frü­he­ren Spra­che kei­ne Über­set­zung gibt. Dann hell­te sich ih­re Mie­ne auf, und sie bat: »Las­sen wir uns den ers­ten neu­en Tag nicht ver­der­ben. Un­ser neu­es Ich hat auch sein Recht, Paul. Ma­chen wir et­was ganz Fran­zö­si­sches.«

»Ein Ca­fe!« rief ich. »Und ich ken­ne ei­nes.«

»Wo?«

»Zwei Un­ter­grund­we­ge tiefer. Da, wo die Ma­schi­nen her­aus­kom­men und die Ho­mun­ku­li ab und zu her­vor­se­hen.«

»Und wie heißt die­ses Ca­fe?«

»›Zur fet­ten Kat­ze‹«, sag­te ich.

Zur fet­ten Kat­ze. Wie konn­te ich wis­sen, daß das zu ei­nem Alp­traum zwi­schen Him­mel und Er­de füh­ren wür­de? Zu ei­nem Alp­traum, in dem die Stür­me uns um­tob­ten? Wie soll­te ich an­neh­men, daß die­ser Aus­flug et­was mit dem Al­pha Ral­pha Bou­le­vard zu tun hat­te?

Kei­ne Macht der Welt hät­te mich hin­ge­bracht, wenn ich das vor­her ge­wußt hät­te.

 

An­de­re Fran­zo­sen hat­ten das Ca­fe schon vor uns ent­deckt.

Ein Kell­ner mit ei­nem dich­ten brau­nen Schnurr­bart nahm un­se­re Be­stel­lung ent­ge­gen. Ich sah ihn scharf an, ob er nicht ein Ho­mun­ku­lus mit Li­zenz war. Die­se Li­zenz wur­de manch­mal er­teilt, wenn es un­be­dingt nö­tig war, daß Ho­mun­ku­li un­ter den ech­ten Men­schen ar­bei­te­ten. Aber wir hat­ten Glück. Er war ei­ne rei­ne Ma­schi­ne, wenn auch in sei­ner Stim­me die ech­te Pa­ri­ser Herz­lich­keit mit­schwang. Die Kon­struk­teu­re wa­ren so­gar so weit ge­gan­gen, daß sie ihm Schweiß­trop­fen auf die Stirn setz­ten, die er hin und wie­der mit ei­ner ner­vö­sen Hand­be­we­gung ab­wisch­te.

»Ma­de­moi­sel­le? M’sieu? Bier? Kaf­fee? Nächs­ten Mo­nat ha­ben wir so­gar Rot­wein. Al­le hal­be Stun­den ga­ran­tiert ech­ter Son­nen­schein. Al­le zwan­zig Mi­nu­ten für fünf Mi­nu­ten Re­gen, da­mit Sie viel Spaß an Ih­ren neu­en Re­gen­schir­men ha­ben. Ich kom­me üb­ri­gens aus dem El­saß. Sie kön­nen Fran­zö­sisch und Deutsch mit mir spre­chen.«

»Was neh­men wir, Paul?« frag­te Vir­gi­nia.

»Bier, bit­te«, sag­te ich. »Zwei Hel­le.«

»So­fort, M’sieu«, sag­te der Kell­ner.

Er ging weg, wo­bei er ge­schäf­tig mit dem Ge­schirr­tuch we­del­te.

Vir­gi­nia blin­zel­te in die Son­ne und sag­te dann: »Ich woll­te, es wür­de schon reg­nen. Ich ha­be noch nie ech­ten Re­gen ge­se­hen.«

»Sei ge­dul­di­ger, Lieb­ling.«

Sie sah mich an und frag­te ernst: »Was ist ›deutsch‹, Paul?«

»Wie­der ei­ne an­de­re Spra­che und Kul­tur. So­viel ich ge­le­sen ha­be, will man sie nächs­tes Jahr wie­der zum Le­ben er­we­cken. Ge­fällt es dir nicht als Fran­zö­sin?«

»Doch, sehr gut«, er­wi­der­te sie. »Viel bes­ser, als nur ei­ne Num­mer zu sein. Aber Paul …« Und dann schwieg sie und sah mich ver­wirrt und fra­gend an.

»Ja, Lieb­ling?«

»Paul!« Sie rief mei­nen Na­men, und es klang wie ein Hoff­nungs­schrei ganz aus der Tie­fe ih­res In­ne­ren, jen­seits der neu­en und al­ten Welt, jen­seits al­ler Er­fin­dun­gen un­se­rer Lords. Ich nahm ih­re Hand.

»Sag es mir doch, Lieb­ling.«

»Paul«, sag­te sie noch ein­mal, und es war wie ein Schluch­zen, »warum geht al­les nur so schnell? Es ist un­ser ers­ter Tag, und wir ha­ben bei­de das Ge­fühl, daß wir den Rest des Le­bens zu­sam­men­blei­ben wer­den. Da gibt es ir­gend et­was, das Ehe heißt, aber ich weiß nicht, was es ist. Wir müs­sen einen Pries­ter su­chen, und das ver­ste­he ich auch nicht. Paul, Paul, warum geht das al­les nur so schnell? Ich will dich lie­ben, und ich lie­be dich. Aber ich will nicht, daß je­mand es so ein­rich­tet, daß wir uns lie­ben. Ich will, daß du wirk­lich mich liebst.« Wäh­rend sie sprach, roll­ten ihr die Trä­nen über das Ge­sicht. Aber ih­re Stim­me blieb fest.

Und dann sag­te ich ge­nau das Falsche.

»Du brauchst kei­ne Angst zu ha­ben, Lieb­ling. Die Lords der In­stru­men­ta­li­tät ha­ben si­cher al­les ge­nau kal­ku­liert.«

Dar­auf­hin schluchz­te sie laut und un­be­herrscht. Ich hat­te noch nie zu­vor einen Er­wach­se­nen wei­nen ge­se­hen. Es war selt­sam und be­un­ru­hi­gend.

Ein Mann vom Tisch ne­ben­an stand auf und stell­te sich ne­ben mich, aber ich sah ihn nicht ein­mal an.

»Lieb­ling«, sag­te ich be­sänf­ti­gend, »Lieb­ling, wir spre­chen noch dar­über …«

»Paul, laß mich von dir fort­ge­hen, da­mit ich ganz dir ge­hö­ren kann. Laß mich für ein paar Ta­ge oder Wo­chen weg­ge­hen. Dann – wenn ich zu­rück­kom­me, weißt du, daß ich dich lie­be und daß un­se­re Ver­bin­dung nicht von ei­ner Ma­schi­ne aus­ge­klü­gelt wur­de. Bei Gott, Paul …« Sie un­ter­brach sich und sag­te mit frem­der Stim­me: »Was ist Gott, Paul? Sie ha­ben uns Wor­te ge­ge­ben, aber ich weiß nicht, was sie be­deu­ten.«

Der Mann ne­ben ih­nen be­gann zu spre­chen. »Ich kann euch zu Gott brin­gen.«

»Wer sind Sie?« frag­te ich. »Und wer hat Sie ge­be­ten, sich hier ein­zu­mi­schen?« Sol­che Wor­te hät­te ich nie be­nutzt, wenn ich in un­se­rer al­ten Spra­che ge­spro­chen hät­te. Aber zu­sam­men mit der neu­en Spra­che hat­ten wir auch ein neu­es Tem­pe­ra­ment er­hal­ten.

Der Frem­de blieb höf­lich – er war Fran­zo­se wie wir, aber er be­herrsch­te sich bes­ser.

»Ich hei­ße Ma­xi­mi­li­an Macht«, sag­te er. »Frü­her war ich ein Gläu­bi­ger.«

Vir­gi­ni­as Au­gen hell­ten sich auf. Sie trock­ne­te geis­tes­ab­we­send die Trä­nen, wäh­rend sie den Mann an­starr­te. Er war groß, ha­ger und son­nen­ver­brannt. (Wie konn­te ein Mensch nur in so kur­z­er Zeit so braun wer­den?) Sein Haar war röt­lich, und sein Schnurr­bart er­in­ner­te an den des Kell­ners.

»Sie ha­ben nach Gott ge­fragt, Ma­de­moi­sel­le«, sag­te der Frem­de. »Gott ist da, wo er im­mer war – um uns, in uns, über­all.«

Das war ei­ne ei­gen­ar­ti­ge Ant­wort von ei­nem Mann, der mit bei­den Bei­nen fest auf der Er­de zu ste­hen schi­en. Ich er­hob mich, um zu ge­hen. Vir­gi­nia er­riet mei­ne Ab­sicht und sag­te: »Das ist nett von dir, Paul. Bring ihm einen Stuhl.«

In ih­rer Stim­me schwang Wär­me mit.

Der Kell­ner kam mit zwei ko­ni­schen Be­chern aus Glas. In ih­nen war ei­ne gold­far­be­ne Flüs­sig­keit mit ei­ner Schaum­kro­ne. Ich hat­te noch nie zu­vor et­was von Bier ge­hört, aber ich wuß­te ge­nau, wie es schme­cken wür­de. Ich leg­te Schein­geld auf das Ta­blett, er­hielt Schein­wech­sel­geld zu­rück und gab dem Ober zum Schein Trink­geld. Die In­stru­men­ta­li­tät hat­te noch kei­ne end­gül­ti­ge Lö­sung für die vie­len Wäh­run­gen der ver­schie­de­nen Kul­tu­ren ge­fun­den. Und ech­tes Geld konn­te man na­tür­lich nicht zur Be­zah­lung von Nah­rungs­mit­teln und Ge­trän­ken ver­wen­den. Die­se Din­ge gab es bei uns gra­tis.

Die Ma­schi­ne wisch­te sich über den Schnurr­bart, nahm die Ser­vi­et­te (rot-weiß-ka­riert), um sich den Schweiß von der Stirn zu tup­fen und sah dann Macht fra­gend an.

»M’sieu, Sie möch­ten hier sit­zen?«

»In der Tat«, er­klär­te Macht.

»Soll ich hier ser­vie­ren?«

»Aber wes­halb nicht?« woll­te Macht wis­sen. »Wenn die Herr­schaf­ten ge­stat­ten.«

»Gut«, sag­te die Ma­schi­ne und wisch­te sich über den Schnurr­bart, be­vor sie sich in den Schat­ten der Bar zu­rück­zog.

Wäh­rend all die­ser Vor­gän­ge hat­te Vir­gi­nia Macht un­auf­hör­lich ge­mus­tert.

»Sie sind ein Gläu­bi­ger?« frag­te sie. »Sie sind im­mer noch ein Gläu­bi­ger, auch wenn Sie Fran­zo­se ge­wor­den sind? Wo­her wis­sen Sie, was Sie sind? Wes­halb lie­be ich Paul? Steu­ern die Lords und ih­re Ma­schi­nen al­le Vor­gän­ge in uns? Ich will ich selbst sein. Wis­sen Sie, wie man das er­rei­chen kann?«

»Ich weiß, wie ich zu mir selbst fin­de, Ma­de­moi­sel­le«, sag­te Macht. Er wand­te sich mir zu. »Se­hen Sie, ich bin erst seit vier­zehn Ta­gen Fran­zo­se, aber ich weiß, wie­viel mei­nes Ichs un­ab­hän­gig ist und wie­viel von die­sem neu­en Vor­gang hin­zu­ge­fügt wur­de, der uns ei­ne an­de­re Spra­che und neue Ge­fah­ren gab.«

Der Ober kam mit ei­nem schma­len Glas zu­rück, das auf ei­nem Stiel stand. Es sah wie ei­ne häß­li­che klei­ne Nach­ah­mung von Ear­th­port aus. Der In­halt war mil­chig weiß.

Macht hob sein Glas. »Zum Wohl!«

Vir­gi­nia sah aus, als wol­le sie je­den Au­gen­blick zu wei­nen be­gin­nen. Als wir Män­ner tran­ken, putz­te sie sich kräf­tig die Na­se und steck­te das Ta­schen­tuch weg.

Macht lä­chel­te uns an, als wol­le er von neu­em das Wort er­grei­fen. Ge­ra­de im rich­ti­gen Au­gen­blick kam die Son­ne her­aus. Sie um­gab ihn mit ei­nem hel­len Schein, aber mir war nicht recht klar, ob er einen Hei­li­gen oder einen Teu­fel dar­stell­te.

Vir­gi­nia sprach zu­erst. »Sie wa­ren dort?«

Macht hob die Au­gen­brau­en ein we­nig. »Ja«, sag­te er stirn­run­zelnd. Aber sei­ne Stim­me blieb ru­hig.

»Hat es ge­spro­chen?«

»Ja.« Er sah düs­ter und be­un­ru­higt drein.

»Und was sag­te es?«

Statt ei­ner Ant­wort schüt­tel­te er den Kopf, als wol­le er sa­gen: ›Es gibt Din­ge, die man nie laut sa­gen soll­te!‹

Ich woll­te die­sen Dia­log un­ter­bre­chen, denn ich hat­te kei­ne Ah­nung, worum es ging.

Vir­gi­nia fuhr fort, oh­ne mich zu be­ach­ten: »Aber Sie ha­ben Ant­wort er­hal­ten?«

»Ja«, sag­te Macht.

»War sie wich­tig?«

»Ma­de­moi­sel­le, spre­chen wir nicht dar­über.«

»Wir müs­sen«, rief sie. »Es geht um Le­ben und Tod.« Sie hat­te die Hän­de so ver­krampft, daß die Knö­chel weiß her­vor­tra­ten. Das Bier stand im­mer noch un­be­rührt vor ihr.

»Al­so gut«, sag­te Macht. »Fra­gen Sie. Aber ich kann nicht für die Ant­wort ga­ran­tie­ren.«

Ich be­herrsch­te mich nicht län­ger. »Was soll das al­les?«

Vir­gi­nia sah mich mit Ver­ach­tung an, aber selbst in ih­rer Ver­ach­tung spür­te ich noch ih­re Lie­be. »Bit­te, Paul, du wür­dest es nicht ver­ste­hen. Nur einen Au­gen­blick. Was ver­kün­de­te es Ih­nen, M’sieu Macht?«

»Daß ich, Ma­xi­mi­li­an Macht, mit ei­nem braun­haa­ri­gen Mäd­chen, das be­reits ver­lobt ist, le­ben oder ster­ben müs­se.« Er grins­te schief. »Und ich weiß noch nicht ein­mal, was ›ver­lobt‹ be­deu­tet.«

»Das wer­den wir her­aus­fin­den«, sag­te Vir­gi­nia. »Wann sag­te es das?«

»Wer ist ›es‹?« fuhr ich die bei­den an. »Um Him­mels wil­len, wo­von sprecht ihr nur?«

Macht sah mich an und senk­te sei­ne Stim­me: »Das Ab­ba-din­go!« Dann wand­te er sich ihr zu und be­ant­wor­te­te ih­re letz­te Fra­ge: »Vor vier­zehn Ta­gen.«

Vir­gi­nia wur­de weiß. »Es spricht al­so noch, es spricht. Paul, Lieb­ling, zu mir sag­te es nichts. Aber mei­ner Tan­te sag­te es et­was, das ich nie ver­ges­sen konn­te.«

Ich hielt sie um­faßt und ver­such­te ihr in die Au­gen zu se­hen. Aber sie dreh­te sich weg.

»Und was sag­te es?« frag­te ich.

»Paul und Vir­gi­nia.«

»Und?« frag­te ich.

Ich er­kann­te sie kaum wie­der. Ih­re Lip­pen wa­ren zu­sam­men­ge­preßt. Sie war nicht wü­tend. Es war et­was an­de­res – Schlim­me­res. Sie war an­ge­spannt. So et­was hat­ten wir schät­zungs­wei­se seit mehr als tau­send Jah­ren nicht mehr er­lebt.

»Paul, be­greif doch! Die Ma­schi­ne gab der Frau un­se­re Na­men – aber das ge­sch­ah schon vor zwölf Jah­ren.«

Macht stand so plötz­lich auf, daß sein Stuhl um­kipp­te und der Ober auf uns zu­lief.

»Da­mit ist al­les klar«, sag­te er. »Wir ge­hen zu­sam­men.«

»Wo­hin?« frag­te ich.

»Zum Ab­ba-din­go.«

Vir­gi­nia und ich spra­chen gleich­zei­tig. »Aber wes­halb denn jetzt?« frag­te ich, wäh­rend sie sich er­kun­dig­te: »Wird es spre­chen?«

»Es spricht im­mer«, er­klär­te Macht, »wenn man von der Nord­sei­te kommt.«

»Und wie kom­men wir hin?« frag­te Vir­gi­nia.

Macht run­zel­te die Stirn und sah sie trau­rig an. »Es gibt nur einen Weg. Über den Al­pha Ral­pha Bou­le­vard.«

Vir­gi­nia stand auf. Ich folg­te ih­rem Bei­spiel.

Und dann er­in­ner­te ich mich. Al­pha Ral­pha Bou­le­vard. Das war ei­ne zer­stör­te Stra­ße, die in den Him­mel hin­auf­rag­te und über der Stadt schwach wie ein Dunst­strei­fen sicht­bar war. Frü­her hat­te sie als Pro­zes­si­ons­s­tra­ße ge­dient, auf der die Er­obe­rer her­ab­ka­men und auf der Tri­but hin­auf­ge­sandt wur­de. Aber nun war sie zer­stört, seit vie­len Jahr­tau­sen­den ver­schlos­sen für die Mensch­heit. Sie ver­lor sich in den Wol­ken.

»Ich ken­ne sie«, sag­te ich. »Sie ist zer­stört.«

Macht sag­te nichts, aber er starr­te mich an, als sei ich ein Au­ßen­sei­ter …

Vir­gi­nia war sehr blaß vor Er­re­gung und An­span­nung. Sie sag­te nur: »Komm!«

»Aber wes­halb?« frag­te ich sie. »Wes­halb?«

»Du Narr«, er­klär­te sie. »Wenn wir schon kei­nen Gott ha­ben, so ha­ben wir we­nigs­tens die Ma­schi­ne. Sie ist der ein­zi­ge Me­cha­nis­mus auf der Welt, den die In­stru­men­ta­li­tät nicht ver­steht. Viel­leicht sagt sie die Zu­kunft vor­aus. Viel­leicht ist sie gar kei­ne Ma­schi­ne. Ganz ge­wiß aber kommt sie aus ei­ner an­de­ren Zeit. Ver­stehst du denn nicht, Lieb­ling? Wenn sie sagt, daß wir wir sind, dann kön­nen wir si­cher sein.«

»Und wenn nicht?«

»Dann sind wir es nicht.« Ihr Ge­sicht war kum­mer­voll.

»Was meinst du da­mit?«

»Wenn wir nicht wir selbst sind«, sag­te sie, »dann sind wir nichts als Spiel­zeug, Pup­pen, Ma­rio­net­ten, die von der In­stru­men­ta­li­tät ge­führt wer­den. Du bist nicht Paul, und ich bin nicht Vir­gi­nia. Aber wenn das Ab­ba-din­go, das die Na­men Paul und Vir­gi­nia schon zwölf Jah­re vor­her kann­te – wenn die­ses Ab­ba-din­go be­stä­tigt, daß wir wir selbst sind, dann ist es mir egal, ob es ei­ne Weis­sa­gungs­ma­schi­ne oder ein Gott oder ein Teu­fel oder sonst et­was ist. Es ist mir egal. Ich will nur die Wahr­heit wis­sen.«

 

Als wir drau­ßen wa­ren, be­fan­den wir uns in ei­nem vor­neh­men Vil­len­vier­tel. Al­les lag in Rui­nen. Die Bäu­me hat­ten zwi­schen den Mau­ern Wur­zeln ge­schla­gen. Blu­men wu­cher­ten über den ver­wil­der­ten Ra­sen, dran­gen durch die of­fe­nen Tü­ren und brei­te­ten sich in den dach­lo­sen Räu­men aus. Wer brauch­te schon ein Haus im Frei­en, wenn die Be­völ­ke­rungs­zahl der Er­de so zu­rück­ge­gan­gen war, daß es in den Städ­ten ge­räu­mig und leer wur­de?

Macht sag­te nichts.

Vir­gi­nia und ich hiel­ten uns an den Hän­den, als wir ne­ben ihm her­gin­gen. Ich hät­te mich über die­sen aus­ge­fal­le­nen Aus­flug freu­en kön­nen, wenn ih­re Hand nicht so ver­krampft in der mei­nen ge­le­gen hät­te.

Was woll­te Macht? Wer war Macht? Was hat­te er in zwei kur­z­en Wo­chen al­les er­fah­ren? War er wirk­lich schon vor uns in die­ser Welt der ge­fähr­li­chen Aben­teu­er ge­we­sen? Ich trau­te ihm nicht. Zum ers­ten­mal im Le­ben kam ich mir ver­las­sen vor. Bis jetzt hat­te ich nur im­mer an die In­stru­men­ta­li­tät zu den­ken ge­braucht – und schon war ich be­schützt und si­cher ge­we­sen.

Wir bo­gen von der zer­stör­ten Stra­ße in einen brei­ten Bou­le­vard ein. Das Pflas­ter war so glatt und eben, daß nichts dar­auf wach­sen konn­te. Nur da, wo der Wind den Staub an­ge­weht hat­te, stan­den ein paar Gras­bü­schel.

Macht blieb ste­hen. »Da sind wir«, sag­te er. »Al­pha Ral­pha Bou­le­vard.«

Wir wur­den still und blick­ten auf den Weg, der zu ver­ges­se­nen Rei­chen führ­te.

Zu un­se­rer Lin­ken ver­schwand der Bou­le­vard in ei­ner sanf­ten Kur­ve. Er führ­te weit nörd­lich an der Stadt vor­bei, in der ich auf­ge­wach­sen war. Ich hat­te ih­ren Na­men ver­ges­sen. Warum soll­te ich mich auch dar­an er­in­nern?

Aber rechts …

Rechts stieg der Bou­le­vard steil an und ver­schwand in den Wol­ken. Und ir­gend­wo jen­seits der Wol­ken stand das Ab­ba-din­go, das al­le Fra­gen be­ant­wor­te­te …

So hieß es je­den­falls.

Vir­gi­nia drück­te sich eng an mich.

»Keh­ren wir um«, sag­te ich. »Wir sind Stadt­men­schen. Wir wis­sen nichts von Rui­nen.«

»Sie kön­nen je­der­zeit um­keh­ren«, er­klär­te Macht. »Ich woll­te Ih­nen nur einen Ge­fal­len er­wei­sen.«

Wir sa­hen bei­de Vir­gi­nia an.

Sie blick­te mit ih­ren brau­nen Au­gen zu mir auf. Aus die­sen Au­gen strahl­te ei­ne Bit­te, äl­ter als Mann und Frau, äl­ter als die Men­schen­ras­se. Ich wuß­te, was sie sa­gen wür­de, noch be­vor sie den Mund auf­tat. Sie wür­de sa­gen, daß sie es ein­fach wis­sen müß­te.

Schließ­lich sprach Vir­gi­nia.

»Paul«, sag­te sie, »ich su­che nicht die Ge­fahr um der Ge­fahr wil­len. Aber was ich vor­hin sag­te, war mir völ­lig ernst. Be­steht nicht die Mög­lich­keit, daß man uns be­foh­len hat, ein­an­der zu lie­ben? Was für ein Le­ben wä­re das, wenn un­ser Glück, un­ser Sein, von ei­nem Ma­schi­nen­he­bel ab­hin­ge oder von ei­ner me­cha­ni­schen Stim­me, die zu uns sprach, als wir schlie­fen und fran­zö­sisch lern­ten? Es ist schön, in die al­ten Zei­ten zu­rück­zu­ge­hen. Be­stimmt. Ich weiß, daß du mir ein Glücks­ge­fühl ge­ge­ben hast, das ich bis zum heu­ti­gen Tag noch nie er­lebt ha­be. Wenn wir uns un­ser Le­ben wirk­lich selbst auf­bau­en, dann wird al­les wun­der­bar. Aber wenn nicht …« Sie brach in Trä­nen aus.

Ich woll­te sa­gen: »Wenn nicht, dann wird es uns doch so er­schei­nen!« Aber das mür­ri­sche, fins­te­re Ge­sicht Machts sah mich über Vir­gi­ni­as Schul­ter hin­weg an, als ich sie an mich zog. So schwieg ich.

Ich hielt sie dicht an mich ge­preßt.

Un­ter Machts Fuß floß ei­ne dün­ne Blut­spur. Sie wur­de vom Staub auf­ge­so­gen.

»Macht«, frag­te ich, »sind Sie ver­letzt?«

Auch Vir­gi­nia dreh­te sich um.

Macht hob fra­gend die Au­gen­brau­en und mein­te dann gleich­gül­tig: »Nein. Wes­halb?«

»Das Blut. Un­ter Ih­rem Fuß …«

Er sah nach un­ten. »Ach das«, sag­te er. »Das ist nichts. Nur die Ei­er ir­gend­ei­nes Vo­gels, der noch nicht ein­mal flie­gen kann.«

»Las­sen Sie das!« herrsch­te ich ihn te­le­pa­thisch an. Ich be­nutz­te die all­ge­mei­ne Spra­che, oh­ne an mein neu­er­wor­be­nes Fran­zö­sisch zu den­ken.

Er trat über­rascht einen Schritt zu­rück.

Aus dem Nichts kam ei­ne Bot­schaft auf mich zu. Dan­ke dan­ke gu­ter­Großer geh­fort bit­te geh­fort bit­te gu­ter­Großer Mann­schlecht Mann­schlecht …

Ir­gend­wo warn­te mich ein Vo­gel oder ein an­de­res Tier vor Macht. Ich sand­te ihm mei­nen Dank ent­ge­gen und wand­te mei­ne Auf­merk­sam­keit Macht zu.

Wir starr­ten ein­an­der an. War das nun Kul­tur? Wa­ren wir jetzt Men­schen? Schließt Frei­heit im­mer Miß­trau­en, Furcht oder Haß ein? Ich moch­te die­sen Mann nicht. Er stieß mich ab. Die Wor­te für längst ver­ges­se­ne Ver­bre­chen ka­men mir in den Sinn: At­ten­tat, Mord, Ent­füh­rung, Raub, Ver­ge­wal­ti­gung, Wahn­sinns­tat …

Wir hat­ten kei­nen die­ser Aus­drücke ge­kannt, und doch fühl­te ich sie al­le.

Er sprach ru­hig mit mir. Wir hat­ten uns bei­de te­le­pa­thisch ab­ge­schirmt, so daß nie­mand un­se­re Wor­te mit­hö­ren konn­te. Al­so blieb uns nur die Em­pa­thie und das Fran­zö­sisch. »Es war Ihr Ge­dan­ke«, sag­te er, und das stimm­te nicht. »Oder zu­min­dest der der jun­gen Da­me.«

»Ist die Lü­ge be­reits in die Welt ge­kom­men?« frag­te ich. »Und ge­hen wir hin­auf zu den Wol­ken, oh­ne einen Grund zu ha­ben?«

»Es gibt einen Grund«, er­klär­te Macht.

Ich schob Vir­gi­nia sanft zur Sei­te und schirm­te mein In­ne­res stark ab.

»Macht«, sag­te ich, und mir selbst klang mei­ne Stim­me wie das Fau­chen ei­nes Tie­res, »sa­gen Sie mir, wes­halb Sie uns hier­her­brach­ten, oder ich brin­ge Sie um.«

Er wich nicht zu­rück. Er sah mich an, be­reit zum Kampf. »Um­brin­gen?« sag­te er. »Sie mei­nen da­mit, daß Sie mich tö­ten wer­den?« Angst schi­en er nicht zu ken­nen. Kei­ner von uns hat­te je ge­kämpft, aber jetzt be­rei­te­te er sich auf die Ver­tei­di­gung vor und ich mich auf den Kampf.

Durch mei­nen Schutz­schild drang der Ge­dan­ke ei­nes Tie­res: Gu­ter­mann, Gu­ter­mann, nimm ihn an der Keh­le kei­ne Luft aaah kei­ne Luft aah wie zer­bro­che­nes Ei Ei Ei …

Ich nahm den Rat an, oh­ne mir dar­über Ge­dan­ken zu ma­chen, wo­her er kam. Ich ging zu Macht hin­über, leg­te mei­ne Hän­de um sei­ne Keh­le und drück­te zu. Er ver­such­te mei­ne Hän­de weg­zu­sto­ßen. Als ihm das nicht ge­lang, trat er nach mir. Ich hielt nur sei­ne Keh­le um­krampft. Wenn ich ein Lord oder ein Cap­tain ge­we­sen wä­re, hät­te ich mehr vom Kämp­fen ver­stan­den. Aber so wuß­te ich nicht Be­scheid, und er auch nicht.

Es war zu En­de, als ein plötz­li­ches Ge­wicht an mei­nen Hän­den zog. Über­rascht ließ ich los. Macht war be­wußt­los ge­wor­den. War das der Tod?

Nein, er konn­te es nicht sein, denn Macht setz­te sich auf. Vir­gi­nia lief zu ihm hin­über. Er rieb sich den Hals und sag­te mit hei­se­rer Stim­me: »Das hät­ten Sie nicht tun sol­len!«

Das gab mir Mut. »Sa­gen Sie mir, wes­halb Sie uns hier­her­brach­ten«, schleu­der­te ich ihm ent­ge­gen. »Oder ich tue es noch ein­mal.«

Macht grins­te schwach. Er lehn­te sei­nen Kopf ge­gen Vir­gi­ni­as Arm. »Es ist Angst«, sag­te er. »Aus Angst.«

»Angst?« Ich kann­te das Wort – peur – aber nicht sei­ne Be­deu­tung. War es ei­ne Art Un­ru­he oder Er­schre­cken, wie es die Tie­re zeig­ten?

Ich hat­te mei­nen Schutz­schild ge­öff­net. Macht gab mir te­le­pa­thisch Ant­wort: Ja.

»Aber wes­halb ge­fällt Ih­nen die­ses Ge­fühl?« woll­te ich wis­sen.

… Es ist herr­lich, dach­te er. Es be­rei­tet mir Übel­keit und Schwä­che und Er­re­gung. Es ist wie ei­ne star­ke Me­di­zin, fast so stark wie die Le­bens­sprit­ze, die uns die In­stru­men­ta­li­tät im­mer ver­ab­reich­te. Ich war schon ein­mal oben. Ganz hoch dro­ben hat­te ich große Angst. Es war herr­lich und gut und schlecht zu­gleich. Ich durch­leb­te tau­send Jah­re in ei­ner Stun­de. Ich woll­te noch mehr da­von, aber ich dach­te, daß es mit an­de­ren Men­schen zu­sam­men noch auf­re­gen­der sein müß­te.

»Jetzt tö­te ich Sie«, sag­te ich auf Fran­zö­sisch. »Sie sind sehr – sehr …« Ich muß­te erst nach dem Wort su­chen. »Schlecht.«

»Nein«, wi­der­sprach mir Vir­gi­nia, »laß ihn wei­ter­spre­chen.«

Er be­müh­te sich nicht um Wor­te, son­dern sand­te mir sei­ne Ge­dan­ken zu. Das war es, was uns die Lords der In­stru­men­ta­li­tät im­mer ver­sag­ten: Angst. Wirk­lich­keit. Wir wur­den un­wis­send ge­bo­ren, und wir star­ben in ei­nem Traum. Selbst die Un­ter­menschen, die Tie­re, hat­ten mehr Le­ben als wir. Nur die Ma­schi­nen kann­ten kei­ne Furcht. Wir wa­ren auch Ma­schi­nen. Ma­schi­nen, die glaub­ten, daß sie Men­schen sei­en. Und jetzt sind wir frei.

Er er­riet die kal­te Wut in mei­nem In­nern und wech­sel­te das The­ma. Ich be­lü­ge euch nicht. Es ist der rech­te Weg zum Ab­ba-din­go. Ich war dort. Es funk­tio­niert. Auf die­ser Sei­te funk­tio­niert es im­mer.

»Es funk­tio­niert!« rief Vir­gi­nia. »Horst du, es funk­tio­niert. Er sagt die Wahr­heit. Ach, Paul, ge­hen wir doch wei­ter.«

»Gut«, sag­te ich, »ge­hen wir.«

Ich half ihm auf. Er sah ver­le­gen aus, wie je­mand, der et­was ge­zeigt hat, des­sen er sich schämt.

Wir gin­gen auf der un­zer­stör­ba­ren De­cke des Bou­le­vards da­hin. Es war an­ge­nehm für die Fü­ße.

Ir­gend­wo in mei­nem In­nern plap­per­te der un­sicht­ba­re klei­ne Vo­gel auf mich ein: Gu­ter­mann Gu­ter­mann mach ihn tot nimm Was­ser nimm Was­ser …

Ich hör­te nicht auf ihn, wäh­rend ich mit den bei­den wei­ter­ging. Vir­gi­nia hat­ten wir in die Mit­te ge­nom­men. Ich hör­te nicht auf ihn.

Wenn ich es nur ge­tan hät­te.

 

Wir gin­gen lan­ge da­hin. Das war neu für uns. Es lag et­was Er­he­ben­des in dem Wis­sen, daß kei­ner uns be­wach­te, daß die Luft freie Luft war, die sich oh­ne die Wet­ter­ma­schi­nen be­weg­te. Wir sa­hen vie­le Vö­gel, und wenn ich ver­such­te, in ih­re Ge­dan­ken ein­zu­drin­gen, fand ich sie dun­kel und er­regt. Es wa­ren na­tür­li­che Vö­gel, und ich hat­te noch nie zu­vor na­tür­li­che Vö­gel ge­se­hen. Vir­gi­nia frag­te mich nach ih­ren Na­men, und ich wand­te kühn die Be­zeich­nun­gen an, die ich in Fran­zö­sisch ge­lernt hat­te, oh­ne ih­re Be­deu­tung zu ken­nen. Auch jetzt wuß­te ich nicht, ob ich recht hat­te.

Auch Ma­xi­mi­li­an Machts Lau­ne hei­ter­te sich auf, und er sang uns aus dem Steg­reif ein Lied vor. Das Gan­ze er­gab nicht viel Sinn, aber die Me­lo­die war hübsch. Im­mer wenn er ein Stück­chen vor­aus­ging, sang ich ei­ne Va­ria­ti­on von »Ma­cou­ba« und flüs­ter­te die Wor­te in Vir­gi­ni­as hüb­sches Ohr:

 

Sie war nie­mals die Frau mei­ner Träu­me,

Durch Zu­fall traf sich un­ser Blick.

Ihr Fran­zö­sisch trieb mich auf die Bäu­me,

Denn sie hat­te es von Mar­ti­ni­que …

 

Wir wa­ren wie be­rauscht von un­se­rem Aben­teu­er und un­se­rer Frei­heit, bis der Hun­ger kam. Da be­gan­nen un­se­re Schwie­rig­kei­ten.

Vir­gi­nia ging zu ei­nem Lam­pen­pfahl, schlug leicht mit der Faust da­ge­gen und rief: »Ich will es­sen!« Der Pfahl hät­te sich ent­we­der öff­nen und uns ein Mahl ser­vie­ren müs­sen, oder er hät­te uns zu­min­dest sa­gen sol­len, wo wir im Um­kreis der nächs­ten hun­dert Me­ter et­was zu es­sen fin­den könn­ten. Er tat kei­nes von bei­den. Er tat über­haupt nichts. Er muß­te be­schä­digt sein.

Wir mach­ten uns ab jetzt einen Sport dar­aus, an je­den ein­zel­nen Lam­pen­pfahl zu schla­gen.

Al­pha Ral­pha Bou­le­vard er­hob sich jetzt schon et­wa fünf­hun­dert Me­ter über der Land­schaft. Die wil­den Vö­gel kreis­ten un­ter uns. Auf dem Pflas­ter lag we­ni­ger Staub, und die wil­den Grä­ser stan­den nur noch ver­ein­zelt da. Die rie­si­ge Stra­ße wur­de nicht von Säu­len ge­stützt. Wie ei­ne in die Luft ge­wor­fe­ne Schlei­fe schweb­te sie in die Wol­ken.

Wir wur­den es mü­de, an al­le Pfos­ten zu schla­gen, und au­ßer­dem hat­ten wir we­der et­was zu es­sen noch et­was zu trin­ken.

Vir­gi­nia wur­de ver­drieß­lich. »Jetzt hat es kei­nen Sinn mehr, zu­rück­zu­ge­hen. Nach oben ist es kür­zer als nach un­ten. Wenn wir nur et­was mit­ge­nom­men hät­ten!«

Wie hät­te ich dar­an den­ken sol­len, et­was zu es­sen mit­zu­neh­men? Wer nimmt je Es­sen mit? Warum soll­te man es tra­gen, wenn es über­all zu ha­ben ist? Mein Schatz war un­ver­nünf­tig, aber sie war mein Schatz, und ich lieb­te sie mit all ih­ren Feh­lern.

Macht klopf­te wei­ter­hin an die Pfos­ten, wohl um sich aus un­se­rem Streit her­aus­zu­hal­ten. Und er er­ziel­te ein un­er­war­te­tes Er­geb­nis.

In die­sem Au­gen­blick noch sah ich ihn, wie er sich über einen star­ken Lam­pen­pfahl beug­te und ihn kräf­tig ab­klopf­te – und schwupp! im nächs­ten Au­gen­blick schrie er auf wie ein jun­ger Hund und jag­te mit hals­bre­che­ri­scher Ge­schwin­dig­keit den Berg hin­auf. Be­vor er in den Wol­ken über uns ver­schwand, hör­te ich ihn et­was ru­fen, aber ich konn­te sei­ne Wor­te nicht ver­ste­hen.

Vir­gi­nia sah mich an. »Willst du jetzt zu­rück­ge­hen? Macht ist fort. Wir kön­nen sa­gen, daß ich mü­de ge­wor­den bin.«

»Meinst du das im Ernst?«

»Na­tür­lich, Lieb­ling.«

Ich lach­te ein we­nig ver­är­gert. Sie hat­te dar­auf be­stan­den, daß wir hier­her­ka­men, und jetzt woll­te sie um­keh­ren und auf­ge­ben, nur um mir einen Ge­fal­len zu er­wei­sen.

»Mach dir kei­ne Sor­gen«, sag­te ich. »Es kann jetzt nicht mehr weit sein.«

»Paul …« Sie stand ganz dicht ne­ben mir. Ih­re Au­gen sa­hen mich be­sorgt an, als ver­su­che sie, in mei­nem Blick zu le­sen. Willst du so mit mir spre­chen? dach­te ich.

»Nein«, er­wi­der­te sie in Fran­zö­sisch. »Ich möch­te mei­ne Ge­dan­ken aus­spre­chen. Einen nach dem an­de­ren. Paul, ich will zum Ab­ba-din­go ge­hen. Ich muß hin­ge­hen. Es ist der größ­te Wunsch mei­nes Le­bens. Aber gleich­zei­tig sträubt sich et­was in mir, hin­zu­ge­hen. Ir­gend et­was stimmt dort oben nicht. Lie­ber be­sit­ze ich dich nur zum Schein als über­haupt nicht. Es könn­te uns et­was zu­sto­ßen.«

Mit rau­her Stim­me frag­te ich: »Hast du jetzt die­se ›Angst‹, von der Macht vor­hin sprach?«

»O nein, Paul, ganz und gar nicht. Es ist kein er­re­gen­des Ge­fühl. Eher, als wä­re in ei­ner Ma­schi­ne et­was zer­bro­chen …«

»Hör zu!« un­ter­brach ich sie.

Von weit oben aus den Wol­ken kam ein Laut wie das Wim­mern ei­nes Tie­res. Ich hör­te Wor­te. Es muß­te Macht ge­we­sen sein. Ich glau­be, daß ich das Wort »Vor­sicht!« ver­stan­den hat­te. Als ich ihn te­le­pa­thisch such­te, ver­schwamm al­les in der Fer­ne.

»Fol­gen wir ihm, Lieb­ling«, sag­te ich.

»Ja, Paul«, er­wi­der­te sie, und in ih­rer Stim­me klang ein un­er­gründ­li­ches Ge­misch aus Glück, Re­si­gna­ti­on und Ver­zweif­lung mit …

Be­vor wir wei­ter­gin­gen, sah ich sie voll an. Sie war mein Mäd­chen.

Der Him­mel wur­de gelb­lich, und die Lich­ter wa­ren noch nicht ein­ge­schal­tet. In dem rei­chen Licht des Him­mels wa­ren Vir­gi­ni­as brau­ne Lo­cken wie von Gold über­zo­gen, die brau­nen Au­gen wur­den so dun­kel wie die Iris, und ihr jun­ges, schwer­mü­ti­ges Ge­sicht er­schi­en mir be­deu­tungs­vol­ler als je­des an­de­re mensch­li­che Ge­sicht, das mir bis­her be­geg­net war.

»Du ge­hörst mir«, sag­te ich.

»Ja, Paul.« Sie sah mich an und lä­chel­te strah­lend. »Daß du es ge­sagt hast, ist dop­pelt schön.«

»Wir sind nicht so frei wie die Vö­gel, Lieb­ling«, sag­te ich zu Vir­gi­nia, »aber wir sind frei­er, als es die Men­schen seit Jahr­tau­sen­den wa­ren.«

An­stel­le ei­ner Ant­wort nahm sie mei­nen Arm und lä­chel­te mir zu.

»Und jetzt«, füg­te ich hin­zu, »fol­gen wir Macht. Leg dei­ne Ar­me um mich und hal­te dich ganz fest. Ich ver­su­che es mit dem nächs­ten Pfahl. Wenn wir schon kein Abendes­sen be­kom­men, dür­fen wir viel­leicht um­sonst ei­ne Rei­se ma­chen.«

Ich war­te­te, bis sie sich an mir fest­hielt, und schlug dann ge­gen den Pfos­ten.

Ge­gen wel­chen Pfos­ten?

Im nächs­ten Au­gen­blick se­gel­ten die La­ter­nen­mas­ten ver­schwom­men an uns vor­bei. Der Bo­den un­ter un­se­ren Fü­ßen schi­en sich nicht zu be­we­gen, und doch jag­ten wir mit großer Ge­schwin­dig­keit da­hin. Selbst die Un­ter­grund­bah­nen konn­ten nicht mit sol­chen Ge­schwin­dig­kei­ten fah­ren. Vir­gi­ni­as Kleid flat­ter­te so hef­tig, daß es bei je­dem neu­en Wind­stoß ein klat­schen­des Ge­räusch ver­ur­sach­te. Im Nu be­fan­den wir uns in der Wol­ke. Und im Nu hat­ten wir sie hin­ter uns.

Ei­ne neue Welt war um uns. Die Wol­ken la­gen un­ter und über uns. Hier und da blitz­te der blaue Him­mel durch. Wir stan­den still. Die In­ge­nieu­re der al­ten Zei­ten hat­ten die­sen Weg meis­ter­haft an­ge­legt. Wir be­weg­ten uns hö­her, im­mer hö­her, oh­ne daß uns schwind­lig wur­de.

Wie­der ei­ne Wol­ke.

Dann ge­sch­ah al­les so über­stürzt, wie man es gar nicht er­zäh­len kann.

Et­was Dunkles kam von oben auf mich zu. Ich spür­te einen hef­ti­gen Schlag ge­gen die Brust. Erst sehr viel spä­ter merk­te ich, daß es Machts Arm war, der mich fest­zu­hal­ten ver­such­te, be­vor wir über den Rand hin­aus jag­ten. Dann tauch­te ich mit Vir­gi­nia in der nächs­ten Wol­ke un­ter. Ein zwei­ter Schlag traf mich. Der Schmerz war ent­setz­lich. Ich hat­te noch nie im Le­ben et­was Ähn­li­ches ge­fühlt. Aus ir­gend­ei­nem Grund war Vir­gi­nia über mich ge­fal­len und lag nun vor mir. Sie zerr­te an mei­nen Hän­den.

Ich woll­te ihr sa­gen, daß sie auf­hö­ren soll­te, weil es schmerz­te, aber ich muß­te um Atem kämp­fen. So gab ich nach. Ich ver­such­te das zu tun, was sie von mir woll­te. Lang­sam schob ich mich auf sie zu. Erst dann merk­te ich, daß un­ter mei­nen Fü­ßen nichts war – kei­ne Brücke, kei­ne Dü­sen­bahn, nichts.

Ich be­fand mich am Rand des Bou­le­vards, am ab­ge­bro­che­nen En­de des obe­ren Teils. Un­ter mir war nichts als ein Ka­bel­ge­wirr, und viel, viel tiefer noch ein win­zi­ges Band, das ein Fluß oder ei­ne Stra­ße sein moch­te.

Wir wa­ren blind­lings über den großen Ab­grund ge­sprun­gen, und ich war mit der Brust am obe­ren En­de der Stra­ße auf­ge­schla­gen.

Der Schmerz war mir gleich­gül­tig.

In kür­zes­ter Zeit wür­de der Ro­bo­ter­arzt bei mir sein und mich hei­len.

Ein Blick in Vir­gi­ni­as Ge­sicht zeig­te mir, daß es kei­nen Ro­bo­ter­dok­tor gab, kei­ne Welt, kei­ne In­stru­men­ta­li­tät, nichts. Nichts als Wind und Schmerz. Sie wein­te. Nur müh­sam konn­te ich ver­ste­hen, was sie sag­te: »Ich ha­be es ge­tan. Ich ha­be es ge­tan. Lieb­ling, bist du tot?«

Kei­ner von uns wuß­te ge­nau, was »tot« be­deu­te­te, denn die Men­schen gin­gen ein­fach nach Ab­lauf ih­rer Zeit da­hin. Aber wir wuß­ten, daß es das En­de des Le­bens be­deu­te­te. Ich woll­te ihr sa­gen, daß ich leb­te, aber sie hör­te nicht und zerr­te mich noch wei­ter vom Ab­grund weg.

Schließ­lich stütz­te ich mich auf und setz­te mich. Sie knie­te ne­ben mir und be­deck­te mein Ge­sicht mit Küs­sen.

Nach lan­ger Zeit brach­te ich müh­sam ei­ni­ge Wor­te her­vor. »Wo ist Macht?«

Sie blick­te zu­rück. »Ich se­he ihn nicht.«

Auch ich woll­te mich um­se­hen. Aber das ließ Vir­gi­nia nicht zu. »Bleib ru­hig lie­gen«, sag­te sie. »Ich se­he noch ein­mal nach.«

Tap­fer wag­te sie sich bis an den Rand des ab­ge­knick­ten Bou­le­vards vor. Sie sah hin­über zum tiefe­ren En­de des Spalts. Wol­ken zo­gen vor­bei wie Rauch, der von ei­nem Ven­ti­la­tor an­ge­trie­ben wird. Er nahm ihr die Sicht. Doch dann rief sie: »Ich se­he ihn. Er sieht so ko­misch aus. Wie ein In­sekt im Mu­se­um. Er klet­tert über die Ka­bel wei­ter.«

Ich kroch auf Hän­den und Kni­en zu ihr hin und sah eben­falls nach un­ten. Da un­ten war er, ein Punkt, der sich auf ei­nem win­zi­gen Pfad ent­lang­be­weg­te. Un­ter ihm flat­ter­ten die großen Vö­gel mit ih­ren schwe­ren Schwin­gen. Er sah sehr ge­fähr­lich aus. Viel­leicht hat­te er nun all die »Angst«, die er brauch­te, um glück­lich zu sein. Ich sehn­te mich nicht nach die­ser »Angst«, was sie auch sein moch­te. Ich sehn­te mich nach Es­sen, Was­ser und ei­nem Ro­bo­ter­arzt.

Und nichts da­von war hier oben zu fin­den.

Ich kam müh­sam auf die Bei­ne. Vir­gi­nia woll­te mir hel­fen, aber ich stand, be­vor sie auch nur mei­nen Är­mel be­rührt hat­te.

»Ge­hen wir wei­ter.«

»Wei­ter?« frag­te sie.

»Zum Ab­ba-din­go. Viel­leicht sind die Ma­schi­nen dort oben freund­lich. Hier ist nichts als Käl­te und Wind. Nicht ein­mal die Lich­ter wur­den ein­ge­schal­tet.«

Sie leg­te die Stirn in Fal­ten. »Aber Macht …?«

»Es kann Stun­den dau­ern, bis er hier an­kommt. Bis da­hin sind wir wie­der zu­rück.«

Sie ge­horch­te.

Wie­der gin­gen wir links am Bou­le­vard ent­lang. Ich be­fahl ihr, sich ganz fest an mich zu klam­mern, wäh­rend ich von ei­nem an den an­de­ren Pfos­ten schlug. Be­stimmt gab es ei­ne Hil­fe für die Pil­ger, die zum Ab­ba-din­go un­ter­wegs wa­ren. Oder es hat­te sie zu­min­dest ge­ge­ben.

Beim vier­ten­mal klapp­te es.

Wie­der zerr­te der Wind an un­se­ren Klei­dern, als wir den Al­pha Ral­pha Bou­le­vard nach oben jag­ten.

Bei­na­he fie­len wir, als der Weg zur Lin­ken ab­bog. Ge­ra­de noch konn­te ich das Gleich­ge­wicht hal­ten, als es auch schon in die an­de­re Rich­tung wei­ter­ging.

Und dann wur­de un­se­re Fahrt ge­stoppt.

Das war das Ab­ba-din­go.

Ein Fuß­weg, auf dem ver­streut ver­schie­de­ne wei­ße Din­ge la­gen – Knöp­fe und Stä­be und un­re­gel­mä­ßig ge­form­te Bäl­le von der Grö­ße mei­nes Kopf­es.

Vir­gi­nia stand schwei­gend ne­ben mir.

Von der Grö­ße mei­nes Kopf­es? Ich stieß ei­ne der Ku­geln bei­sei­te, und dann war mir klar, völ­lig klar, was es war. Men­schen. Die in­ne­ren Tei­le. Ich hat­te noch nie zu­vor so et­was ge­se­hen. Und das da, auf dem Bo­den, muß­te ei­ne Hand ge­we­sen sein. Hun­der­te sol­cher Din­ger la­gen ne­ben dem Weg.

»Komm, Vir­gi­nia«, sag­te ich so ru­hig wie mög­lich. Ich hat­te mei­ne Ge­dan­ken ge­gen te­le­pa­thi­sches Ein­drin­gen ab­ge­schirmt.

Sie folg­te mir schwei­gend. Die Ge­gen­stän­de, die auf dem Bo­den her­um­la­gen, schie­nen Vir­gi­ni­as Neu­gier zu we­cken, aber sie konn­te of­fen­sicht­lich nichts da­mit an­fan­gen.

Vor uns rag­te ei­ne Mau­er auf. Ich sah sie ge­nau an.

Und schließ­lich fan­den wir sie – die klei­nen Tü­ren zum Ab­ba-din­go.

Auf ei­ner stand ME­TEO­RO­LO­GI­SCHE VOR­HER­SA­GEN. Es war we­der un­se­re frü­he­re Spra­che, noch Fran­zö­sisch, aber es klang so ähn­lich, daß ich wuß­te, es muß­te et­was mit Luft zu tun ha­ben. Ich drück­te mit der Hand ge­gen die Tür­fül­lung. Die Tür wur­de plötz­lich durch­sich­tig, und da­hin­ter leuch­te­te ei­ne al­te Schrift. Zah­len, die mir nichts be­deu­te­ten, Wor­te, die ich nicht ent­rät­seln konn­te, und schließ­lich: »Tai­fun im An­zug.«

Mein Fran­zö­sisch sag­te mir nicht, was »im An­zug« be­deu­te­te, aber Tai­fun war si­cher das glei­che wie »ty­phon« – ei­ne ge­wal­ti­ge Luft­be­we­gung. Ach, sol­len die Wet­ter­ma­schi­nen da­mit fer­tig­wer­den, dach­te ich. Es hat nichts mit uns zu tun.

»Das hilft uns nicht«, er­klär­te ich.

»Was be­deu­tet es?« woll­te sie wis­sen.

»Daß die Luft hef­tig be­wegt wer­den wird.«

»Oh«, mein­te sie, »das macht uns doch nichts, oder?«

»Na­tür­lich nicht.«

Ich pro­bier­te es bei der nächs­ten Tür, auf der ES­SEN stand. Man hör­te ein ab­scheu­li­ches Knir­schen in­ner­halb der Wand. Die Tür öff­ne­te sich einen klei­nen Spalt. Ein ent­setz­li­cher Ge­ruch schlug uns ent­ge­gen. Dann schloß sich die Tür wie­der.

Auf der drit­ten Tür stand HIL­FE, und als ich sie be­rühr­te, ge­sch­ah über­haupt nichts. Viel­leicht war es ei­ne Art Steuerein­zieh­ma­schi­ne aus al­ter Zeit. Die vier­te Tür war grö­ßer und stand un­ten be­reits ein Stück­chen of­fen. Ganz oben stand: WEIS­SA­GUN­GEN. Das war ziem­lich klar für je­mand, der fran­zö­sisch sprach. Aber das Schild un­ten am Schlitz war schon ge­heim­nis­vol­ler: HIER PA­PIER HIN­EIN­SCHIE­BEN. Ich konn­te mir nicht vor­stel­len, was das be­deu­ten moch­te.

Ich ver­such­te es mit Te­le­pa­thie. Nichts. Über uns hin­weg pfiff der Wind. Ei­ni­ge der Kalk­bäl­le und Stä­be roll­ten auf dem Pflas­ter hin und her. Ich ver­such­te es noch ein­mal und gab mir al­le Mü­he, in die al­ten Ge­dan­ken ein­zu­drin­gen. Ein Schrei drang in mein In­ne­res, ein dün­ner, lang­ge­zo­ge­ner Schrei, der mit ei­ner Men­schen­stim­me nicht viel Ähn­lich­keit hat­te. Das war al­les.

Viel­leicht war ich auf­ge­regt. Ich hat­te kei­ne »Angst«, aber ich war um Vir­gi­nia be­sorgt.

Sie starr­te auf den Bo­den. »Paul«, sag­te sie, »ist das nicht ein Man­tel bei die­sen ko­mi­schen wei­ßen Din­gern?«

Ein­mal hat­te ich ein al­tes Rönt­gen­bild in ei­nem Mu­se­um ge­se­hen, und so wuß­te ich, daß der Man­tel im­mer noch das In­nen­ge­rüst ei­nes Men­schen um­hüll­te. Man sah kein ball­för­mi­ges Ge­bil­de, al­so war ich si­cher, daß er tot war. Wie konn­te das in den al­ten Zei­ten ge­sche­hen? Warum hat­te es die In­stru­men­ta­li­tät zu­ge­las­sen? Aber schließ­lich hat­te die In­stru­men­ta­li­tät im­mer ver­bo­ten, die­se Sei­te des Al­pha Ral­pha Bou­le­vards zu be­tre­ten. Viel­leicht hat­ten die­je­ni­gen, die ge­gen das Ge­setz vers­tie­ßen, auf ir­gend­ei­ne Wei­se ih­re Stra­fe be­kom­men. Ich konn­te es nicht er­grün­den.

»Sieh mal, Paul«, sag­te Vir­gi­nia, »ich kann mei­ne Hand hier un­ten hin­ein­ste­cken.«

Be­vor ich sie dar­an hin­dern konn­te, schob sie ih­re Hand in den schma­len Spalt, un­ter dem stand: HIER PA­PIER HIN­EIN­SCHIE­BEN.

Sie schrie auf. Ih­re Hand war ge­fan­gen.

Ich ver­such­te an ih­rem Arm zu zie­hen, aber er rühr­te sich nicht. Sie keuch­te vor Schmerz. Und dann plötz­lich war ih­re Hand wie­der frei.

Deut­li­che Wor­te wa­ren in die le­ben­di­ge Haut ge­prägt. Ich riß mei­nen Man­tel her­un­ter und wi­ckel­te ihn um ih­ren Arm.

Sie stand schluch­zend ne­ben mir, als ich vor­sich­tig den Ver­band wie­der ab­lös­te. Jetzt sah auch sie die ein­ge­präg­ten Wor­te:

In kla­rem Fran­zö­sisch stand da ge­schrie­ben: »Du wirst Paul lie­ben bis in Ewig­keit.«

Vir­gi­nia ließ es zu, daß ich ih­re Hand wie­der mit mei­nem Man­tel be­deck­te. Dann hob sie mir ihr Ge­sicht ent­ge­gen. Ich küß­te sie. »Die Mü­he hat sich ge­lohnt, Paul«, sag­te sie. »Jetzt kön­nen wir wie­der hin­un­ter­ge­hen. Jetzt weiß ich die Wahr­heit.«

Ich küß­te sie noch ein­mal und sag­te be­ru­hi­gend: »Jetzt weißt du al­so die Wahr­heit, nicht wahr?«

»Ja.« Sie lä­chel­te mir un­ter Trä­nen zu. »Das konn­te die In­stru­men­ta­li­tät nicht er­son­nen ha­ben. Was für ei­ne klu­ge, al­te Ma­schi­ne! Ist sie ein Gott oder ein Teu­fel, Paul?«

Zu die­sem Zeit­punkt mach­te ich mir noch kei­ne Ge­dan­ken dar­über. Ich strei­chel­te sie nur. Dann mach­ten wir uns wie­der auf den Rück­weg.

Im letz­ten Au­gen­blick er­in­ner­te ich mich, daß ich mir gar kei­ne Aus­kunft ge­holt hat­te.

»Nur einen Au­gen­blick, Lieb­ling. Ich möch­te ein Stück­chen dei­ner Ban­da­ge ab­rei­ßen.«

Sie war­te­te ge­dul­dig. Ich riß ein Stück von der Grö­ße mei­ner Hand­flä­che ab, und dann hob ich einen Teil ei­nes die­ser Ex-Men­schen auf. Es sah so aus, als wä­re es der Un­ter­arm ge­we­sen. Ich dreh­te mich um, um das Stoff­stück in den Schlitz zu ste­cken, aber als ich bei der Tür war, saß ein großer Vo­gel da­vor.

Ich woll­te ihn mit der Hand weg­schie­ben, und er fauch­te mich an. Es schi­en, als wol­le er mich mit sei­nen schril­len Schrei­en und sei­nem spit­zen Schna­bel be­dro­hen. Ich konn­te ihn nicht ver­scheu­chen.

Dann ver­such­te ich es mit Te­le­pa­thie. Ich bin ein Mensch von Ge­burt an! Geh weg!

Ver­wischt er­reich­te mich die Ant­wort des Tie­res. Ich hör­te nur ein Neinn­einn­einn­ein!

Da schlug ich mit der Faust nach ihm, bis er weg­flat­ter­te. In­mit­ten des wei­ßen Ab­falls auf dem Weg blieb er ste­hen, brei­te­te sei­ne Flü­gel aus und ließ sich vom Wind nach un­ten tra­gen.

Ich schob den Stof­fet­zen hin­ein, zähl­te bis zwan­zig und zog ihn wie­der her­aus.

Die Wor­te wa­ren deut­lich ge­schrie­ben, aber sie sag­ten mir nichts. »Du wirst Vir­gi­nia noch ein­und­zwan­zig Mi­nu­ten lie­ben.«

Ih­re glück­li­che Stim­me, im­mer noch ein we­nig zit­te­rig von den aus­ge­stan­de­nen Schmer­zen, drang von weit weg an mein Ohr. „Was steht dar­auf, Lieb­ling?«

Ab­sicht­lich ließ ich den Wind das Stück­chen Stoff fort­tra­gen. Es flat­ter­te un­ru­hig wie ein Vo­gel. Vir­gi­nia sah es in der Tie­fe ver­schwin­den.

»Ach«, rief sie ent­täuscht, »wir ha­ben es ver­lo­ren. Was stand dar­auf?«

»Das glei­che wie bei dir.«

»Aber wel­che Wor­te, Paul? Kannst du sie nicht wie­der­ho­len?«

Er­füllt von Lie­be und Schmerz und viel­leicht ein we­nig ›Angst‹ flüs­ter­te ich ihr die Lü­ge ins Ohr: »Paul wird Vir­gi­nia im­mer lie­ben.«

Sie lä­chel­te mich strah­lend an. Ihr Kör­per stemm­te sich mit op­ti­mis­ti­scher Kraft ge­gen den Wind. Wie­der ein­mal war sie die hüb­sche, pum­me­li­ge Me­ne­ri­ma, die mit mir auf der Stra­ße ge­spielt hat­te, als wir noch Kin­der wa­ren. Aber sie war mehr als das. Sie war mei­ne neu­ge­fun­de­ne Lie­be in ei­ner – in un­se­rer – neu­ge­fun­de­nen Welt. Sie war mei­ne Ma­de­moi­sel­le von Mar­ti­ni­que. Die Bot­schaft küm­mer­te mich nicht. Sie war ver­rückt. Wir hat­ten an der Tür mit der Auf­schrift ES­SEN ge­se­hen, daß die Ma­schi­ne nicht mehr funk­tio­nier­te.

»Ein­und­zwan­zig Mi­nu­ten«, dach­te ich. »Et­wa sechs Stun­den sind schon ver­gan­gen. Wenn wir hier blei­ben, be­fin­den wir uns viel­leicht in großer Ge­fahr.«

Mit wei­taus­ho­len­den Schrit­ten gin­gen wir den Al­pha Ral­pha Bou­le­vard hin­ab. Wir hat­ten das Ab­ba-din­go ge­se­hen und leb­ten im­mer noch. Ich hat­te zu­min­dest nicht das Ge­fühl, tot zu sein. Aber die­ses Wort war für uns so lan­ge oh­ne Be­deu­tung ge­we­sen, daß man sich nur schwer et­was Kon­kre­tes dar­un­ter vor­stel­len konn­te.

Die Ram­pe führ­te jetzt so steil ab­wärts, daß wir wie Pfer­de da­hin­spran­gen. Der Wind blies uns mit un­vor­stell­ba­rer Ge­walt ins Ge­sicht. Ja, das war es – Wind, vent. Aber die­ses Wort schlug ich erst viel spä­ter nach.

Wir sa­hen nie den gan­zen Turm – nur die Wand, an der die al­te Dü­sen­bahn uns ab­ge­setzt hat­te. Das üb­ri­ge blieb von Wol­ken um­hüllt, die wie zer­fetz­te Lum­pen flat­ter­ten.

Der Him­mel war auf ei­ner Sei­te rot und auf der an­de­ren schmut­zig­gelb.

Große Was­ser­trop­fen be­gan­nen auf uns her­ab­zu­peit­schen.

»Die Wet­ter­ma­schi­nen sind ka­putt«, schrie ich Vir­gi­nia zu.

Sie woll­te ant­wor­ten, aber der Wind trug ih­re Wor­te weg. Ich wie­der­hol­te, was ich über die Wet­ter­ma­schi­nen ge­sagt hat­te, und sie nick­te mir fröh­lich und glück­lich zu, ob­wohl der Wind ih­re Haa­re nach hin­ten weh­te und die Was­ser­trop­fen ihr gold­far­be­nes Kleid durch­näß­ten.

Es war ihr gleich­gül­tig. Sie hielt sich an mei­nem Arm fest. Sie strahl­te mich an, als wir nach un­ten gin­gen und uns ge­gen den stei­len Weg stemm­ten. Ih­re brau­nen Au­gen wa­ren vol­ler Le­ben und Zu­ver­sicht. Sie merk­te, daß ich sie be­ob­ach­te­te und drück­te ih­re Lip­pen auf mei­nen Arm, oh­ne den Schritt zu ver­lang­sa­men. Sie ge­hör­te für im­mer mir, und sie wuß­te es.

Das Was­ser von oben – Re­gen, wie ich spä­ter er­fuhr, trom­mel­te im­mer stär­ker auf uns ein. Plötz­lich ka­men Vö­gel her­un­ter. Ei­ner von ih­nen, ein rie­si­ges Tier, kämpf­te müh­sam ge­gen den Wind an und flat­ter­te mit sei­nen großen Schwin­gen vor mei­nem Ge­sicht. Er krächz­te mir war­nend ent­ge­gen, doch dann trug der Wind ihn wei­ter. Kaum war der ei­ne fort, als der nächs­te mich ramm­te. Ich sah auf ihn her­ab, aber schon nahm auch ihn der Wind mit. Nur ein te­le­pa­thi­sches Echo blieb zu­rück: Neinn­einn­einn­ein!

»Was ›nein‹?« dach­te ich. Aber auf den Rat ei­nes Vo­gels darf man nicht all­zu­viel ge­ben.

Vir­gi­nia pack­te mei­nen Arm und blieb ste­hen.

Ich hielt eben­falls an.

Vor uns lag das ein­ge­bro­che­ne En­de des Al­pha Ral­pha Bou­le­vards. Häß­li­che gel­be Wol­ken schweb­ten in dem Spalt wie gif­ti­ge Fi­sche, die ih­re un­er­klär­li­che Bahn zie­hen.

Vir­gi­nia schrie et­was.

Ich konn­te sie nicht ver­ste­hen, des­halb beug­te ich mich tiefer zu ihr her­un­ter. So weit, daß ihr Mund mein Ohr be­rühr­te.

»Wo ist Macht?« schrie sie.

Vor­sich­tig brach­te ich sie zur lin­ken Sei­te des Weges, wo uns das Ge­län­der et­was Schutz ge­gen die ra­sen­den Win­de ge­währ­te. Aber kei­ner von uns konn­te sehr weit se­hen. Vir­gi­nia knie­te am Rand nie­der. Ich ging ne­ben ihr zu Bo­den. Das Was­ser peitsch­te uns auf den Rücken. Die Hel­lig­keit um uns hat­te sich in ein schmut­zi­ges Gelb ver­wan­delt.

Noch konn­ten wir se­hen, aber nicht sehr weit.

Ich woll­te im Schutz des Ge­län­ders sit­zen blei­ben, aber sie dräng­te mich vor­wärts. Sie woll­te, daß ich et­was we­gen Macht un­ter­näh­me. Das ging ein­fach über mei­ne Kräf­te. Wenn er Schutz ge­fun­den hat­te, war er si­cher, aber wenn er sich noch auf den her­aus­ra­gen­den Ka­beln be­fand, wür­den ihn die Win­de bald her­un­ter­sto­ßen. Und dann gab es kei­nen Ma­xi­mi­li­an Macht mehr. Er wür­de ›tot‹ sein, und sei­ne in­ne­ren Tei­le muß­ten ir­gend­wo auf dem Bo­den blei­chen.

Vir­gi­nia be­harr­te auf ih­rem Wunsch.

Wir kro­chen zum Rand.

Ein Vo­gel jag­te uns ent­ge­gen. Er ziel­te di­rekt mit dem Schna­bel auf mich. Ich wich zu­rück. Ein Flü­gel traf mich und streif­te mei­ne Wan­ge. Ich hat­te nicht ge­wußt, daß Fe­dern so hart sein konn­ten. Die­se Vö­gel müs­sen be­schä­dig­te Ge­hir­ne ha­ben, dach­te ich, wenn sie Men­schen auf dem Al­pha Ral­pha Bou­le­vard an­grei­fen. So be­nimmt man sich doch nicht ech­ten Men­schen ge­gen­über.

Schließ­lich er­reich­ten wir, auf al­len vie­ren krie­chend, den Rand. Ich ver­such­te, mich mit den Fin­ger­nä­geln der lin­ken Hand in das Ge­län­der ein­zu­kral­len, aber das stein­ar­ti­ge Ma­te­ri­al war glatt bis auf ein paar Or­na­men­te. Mei­nen rech­ten Arm hat­te ich um Vir­gi­nia ge­legt. Es war müh­sam, sich so fort­zu­be­we­gen, da mein Kör­per im­mer noch von dem Auf­prall an den Rand des Bou­le­vards schmerz­te. Als ich zö­ger­te, kroch Vir­gi­nia noch ein Stück wei­ter nach vor­ne.

Wir sa­hen nichts.

Das düs­te­re Gelb hat­te uns ein­gehüllt.

Der Wind und das Was­ser schlu­gen uns wie mit Rie­sen­fäus­ten.

Ihr Kleid wur­de vom Wind ge­schüt­telt. Ich woll­te sie zu­rück in den Schat­ten des Ge­län­ders brin­gen, wo wir war­ten konn­ten, bis die Luft­be­we­gung vor­bei war.

Ganz plötz­lich war al­les um uns in hel­les Licht ge­taucht. Es war un­ge­bän­dig­te Elek­tri­zi­tät, die die Al­ten Blitz nann­ten. Spä­ter fand ich her­aus, daß Blit­ze in Ge­gen­den, in de­nen die Wet­ter­ma­schi­nen ab­ge­schal­tet wa­ren, ziem­lich häu­fig vor­ka­men.

Das kur­ze, grel­le Auf­leuch­ten zeig­te uns ein wei­ßes Ge­sicht, das zu uns her­auf­starr­te. Macht hing in den Ka­beln un­ter uns. Sein Mund stand weit of­fen. Er schrie uns et­was zu. Ich ha­be nie er­fah­ren, ob sein Ge­sicht ›Angst‹ oder voll­kom­me­nes Glück aus­drück­te. Je­den­falls war star­ke Er­re­gung in ihm. Das hel­le Licht ging aus, und ich glaub­te das Echo ei­nes Ru­fes zu hö­ren. Ich ver­such­te ihn te­le­pa­thisch auf­zu­fan­gen, aber al­les blieb still. Nur die Ge­dan­ken ei­nes hart­nä­cki­gen Vo­gels, der mir sein Neinn­einn­einn­ein! zu­rief.

Vir­gi­nia ver­steif­te sich in mei­nen Ar­men. Sie wand sich. Ich rief sie auf fran­zö­sisch an. Sie hör­te nicht.

Dann rief ich sie te­le­pa­thisch.

Frem­de Ge­dan­ken wa­ren da.

Vir­gi­ni­as Bot­schaft war er­füllt von Ab­scheu und Haß: »Das Kat­zen­mäd­chen! Sie will mich an­rüh­ren]«

Sie schnell­te her­um. Mein rech­ter Arm war plötz­lich frei. Ich sah ihr gold­far­be­nes Kleid am Ab­grund kurz auf­schim­mern. Dann fing ich ih­re Ge­dan­ken auf.

»Paul, Paul, ich lie­be dich. Paul, hilf mir doch.«

Je tiefer der Kör­per fiel, de­sto schwä­cher ver­nahm ich ih­re Ge­dan­ken.

 

Die frem­den Ge­dan­ken wa­ren von K-mell aus­ge­gan­gen, die wir auf dem Her­weg im Kor­ri­dor ge­trof­fen hat­ten.

»Ich woll­te euch bei­de ho­len«, dach­te sie. »Aber um sie küm­mer­ten sich die Vö­gel nicht.«

»Was ha­ben die Vö­gel da­mit zu tun?« woll­te ich wis­sen.

»Du hast ih­nen ge­hol­fen. Du hast ih­re Jun­gen ge­ret­tet, als der rot­haa­ri­ge Mann sie tö­ten woll­te. Wir wa­ren al­le sehr ge­spannt, was ihr ech­ten Men­schen tun wür­det, wenn ihr ein­mal frei seid. Jetzt wis­sen wir es. Die einen sind schlecht und brin­gen die nied­ri­ge­ren Le­bens­ar­ten um. An­de­re sind gut und schüt­zen das Le­ben.«

Ich dach­te: Ist das der Un­ter­schied zwi­schen Gut und Bö­se?

Viel­leicht hät­te ich bes­ser auf der Hut sein sol­len. Die Men­schen ver­stan­den nicht zu kämp­fen – im Ge­gen­satz zu den Ho­mun­ku­li.

K-mell, das Kat­zen­mäd­chen, traf mit der vol­len Wucht ih­rer Faust mein Kinn. Nar­ko­se kann­te sie nicht, und die ein­zi­ge Mög­lich­keit, mich bei dem Tai­fun über die Ka­bel zu tra­gen, be­stand dar­in, daß ich be­wußt­los und ent­spannt war.

Ich er­wach­te in mei­nem ei­ge­nen Zim­mer. Ich fühl­te mich wohl. Der Ro­bo­ter­arzt war bei mir. Er sag­te: »Sie ha­ben einen Schock er­lebt. Ich ha­be be­reits mit dem Be­auf­trag­ten der In­stru­men­ta­li­tät ge­spro­chen, und er gibt die Be­wil­li­gung, daß ich Ih­re gest­ri­gen Er­in­ne­run­gen aus­lö­sche, wenn Sie es wün­schen.«

Sein Ge­sichts­aus­druck war wohl­wol­lend.

Wo war der peit­schen­de Wind? Die Luft, die wie mit Stei­nen auf uns ein­schlug? Das Was­ser, das vom Him­mel floß, oh­ne daß die Wet­ter­ma­schi­nen es aus­ge­löst hat­ten? Wo war das gol­de­ne Kleid und das nach Angst dürs­ten­de, wil­de Ge­sicht von Ma­xi­mi­li­an Macht?

Ich dach­te über die­se Din­ge nach, aber da der Ro­bo­ter­arzt nicht te­le­pa­thisch ver­an­lagt war, ver­stand er mei­ne Ge­dan­ken nicht. Ich starr­te ihn stumm an.

»Wo ist mei­ne Ge­lieb­te?« schrie ich schließ­lich. »Wo ist mein Mäd­chen?«

Ro­bo­ter kön­nen nicht ver­ächt­lich schau­en, aber die­ser ver­such­te es. »Das nack­te Kat­zen­mäd­chen mit dem feu­er­ro­ten Haar? Sie ist hin­aus­ge­gan­gen, um sich an­zu­zie­hen.«

Ich starr­te ihn wie­der an.

Sein alt­mo­di­sches klei­nes Ma­schi­nen­ge­hirn brau­te sich of­fen­sicht­lich ei­ne ei­ge­ne, für mich nicht all­zu schmei­chel­haf­te Ver­si­on zu­sam­men. »Ich muß sa­gen, Sir, ihr ›frei­en Men­schen‹ än­dert euch wirk­lich sehr schnell …«

Wer soll­te schon mit ei­ner Ma­schi­ne strei­ten? Es hat­te we­nig Sinn, ihr die Din­ge klar­zu­le­gen.

Aber je­ne an­de­re Ma­schi­ne? Ein­und­zwan­zig Mi­nu­ten. Wie konn­te sie das ge­wußt ha­ben? Ich woll­te auch nicht mit die­ser Ma­schi­ne strei­ten. Sie muß­te ein sehr mäch­ti­ges Über­bleib­sel aus al­ten Zei­ten sein – viel­leicht war sie in den frü­he­ren Krie­gen be­nützt wor­den. Ich hat­te kei­ne Lust, es zu er­grün­den. Man­che Men­schen wür­den sie einen Gott nen­nen. Ich ge­be ihr kei­nen Na­men. Ich brau­che kei­ne ›Furcht‹, und ich ha­be nicht vor, zum Al­pha Ral­pha Bou­le­vard zu­rück­zu­ge­hen.

Aber hör doch, Lieb­ling – wie kannst du je wie­der das Ca­fe be­su­chen?

K-mell kam her­ein, und der Ro­bo­ter­arzt ließ uns al­lein.