Baby ist drei
von
THEODORE STURGEON

 

Schließ­lich such­te ich die­sen Stern auf. Er war nicht im ge­rings­ten ver­knö­chert. Er sah von sei­nem Schreib­tisch auf, mus­ter­te mich mit ei­nem kur­z­en Blick und nahm einen Blei­stift in die Hand.

»Nimm da drü­ben Platz, Son­ny.«

Ich blieb ste­hen, wo ich stand, bis er wie­der auf­sah. Dann sag­te ich: »Hö­ren Sie mal, was wür­den Sie wohl sa­gen, wenn ein Li­li­pu­ta­ner ’rein­käme? Setz dich dort drü­ben hin, Shor­ty?«

Er leg­te den Blei­stift wie­der weg und er­hob sich. Er lä­chel­te. Sein Lä­cheln war so schnell und scharf wie sein Blick. »Tut mir leid«, sag­te er. »Aber wie konn­te ich wis­sen, daß du es nicht magst, wenn dich je­mand mit Son­ny an­re­det?«

Das klang schon bes­ser, aber ich war im­mer noch wü­tend.

»Ich bin fünf­zehn, und ich brau­che es mir nicht ge­fal­len zu las­sen. Mer­ken Sie sich, es geht mir ge­gen den Strich.«

Er lä­chel­te wie­der und sag­te, es sei schon gut, und ich ging hin­über und setz­te mich.

»Wie heißt du?«

»Ge­rard.«

»Vor- oder Nach­na­me?«

»Bei­des«, sag­te ich.

»Stimmt das auch?«

»Nein«, sag­te ich. »Und fra­gen Sie mich auch nicht, wo ich woh­ne.«

Er leg­te den Blei­stift weg. »So kom­men wir nicht sehr weit.«

»Das liegt an Ih­nen. Was paßt Ih­nen nicht? Daß ich so feind­se­lig bin? Ja, si­cher, das bin ich. Und noch ’ne gan­ze Men­ge mehr. Sonst wä­re ich nicht bei Ih­nen. Las­sen Sie sich durch so et­was ab­hal­ten?«

»Hm, nein, aber …«

»Was regt Sie dann auf? Ob ich zah­len kann?« Ich leg­te ei­ne Tau­send­dol­lar­no­te auf den Schreib­tisch. »So. Jetzt brau­chen Sie mir we­nigs­tens we­gen des Gel­des nicht nach­zu­lau­fen. Füh­ren Sie Buch und sa­gen Sie mir, wenn es zu En­de ist. Ich ge­be Ih­nen dann wie­der wel­ches. Auf die­se Wei­se brau­chen Sie mei­ne Adres­se nicht.«

Er woll­te das Geld neh­men.

»Halt«, sag­te ich. »Las­sen Sie es noch hier lie­gen. Ich möch­te erst si­cher sein, ob wir bei­de auch mit­ein­an­der aus­kom­men.«

 

Er fal­te­te die Hän­de. »Auf die­se Art ma­che ich kei­ne Ge­schäf­te, mein Jun­ge – äh, Ge­rard.«

»Ger­ry«, ver­bes­ser­te ich ihn. »Wenn Sie mit mir ein Ge­schäft ma­chen wol­len, müs­sen Sie sich nach mir rich­ten.«

»Fin­dest du nicht, daß du al­les ein we­nig kom­pli­ziert machst? Wo­her hast du die tau­send Dol­lar?«

»Ich ha­be ein Preis­aus­schrei­ben ge­won­nen. Fünf­und­zwan­zig Wor­te oder we­ni­ger, wie herr­lich es sei, die wei­che Sud­so-Un­ter­wä­sche zu tra­gen.«

Ich beug­te mich vor. »Dies­mal sa­ge ich die Wahr­heit.«

»Schon gut«, sag­te er.

Ich war über­rascht. Ich glau­be, er merk­te es, aber er sag­te kein Wort mehr. War­te­te ein­fach, daß ich zu re­den an­fan­gen wür­de.

»Be­vor wir an­fan­gen«, sag­te ich, »wenn wir über­haupt an­fan­gen, muß ich ei­nes wis­sen. Was ich Ih­nen er­zäh­le – was wäh­rend Ih­rer Be­hand­lung aus mir her­aus­kommt –, bleibt das völ­lig un­ter uns? Wie bei ei­nem Pfar­rer oder Rechts­an­walt?«

»Völ­lig«, sag­te er.

»Ganz gleich, was ich sa­ge?«

»Ganz gleich.«

Ich be­ob­ach­te­te ihn, als er das sag­te. Ich glaub­te ihm.

»Neh­men Sie Ihr Geld«, sag­te ich. »Ich blei­be.«

Er ließ es lie­gen und er­wi­der­te: »Wie du vor­hin sag­test, liegt das an mir. Du kannst so ei­ne Be­hand­lung nicht kau­fen, wie du viel­leicht ei­ne Ta­fel Scho­ko­la­de kaufst. Wir müs­sen zu­sam­men­ar­bei­ten. Wenn ei­ner von uns nicht da­zu in der La­ge ist, hat das Gan­ze kei­nen Sinn. Du kannst nicht zu dem erst­bes­ten Psy­cho­the­ra­peu­ten ge­hen, den du im Te­le­fon­buch fin­dest, und ver­lan­gen, was dir ein­fällt, nur weil du da­für be­zah­len kannst.«

»Ich ha­be Ih­re Adres­se nicht aus dem Te­le­fon­buch, und ich er­war­te auch nicht, daß Sie mir hel­fen kön­nen«, sag­te ich mü­de. »Ich ha­be gründ­lich zwi­schen ei­nem Dut­zend oder mehr Ge­hirn­wä­schern ge­wählt, be­vor ich mich für Sie ent­schloß.«

»Dan­ke«, sag­te er, und es sah so aus, als wol­le er mich aus­la­chen. Das ist et­was, das ich ab­so­lut nicht lei­den kann. »Wie hast du das denn ge­macht?« frag­te er.

»Man hört und liest so al­ler­hand. Sie wis­sen schon. Mehr brin­gen Sie aus mir nicht her­aus. Las­sen Sie es au­ßer acht, wie mei­nen Na­men und mei­ne Adres­se.«

Er sah mich lan­ge an. Zum ers­ten­mal ruh­ten sei­ne Au­gen voll auf mir. Dann nahm er die Bank­no­te in die Hand.

»Was soll ich zu­erst tun?« frag­te ich.

»Was meinst du da­mit?«

»Wie fan­gen wir an?«

»Wir ha­ben schon an­ge­fan­gen, als du her­ein­kamst.«

Dies­mal muß­te ich la­chen. »Schön, Sie sind mir über. Ich wuß­te nur, wie die An­fangs­vor­stel­lung ver­lau­fen wür­de. Was Sie an­schlie­ßend tun wür­den, war mir un­be­kannt. So konn­te ich mich nicht dar­auf ein­stel­len.«

»Das ist in­ter­essant«, mein­te Stern. »Kund­schaf­test du im­mer al­les vor­her aus?«

»Im­mer.«

»Und wie oft ist das, was du her­aus­bringst, rich­tig?«

»Im­mer. Au­ßer … Aber wes­halb soll­te ich mit Ih­nen über die Aus­nah­men spre­chen?«

Dies­mal grins­te er wirk­lich. »Ich ver­ste­he. Ei­ner mei­ner Pa­ti­en­ten hat ge­schwatzt.«

»Ei­ner Ih­rer ehe­ma­li­gen Pa­ti­en­ten. Ih­re Pa­ti­en­ten selbst sa­gen nichts.«

»Ich bit­te sie dar­um. Das gilt auch für dich. Was hast du von mir ge­hört?«

»Daß Sie aus dem, was die Leu­te sa­gen und tun, er­ken­nen kön­nen, was sie sa­gen und tun wer­den. Daß Sie sie manch­mal ru­hig tun las­sen, was sie wol­len, und an­de­re Ma­le wie­der nicht. Wie ha­ben Sie denn das ge­lernt?«

Er dach­te ei­ne Zeit­lang nach. »Ver­mut­lich hat­te ich schon von Ge­burt an einen Blick für das De­tail. Und den Rest lern­te ich aus mei­nen Feh­lern. Ich ha­be so oft Leu­te falsch ein­ge­schätzt, daß ich die Kon­se­quen­zen dar­aus zog. Heu­te ma­che ich nicht mehr vie­le Feh­ler. Und wie hast du es ge­lernt?«

»Wenn Sie mir das be­ant­wor­ten, brau­che ich nicht wie­der­zu­kom­men«, er­klär­te ich.

»Du weißt es wirk­lich nicht?«

»Ich woll­te, ich wüß­te es. Aber hö­ren Sie mal, das bringt uns doch nicht wei­ter.«

Er zuck­te mit den Schul­tern. »Das hängt da­von ab, was du al­les wis­sen möch­test.« Er schwieg einen Au­gen­blick, und ich spür­te wie­der die vol­le Schär­fe sei­nes Blickes. »Aus wel­chem Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kon hast du dir ei­gent­lich dei­ne An­schau­ung von der Psych­ia­trie ge­holt?«

»Ich ver­ste­he nicht, was Sie da­mit mei­nen.«

 

Stern zog ei­ne Schreib­tisch­schub­la­de auf und hol­te ei­ne ge­schwärz­te Pfei­fe her­aus. Er roch an ihr und dreh­te sie um, wäh­rend er mich an­sah. »Die Psych­ia­trie schält den Men­schen ab wie ei­ne Zwie­bel. Sie ent­fernt ei­ne Haut nach der an­de­ren, bis nur noch der in­ners­te, un­be­rühr­te Kern des Ichs zu­rück­bleibt. Oder ein an­de­res Bild: Die Psych­ia­trie bohrt sich wie ein Öl­boh­rer in die Tie­fe – nach un­ten, ein Stück­chen da­ne­ben und wie­der nach un­ten –, durch all den Dreck und die Fels­schich­ten, bis sie auf die rich­ti­ge Stel­le trifft. Oder: Die Psych­ia­trie nimmt ei­ne Hand­voll se­xu­el­ler Mo­ti­ve und schleu­dert sie auf die win­zi­ge Ma­schi­ne dei­nes Le­bens, so daß sie auf be­stimm­te Epi­so­den tref­fen. Noch mehr?«

Ich muß­te la­chen. »Der letz­te Ver­gleich war ganz gut.«

»Der letz­te war ziem­lich schlecht. Sie sind al­le schlecht. Sie ver­su­chen et­was zu ver­ein­fa­chen, das in sich und ge­ra­de durch sei­ne Exis­tenz sehr kom­plex ist. Die ein­zi­ge Dau­men­re­gel, die du von mir be­kommst, ist fol­gen­de: Nie­mand au­ßer dir selbst weiß im Grun­de, was mit dir nicht stimmt. Nie­mand au­ßer dir selbst kann ei­ne Heil­me­tho­de fin­den. Nie­mand au­ßer dir wird wis­sen, daß es ei­ne Heil­me­tho­de ist. Und so­bald du sie ge­fun­den hast, wird dir nie­mand hel­fen kön­nen, sie an­zu­wen­den.«

»Und wes­halb sind Sie dann hier?«

»Ich hö­re zu.«

»Ich zah­le doch nicht je­mand einen irr­sin­nig ho­hen Stun­den­lohn, wenn er nichts tut als zu­hö­ren.«

»Si­cher. Aber du bist über­zeugt da­von, daß ich die wich­ti­gen Din­ge her­aus­hö­re.«

»Glau­ben Sie?« Ich dach­te dar­über nach. »Wahr­schein­lich ha­ben Sie recht.«

»Ich tue es aber nicht. Doch das wirst du mir nie glau­ben.«

Ich lach­te. Er frag­te mich, wes­halb. »Weil Sie mich nicht mehr Son­ny nen­nen«, sag­te ich.

»Dich nicht.« Er schüt­tel­te lang­sam den Kopf. Wäh­rend er das tat, be­ob­ach­te­te er mich. »Und was möch­test du über dich wis­sen?

Es scheint dich zu be­un­ru­hi­gen, da du nicht willst, daß an­de­re Leu­te da­von er­fah­ren.«

»Ich möch­te wis­sen, warum ich je­mand um­ge­bracht ha­be«, sag­te ich ge­ra­de­her­aus.

Es ent­setz­te ihn nicht im ge­rings­ten. »Leg dich dort drü­ben hin.«

Ich stand auf. »Auf die Couch?«

Er nick­te.

Als ich mich ein we­nig ver­le­gen aus­streck­te, sag­te ich: »Ich kom­me mir vor wie in ei­nem dum­men Witz, den ich ein­mal ge­se­hen ha­be.«

»Was für ein Witz?«

»Ein Kerl, der so ge­zeich­net ist, daß er wie ein Bün­del Trau­ben aus­sieht.« Ich sah zur De­cke. Sie war blaß­grau.

»Und was stand dar­un­ter?«

»›So was hängt sich an die Ner­ven!‹«

»Sehr schön«, sag­te er ru­hig.

Ich sah ihn ge­nau an. Er ge­hör­te zu der Sor­te, die ganz ver­steckt la­chen, wenn sie über­haupt la­chen.

Er sag­te: »Den könn­te ich als Ein­lei­tung für mein ge­plan­tes Buch über in­ter­essan­te Fäl­le ver­wen­den. Nein, dein Fall wird nicht dar­in vor­kom­men. Wie kamst du ge­ra­de dar­auf?« Als ich kei­ne Ant­wort gab, stand er auf und schob sei­nen Stuhl so hin­ter mich, daß ich ihn nicht mehr se­hen konn­te. »Du kannst auf­hö­ren, mich zu tes­ten, Son­ny. Ich bin wirk­lich gut ge­nug für dei­ne Zwe­cke.«

Ich preß­te mei­ne Kie­fer so fest zu­sam­men, daß mei­ne Ba­cken­zäh­ne schmerz­ten. Dann ent­spann­te ich mich. Ich ent­spann­te mich völ­lig. Es war ein herr­li­ches Ge­fühl. »Al­so gut«, sag­te ich. »Es tut mir leid.« Er sag­te nichts, aber ich hat­te wie­der das Ge­fühl, daß er lach­te. Nicht über mich dies­mal.

»Wie alt bist du?« frag­te er mich plötz­lich.

»Äh – fünf­zehn.«

»Äh – fünf­zehn«, wie­der­hol­te er. »Was be­deu­te­te das ›Äh‹?«

»Nichts. Ich bin fünf­zehn.«

»Als ich dich nach dei­nem Al­ter frag­te, fiel dir plötz­lich ei­ne an­de­re Zahl ein. Des­halb hast du ge­zö­gert. Dann hast du den Ge­dan­ken fal­len­ge­las­sen und ›fünf­zehn‹ ge­sagt.«

»Nein, ver­dammt noch mal. Ich bin fünf­zehn.«

»Ich sag­te ja nicht, daß du es nicht wärst.« Sei­ne Stim­me nahm einen ge­dul­di­gen Ton­fall an. »Und an wel­che an­de­re Zahl hast du ge­dacht?«

Ich wur­de wie­der wü­tend. »Ich ha­be an kei­ne an­de­re Zahl ge­dacht. Warum wol­len Sie un­be­dingt sol­che Grunz­lau­te aus­wer­ten? Da­mit sie in das Bild pas­sen, das Sie sich von mir ge­macht ha­ben?«

Er schwieg.

»Ich bin fünf­zehn«, sag­te ich trot­zig. Und dann: »Es paßt mir nicht, daß ich noch so jung bin. Sie wis­sen das. Und ich mag nicht im­mer­fort dar­an er­in­nert wer­den.«

Er war­te­te ein­fach und sag­te im­mer noch nichts.

Ich fühl­te mich be­siegt. »Die Zahl war acht.«

»Du bist al­so acht. Und dein Na­me?«

»Ger­ry.« Ich stütz­te mich auf einen Ell­bo­gen auf und dreh­te mich so weit her­um, daß ich ihn an­se­hen konn­te. Er hielt sei­ne Pfei­fe von sich weg und un­ter­such­te das Pfei­fen­rohr im Licht der Schreib­tisch­lam­pe. »Ger­ry, oh­ne ›äh‹!«

»Schon gut«, sag­te er mil­de, und ich kam mir rich­tig dumm vor.

Ich leg­te mich zu­rück und schloß die Au­gen.

Acht, dach­te ich, acht.

»Bei Ih­nen ist es kalt«, be­schwer­te ich mich.

Acht. Acht, sacht, ge­lacht, Ohn­macht. Ich bin acht und hab’ sacht ge­lacht. Doch das war Ohn­macht. Ich är­ger­te mich über mich selbst und mach­te die Au­gen wie­der auf.

Die De­cke war im­mer noch grau. Das war gut. Stern saß mit sei­ner Pfei­fe ir­gend­wo hin­ter mir. Er war in Ord­nung. Ich at­me­te zwei­mal tief durch. Drei­mal. Dann schloß ich die Au­gen wie­der. Acht. Acht Jah­re alt. Acht, Ohn­macht. Jahr, Ge­fahr. Alt, kalt. Ver­dammt noch mall Ich warf mich un­ru­hig auf der Couch hin und her und ver­such­te die Käl­te aus­zu­schal­ten. Ich bin acht und hab’ sacht ge­lacht. Doch das war …

 

Ich stöhn­te und zwang mich mit mei­ner gan­zen Wil­lens­kraft, all die Ach­ten und all die Rei­me und all ih­re Be­deu­tung aus­zu­lö­schen. Ich deck­te ei­ne schwar­ze De­cke dar­über. Ir­gend et­was muß­te ich an Stel­le des Dun­kels set­zen, weil es nicht blei­ben woll­te. So zeich­ne­te ich ei­ne leuch­ten­de, große Acht und ließ sie im Raum hän­gen. Aber sie kipp­te um und be­gann in­ner­halb der Schlei­fen zu schim­mern. Es war wie ei­ne die­ser Auf­nah­men, die man durch ein Ver­grö­ße­rungs­glas sieht. Ich muß­te hin­durch­se­hen, ob ich woll­te oder nicht.

Plötz­lich gab ich den Kampf auf und ließ die Wel­len über mir zu­sam­menschla­gen. Das Ver­grö­ße­rungs­glas kam nä­her und im­mer nä­her, bis ich mich dar­in se­hen konn­te.

Acht. Acht Jah­re alt, kalt. Kalt wie die Ra­ben im Gra­ben. Der Gra­ben lief ne­ben den Ei­sen­bahn­schie­nen her. Das Un­kraut vom letz­ten Jahr war krat­zig und hart wie Stroh. Der Bo­den war rot, und wo er nicht glit­schig und schlam­mig aus­sah, bil­de­te er ei­ne hart­ge­fro­re­ne Flä­che, die an einen Blu­men­topf er­in­ner­te. Im Au­gen­blick, war er wie­der so hart, mit Rauh­reif über­zo­gen und kalt wie die Win­ter­son­ne, die sich über die Ber­ge schob. Nachts wa­ren die Lich­ter warm, aber sie ka­men al­le aus Häu­sern, die frem­den Leu­ten ge­hör­ten. Und tags­über schi­en die Son­ne wohl auch für die Frem­den, weil sie mich nicht er­wärm­te.

Ich lag im Gra­ben, weil ich ster­ben woll­te. Die Nacht zu­vor war es ein Platz wie je­der an­de­re zum Schla­fen ge­we­sen, und heu­te war es ein Platz wie je­der an­de­re zum Ster­ben. Ganz ge­nau­so­gut wie je­der an­de­re. Acht Jah­re alt. Auf dem Gau­men den zu­gleich an­wi­dern­den und sü­ßen Ge­schmack von Schwei­ne­schmalz und Brot, das ich von ei­nem Ab­fall­hau­fen ge­nom­men hat­te. In mir das Ge­fühl der Span­nung und Angst, das man hat, wenn man einen Ab­fall­sack stiehlt und Schrit­te hört.

Und ich hör­te Schrit­te.

Ich hat­te seit­lich zu­sam­men­ge­rollt da­ge­le­gen. Jetzt leg­te ich mich auf den Bauch, denn manch­mal tre­ten sie ei­nem in den Bauch. Ich be­deck­te den Kopf mit den Ar­men. Mehr konn­te ich nicht tun.

Nach ei­ner Wei­le mach­te ich die Au­gen auf und sah mich um, oh­ne mich da­bei zu be­we­gen. Da stand ein rie­si­ger Schuh. In dem Schuh steck­te ein Fuß, und ganz in der Nä­he war der an­de­re Schuh. Ich blieb lie­gen und war­te­te auf die Tracht Prü­gel. Si­cher, es war mir ziem­lich egal, aber als ei­ne ver­damm­te Schan­de emp­fand ich es doch je­des­mal. Ich fing an zu wei­nen.

Der Schuh fuhr mir un­ter die Ach­sel­höh­le, aber er stieß mich nicht. Er roll­te mich nur her­um. Ich war so steif vor Käl­te, daß ich mich wie ein Brett um­dre­hen ließ. Ich preß­te ein­fach die Ar­me über Ge­sicht und Kopf und blieb mit ge­schlos­se­nen Au­gen lie­gen. Aus ir­gend­ei­nem Grund hör­te ich zu wei­nen auf. Ich glau­be, man heult nur, wenn man noch ei­ne win­zi­ge Chan­ce hat, Hil­fe zu er­hal­ten.

Als nichts ge­sch­ah, mach­te ich die Au­gen auf und schob die Ar­me ein we­nig zur Sei­te, da­mit ich nach oben se­hen konn­te. Über mir stand ein Mann, und er war mei­len­hoch. Er trug einen ver­schos­se­nen Ar­beits­an­zug und dar­über ei­ne al­te Mi­li­tär­ja­cke, die un­ter den Ar­men große Schweiß­fle­cken hat­te. Sein Ge­sicht war ver­wil­dert wie das von Leu­ten, die kei­nen rich­ti­gen Bart ha­ben, aber doch im­mer mit Stop­peln her­um­lau­fen.

Er sag­te: »Steh auf!«

Ich sah auf sei­nen Schuh, aber er stieß nicht nach mir. Ich schob mich ein biß­chen nach oben und wä­re bei­na­he wie­der zu­rück­ge­fal­len, wenn mich sei­ne große Hand nicht im Rücken ge­stützt hät­te. Einen Au­gen­blick lehn­te ich mich da­ge­gen, weil ich nicht an­ders konn­te. Dann rich­te­te ich mich so weit auf, bis ich mich nur noch auf ein Knie stütz­te.

»Komm«, sag­te er, »ge­hen wir.«

Ich kann be­schwö­ren, daß ich spür­te, wie mei­ne Kno­chen vor Käl­te klirr­ten, aber ich schaff­te es. Ich hat­te beim Auf­ste­hen einen großen wei­ßen Stein mit auf­ge­ho­ben. Ich wog ihn ab. Ich muß­te se­hen, ob ich ihn wirk­lich fest­hielt, so steif wa­ren mei­ne Fin­ger. »Bleib mir vom Lei­be, oder ich schlag’ dir mit die­sem Stein die Zäh­ne ein«, sag­te ich.

Sei­ne Hand zuck­te so schnell nach un­ten, daß ich gar nicht sah, wo­hin er den Stein warf, den er mir aus den Fin­gern wand. Ich be­gann ihm Schimpf­wor­te ent­ge­gen­zu­schrei­en, aber er dreh­te sich ein­fach um und ging die Bö­schung zum Schie­nen­strang hin­auf.

Dann sah er über sei­ne Schul­ter zu­rück und sag­te: »Willst du nicht mit­kom­men?«

 

Er jag­te mich nicht, des­halb lief ich nicht weg. Er sprach nicht mit mir, des­halb stritt ich nicht mit ihm. Er schlug mich nicht, des­halb wur­de ich nicht wü­tend. Ich ging hin­ter ihm her. Er war­te­te auf mich. Er streck­te die Hand nach mir aus, und ich spuck­te sie an. So ging er wei­ter, bis zu den Schie­nen hin­auf, bis ich ihn aus den Au­gen ver­lor. In mei­nen Hän­den und Fü­ßen wur­de das Blut wie­der le­ben­dig, und das stach, als hät­te ich tau­send Na­deln in mir. Als ich bis zum Schie­nen­strang ge­kom­men war, sah ich, daß der Mann ste­hen­ge­blie­ben war und auf mich war­te­te.

Hier war der Weg noch eben, aber als ich der Spur nachsah, be­merk­te ich, daß er auf einen Berg zu füh­ren schi­en, der im­mer stei­ler an­stieg und vor mir auf­rag­te. Und im nächs­ten Au­gen­blick lag ich flach auf dem Rücken und starr­te in den kal­ten Him­mel hin­auf.

Der Mann kam zu­rück und setz­te sich in mei­ne Nä­he. Er ver­such­te nicht, mich an­zu­rüh­ren. Ich rang nach Atem, bis ich er­kann­te, daß al­les gut sein wür­de, wenn ich nur einen Au­gen­blick schla­fen könn­te. Nur einen klei­nen Au­gen­blick. Ich schloß die Au­gen.

Der Mann stieß mich mit den Fin­gern in die Rip­pen. Es schmerz­te.

»Schlaf nicht«, sag­te er.

Ich sah ihn an.

Er sag­te: »Du bist ganz steif ge­fro­ren und vor Hun­ger schwach. Ich will dich mit nach Hau­se neh­men und da­für sor­gen, daß du ein Bett und et­was War­mes zu es­sen be­kommst. Aber es ist ein schö­nes Stück Weg bis da oben, und al­lein schaffst du das nicht. Wenn ich dich tra­ge, wirst du dich dann ge­nau­so be­neh­men, als gingst du al­lein?«

»Was wer­den Sie mit mir an­stel­len, wenn ich bei Ih­nen zu Hau­se bin?«

»Das sag­te ich dir schon.«

»Al­so gut«, sag­te ich.

Er hob mich auf und trug mich die Schie­nen hin­un­ter. Wenn er ir­gend et­was an­de­res ge­sagt hät­te, wä­re ich ein­fach lie­gen­ge­blie­ben, bis ich er­fro­ren war. Und au­ßer­dem, was konn­te er schon von mir wol­len? Ich wä­re zu nichts in der La­ge ge­we­sen.

Ich dach­te nicht mehr dar­über nach, son­dern schlum­mer­te ein.

Ein­mal wach­te ich auf, als er von der Stra­ße ab­wich und nach rechts ging. Er tauch­te in den Wäl­dern un­ter. Ich sah kei­nen Weg, aber er schi­en zu wis­sen, wo­hin er ging.

Das nächs­te­mal wach­te ich von ei­nem knir­schen­den Ge­räusch auf. Er trug mich über einen ge­fro­re­nen Teich, und das Eis un­ter sei­nen Fü­ßen gab nach. Er be­eil­te sich nicht. Ich sah nach un­ten und er­kann­te die wei­ßen Sprün­ge, die da ent­stan­den, wo er sei­nen Fuß hin­setz­te. Es war mir so egal. Ich dös­te wie­der ein.

Schließ­lich setz­te er mich ab. Wir wa­ren da. »Da« – das war das In­ne­re ei­nes Raum­es. Es war sehr warm. Er stell­te mich auf die Bei­ne, und ich kipp­te so­fort um. Zu­al­ler­erst sah ich zur Tür. Ich lief hin­über und lehn­te mich mit dem Rücken ge­gen die Wand, da­mit ich im Not­fall flie­hen konn­te. Dann blick­te ich mich um.

Es war ein großes Zim­mer. Ei­ne Wand war rau­her Fels. Die üb­ri­gen be­stan­den aus Holz­bal­ken, de­ren Rit­zen ver­kleis­tert wa­ren. An der Fels­wand brann­te ein rie­si­ges Feu­er. Es war kein ei­gent­li­cher Feu­er­platz, eher ei­ne Art Ver­tie­fung im Fels. Auf ei­nem Re­gal an der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te stand ei­ne al­te Au­to­bat­te­rie, von der zwei gel­be Glüh­bir­nen ge­speist wur­den. Sie bau­mel­ten ein­fach an lan­gen Dräh­ten. Au­ßer­dem gab es noch einen Tisch, ein paar Kis­ten und zwei drei­bei­ni­ge Hocker. Die Luft roch nach Rauch und so wun­der­voll und herz­zer­rei­ßend nach Es­sen, daß mir das Was­ser im Mund zu­sam­men­lief.

»Was ha­be ich da mit­ge­bracht, Ba­by?« frag­te der Mann.

Und das Zim­mer war voll von Kin­dern. Hm, ei­gent­lich nur drei, aber mir schie­nen es mehr als drei zu sein. Da war ein Mäd­chen et­wa in mei­nem Al­ter – acht, mei­ne ich –, ih­re lin­ke Wan­ge war mit blau­er Far­be be­schmiert. Das Mäd­chen hat­te ei­ne Staf­fe­lei und ei­ne Pa­let­te und ei­ne gan­ze Hand­voll Pin­sel. Aber die Pin­sel be­nutz­te sie gar nicht. Sie schmier­te die Far­be mit den Fin­gern auf das Ge­mäl­de. Dann sah ich noch ein klei­nes Ne­ger­mäd­chen von et­wa fünf Jah­ren, das mich aus großen run­den Au­gen an­starr­te.

Und in ei­ner Hol­zwie­ge, die auf zwei Sä­ge­bö­cken stand, lag das Ba­by. Es tat, was al­le Ba­bys tun, sab­ber­te ein we­nig, warf die Ärm­chen hoch und stram­pel­te mit den Bei­nen.

 

Als der Mann sprach, sah das Mäd­chen an der Staf­fe­lei zu­erst mich und dann das Ba­by an. Das Ba­by stram­pel­te und sab­ber­te.

Das Mäd­chen sag­te: »Er heißt Ger­ry, und er ist wü­tend.«

»Wor­über ist er wü­tend?« frag­te der Mann. Er sah das Ba­by an.

»Über al­les«, sag­te das Mäd­chen. »Über al­les und je­den.«

»Wo­her kommt er?«

»He, was soll denn das?« sag­te ich, aber nie­mand be­ach­te­te mich. Der Mann stell­te dem Ba­by wei­ter­hin Fra­gen, und das Mäd­chen mit der Pa­let­te be­ant­wor­te­te sie. Ver­rück­tes­te Sa­che, die ich je er­lebt hat­te.

»Er ist von der Staats­schu­le weg­ge­lau­fen«, sag­te das Mäd­chen. »Zu es­sen be­kam er ge­nug, aber kei­ner war in Har­mo­nie mit ihm.«

Ge­nau­so sag­te sie: Kei­ner war in Har­mo­nie mit ihm.

Da riß ich die Tür auf. Ein Schwall kal­ter Luft kam her­ein. »Sie ge­mei­ner Kerl«, rief ich dem Mann zu. »Sie sind von der Schu­le.«

»Mach die Tür zu, Ja­nie«, sag­te der Mann. Das Mäd­chen an der Staf­fe­lei rühr­te sich nicht, aber die Tür fiel hin­ter mir mit ei­nem lau­ten Knall zu. Ich woll­te sie wie­der auf­ma­chen, aber sie rühr­te sich nicht. Mit ei­nem Auf­schrei rüt­tel­te ich dar­an.

»Ei­gent­lich müß­test du da­für in der Ecke ste­hen«, sag­te der Mann. »Stel­le ihn in die Ecke, Ja­nie.«

Ja­nie sah mich an. Ei­ner der drei­bei­ni­gen Hocker se­gel­te auf mich zu. Er blieb mit­ten in der Luft ste­hen und dreh­te sich zur Sei­te. Mit dem fla­chen Sitz schob er mich wei­ter. Ich sprang zu­rück. Er kam mir nach. Ich wich seit­lich aus, und das war die Ecke. Der Hocker kam nä­her. Ich woll­te ihn ab­weh­ren, ver­letz­te mich aber an der Hand. Ich drück­te ihn nie­der und woll­te über ihn hin­weg­s­prin­gen. Aber er kipp­te um, und ich stol­per­te über ihn. Ich stand wie­der auf und stell­te mich zit­ternd in die Ecke.

Der Hocker schwenk­te wie­der in die rich­ti­ge La­ge und ging vor mir zu Bo­den.

»Dan­ke, Ja­nie«, sag­te der Mann. Er wand­te sich mir zu. »Bleib du da ste­hen und sei jetzt still. Ich küm­me­re mich spä­ter noch um dich. Warum machst du nur so einen Wir­bel?« Und dann wand­te er sich an Ba­by und frag­te: »Hat er et­was, das wir brau­chen?«

Wie­der ant­wor­te­te das klei­ne Mäd­chen. »Si­cher«, sag­te sie. »Er ist der­je­ni­ge.«

»Schön«, sag­te der Mann, »du mußt es wis­sen.« Er kam zu mir. »Ger­ry, du kannst hier bei uns woh­nen. Ich kom­me nicht von der Schu­le. Ich brin­ge dich nie zu­rück.«

»Häh – wirk­lich?«

»Er haßt dich«, sag­te Ja­nie.

»Was kann ich da­ge­gen tun?« woll­te er wis­sen.

Ja­nie wand­te den Kopf, um in die Wie­ge zu se­hen. »Gib ihm et­was zu es­sen.«

Der Mann nick­te und mach­te sich am Feu­er zu schaf­fen.

In der Zwi­schen­zeit war das klei­ne Ne­ger­mäd­chen nicht von der Stel­le ge­gan­gen. Es sah mich ein­fach aus sei­nen ku­gel­run­den Au­gen an. Ja­nie be­schäf­tig­te sich wie­der mit ih­rer Ma­le­rei, und Ba­by lag still in sei­ner Wie­ge. So er­wi­der­te ich den Blick des klei­nen Mäd­chens. Schließ­lich fauch­te ich: »Warum, zum Teu­fel, glotzt du mich so an?«

Sie grins­te mich an. »Ger­ry ho­ho«, sag­te sie und ver­schwand. Ich mei­ne, sie ver­schwand wirk­lich. Sie ging aus wie ein Licht, und nur ih­re Klei­der wa­ren noch da, wo sie ge­stan­den hat­te. Ihr win­zi­ges Kleid­chen flat­ter­te noch einen Au­gen­blick in der Luft und fiel dann zu Bo­den. Das war es. Sie blieb ver­schwun­den.

»Ger­ry hi­hi«, hör­te ich. Ich sah nach oben, und da war sie, auf ei­nem Vor­sprung zwi­schen Holz und De­cke. Als ich noch ein­mal hin­sah, war sie schon wie­der ver­schwun­den.

»Ger­ry ho­ho«, rief sie. Jetzt ba­lan­cier­te sie oben auf den Kis­ten, die als Vor­rats­re­ga­le be­nutzt wur­den und sich am an­de­ren En­de des Zim­mers be­fan­den.

»Ger­ry hi­hi!« Jetzt war sie un­ter dem Tisch.

»Ger­ry ho­ho!« Dies­mal stand sie ne­ben mir in der Ecke und be­dräng­te mich.

Ich schrie auf, ver­such­te ihr aus­zu­wei­chen und fiel über den Hocker. Den Hocker fürch­te­te ich noch mehr, so zuck­te ich zu­rück und ging wie­der in die Ecke. Das klei­ne Mäd­chen war fort.

Der Mann sah von sei­nen Han­tie­run­gen am Feu­er auf und rief: »Jetzt reicht es aber, Kin­der.«

 

Es herrsch­te Stil­le, und dann kam das Mäd­chen lang­sam aus der un­ters­ten Re­gal­rei­he her­aus.

»Wie hast du das ge­macht?« woll­te ich wis­sen.

»Ho­ho«, sag­te sie.

»Es ist leicht«, ant­wor­te­te Ja­nie an ih­rer Stel­le. »Sie sind in Wirk­lich­keit Zwil­lin­ge.«

»Oh«, sag­te ich. Dann kam ein zwei­tes Mäd­chen, das sich um kein Haar von dem ers­ten un­ter­schied, von ir­gend­wo aus den Schat­ten und stell­te sich da­ne­ben auf. Sie stan­den ne­ben­ein­an­der und starr­ten mich nun ge­mein­sam an. Dies­mal ließ ich sie ru­hig star­ren.

»Das sind Bon­nie und Be­a­nie«, sag­te die Ma­le­rin. »In der Wie­ge liegt Ba­by, und das –«, sie deu­te­te auf den Mann, »– ist Lo­ne. Ich hei­ße Ja­nie.«

Ich wuß­te nicht, was ich sa­gen soll­te, und so brach­te ich nur ein »Ja« her­aus.

»Was­ser, Ja­nie«, sag­te Lo­ne. Er hielt ihr einen Topf ent­ge­gen. Ich hör­te Was­ser­ge­plät­scher, konn­te aber nicht se­hen, wo­her es kam. »Das reicht«, sag­te er und hing den Topf über das Feu­er. Er hol­te einen ge­sprun­ge­nen Por­zel­lan­tel­ler und brach­te ihn mir. Er war ganz ge­füllt mit saf­ti­gen Fleisch­bro­cken, So­ße, Klö­ßen und gel­ben Rü­ben. »Hier, Ger­ry. Setz dich.«

Ich sah auf den Hocker. »Hier­hin?«

»Na­tür­lich.«

»Nicht ich«, sag­te ich. Ich nahm den Tel­ler und lehn­te mich an die Wand.

»He«, sag­te er nach ei­ner Zeit, »wir ha­ben al­le schon ge­ges­sen. Kei­ner nimmt dir den Tel­ler weg. Du kannst ganz lang­sam es­sen.«

Ich aß noch schnel­ler als vor­her. Ich war fast fer­tig, als ich al­les wie­der von mir gab. Dann fiel ich aus ir­gend­ei­nem Grund mit dem Kopf ge­gen die Hocker­kan­te. Ich ließ Tel­ler und Löf­fel fal­len und blieb lie­gen. Mir war wirk­lich elend zu­mu­te.

Lo­ne kam zu mir her­über und beug­te sich über mich. »Tut mir leid, Klei­ner«, sag­te er. »Machst du bit­te sau­ber, Ja­nie?«

Di­rekt vor mei­nen Au­gen ver­schwand das Zeug vom Bo­den. In die­sem Mo­ment und auch da­nach war mir al­les egal. Ich fühl­te den Kopf des Man­nes ne­ben mei­nem Hals. Dann fuhr er mir durch das Haar.

»Be­a­nie, bring ihm ei­ne De­cke. Wir ge­hen al­le schla­fen. Er braucht jetzt ei­ne Zeit­lang Ru­he.«

Ich fühl­te, wie die De­cke um mich ge­wi­ckelt wur­de, und ich war ein­ge­schla­fen, be­vor er mich rich­tig hin­ge­legt hat­te.

Ich weiß nicht, wie­viel Zeit ver­gan­gen war, als ich wie­der auf­wach­te. Ich hat­te kei­ne Ah­nung, wo ich war, und das jag­te mir Angst ein. Ich hob den Kopf und sah die glü­hen­den Asche­res­te am Feu­er­platz. Lo­ne hat­te sich in sei­nen Klei­dern aus­ge­streckt. Ja­nies Staf­fe­lei wirk­te in dem röt­li­chen Dun­kel wie ein rie­si­ges Rau­bin­sekt. Ich sah, daß Ba­bys Kopf in der Wie­ge auf­tauch­te, aber ich konn­te nicht fest­stel­len, ob es mich an­sah oder nicht. Ja­nie lag ne­ben der Tür am Bo­den, und die Zwil­lin­ge hat­ten es sich auf dem al­ten Tisch be­quem ge­macht. Nichts au­ßer Ba­bys Kopf be­weg­te sich.

Ich stand auf und sah mich im Raum um. Nur ein Zim­mer, nur ei­ne Tür. Ich ging auf Ze­hen­spit­zen zu ihr hin­über. Als ich an Ja­nie vor­bei­kam, öff­ne­te sie die Au­gen.

»Was ist los?« flüs­ter­te sie.

»Geht dich nichts an«, sag­te ich. Ich ging zur Tür, als küm­mer­te ich mich nicht um sie, aber ich be­ob­ach­te­te sie ge­nau. Sie tat nichts. Aber die Tür war so fest ver­schlos­sen wie beim ers­ten­mal, als ich zu flie­hen ver­sucht hat­te.

Ich ging zu­rück zu Ja­nie. Sie sah mich nur an. Sie war nicht wü­tend. »Ich muß aber drin­gend mal«, sag­te ich.

»Ach so«, mein­te sie. »Warum hast du das nicht gleich ge­sagt?«

Plötz­lich stöhn­te ich und griff nach mei­nem Leib. Ich kann das Ge­fühl nicht be­schrei­ben, das ich hat­te. Es war kein ei­gent­li­cher Schmerz. Man konn­te es mit nichts ver­glei­chen.

»Okay«, sag­te Ja­nie. »Du kannst wie­der ins Bett ge­hen.«

»Aber ich muß doch …«

»Was mußt du?«

»Nichts.« Das stimm­te. Ich muß­te nicht mehr hin­aus­ge­hen.

»Nächs­tes­mal brauchst du es mir nur zu sa­gen. Ich den­ke mir nichts da­bei.«

Ich sag­te nichts und ging zu mei­ner De­cke zu­rück.

»Ist das al­les?« frag­te Stern. Ich lag auf der Couch und sah zu der grau­en De­cke hin­auf. Er fuhr fort: »Wie alt bist du?«

»Fünf­zehn«, sag­te ich schläf­rig. Er war­te­te, bis für mich die graue De­cke wie­der in Wän­de über­ging, in einen Bo­den, einen Tep­pich und Lam­pen, einen Schreib­tisch und einen Stuhl, auf dem Stern saß. Ich setz­te mich auf und stütz­te mei­nen Kopf einen Au­gen­blick in die Hän­de. Dann sah ich Stern an. Er spiel­te mit sei­ner Pfei­fe und er­wi­der­te mei­nen Blick. »Was ha­ben Sie mit mir ge­macht?«

»Ich sag­te es dir vor­her. Ich ma­che nichts. Du selbst tust es.«

»Sie ha­ben mich hyp­no­ti­siert.«

»Nein.« Sei­ne Stim­me war ru­hig, aber ich wuß­te, daß er nicht log.

»Was soll­te das al­les dann? Ich war … Es kam mir vor, als er­leb­te ich das Gan­ze noch ein­mal mit.«

»Fühlst du et­was?«

»Al­les.« Ich schau­der­te. »Je­de ver­damm­te Ein­zel­heit. Was war es?«

»Je­der, der es fer­tig­bringt, fühlt sich hin­ter­her bes­ser. Du kannst die Sa­che jetzt im­mer wie­der durch­ge­hen, und je­des­mal wird es we­ni­ger schmer­zen. Du wirst se­hen.«

Es war zum ers­ten­mal seit Jah­ren, daß mich et­was er­staun­te. Ich dreh­te sei­ne Wor­te hin und her und frag­te ihn dann: »Wenn ich es selbst ge­tan ha­be, wie konn­te es dann kom­men, daß ich es vor­her noch nie er­lebt ha­be?«

»Man braucht je­mand, der ei­nem zu­hört.«

»Zu­hö­ren? Ha­be ich denn ge­spro­chen?«

»Wie ein Was­ser­fall.«

»Über al­les, was ge­sche­hen ist?«

»Wie kann ich das wis­sen? Ich war nicht da­bei. Du hast die Din­ge er­lebt.«

»Sie glau­ben nicht, daß es wahr ist, nicht wahr? Die­se Kin­der, die ver­schwin­den kön­nen, und der tan­zen­de Hocker und all das an­de­re?«

Er zuck­te mit den Schul­tern. »Es ist nicht mei­ne Auf­ga­be, zu glau­ben oder nicht zu glau­ben. Ist es dir als Wirk­lich­keit vor­ge­kom­men?«

»Ja, zum Teu­fel.«

»Nun, das ist das ein­zi­ge, das zählt. Lebst du noch mit die­sen Leu­ten zu­sam­men?«

Ich biß einen Fin­ger­na­gel ab, der mich schon die gan­ze Zeit ge­är­gert hat­te. »Nein, schon lan­ge nicht mehr. Seit Ba­by drei war.« Ich sah ihn an. »Sie ha­ben Ähn­lich­keit mit Lo­ne.«

»Wes­halb?«

»Ich weiß nicht.« Doch plötz­lich füg­te ich hin­zu: »Nein, ich ha­be mich ge­täuscht. Wie konn­te ich nur auf so et­was kom­men?« Mit ei­ner schnel­len Be­we­gung leg­te ich mich wie­der hin.

Die De­cke war grau und die Lam­pe ge­dämpft. Ich hör­te, wie er an sei­ner Pfei­fe her­um­kau­te. Ich lag lan­ge so da.

»Nichts ge­schieht«, sag­te ich plötz­lich.

»Was soll denn ge­sche­hen?«

»Das glei­che wie vor­her.«

»Es muß et­was in dir sein, das ins Freie drängt. Laß es ru­hig kom­men.«

Es war, als be­fän­de sich in mei­nem Kopf ei­ne ro­tie­ren­de Spu­le, auf der die Or­te und Din­ge und Men­schen fo­to­gra­fiert wa­ren, die ich fest­zu­hal­ten ver­such­te. Aber sie dreh­te sich sehr schnell, so schnell, daß ich ein Bild vom an­de­ren nicht un­ter­schei­den konn­te. Ich brach­te sie zum An­hal­ten, und sie hielt bei ei­ner Lücke. Ich dreh­te sie wie­der wei­ter und hielt sie wie­der an.

»Nichts ge­schieht«, wie­der­hol­te ich.

»Ba­by ist drei«, er­in­ner­te er mich.

»Oh«, sag­te ich. »Das.« Ich schloß die Au­gen.

Das könn­te es sein. Sein, Schein. Ein Schein in der Nacht. Ba­by lacht. Ba­by lacht in der Nacht, wenn nie­mand wacht …

 

Es gab vie­le Näch­te, in de­nen ich auf je­ner De­cke lag, und vie­le Näch­te, in de­nen ich es nicht tat. Ir­gend et­was rühr­te sich im­mer in Lo­nes Haus. Manch­mal schlief ich un­ter Tags. Au­gen­bli­cke, in de­nen al­le zu­sam­men schlie­fen, gab es ei­gent­lich nur, wenn je­mand von uns krank war – so wie ich da­mals am Ta­ge mei­ner An­kunft. Im Zim­mer herrsch­te im­mer ei­ne Art Dun­kel, so­wohl bei Tag als auch bei Nacht. Im­mer brann­te das Feu­er, und im­mer bau­mel­ten die bei­den gel­ben Bir­nen von ih­ren Dräh­ten. Als sie zu schwach wur­den, re­pa­rier­te Ja­nie die Bat­te­rie, und sie brann­ten wie­der hel­ler.

Ja­nie tat al­les, was ge­tan wer­den muß­te und was sonst nie­mand tun moch­te. Auch die an­de­ren hat­ten ih­re Ar­bei­ten. Lo­ne war viel im Frei­en. Manch­mal hal­fen ihm die Zwil­lin­ge, aber sie blie­ben nie lan­ge fort. Schwupp! wa­ren sie drau­ßen – und schwupp! wie­der im Haus. Nur Ba­by lag ein­fach in sei­ner Wie­ge.

Ich selbst hat­te auch zu tun. Ich zer­klei­ner­te Holz, bau­te neue Re­ga­le, und manch­mal ging ich mit Ja­nie und den Zwil­lin­gen schwim­men. Und ich un­ter­hielt mich mit Lo­ne. Ich tat nichts, was die an­de­ren nicht auch hät­ten tun kön­nen, aber sie selbst konn­ten lau­ter Din­ge, von de­nen ich kei­ne Ah­nung hat­te. Ich war die gan­ze Zeit wü­tend dar­über. Aber ich hät­te nicht ge­wußt, was ich mit mir an­fan­gen soll­te, wenn ich nicht im­mer über die­ses oder je­nes wü­tend ge­we­sen wä­re. Das hielt uns nicht da­von ab, zu har­mo­nie­ren. Ja, so sag­te Ja­nie im­mer. Har­mo­nie­ren. Ba­by hat­te ihr das Wort ver­ra­ten. Sie sag­te, es be­deu­te­te, daß wir al­le ein Gan­zes dar­stell­ten, wenn auch je­der von uns et­was an­de­res tat. Zwei Ar­me, zwei Bei­ne, ein Kör­per, ein Kopf – al­le ar­bei­ten zu­sam­men, ob­wohl ein Kopf nicht ge­hen und Ar­me nicht den­ken kön­nen.

Ba­by sprach die gan­ze Zeit. Es war wie ein Sen­der, der ein vier­und­zwan­zig­stün­di­ges Pro­gramm hat. Man kann das Pro­gramm mit­hö­ren, wenn man ein­schal­tet, aber es läuft auch ab, wenn man nicht ein­schal­tet. Wenn ich sa­ge, daß Ba­by sprach, ha­be ich mich viel­leicht un­klar aus­ge­drückt. Es gab meis­tens Zei­chen. Man hät­te glau­ben kön­nen, daß die­se Arm- und Bein­be­we­gun­gen, die­se un­be­stimm­ten Ges­ten, be­deu­tungs­los wa­ren. Aber das stimm­te nicht. Es wa­ren Zei­chen. Gan­ze Ge­dan­ken konn­te so ei­ne Hand­be­we­gung aus­drücken.

Man braucht sich nur vor­zu­stel­len, daß es die lin­ke Hand auf­spreiz­te, die rech­te hoch­warf und schüt­tel­te und mit der lin­ken Fer­se kräf­tig ge­gen die Wie­ge stieß. Das konn­te dann be­deu­ten: »Je­der, der glaubt, daß ein Star kein schö­ner Vo­gel ist, hat kei­ne Ah­nung, was in so ei­nem Star ei­gent­lich vor­geht.« Oder sonst et­was von der Art.

Lo­ne konn­te das Zeug nicht deu­ten und ich auch nicht. Die Zwil­lin­ge konn­ten es, aber es war ih­nen egal. Nur Ja­nie be­ob­ach­te­te den Klei­nen dau­ernd. Er wuß­te im­mer, was man fra­gen woll­te, auch wenn man noch gar nicht ge­fragt hat­te, und er sag­te es Ja­nie, und sie gab dann die Ant­wort. Nie­mand konn­te al­les ver­ste­hen, auch nicht Ja­nie. Lo­ne er­klär­te mir ein­mal, daß al­le Ba­bys die Zei­chen­spra­che be­herr­schen. Aber weil nie­mand sie ver­steht, hö­ren sie auf, sie zu be­nüt­zen, und ver­ges­sen sie bald. Sie ver­ges­sen sie fast. Et­was bleibt im­mer üb­rig. Des­halb gibt es in der gan­zen Welt Ges­ten, die gleich sind und uns zum La­chen brin­gen, und an­de­re, die uns wild ma­chen. Aber wie bei al­lem, was Lo­ne sag­te, wuß­te ich nicht so recht, ob er es ernst mein­te oder nicht.

Ich weiß nur, daß Ja­nie da­zu­sit­zen pfleg­te und ih­re Bil­der mal­te und da­bei Ba­by an­sah. Manch­mal lach­te sie hellauf, und manch­mal hol­te sie die Zwil­lin­ge, da­mit sie auch hin­sa­hen. Die lach­ten dann auch, oder sie war­te­ten, bis Ba­by mit sei­nen Zei­chen fer­tig war, und kro­chen dann in ei­ne Ecke, wo sie lei­se mit­ein­an­der flüs­ter­ten. Ba­by wuchs nie. Ja­nie und die Zwil­lin­ge wur­den grö­ßer, ich auch. Aber Ba­by nicht. Es lag ein­fach in sei­ner Wie­ge.

Ja­nie füt­ter­te und säu­ber­te es al­le zwei bis drei Ta­ge. Es wein­te nicht und mach­te kei­ne Schwie­rig­kei­ten. Kei­ner ging in sei­ne Nä­he.

 

Ja­nie zeig­te je­des Bild, das sie ge­malt hat­te, dem Klei­nen, be­vor sie die Lein­wand säu­ber­te und ein neu­es mal­te. Sie muß­te die Lein­wand säu­bern, weil sie nur drei Stück da­von hat­te. Das war ganz gut so, denn ich stel­le mir nur un­gern vor, wie die Woh­nung aus­ge­se­hen hät­te, wenn sie die Bil­der al­le auf­be­wahrt hät­te. Sie mal­te näm­lich vier bis fünf pro Tag.

Lo­ne und die Zwil­lin­ge wa­ren dau­ernd auf dem Sprung, um für Ja­nie neu­es Ter­pen­tin zu be­sor­gen. Sie konn­te die Far­ben ih­rer Bil­der mü­he­los wie­der in die klei­nen Töp­fe be­för­dern, in­dem sie je­de ein­zel­ne Far­be scharf an­sah. Aber mit dem Ter­pen­tin war das ei­ne an­de­re Sa­che. Sie sag­te, daß Ba­by sich all ih­re Bil­der merk­te und daß sie sie des­halb nicht auf­zu­he­ben brauch­te. Es wa­ren al­les Bil­der von Ma­schi­nen und Kraft­über­tra­gungs­ele­men­ten und me­cha­ni­schen Ver­bin­dun­gen und Din­gen, die wie elek­tri­sche Strom­krei­se aus­sa­hen. Ich hielt nie all­zu­viel von ih­nen.

Ein­mal ging ich mit Lo­ne, um et­was Ter­pen­tin und ein paar Früh­stücks­schin­ken zu be­sor­gen. Wir wan­der­ten durch die Wäl­der zu dem Schie­nen­strang und dann noch ein paar Mei­len wei­ter, bis wir die Lich­ter ei­ner Stadt se­hen konn­ten. Dann wie­der durch Wald und ei­ni­ge Al­leen, bis wir in ein Hin­ter­gäß­chen ka­men.

Lo­ne war wie im­mer. Er ging da­hin und dach­te.

Wir ka­men zu ei­ner Ei­sen­wa­ren­hand­lung, und er ging die Stu­fen hin­auf. Er sah das Schloß an der Tür an und schüt­tel­te den Kopf. Dann kam er wie­der zu mir zu­rück.

Dann fan­den wir einen Ge­mischt­wa­ren­la­den. Lo­ne brumm­te, und wir stell­ten uns in den Schat­ten ne­ben der Tür. Ich sah hin­ein.

Plötz­lich war Be­a­nie im La­den, nackt wie im­mer, wenn sie sol­che Rei­sen mach­te. Sie kam und öff­ne­te uns die Tür von in­nen. Wir gin­gen hin­ein, und Lo­ne ver­sperr­te die Tür hin­ter uns.

»Mach, daß du heim­kommst, Be­a­nie«, sag­te er. »Du holst dir hier noch den Tod.«

Sie grins­te mich an, sag­te »Ho­ho!« und ver­schwand.

Wir ent­deck­ten ein paar herr­li­che Früh­stücks­schin­ken und einen Zehn­li­ter­ka­nis­ter mit Ter­pen­tin. Ich nahm mir einen leuch­tend­gel­ben Ku­gel­schrei­ber, aber Lo­ne schimpf­te, und ich muß­te ihn wie­der zu­rück­le­gen.

»Wir neh­men nur das, was wir brau­chen«, er­klär­te er.

Als wir hin­aus­gin­gen, er­schi­en Be­a­nie wie­der und ver­schloß die Tür. Ich ging nur ein paar­mal mit Lo­ne – im­mer dann, wenn er mehr mit­brin­gen muß­te, als er al­lein tra­gen konn­te.

Ich war un­ge­fähr drei Jah­re dort. Das ist al­les, wor­an ich mich er­in­nern kann. Lo­ne war da, oder er war im Frei­en drau­ßen. Aber man merk­te den Un­ter­schied kaum. Die Zwil­lin­ge hin­gen wie die Klet­ten an­ein­an­der. Ja­nie moch­te ich sehr gern, aber wir spra­chen nur we­nig mit­ein­an­der. Ba­by sprach die gan­ze Zeit, wenn ich es auch nicht ver­ste­hen konn­te.

Wir hat­ten al­le un­se­re Be­schäf­ti­gung, und wir har­mo­nier­ten.

 

Ich rich­te­te mich plötz­lich auf und stütz­te die Ar­me auf die Couch.

»Was ist los?« frag­te Stern.

»Nichts ist los. Aber das al­les bringt mich nicht wei­ter.«

»Das sag­test du schon ganz zu An­fang. Glaubst du, daß du in der Zwi­schen­zeit nicht wei­ter­ge­kom­men bist?«

»O doch, aber …«

»Wie willst du al­so wis­sen, ob es nicht die­ses Mal das glei­che ist?«

Als ich nichts er­wi­der­te, frag­te er: »Hat dir die letz­te Er­in­ne­rung nicht ge­fal­len?«

»Es geht nicht dar­um, ob mir et­was ge­fällt oder nicht«, sag­te ich wü­tend. »Es hat ein­fach nichts be­deu­tet. Ge­schwätz.«

»Was für ein Un­ter­schied be­stand denn zwi­schen der letz­ten und der jet­zi­gen Sit­zung?«

»Ach du lie­be Gü­te! Beim ers­ten­mal fühl­te ich al­les. Ich er­leb­te es rich­tig mit. Aber die­ses Mal – nichts.«

»Und warum wohl?«

»Ich weiß es nicht. Sie sol­len es mir sa­gen.«

»An­ge­nom­men«, sag­te er nach­denk­lich, »daß es in die­sem Zeit­ab­schnitt ei­ne Epi­so­de gab, die so un­an­ge­nehm war, daß du sie nicht noch ein­mal er­le­ben woll­test?«

»Un­an­ge­nehm? Hal­ten Sie es viel­leicht für an­ge­nehm, zu er­frie­ren?«

»Es gibt ver­schie­de­ne Ar­ten von un­an­ge­nehm. Manch­mal ist das, wo­nach man sucht – die Klei­nig­keit, die al­le Schwie­rig­kei­ten lö­sen wür­de –, so ab­sto­ßend, daß der Pa­ti­ent nicht wagt, es zu be­rüh­ren. Oder daß er es zu ver­ber­gen sucht. War­te mal«, un­ter­brach er sich plötz­lich, »›un­an­ge­nehm‹ und ›ab­sto­ßend‹ ist viel­leicht nicht der rich­ti­ge Aus­druck. Es könn­te durch­aus et­was sein, das dir sehr er­stre­bens­wert vor­kommt. Nur willst du nicht, daß die Sa­che ge­ra­de­ge­bo­gen wird.«

»Ich will aber, daß al­les ge­ra­de­ge­bo­gen wird.«

Er war­te­te, als müß­te er zu­erst sei­ne Ge­dan­ken ord­nen, und sag­te dann: »Ir­gend et­was in dem Satz ›Ba­by ist drei‹ läßt dich zu­rück­schre­cken. Warum ei­gent­lich?«

»Ich will ver­dammt sein, wenn ich es weiß.«

»Wer sag­te es?«

»Ich weiß es nicht – äh …«

Er grins­te. »Äh?«

Ich grins­te zu­rück. »Ich sag­te es.«

»Okay. Wann?«

Ich grins­te nicht mehr. Er beug­te sich vor und stand dann auf.

»Was ist los?« frag­te ich.

»Ich wuß­te nicht, daß sich je­mand so in sei­ne Wut ver­bei­ßen könn­te.«

Ich sag­te nichts. Er ging zu sei­nem Schreib­tisch hin­über.

»Du willst al­so nicht mehr wei­ter­ma­chen, nicht wahr?«

»Nein.«

»An­ge­nom­men, ich sa­ge dir auf den Kopf zu, daß du auf­hörst, weil du ganz na­he dar­an bist, das her­aus­zu­fin­den, was du wis­sen willst?«

»Und warum sa­gen Sie es nicht und war­ten auf mei­ne Re­ak­ti­on?«

Er schüt­tel­te nur den Kopf. »Ich ha­be dir nichts zu sa­gen. Nur zu, geh, wenn du willst. Ich ge­be dir den Rest dei­nes Gel­des zu­rück.«

»Wie vie­le Leu­te hö­ren ei­gent­lich auf, wenn sie kurz vor der Ant­wort ste­hen?«

»Nicht sehr vie­le.«

»Gut, ich auch nicht.« Ich leg­te mich wie­der auf die Couch.

Er lach­te nicht, und er sag­te auch nicht: »Gut.« Er mach­te über­haupt kein Auf­he­bens da­von. Er nahm le­dig­lich sei­nen Te­le­fon­hö­rer ab und sag­te: »Sa­gen Sie für die­sen Nach­mit­tag al­le an­de­ren Ver­ab­re­dun­gen ab.«

Dann rutsch­te er sei­nen Stuhl so von mir weg, daß ich ihn nicht se­hen konn­te.

 

Es war sehr ru­hig in sei­nem Raum. Er hat­te ihn mit schall­dich­ten Wän­den ver­klei­den las­sen.

Ich sag­te: »Warum, glau­ben Sie, hat Lo­ne mich so lan­ge da drau­ßen woh­nen las­sen, wenn ich nichts von all den Din­gen ver­stand, die die an­de­ren Kin­der fer­tig­brach­ten?«

»Viel­leicht hat­test du doch dei­ne Fä­hig­kei­ten.«

»O nein«, sag­te ich be­stimmt. »Ich ha­be es im­mer wie­der ver­sucht. Ich war stark für einen Jun­gen mei­nes Al­ters, und ich wuß­te, daß es im­mer bes­ser ist, den Mund zu hal­ten, aber da­von ab­ge­se­hen, un­ter­schied ich mich nicht von an­de­ren Kin­dern. Ich glau­be auch nicht, daß ich jetzt an­ders als nor­ma­le Fünf­zehn­jäh­ri­ge bin – nur daß sie nicht mit Lo­ne und den an­de­ren zu­sam­men ge­lebt ha­ben.«

»Hat das et­was mit ›Ba­by ist drei‹ zu tun?«

Ich sah zu der grau­en De­cke auf. »Ba­by ist drei. Ba­by ist drei. Ich ging zu ei­nem großen Haus mit ei­nem ge­wun­de­nen Pfad, der un­ter ei­ner Art Per­go­la ver­lief. Ba­by ist drei. Ba­by ist …«

»Wie alt bist du?«

»Drei­und­drei­ßig.«

Ich sag­te es, und im nächs­ten Au­gen­blick schoß ich von der Couch hoch wie von der Ta­ran­tel ge­sto­chen. Ich lief auf die Tür zu.

»Sei kein Narr«, sag­te Stern. »Willst du, daß ich dei­net­we­gen den gan­zen Nach­mit­tag ver­lie­re?«

»Das ist mir egal. Ich zah­le da­für.«

»Schon gut, es liegt ganz bei dir.«

Ich ging zu­rück. »Die­ser Teil der Ge­schich­te liegt mir über­haupt nicht.«

»Gut. Dann kom­men wir der Sa­che schon nä­her.«

»Wes­halb ha­be ich ›drei­und­drei­ßig‹ ge­sagt? Ich bin fünf­zehn. Und noch ei­nes …«

»Ja?«

»Die­ses ›Ba­by ist drei‹ – schön, ich ha­be es ge­sagt. Aber wenn ich dar­über nach­den­ke, so ist es nicht mei­ne Stim­me, die es sagt.«

»So wie drei­und­drei­ßig nicht dein Al­ter ist?«

»Ja«, flüs­ter­te ich.

»Ger­ry«, sag­te er warm, »du brauchst dich vor nichts zu fürch­ten.«

 

Ich merk­te, daß ich zu auf­ge­regt at­me­te. Ich ver­such­te mich zur Ru­he zu zwin­gen. »Es ge­fällt mir nicht, daß ich mich an Din­ge er­in­ne­re, die ei­ne frem­de Stim­me mir zu­flüs­tert«, sag­te ich.

»Sieh mal«, sag­te er mir, »die­se Ge­hirn­wä­sche­rei, wie du es vor ei­ner Wei­le nann­test, ist nicht so, wie sie sich die meis­ten Leu­te vor­stel­len. Wenn ich dich in dei­ne Geis­tes­welt be­glei­te – oder wenn du al­lein hin­ein­gehst –, wirst du ei­ne Welt fin­den, die sich von der Wirk­lich­keit nicht all­zu­sehr un­ter­schei­det. An­fangs wird es zwar so schei­nen, weil der Pa­ti­ent sich noch nicht von all sei­nen Phan­tas­te­rei­en, den Ir­ra­tio­na­li­tä­ten und au­ßer­ge­wöhn­li­chen Er­leb­nis­sen ge­trennt hat. Aber je­der lebt in die­ser Art von Welt. Als ei­ner un­se­rer großen Geis­ter den Satz präg­te: ›Die Wahr­heit ist un­wirk­li­cher als die Dich­tung‹, sprach er über die­ses Phä­no­men.

Wo­hin wir ge­hen, was wir tun – wir sind von Sym­bo­len um­ge­ben, von Din­gen, die wir gar nicht an­se­hen oder die uns gar nicht auf­fal­len wür­den, wenn wir hin­sä­hen. Wenn je­mand es fer­tig­bräch­te, dir ge­nau zu er­zäh­len, was er tat und er­leb­te, als er zehn Schritt die Stra­ße hin­un­ter­ging, wür­dest du so einen ver­wir­ren­den, ver­zerr­ten und un­voll­stän­di­gen Ein­druck er­hal­ten wie noch nie in dei­nem Le­ben. Kei­ner sieht sei­ne Um­ge­bung mit Auf­merk­sam­keit an, bis er an einen Platz wie die­sen ge­rät. Es macht kei­nen Un­ter­schied, ob man da­bei ver­gan­ge­ne Er­eig­nis­se be­trach­tet. Wich­tig ist le­dig­lich, daß man kla­rer als je zu­vor sieht, weil man sich be­müht, zu se­hen.

Nun zu­rück zu die­sem ›Drei­und­drei­ßig‹. Ich glau­be, es ist ei­ner der häß­lichs­ten Schocks, die man er­lebt, wenn man merkt, daß man sich an die Er­leb­nis­se an­de­rer er­in­nern kann. Das Ego ist zu wich­tig, um das durch­ge­hen zu las­sen. Aber be­den­ke das ei­ne: Dein gan­zes Den­ken spielt sich nach ei­nem Kode ab, und du kannst nur et­wa ein Zehn­tel da­von ent­schlüs­seln. Nun kommt dir ein Stück Kode in den Weg, das für dei­ne Ge­füh­le ab­sto­ßend wirkt. Siehst du nicht, daß es nur einen Weg gibt, ihn zu ent­schlüs­seln? Du darfst ihm nicht aus­wei­chen.«

»Sie wol­len sa­gen, daß ich an­ge­fan­gen ha­be, mich – mit dem Ver­stand ei­nes an­de­ren zu er­in­nern?«

»Dir er­schi­en es we­nigs­tens ei­ne Wei­le so, und das muß et­was be­deu­ten. Ver­su­chen wir, es her­aus­zu­fin­den.«

»Gut.« Mir war übel, und ich fühl­te mich er­schöpft. Und plötz­lich er­kann­te ich, daß die Übel­keit und die Er­schöp­fung ei­ne Re­ak­ti­on mei­nes Kör­pers wa­ren, die mei­nem Ver­stand hel­fen woll­ten, die­se un­an­ge­neh­me Sa­che zu um­ge­hen.

»Ba­by ist drei«, sag­te er.

Ba­by ist drei, ich bin drei­und­drei­ßig. Ich, du, Kew …

»Kew!« schrie ich auf. Stern sag­te nichts. »Se­hen Sie«, er­klär­te ich, »ich weiß nicht, wie ich dar­auf kom­me, aber ir­gend­wie bin ich si­cher, daß wir auf die­sem Weg nicht wei­ter­kom­men. Macht es Ih­nen et­was aus, wenn ich es an­ders ver­su­che?«

»Du bist der Dok­tor«, sag­te er nur.

Ich muß­te la­chen. Dann schloß ich die Au­gen.

 

Dort hin­ter den He­cken und fel­si­gen Ecken ver­ste­cken sich Tü­ren und Fens­ter. Der Ra­sen ist sau­ber und grün, al­le Blu­men blü­hen.

Es war, als wag­ten sie es nicht, ih­re Blü­ten­blät­ter ab­zu­wer­fen, aus Angst, die Ord­nung zu stö­ren. Ich ging die Auf­fahrt­sal­lee hin­auf. Ich hat­te Schu­he an, und sie be­eng­ten mei­ne Fü­ße. Ich woll­te nicht zu dem Haus ge­hen, aber ich muß­te.

Ich ging die Stu­fen zwi­schen den großen wei­ßen Säu­len hin­auf und sah die Tür an. Ich woll­te, ich hät­te durch sie hin­durch­se­hen kön­nen, aber sie war so dick und weiß. Über der Tür be­fand sich ein fä­cher­för­mi­ges Fens­ter, aber es war zu hoch oben. Ne­ben der Tür wa­ren auch zwei Fens­ter, doch sie setz­ten sich aus far­bi­gem Glas zu­sam­men. Ich schlug mit der Hand ge­gen die Tür und mach­te sie da­bei schmut­zig.

Nichts rühr­te sich, so schlug ich noch ein­mal da­ge­gen. Sie wur­de auf­ge­ris­sen, und ei­ne ha­ge­re Schwar­ze stand im Ein­gang. »Was willst du?«

Ich sag­te ihr, daß ich Miß Kew spre­chen müs­se.

»So et­was wie dich will Miß Kew gar nicht se­hen«, sag­te sie. Sie sprach zu laut. »Dein Ge­sicht ist schmut­zig.«

Ich be­gann wü­tend zu wer­den. Es hat­te mir schon gar nicht ge­paßt, daß ich hier­her­kom­men muß­te, wo man im hel­len Ta­ges­licht an frem­den Leu­ten vor­bei­ging. So sag­te ich: »Mein Ge­sicht geht Sie über­haupt nichts an. Wo ist Miß Kew? Los, ho­len Sie sie.«

Sie keuch­te. »Hör mal, so kannst du doch nicht mit mir spre­chen!«

»Ich will über­haupt nicht mit Ih­nen spre­chen, we­der so noch so«, er­klär­te ich. »Las­sen Sie mich hin­ein.«

Ich wünsch­te mir, Ja­nie wä­re hier. Ja­nie hät­te sie vom Ein­gang weg­ge­bracht. Aber so muß­te ich al­lein mit ihr fer­tig wer­den. Ich war zu lang­sam. Noch be­vor ich über­haupt ein Schimpf­wort her­vor­ge­bracht hat­te, knall­te sie mir die Tür vor der Na­se zu.

So trom­mel­te ich mit dem Fuß ge­gen die Tür. Für die­sen Zweck eig­nen sich Schu­he fa­bel­haft. Nach ei­ner Wei­le riß sie die Tür so plötz­lich auf, daß ich bei­na­he das Gleich­ge­wicht ver­lor. Sie hat­te einen Be­sen in der Hand. »Schau, daß du von hier fort­kommst, du Schmutz­fink, sonst ho­le ich die Po­li­zei«, kreisch­te sie.

Sie gab mir einen Stoß, und ich fiel hin.

Ich stand wie­der auf und lief ihr nach. Sie trat einen Schritt zu­rück und ver­setz­te mir einen Schlag mit dem Be­sen, als ich in ih­rer Nä­he war, aber auf al­le Fäl­le war ich jetzt we­nigs­tens drin­nen. Die Frau stieß klei­ne, schril­le Lau­te aus und mach­te sich an die Ver­fol­gung. Ich nahm ihr den Be­sen weg, und dann schrie je­mand: »Mi­riam!«

Ich wur­de ganz steif, wäh­rend die Schwar­ze ei­ner Hys­te­rie na­he war. »Oh, Miß Kew, sei­en Sie vor­sich­tig! Er wird uns al­le um­brin­gen. Ho­len Sie die Po­li­zei …!«

»Mi­riam!« keif­te die an­de­re Frau wie­der, und Mi­riam be­ru­hig­te sich. Am Trep­pen­kopf stand die­se Frau mit dem Back­pflau­men­ge­sicht und dem spit­zen­be­setz­ten Kleid. Sie sah sehr viel äl­ter aus, als sie war, ver­mut­lich, weil sie den Mund so fest zu­sam­men­preß­te. Ich glau­be, sie war et­wa drei­und­drei­ßig – drei­und­drei­ßig! Sie hat­te tücki­sche Au­gen und ei­ne klei­ne Na­se.

»Sind Sie Miß Kew?« frag­te ich sie.

»Ja. Was soll denn die­ses Ein­drin­gen in mein Haus?«

»Ich muß mit Ih­nen re­den, Miß Kew.«

»Sag ›spre­chen‹ und nicht ›re­den‹. Hal­te dich ge­ra­de und laß das Mur­meln.«

»Ich ho­le die Po­li­zei«, sag­te das Dienst­mäd­chen.

Miß Kew wand­te sich ihr zu. »Das hat noch Zeit, Mi­riam. Nun, du klei­ner Schmutz­fink, was willst du von mir?«

»Ich muß mit Ih­nen al­lein re­den«, er­klär­te ich ihr.

»Las­sen Sie das nicht zu, Miß Kew«, jam­mer­te das Mäd­chen.

»Sei still, Mi­riam. Klei­ner Jun­ge, ich sag­te dir doch, du sollst nicht ›re­den‹ sa­gen. Sprich ru­hig vor Mi­riam. Sie darf al­les hö­ren.«

»Blö­des Zeug.« Bei­den blieb der Mund of­fen­ste­hen. »Lo­ne hat es mir ver­bo­ten.«

»Miß Kew, wol­len Sie wirk­lich …«

»Sei still, Mi­riam. Jun­ger Mann, du wirst dich an­stän­dig …« Doch dann quol­len ihr die Au­gen her­vor. »Wer, sag­test du …?«

»Lo­ne. Er hat es mir ver­bo­ten.«

»Lo­ne.« Sie stand an der Trep­pe und sah ih­re Hän­de an. Dann sag­te sie: »Mi­riam, ich brau­che dich nicht mehr.« Und man hät­te nicht glau­ben wol­len, daß das die glei­che Frau wie vor­hin war.

Das Mäd­chen woll­te wi­der­spre­chen, aber Miß Kew deu­te­te mit dem Zei­ge­fin­ger hin­aus, und ihr Fin­ger war so spitz und scharf, daß er an einen Ge­wehr­lauf er­in­ner­te. Das Mäd­chen ver­schwand schleu­nigst.

»He«, rief ich ihr nach. »Hier ist Ihr Be­sen.« Ich woll­te ihn ihr nach­wer­fen, aber Miß Kew nahm ihn mir ab.

»Hier her­ein«, sag­te sie.

 

Sie ließ mich vor sich her in ein Zim­mer ge­hen, das so groß wie der Wei­her war, in dem wir im­mer schwam­men. Über­all sah man Bü­cher, und die Ti­sche wa­ren mit Le­der über­zo­gen und hat­ten gol­de­ne Blüm­chen an den Ecken.

Sie deu­te­te auf einen Stuhl. »Setz dich. Nein, war­te einen Au­gen­blick.« Sie ging zum Ka­min und hol­te ei­ne Zei­tung aus ei­ner Schach­tel, die sie auf dem Stuhl aus­brei­te­te. »Jetzt setz dich.«

Ich setz­te mich auf den Stuhl, und sie schlepp­te einen zwei­ten Stuhl her­bei, aber auf den leg­te sie kein Pa­pier.

»Was ist los?« frag­te sie. »Wo ist Lo­ne?«

»Tot«, sag­te ich.

Sie hielt den Atem an und wur­de schnee­weiß. Dann starr­te sie mich an, bis ih­re Au­gen ganz wäs­se­rig wa­ren.

»Tot? Lo­ne ist tot?«

»Ja. Wir hat­ten letz­te Wo­che einen Wol­ken­bruch, und als Lo­ne am nächs­ten Abend bei dem star­ken Sturm hin­aus­ging, kam er an ei­ner al­ten Ei­che vor­bei, die vom Was­ser un­ter­spült war. Der Baum hat ihn er­schla­gen.«

»Hat ihn er­schla­gen«, flüs­ter­te sie. »O nein, das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!«

»Und ob es wahr ist. Wir ha­ben ihn heu­te mor­gen ein­ge­gra­ben. Wir konn­ten ihn nicht mehr län­ger so las­sen. Er be­gann zu …«

»Sei still!« Sie be­deck­te ihr Ge­sicht mit den Hän­den.

»Was ist denn los?«

»Es ist gleich vor­bei«, sag­te sie lei­se. Sie stand auf und stell­te sich mit dem Rücken zu mir an den Ka­min. Ich zog einen mei­ner Schu­he aus, wäh­rend ich dar­auf war­te­te, daß sie zu­rück­kam. Aber statt des­sen sprach sie vom Ka­min aus. »Bist du Lo­nes klei­ner Jun­ge?«

»Ja. Er sag­te mir, ich sol­le hier­her­kom­men.«

»Ach, mein ar­mer, klei­ner Jun­ge!« Sie lief auf mich zu, und einen Au­gen­blick lang dach­te ich, sie wol­le mich auf die Ar­me neh­men. Aber kurz vor mir blieb sie ste­hen und rümpf­te die Na­se ein we­nig.

»Wie – wie heißt du?«

»Ger­ry.«

»Nun, Ger­ry, wie wür­de es dir ge­fal­len, in die­sem hüb­schen großen Haus zu woh­nen und – und sau­be­re Klei­der und al­les an­de­re zu be­kom­men?«

»Ja, so stel­le ich mir das Gan­ze auch vor. Lo­ne sag­te mir, ich sol­le zu Ih­nen kom­men. Er sag­te, Sie hät­ten so viel Zas­ter, daß Sie nicht wüß­ten, wo­hin da­mit. Und au­ßer­dem schul­de­ten Sie ihm einen Ge­fal­len.«

»Ich ihm?« Das schi­en sie zu ver­wun­dern.

»Ja.« Ich ver­such­te es ihr nä­her zu er­klä­ren. »Er sag­te, er hät­te ein­mal et­was für Sie ge­tan, und Sie hät­ten ver­spro­chen, es ihm zu­rück­zu­zah­len, wenn Sie könn­ten. So war es.«

»Was hat er dir dar­über er­zählt?« Ih­re Stim­me kreisch­te wie­der.

»Nicht ’ne ver­damm­te Sil­be.«

»Bit­te, sag die­ses Wort nie wie­der«, bat sie mit ge­schlos­se­nen Au­gen. Dann öff­ne­te sie sie wie­der und nick­te ent­schlos­sen. »Ich ha­be es ver­spro­chen, und ich wer­de es hal­ten. Du kannst von jetzt an hier­blei­ben. Wenn – wenn du willst.«

»Mit mir hat das nichts zu tun. Lo­ne hat es mir be­foh­len.«

»Du wirst dich hier wohl­füh­len«, sag­te sie. Sie mus­ter­te mich von oben bis un­ten. »Da­für wer­de ich sor­gen.«

»Okay. Soll ich jetzt die an­de­ren ho­len?«

»Die an­de­ren – auch Kin­der?«

»Ja. Das gilt nicht nur für mich. Für uns al­le – für die gan­ze Ban­de.«

Sie lehn­te sich in ih­rem Stuhl zu­rück, zog ein lä­cher­lich klei­nes Sei­den­tuch aus der Ta­sche und tupf­te sich die Lip­pen da­mit ab. Da­bei ließ sie mich nicht aus den Au­gen. »Er­zähl mir von die­sen – die­sen an­de­ren Kin­dern.«

»Al­so, da ist mal Ja­nie. Sie ist elf wie ich. Und Bon­nie und Be­a­nie sind acht. Zwil­lin­ge, müs­sen Sie wis­sen. Und Ba­by. Ba­by ist drei.«

»Ba­by ist drei«, wie­der­hol­te sie.

Ich schrie. Stern knie­te so­fort ne­ben mei­ner Couch und drück­te sei­ne Hand­flä­chen ge­gen mei­ne Wan­gen, um mei­nen Kopf ru­hig zu hal­ten, denn ich hat­te ihn hin und her ge­wor­fen.

»Gu­ter Jun­ge«, sag­te er. »Du hast es ge­fun­den. Du weißt noch nicht, was es ist, aber du weißt, wo es ist.«

»Und ob«, sag­te ich hei­ser. »Ha­ben Sie ein Glas Was­ser?«

Er goß mir et­was Was­ser aus ei­ner Ther­mos­fla­sche ein. Es war so kalt, daß es weh tat. Ich leg­te mich zu­rück und ruh­te mich aus, als hät­te ich ei­ne Klip­pe über­wun­den. »So et­was kann ich nicht noch ein­mal aus­hal­ten«, sag­te ich.

»Willst du, daß wir für heu­te auf­hö­ren?«

»Und Sie?«

»Ich kann wei­ter­ma­chen, so lan­ge du willst.«

Ich dach­te dar­über nach. »Ich wür­de gern noch wei­ter­ma­chen, aber einen di­cken Bro­cken ver­tra­ge ich jetzt nicht. We­nigs­tens nicht im Au­gen­blick.«

»Wenn du noch einen die­ser un­ge­nau­en Ver­glei­che hö­ren willst«, sag­te Stern, »bit­te: Die Psych­ia­trie ist wie ei­ne Stra­ßen­kar­te. Es gibt im­mer ver­schie­de­ne We­ge, um zu ei­nem Punkt zu ge­lan­gen.«

»Ich neh­me den Um­weg«, er­klär­te ich ihm. »Die acht­spu­ri­ge Au­to­bahn. Nicht den stei­len Pfad über die Ber­ge. Mei­ne Kupp­lung schleift. Wo muß ich ab­bie­gen?«

Er lach­te vor sich hin. Sei­ne Stim­me ge­fiel mir. »Ein­fach an der Kie­s­auf­fahrt vor­bei.«

»Da war ich schon. Da ist ei­ne Brücke ein­ge­stürzt.«

»Du kennst aber die gan­ze Stre­cke. Fang jen­seits der Brücke an.«

»Dar­an ha­be ich nicht ge­dacht. Ich glaub­te, ich müß­te die gan­ze Stre­cke Schritt für Schritt ab­ge­hen.«

»Viel­leicht, viel­leicht auch nicht. Aber wenn du den Rest der Stre­cke ge­gan­gen bist, wird es dir nicht mehr schwer­fal­len, die Brücke zu über­que­ren. Mög­li­cher­wei­se ist auf der Brücke gar kei­ne wich­ti­ge Sta­ti­on. Aber das kannst du erst wis­sen, wenn du al­les an­de­re ab­ge­sucht hast.«

»Fan­gen wir an.« Ir­gend­wie war ich nun doch ge­spannt.

»Darf ich einen Vor­schlag ma­chen?«

»Nur zu.«

»Er­zähl ein­fach«, sag­te er. »Ver­such nicht, zu weit in das ein­zu­drin­gen, was du er­lebt hast. Die ers­te Pe­ri­ode – als du acht warst – hast du stark mit­er­lebt. Die zwei­te mit den frem­den Kin­dern hast du nur er­zählt. Dann den Be­such – den hast du wie­der mit­er­lebt. Jetzt mußt du wie­der er­zäh­len.«

»Gut.«

Er war­te­te und sag­te dann ru­hig: »In der Bi­blio­thek. Du hast ihr von den an­de­ren Kin­dern er­zählt.«

 

Ich er­zähl­te ihr von ih­nen … und dann sag­te sie … und ir­gend et­was ge­sch­ah, und ich schrie auf. Sie trös­te­te mich, und ich schrie ihr Schimpf­wor­te ent­ge­gen.

Aber den­ken wir jetzt nicht dar­an. Ma­chen wir wei­ter.

In der Bi­blio­thek. Das Le­der, der Tisch, und ob ich bei Miß Kew er­rei­che, was Lo­ne von mir ver­langt hat­te.

Lo­ne hat­te fol­gen­des ge­sagt: »In den Heights lebt ei­ne Frau. Heißt Kew. Sie wird sich um euch küm­mern müs­sen. Du mußt sie da­zu brin­gen, daß sie es tut. Macht al­les, was sie sagt, aber bleibt zu­sam­men. Paß auf, daß sich kei­nes von den an­de­ren trennt, ver­stan­den? Au­ßer­dem seid brav bei Miß Kew, dann wird sie euch gut be­han­deln. Und jetzt tue, was ich dir ge­sagt ha­be.« Das wa­ren Lo­nes Wor­te. Zwi­schen je­dem Wort be­fand sich ein Bin­de­glied, stär­ker als ei­ne Stahl­tros­se, und das Gan­ze konn­te auf kei­nen Fall aus­ein­an­der­ge­ris­sen wer­den. We­nigs­tens nicht von mir.

»Wo sind dei­ne Ge­schwis­ter und das Ba­by?« frag­te Miß Kew.

»Ich ho­le sie.«

»Sind sie weit von hier?«

»Nicht so sehr.«

Sie sag­te nichts mehr, al­so stand ich auf. »Ich kom­me bald wie­der.«

»War­te«, sag­te sie. »Ich – wirk­lich, ich bin noch gar nicht zum Nach­den­ken ge­kom­men. Ich mei­ne – ich muß na­tür­lich noch al­les her­rich­ten.«

»Sie brau­chen nicht nach­zu­den­ken und nichts her­zu­rich­ten«, sag­te ich. »Sie ha­ben al­les be­reit. Bis spä­ter.«

Von der Tür her hör­te ich ih­re Stim­me, die mich im­mer lau­ter ver­folg­te, je schnel­ler ich ging.

»Jun­ger Mann, wenn du in mei­nem Haus woh­nen willst, mußt du dir noch weit bes­se­re Ma­nie­ren an­ge­wöh­nen …«

Und so ging es fort.

»Okay, okay!« schrie ich zu­rück und ging hin­aus.

Die Son­ne schi­en warm, und der Him­mel war pracht­voll, und ich hat­te Lo­nes Hüt­te bald er­reicht.

Das Feu­er war aus­ge­gan­gen, und Ba­by stank. Ja­nie hat­te ih­re Staf­fe­lei zu­sam­men­ge­klappt und saß jetzt ne­ben der Tür auf dem Bo­den. Sie ver­grub den Kopf in den Ar­men. Bon­nie und Be­a­nie sa­ßen zu­sam­men auf ei­nem Hocker, hiel­ten sich um­schlun­gen, so eng es nur ging, und sa­hen nicht auf. Sie mach­ten den Ein­druck, als ob sie frie­ren wür­den, ob­wohl es über­haupt nicht kalt war.

Ich box­te Ja­nie in den Arm, um sie aus ih­rer düs­te­ren Stim­mung auf­zu­rüt­teln. Sie hat­te graue Au­gen – viel­leicht wa­ren sie auch mehr grün –, aber jetzt schim­mer­ten sie ganz selt­sam.

»Was ist denn hier los?« frag­te ich.

»Was soll denn los sein?« frag­te sie zu­rück.

»Na, mit euch al­len.«

»Uns ist al­les egal. Sonst nichts«, er­klär­te sie.

»Na schön«, sag­te ich. »Aber wir müs­sen trotz­dem tun, was Lo­ne uns be­foh­len hat. Los, kommt.«

»Nein.« Ich sah die Zwil­lin­ge an. Sie dreh­ten mir den Rücken zu. »Sie ha­ben Hun­ger«, sag­te Ja­nie ru­hig.

»Na, und warum gibst du ih­nen nichts zu es­sen?«

Sie zuck­te nur mit den Schul­tern. Ich setz­te mich. Warum muß­te sich Lo­ne aber auch von dem Baum er­drücken las­sen?

»Wir har­mo­nie­ren nicht mehr«, sag­te Ja­nie. Es schi­en ei­ne Er­klä­rung für al­les zu sein.

»Sieh mal«, sag­te ich. »Ich muß jetzt für euch Lo­ne sein.«

Ja­nie dach­te dar­über nach, und Ba­by stieß mit den Bei­nen. Ja­nie sah den Klei­nen an. »Das kannst du nicht«, sag­te sie.

»Ich weiß, wo man Es­sen und Ter­pen­tin ho­len kann, und ich bin stark ge­nug, um die schwe­ren Sa­chen zu tra­gen«, er­klär­te ich. »Ich weiß auch, wo Lo­ne die­ses Moos hol­te, das er in die Mau­er­rit­zen stopf­te, und ich kann Holz ha­cken und Feu­er ma­chen.«

Aber ich konn­te nicht Be­a­nie und Bon­nie von weit her zi­tie­ren, da­mit sie mir Tü­ren auf­sperr­ten. Ich konn­te Ja­nie kei­ne Be­feh­le ge­ben, da­mit sie Was­ser hol­te und die Bat­te­rie in Ord­nung brach­te. Ich konn­te nicht da­für sor­gen, daß wir har­mo­nier­ten.

Wir blie­ben ei­ne gan­ze Zeit so sit­zen. Dann hör­te ich die Wie­ge quiet­schen und knar­ren. Ich sah auf. Ja­nie starr­te Ba­by an.

»Gut«, sag­te sie. »Ge­hen wir.«

»Wer sagt das?«

»Ba­by.«

»Wer ist hier der An­füh­rer?« frag­te ich wü­tend. »Ich oder Ba­by?«

»Ba­by«, sag­te Ja­nie.

Ich stand auf und ging zu ihr hin­über, weil ich ihr auf den Mund schla­gen woll­te, doch dann blieb ich ste­hen.

Wenn Ba­by so mit ih­nen re­den konn­te wie Lo­ne, dann wür­de al­les gut­ge­hen. Wenn ich aber an­fing, sie al­le her­um­zu­schub­sen, er­reich­te ich nicht das ge­rings­te da­mit. So sag­te ich nichts. Ja­nie stand auf und ging zur Tür. Die Zwil­lin­ge sa­hen ihr nach. Dann ver­schwand Be­a­nie. Bon­nie nahm Be­a­nies Klei­der mit und ging nach drau­ßen. Ich hol­te Ba­by aus der pro­vi­so­ri­schen Wie­ge und leg­te es mir auf die Schul­ter.

 

Es war bes­ser, als wir al­le drau­ßen wa­ren. Es wur­de schon spät, und die Luft war warm. Die Zwil­lin­ge tauch­ten hier und da zwi­schen den Bäu­men auf und husch­ten um­her wie Eich­hörn­chen. Ja­nie und ich gin­gen ne­ben­ein­an­der­her, wie im­mer, wenn wir spa­zie­ren­gin­gen oder zum Schwim­men woll­ten. Ba­by be­gann zu stram­peln, und Ja­nie sah ihm ei­ne Zeit­lang zu. Dann füt­ter­te sie es, und es war wie­der still.

Als wir in die Nä­he der Stadt ka­men, wä­re es mir lie­ber ge­we­sen, wenn sich al­le dicht an mich hiel­ten. Aber ich fürch­te­te mich, et­was zu sa­gen. Ba­by muß­te es an mei­ner Stel­le ge­tan ha­ben. Die Zwil­lin­ge ka­men zu uns zu­rück, und Ja­nie gab ih­nen ih­re Klei­der wie­der, und sie gin­gen ganz brav vor uns her. Ich weiß nicht, wie Ba­by das fer­tig­brach­te.

Wir ka­men un­ge­hin­dert vor­wärts. Nur in ei­ner Stra­ße in der Nä­he von Miß Kews Haus kam uns so ein blö­der Kerl ent­ge­gen. Er blieb wie an­ge­wur­zelt ste­hen und gaff­te uns an. Ja­nie er­wi­der­te sei­nen Blick und brach­te es fer­tig, daß ihm der Hut ganz tief über die Au­gen rutsch­te. Er hat­te mäch­tig Ar­beit, bis er ihn wie­der hoch­be­kam.

Was sa­gen Sie nun – als wir an das Haus ka­men, hat­te je­mand den gan­zen Schmutz von der Tür ab­ge­wa­schen, den mei­ne Fin­ger dort hin­ter­las­sen hat­ten.

»Hier wohnt noch ei­ne Frau na­mens Mi­riam«, er­klär­te ich Ja­nie. »Wenn sie einen Ton sagt, dann mußt du er­wi­dern, sie sol­le sich zum Teu­fel sche­ren.«

Die Tür ging auf, und es war Mi­riam. Sie warf uns nur einen Blick zu und wich sechs Me­ter zu­rück. Wir gin­gen al­le nach­ein­an­der hin­ein. Mi­riam be­kam wie­der Luft und kreisch­te: »Miß Kew! Miß Kew!«

»Scher dich zum Teu­fel!« sag­te Ja­nie und sah mich an. Ich wuß­te nicht, was ich tun soll­te. Zum ers­ten­mal hat­te Ja­nie et­was ge­tan, das ich ihr be­foh­len hat­te.

Miß Kew kam die Trep­pe her­un­ter. Sie trug ein an­de­res Kleid, aber es war eben­so lä­cher­lich und hat­te eben­so vie­le Spit­zen wie das ers­te. Sie mach­te den Mund auf, aber kein Ton kam her­aus, und so ließ sie ihn ein­fach of­fen und war­te­te dar­auf, ob et­was ge­sche­hen wür­de. Schließ­lich sag­te sie: »Der lie­be Hei­land ver­scho­ne uns!«

Die Zwil­lin­ge stell­ten sich ne­ben­ein­an­der auf und gaff­ten sie an. Mi­riam trat ein paar Schrit­te zu­rück, dräng­te sich an die Wand und glitt an uns vor­bei zur Tür, um sie zu schlie­ßen. Sie sag­te: »Miß Kew, wenn das die Kin­der sind, die in Zu­kunft bei uns woh­nen sol­len, dann kün­di­ge ich.«

Ja­nie sag­te: »Scher dich zum Teu­fel!«

Ge­ra­de in die­sem Au­gen­blick kau­er­te sich Bon­nie auf dem Tep­pich nie­der. Mi­riam stieß einen Schrei aus und sprang auf sie zu. Sie pack­te Bon­nie am Arm und woll­te sie hoch­rei­ßen. Bon­nie ver­schwand, und Mi­riam hielt ein arm­se­li­ges Kleid­chen in der Hand. Ihr Ge­sichts­aus­druck war ein­ma­lig. Be­a­nie grins­te von ei­nem Ohr zum an­de­ren und be­gann wie ver­rückt zu win­ken. Ich sah in die Rich­tung, in die sie wink­te, und da saß Bon­nie split­ter­nackt am Trep­pen­ge­län­der.

Miß Kew dreh­te sich um, sah sie und setz­te sich stumm auf ei­ne Trep­pen­stu­fe. Auch Mi­riam setz­te sich, als ha­be ihr je­mand eins auf den Kopf ge­ge­ben.

Be­a­nie nahm Bon­nies Kleid, ging an Miß Kew vor­bei die Trep­pen hin­auf und über­reich­te es Bon­nie. Bon­nie zog es an. Miß Kew dreh­te sich lang­sam um und sah hin­auf. Da ka­men Be­a­nie und Bon­nie brav Hand in Hand die Trep­pe her­un­ter und auf mich zu. Sie stell­ten sich wie zwei Sol­da­ten auf und starr­ten Miß Kew an.

»Was ist mit ihr los?« woll­te Ja­nie wis­sen.

»Ihr wird al­le Au­gen­bli­cke schlecht.«

»Dann ge­hen wir wie­der heim.«

»Nein«, sag­te ich.

 

Miß Kew hielt sich am Trep­pen­ge­län­der fest und zog sich müh­sam hoch. Sie lehn­te sich ei­ne Wei­le mit ge­schlos­se­nen Au­gen da­ge­gen. Doch ganz plötz­lich ver­steif­te sich ih­re Hal­tung. Sie sah um zehn Zen­ti­me­ter grö­ßer aus. Dann mar­schier­te sie auf uns zu.

»Ge­rard!« trom­pe­te­te sie.

Ich glau­be, sie woll­te ur­sprüng­lich et­was an­de­res sa­gen. Aber dann blieb sie mit ei­nem Ruck ste­hen und ziel­te mit ih­rem Fin­ger auf mich. »Was, um Him­mels wil­len, ist denn das?«

Erst ver­stand ich sie nicht rich­tig und dreh­te mich um, um zu se­hen, was sie mein­te. »Was?«

»Das! Das!«

»Oh«, mein­te ich. »Das ist Ba­by.«

Ich hol­te es von mei­nen Schul­tern her­un­ter und hielt es ihr hin, da­mit sie es nä­her an­se­hen konn­te. Sie stöhn­te ein biß­chen, aber dann kam sie noch einen Schritt nä­her und riß mir Ba­by aus den Hän­den. Sie hielt es ein we­nig von sich weg und stöhn­te wie­der. Dann nann­te sie es ein ar­mes, klei­nes Ding und lief weg und leg­te das Kind auf ein lan­ges, ban­k­ähn­li­ches Ge­bil­de, auf dem ei­ne Men­ge Kis­sen la­gen. Dar­über war ein bun­tes Glas­fens­ter. Sie beug­te sich über den Klei­nen, steck­te die Knö­chel in den Mund und biß dar­an her­um. Da­bei stöhn­te sie im­mer­zu. Schließ­lich dreh­te sie sich zu mir um.

»Wie lan­ge ist er schon so?«

Ich sah Ja­nie an, und sie sah mich an. »Er war schon im­mer so«, sag­te ich.

Sie hus­te­te und rann­te zu Mi­riam hin­über, die auf dem Bo­den lag. Sie schlug Mi­riam ein paar­mal ins Ge­sicht, bis sie die Au­gen öff­ne­te. Sie setz­te sich auf und sah uns an. Dann zuck­te sie zu­sam­men und mach­te die Au­gen wie­der zu. Miß Kew stütz­te sie, als sie auf­stand.

»Reiß dich zu­sam­men«, knirsch­te Miß Kew zwi­schen den Zäh­nen. »Hol ei­ne Schüs­sel mit heißem Was­ser und Sei­fe. Wasch­lap­pen. Hand­tü­cher. Be­eil dich.« Sie gab Mi­riam einen fes­ten Schubs. Mi­riam stol­per­te, hielt sich an der Wand fest und lief dann los.

Miß Kew ging zu­rück zu Ba­by und beug­te sich über den Klei­nen. Sie hat­te die Lip­pen zu­sam­men­ge­preßt.

»Ma­chen Sie kein Thea­ter mit ihm«, sag­te ich. »Er ist völ­lig in Ord­nung. Wir ha­ben Hun­ger.«

Sie warf mir einen Blick zu, als hät­te ich sie ge­schla­gen. »Du darfst nicht so mit mir spre­chen, ver­stan­den?«

»Se­hen Sie«, sag­te ich, »uns paßt das Gan­ze ja ge­nau­so­we­nig wie Ih­nen. Wenn Lo­ne es uns nicht be­foh­len hät­te, wä­ren wir nie­mals hier­her­ge­kom­men. Uns ge­fiel es da, wo wir wa­ren.«

»Sag nicht, ›es paßt mir nicht‹.« Miß Kew sah uns der Rei­he nach an. Dann nahm sie wie­der die­ses lä­cher­lich klei­ne Ta­schen­tuch und preß­te es ge­gen ih­ren Mund.

»Siehst du?« sag­te ich zu Ja­nie. »Dau­ernd wird ihr schlecht.«

»Ho­ho«, mach­te Bon­nie.

Miß Kew warf ihr einen lan­gen Blick zu.

»Ge­rard«, sag­te sie mit selt­sam un­ter­drück­ter Stim­me. »So­viel ich weiß, hast du ge­sagt, daß die­se Kin­der dei­ne Ge­schwis­ter sind.«

»Ja. Und?«

Sie sah mich an, als hiel­te sie mich für ziem­lich be­schränkt. »Far­bi­ge klei­ne Mäd­chen kön­nen nie­mals un­se­re Ge­schwis­ter sein, Ge­rard.«

»Un­se­re schon«, misch­te sich Ja­nie ein.

Miß Kew ging auf und ab – ziem­lich schnell. »Wir ha­ben noch ei­ne Men­ge Ar­beit vor uns«, sag­te sie zu sich selbst.

Mi­riam kam mit ei­nem rie­si­gen ova­len Be­häl­ter her­ein. Über den Arm hat­te sie Hand­tü­cher und an­de­re Din­ge ge­legt. Sie stell­te al­les auf dem ban­k­ähn­li­chen Ding ab. Miß Kew steck­te ih­re Hand ins Was­ser, dann nahm sie Ba­by auf und tauch­te es hin­ein. Ba­by be­gann zu stram­peln.

Ich trat einen Schritt vor und sag­te: »Hal­ten Sie mal einen Au­gen­blick. Nicht wei­ter­ma­chen! Was ha­ben Sie denn mit Ba­by vor?«

Ja­nie sag­te: »Sei still, Ger­ry. Er sagt, es sei gut so.«

»Gut? Er­säu­fen will sie ihn.«

»Nein. Jetzt halt den Mund.«

 

Miß Kew rieb Ba­by von oben bis un­ten mit Sei­fe ein, dreh­te es ein paar­mal her­um und schrubb­te es ab. Dann er­stick­te es fast in ei­nem rie­si­gen Hand­tuch. Mi­riam stand mit dum­mem Ge­sicht da­ne­ben, als sie ihm ei­ne Art Ge­schirr­tuch so um die Bei­ne wi­ckel­te, daß es hin­ter­her wie ei­ne Ho­se aus­sah. Als sie da­mit fer­tig war, hät­te man nicht glau­ben mö­gen, daß das ein und das­sel­be Ba­by war. Und auch Miß Kew selbst schi­en sich ver­än­dert zu ha­ben. Sie at­me­te schwer, und ihr Mund war noch stren­ger zu­sam­men­ge­knif­fen. Sie hielt Ba­by Mi­riam hin.

»Nimm das ar­me Ding«, sag­te sie. »Und leg es …«

Aber Mi­riam trat einen Schritt zu­rück. »Tut mir leid, Miß Kew, aber ich ge­he. Ich …«

Miß Kew trom­pe­te­te ihr ent­ge­gen: »Du kannst mich in die­ser Si­tua­ti­on nicht al­lein las­sen. Die­se Kin­der brau­chen Hil­fe. Siehst du das nicht selbst?«

Mi­riam sah mich und Ja­nie an. Sie zit­ter­te. »Sie sind hier nicht si­cher, Miß Kew. Die sind nicht nur schmut­zig, die sind plem-plem.«

»Wir bei­de hät­ten nicht an­ders aus­ge­se­hen, wenn man uns so ver­nach­läs­sigt hät­te. Und sag nicht ›plem­plem‹! Ge­rard?«

»Was?«

»Sag nicht … O Him­mel, wir ha­ben so viel zu tun. Ge­rard, wenn ihr hier le­ben wollt, dann müßt ihr euch noch sehr än­dern. Ihr könnt nicht un­ter die­sem Dach blei­ben und euch so be­neh­men wie bis­her. Ver­stehst du das?«

»Ja, si­cher. Lo­ne sag­te, daß wir ge­nau das tun soll­ten, was Sie sa­gen, da­mit Sie zu­frie­den sind.«

»Wirst du al­les tun, was ich sa­ge?«

»Ha­be ich das nicht ge­ra­de er­klärt?«

»Ge­rard, du mußt noch ler­nen, daß man mit mir nicht in die­sem Ton spre­chen darf. Nun, jun­ger Mann, wenn ich dich bit­ten wür­de, auch das zu be­fol­gen, was Mi­riam sagt, wür­dest du ge­hor­chen?«

»Was meinst du?« frag­te ich Ja­nie.

»Ich wer­de Ba­by fra­gen.« Ja­nie sah Ba­by an, und Ba­by warf die Ärm­chen hoch und plap­per­te et­was.

Ja­nie sag­te: »Ist schon okay.«

»Ge­rard, ich ha­be dich et­was ge­fragt«, rief Miß Kew.

»Nun kip­pen Sie nicht gleich aus den So­cken«, sag­te ich. »Ich muß mich doch erst mit den an­de­ren be­ra­ten. Ja, wenn Sie wol­len, ge­hor­chen wir auch Mi­riam.«

Miß Kew wand­te sich an Mi­riam. »Hast du das ge­hört, Mi­riam?«

Mi­riam sah Miß Kew und dann uns an und schüt­tel­te den Kopf. Dann streck­te sie ih­re Hän­de ein we­nig nach Be­a­nie und Bon­nie aus.

Die bei­den gin­gen ru­hig zu ihr hin. Je­de nahm sie bei ei­ner Hand. Sie sa­hen zu ihr auf und grins­ten. Ver­mut­lich hat­ten sie ir­gend­ei­ne klei­ne Teu­fe­lei vor, aber sie mach­ten ganz bra­ve Ge­sich­ter.

Mi­riam ver­zog den Mund und sah einen Au­gen­blick ge­ra­de­zu mensch­lich aus. Sie sag­te: »Schon gut, Miß Kew.«

Miß Kew ging zu ihr hin­über und hän­dig­te ihr Ba­by aus, und sie ging da­mit nach oben. Miß Kew schick­te uns Mi­riam nach. Wir gin­gen al­le die Trep­pen hin­auf.

Von da an ha­ben sie uns be­ar­bei­tet und nicht mehr los­ge­las­sen – drei Jah­re lang.

»Es war die Höl­le«, sag­te ich zu Stern.

»Sie konn­ten nichts an­de­res tun.«

»Ver­mut­lich nicht. Aber wir konn­ten auch nichts für un­se­re Art. Se­hen Sie, wir ta­ten ge­nau, was Lo­ne uns be­foh­len hat­te. Nichts auf der Welt konn­te uns da­von ab­hal­ten. Uns wa­ren die Hän­de ge­bun­den, und wir muß­ten al­les tun, was Miß Kew uns be­fahl. Aber sie und Mi­riam schie­nen das nie zu ver­ste­hen. Ich schät­ze, sie hat­ten das Ge­fühl, sie müß­ten al­les bis zum Äu­ßers­ten trei­ben. Da­bei hät­ten sie uns nur zu sa­gen brau­chen, was wir tun soll­ten. Wir hät­ten es ge­tan. Es hät­te doch ge­reicht, wenn sie zum Bei­spiel ge­sagt hät­te, ich dür­fe nicht in ei­nem Bett mit Ja­nie schla­fen.

Aber Miß Kew mach­te ein rich­ti­ges Thea­ter dar­aus. So wie sie sich auf­führ­te, hät­te man glau­ben kön­nen, daß wir die Kron­ju­we­len ge­stoh­len hat­ten. Oder wenn sie sag­te: ›Ihr müßt euch wie klei­ne Da­men und Gent­le­men be­neh­men!‹, so sag­te uns das über­haupt nichts. Und zwei von drei Be­feh­len, die sie uns gab, wa­ren von die­ser Art.

›Äh-äh‹, pfleg­te sie zu sa­gen, ›ach­te auf dei­ne Spra­che!‹ Das ka­pier­te ich an­fangs über­haupt nicht. Schließ­lich frag­te ich sie, was, zum Teu­fel, sie da­mit mein­te, und da sag­te sie es mir end­lich. Aber Sie ver­ste­hen, was ich da­mit sa­gen will.«

»Na­tür­lich«, er­klär­te Stern. »Wur­de es mit der Zeit nicht ein­fa­cher, sie zu ver­ste­hen?«

»Wirk­li­chen Streit hat­ten wir ei­gent­lich nur zwei­mal. Ein­mal we­gen der Zwil­lin­ge und ein­mal we­gen Ba­by. Das war wirk­lich arg.«

»Was ge­sch­ah denn?«

»Mit den Zwil­lin­gen? Nun, als wir un­ge­fähr ei­ne Wo­che dort wa­ren, merk­ten wir all­mäh­lich, daß et­was faul war. Ja­nie und ich, woll­te ich sa­gen. Wir be­ka­men Bon­nie und Be­a­nie prak­tisch nie zu se­hen. Es war, als sei das Haus in zwei Hälf­ten ge­teilt, ei­ne für Miß Kew, Ja­nie und mich und die an­de­re für Mi­riam und die Zwil­lin­ge. Schät­zungs­wei­se hät­ten wir es frü­her be­merkt, wenn nicht al­les so fremd für uns ge­we­sen wä­re. Die neu­en Klei­der und die Bet­ten und all das. Aber es war so: Wir durf­ten al­le im Ne­ben­hof spie­len, und wenn es dann zum Es­sen ging, wur­den die Zwil­lin­ge von uns ge­trennt und muß­ten mit Mi­riam es­sen, wäh­rend wir mit Miß Kew aßen. Und so frag­te Ja­nie: »Warum es­sen die Zwil­lin­ge nicht mit uns?«

»Mi­riam paßt auf sie auf, mei­ne Lie­be«, er­wi­der­te Miß Kew.

Ja­nie sah sie mit ih­ren grau­grü­nen Au­gen an. »Das weiß ich. Las­sen Sie sie hier es­sen, dann pas­se ich auf sie auf.«

Miß Kews Mund wur­de wie­der ganz streng, und sie sag­te: »Sie sind far­bi­ge klei­ne Mäd­chen, Ja­ne. Und jetzt iß dei­nen Tel­ler leer.«

Aber sie er­klär­te we­der mir noch Ja­nie, worum es ging. Ich sag­te: »Ich will, daß sie bei uns es­sen. Lo­ne sag­te, daß wir zu­sam­men­blei­ben müß­ten.«

»Aber ihr seid doch zu­sam­men«, er­wi­der­te sie. »Wir woh­nen al­le in ei­nem Haus. Wir es­sen das glei­che Es­sen. Und jetzt spre­chen wir nicht mehr über die­se Sa­che.«

Ich sah Ja­nie an, und sie sah mich an, und sie sag­te: »Und warum kön­nen wir dann nicht al­le hier es­sen?«

Miß Kew leg­te die Ga­bel weg und sah sie grim­mig an. »Das ha­be ich euch schon er­klärt, und jetzt möch­te ich nicht mehr dar­über spre­chen.«

Al­so, das hielt ich wirk­lich für un­ge­recht. Und so rief ich, so laut ich konn­te: »Bon­nie! Be­a­nie!« Schwupp! wa­ren sie in un­se­rem Zim­mer.

Und da brach die Höl­le los. Miß Kew be­fahl ih­nen, hin­aus­zu­ge­hen, und sie woll­ten nicht, und Mi­riam kam mit ih­ren Klei­dern an­ge­lau­fen, aber sie konn­te sie nicht fan­gen. Miß Kew brüll­te sie an, und als das nichts nütz­te, brüll­te sie mich an. Sie sag­te, das sei zu­viel. Nun, schon mög­lich, daß sie ei­ne schwe­re Wo­che hin­ter sich hat­te, aber uns war es nicht bes­ser er­gan­gen. Schließ­lich be­fahl uns Miß Kew, aus ih­rem Haus zu ver­schwin­den.

Ich hol­te Ba­by und ging, und die Zwil­lin­ge und Ja­nie ka­men mit. Miß Kew war­te­te, bis wir al­le drau­ßen wa­ren, und dann rann­te sie uns wie­der nach. Sie blieb so vor uns ste­hen, daß wir nicht wei­ter­konn­ten.

»Be­folgt ihr so Lo­nes Wün­sche?« frag­te sie.

Ich er­wi­der­te: »Ja.«

Sie sag­te, so­viel sie ver­stan­den hät­te, woll­te Lo­ne, daß wir bei ihr blie­ben. Wor­auf ich ihr ent­ge­gen­hielt, daß Lo­ne ge­sagt ha­be, wir müß­ten al­le zu­sam­men­blei­ben.

Sie woll­te, daß wir zu­rück­kämen und uns noch ein­mal mit ihr un­ter­hiel­ten. Ja­nie frag­te Ba­by, und Ba­by sag­te ja. Al­so gin­gen wir zu­rück.

Wir schlos­sen einen Kom­pro­miß. Wir aßen nicht mehr im Spei­se­zim­mer. Im Haus war ei­ne große Ve­ran­da, so ei­ne mit Glas­fens­tern, ei­ner Tür zum Spei­se­zim­mer und ei­ner an­de­ren Tür zur Kü­che. Da drau­ßen aßen wir al­le zu­sam­men. Miß Kew muß­te wie­der al­lein es­sen.

Aber einen ko­mi­schen Er­folg hat­te das Gan­ze.

 

»Und der war?« woll­te Stern wis­sen.

Ich lach­te. »Mi­riam. Sie sah aus wie im­mer und schimpf­te wie im­mer, aber sie schob uns jetzt oft zwi­schen den Mahl­zei­ten klei­ne Lecker­bis­sen zu. Ich brauch­te zwei Jah­re, bis ich her­aus­fand, was das al­les ei­gent­lich soll­te. Wie mir die Leu­te so er­zähl­ten, scheint es zwei Ar­meen zu ge­ben, die sich we­gen der ver­schie­de­nen Ras­sen­an­sich­ten be­kämp­fen. Die einen wol­len, daß Schwarz und Weiß ge­trennt le­ben, und die an­de­ren wol­len, daß sie zu­sam­men sind. Aber ich ver­ste­he nicht, warum sich bei­de Grup­pen so sehr dar­über auf­re­gen. Warum las­sen sie das The­ma nicht ein­fach?«

»Sie kön­nen nicht. Siehst du, Ger­ry, die Men­schen müs­sen dar­an glau­ben, daß sie in ir­gend­ei­ner Form den an­de­ren über­le­gen sind. Du und Lo­ne und die an­de­ren Kin­der – ihr wart ei­ne en­ge Ge­mein­schaft. Habt ihr nie das Ge­fühl ge­habt, daß ihr ein we­nig den an­de­ren Men­schen über­le­gen wart? Bes­ser als sie?«

»Bes­ser? Wie hät­ten wir bes­ser sein kön­nen?«

»Oder an­ders.«

»Nun ja, das viel­leicht schon, aber wir ha­ben uns nie Ge­dan­ken dar­über ge­macht. An­ders, ja. Aber nicht bes­ser.«

»Du bist ein ein­ma­li­ger Fall«, sag­te Stern. »Und jetzt er­zähl mir über den an­de­ren Streit, den ihr hat­tet. We­gen Ba­by.«

»Ba­by – ja. Al­so, das war ein paar Mo­na­te, nach­dem wir zu Miß Kew ge­zo­gen wa­ren. Al­les ging schon ziem­lich gut. Wir sag­ten von selbst ›dan­ke‹ und ›bit­te‹, und sie hol­te den ver­säum­ten Un­ter­richt an uns nach. Fünf Ta­ge in der Wo­che hat­ten wir vor­mit­tags und nach­mit­tags re­gel­mä­ßig Schu­le. Ja­ne muß­te sich schon längst nicht mehr um Ba­by küm­mern, und die Zwil­lin­ge strolch­ten her­um, wo es ih­nen Spaß mach­te. Das war lus­tig. Sie tauch­ten ein­mal da auf, im nächs­ten Au­gen­blick wie­der dort, und Miß Kew woll­te oft ih­ren Au­gen nicht trau­en. Es reg­te sie aber auch zu sehr auf, wenn die bei­den plötz­lich ir­gend­wo nackt im Raum schweb­ten. So lie­ßen sie es blei­ben, und Miß Kew war zu­frie­den. Sie war über­haupt mit der Ent­wick­lung zu­frie­den. Seit Jah­ren hat­te sie völ­lig al­lein ge­lebt – seit Jah­ren. Sie hat­te so­gar ei­ne Uhr vor dem Haus, da­mit nie­mand her­ein­zu­kom­men brauch­te. Aber in un­se­rer Ge­gen­wart schi­en sie auf­zu­le­ben. Sie trug nicht mehr die­se Alt­wei­ber­rü­schen und be­gann halb­wegs mensch­lich aus­zu­se­hen. Manch­mal aß sie so­gar mit uns zu­sam­men.

Aber ei­nes Ta­ges wach­te ich auf und hat­te ein ganz un­heim­li­ches Ge­fühl. Es war, als hät­te mir je­mand im Schlaf et­was ge­stoh­len und ich wuß­te nicht, was es war. Ich klet­ter­te aus dem Fens­ter und den Bal­kon ent­lang zu Ja­nies Zim­mer, was ich ei­gent­lich nicht tun durf­te. Sie war noch im Bett. Ich ging hin und weck­te sie. Ich se­he noch ge­nau ih­re Au­gen vor mir, wie sie sich noch im Schlaf zu ei­nem Schlitz öff­ne­ten und dann ganz groß und rund wur­den. Ich muß­te ihr nicht sa­gen, was mich be­un­ru­hig­te. Sie wuß­te es, und sie wuß­te auch, was uns fehl­te.

»Ba­by ist fort«, sag­te sie.

Da war es uns gleich­gül­tig, wen wir auf­weck­ten. Wir pol­ter­ten aus ih­rem Zim­mer hin­un­ter in die Hal­le und in den klei­nen Raum am En­de des Gan­ges, wo Ba­by schlief. Wir woll­ten es nicht glau­ben. Die hüb­sche Wie­ge, die wei­ße Tru­he mit den Schub­la­den und all das Ras­sel­zeug zum Spie­len wa­ren fort. Statt des­sen stand ein Schreib­tisch im Zim­mer. Es sah aus, als hät­te Ba­by nie in dem Raum ge­wohnt.

Wir sag­ten nichts. Wir dreh­ten uns auf der Stel­le um und platz­ten in Miß Kews Schlaf­zim­mer. Ich war erst ein ein­zi­ges­mal dort ge­we­sen und Ja­nie auch nicht viel öf­ter. Aber ver­bo­ten oder nicht, das war uns jetzt gleich­gül­tig. Sie setz­te sich auf und lehn­te sich an das Brett am Kopf­en­de. Sie sah uns bei­de kühl an.

»Was soll das be­deu­ten?« frag­te sie uns.

»Wo ist Ba­by?« schrie ich ihr ent­ge­gen.

»Ge­rard«, sag­te sie ru­hig, »du brauchst mich nicht an­zu­schrei­en.«

Ja­ne war ein wirk­lich ru­hi­ges Kind, aber sie sag­te: »Sa­gen Sie uns lie­ber, wo es ist, Miß Kew.« Und Sie hät­ten Angst be­kom­men, wenn Sie ih­re Au­gen da­bei an­ge­se­hen hät­ten.

Ganz plötz­lich leg­te Miß Kew ih­re stei­ner­ne Mie­ne ab und streck­te uns die Hän­de ent­ge­gen. »Kin­der«, sag­te sie, »es tut mir leid. Es tut mir wirk­lich leid. Aber ich ha­be sein Bes­tes ge­wollt. Ich ha­be Ba­by weg­ge­schickt. Es soll mit Kin­dern zu­sam­men le­ben, die in ei­ner ähn­li­chen Ver­fas­sung sind. Hier hät­ten wir das Klei­ne nie glück­lich ma­chen kön­nen. Ihr wißt es.«

»Er sag­te uns nie, daß er nicht glück­lich wä­re«, mein­te Ja­ne.

Miß Kew brach­te ein ge­preß­tes La­chen her­vor. »Wenn er nur spre­chen könn­te, der ar­me klei­ne Kerl.«

»Brin­gen Sie ihn lie­ber wie­der zu­rück«, sag­te ich. »Sie wis­sen nicht, was Sie da sa­gen. Ich ha­be Ih­nen doch er­klärt, daß wir uns nie von­ein­an­der tren­nen dürf­ten.«

Sie wur­de wü­tend, aber sie be­herrsch­te sich. »Ich will ver­su­chen, es dir zu er­klä­ren, Lieb­ling«, sag­te sie. »Du und Ja­ne und die Zwil­lin­ge – ihr seid al­le nor­ma­le, ge­sun­de Kin­der und wer­det tüch­ti­ge Män­ner und Frau­en wer­den. Aber mit dem ar­men Ba­by ist es an­ders. Es wird nicht mehr viel wach­sen, und es wird nie wie die an­de­ren Kin­der her­um­lau­fen und spie­len kön­nen.«

»Aber das hat doch nichts da­mit zu tun«, wi­der­sprach Ja­ne. »Sie hat­ten kein Recht, ihn weg­zu­ge­ben.«

Ich nick­te und füg­te hin­zu: »Brin­gen Sie ihn schnell wie­der her.«

Da wur­de sie gif­tig. »Un­ter den vie­len Din­gen, die ich euch bei­ge­bracht ha­be, ist auch die Re­gel, daß man äl­te­ren Leu­ten nicht wi­der­spre­chen soll. Und jetzt lauft, zieht euch an und geht zum Früh­stück hin­auf. Spre­chen wir nicht mehr über die Sa­che.«

Ich sag­te ihr, so freund­lich ich konn­te: »Miß Kew, es wird Ih­nen noch leid tun, wenn Sie Ba­by nicht zu­rück­brin­gen las­sen.«

Da sprang sie aus dem Bett und führ­te uns aus ih­rem Zim­mer.

 

Ich schwieg ei­ne Zeit­lang, und Stern frag­te: »Was ge­sch­ah dann?«

»Oh«, sag­te ich, »sie hol­te es zu­rück.« Ich lach­te plötz­lich. »Jetzt ist es na­tür­lich lus­tig, wenn man sich zu­rück­erin­nert. Un­ge­fähr ein Vier­tel­jahr kom­man­dier­te sie uns her­um und be­stimm­te, was wir tun und las­sen soll­ten, und dann ver­wei­ger­ten wir ihr plötz­lich den Ge­hor­sam. Wir hat­ten un­ser Mög­lichs­tes ver­sucht, mit ihr aus­zu­kom­men, wirk­lich, aber dies­mal war sie zu weit ge­gan­gen. Von der Se­kun­de an, in der sie die Tür hin­ter uns zu­schlug, be­kam sie ih­re Be­hand­lung. Sie hat­te einen großen Por­zel­lan­topf un­ter dem Bett ste­hen. Der hob sich jetzt in die Luft und krach­te in den Kom­mo­den­spie­gel. Dann öff­ne­te sich ei­ne der Kom­mo­den­schub­la­den, und ein Hand­schuh kam her­aus, der ihr im­mer wie­der ins Ge­sicht schlug.

Sie woll­te zu­rück ins Bett sprin­gen, aber ein gan­zer Teil der De­cke lös­te sich ab und fiel auf das Bett. In dem klei­nen Bad dreh­te sich der Stöp­sel von selbst in den Ba­de­wan­nen­ab­fluß, und der Hahn öff­ne­te sich. Kurz be­vor die Wan­ne über­floß, fie­len al­le Klei­der von Miß Kew hin­ein. Sie woll­te aus dem Zim­mer lau­fen, aber die Tür blieb zu, und als sie fest dar­an rüt­tel­te, öff­ne­te sie sich so schnell, daß sie stol­per­te und zu Bo­den fiel. Da gin­gen wir zu ihr und sa­hen sie an. Sie wein­te. Bis da­hin hat­ten wir nicht ge­wußt, daß sie über­haupt wei­nen konn­te.

»Ho­len Sie jetzt Ba­by zu­rück?« frag­te ich sie.

Sie lag ein­fach da und wein­te. Nach ei­ner Wei­le sah sie zu uns auf. Es war wirk­lich mit­lei­der­re­gend. Wir hal­fen ihr auf und hol­ten ihr einen Stuhl. Sie sah erst uns und dann den zer­bro­che­nen Spie­gel an, bis ihr Blick zu der ein­ge­fal­le­nen De­cke glitt. »Was ist denn ge­sche­hen?« flüs­ter­te sie. »Was ist ge­sche­hen?«

»Sie ha­ben uns Ba­by weg­ge­nom­men«, sag­te ich. »Des­halb.«

Da sprang sie auf und sag­te mit lei­ser, wirk­lich ängst­li­cher Stim­me: »Ir­gend et­was hat das Haus er­schüt­tert. Viel­leicht hat uns ein Flug­zeug ge­streift. Oder ein Erd­be­ben hat statt­ge­fun­den. Spre­chen wir nach dem Früh­stück über Ba­by.«

»Gib ihr noch mehr, Ja­nie«, sag­te ich.

Ein di­cker Was­ser­strahl schoß ihr ins Ge­sicht und über die Brust, so daß ihr das nas­se Nacht­hemd am Leib kleb­te. Das schi­en sie am meis­ten zu ent­set­zen. Dann stan­den ih­re Zöp­fe steil in die Luft, im­mer hö­her, bis sie selbst auf­ste­hen muß­te. Sie riß den Mund auf, um los­zu­schrei­en, und die Pu­der­wat­te von der An­klei­de­kom­mo­de ver­schwand dar­in. Sie zog sie wie­der her­aus.

»Was macht ihr nur?« rief sie wie­der wei­nend.

Ja­nie sah sie nur an, ver­schränk­te die Hän­de brav auf dem Rücken und sag­te: »Wir ha­ben gar nichts ge­macht.«

Und ich füg­te hin­zu: »Bis jetzt ha­ben wir noch nichts ge­macht. Ho­len Sie Ba­by zu­rück?«

Und sie schrie uns ent­ge­gen: »Auf­hö­ren! Auf­hö­ren! Ich will nichts mehr von die­sem mon­go­loi­den Idio­ten hö­ren. Er nutzt nie­man­dem et­was, nicht ein­mal sich selbst. Wie konn­te ich nur je­mals an­neh­men, daß er von mir ist?«

Ich sag­te: »Laß ein paar Rat­ten kom­men, Ja­nie.«

Man hör­te ein Ra­scheln in der Die­le. Miß Kew be­deck­te das Ge­sicht mit den Hän­den und sank auf einen Stuhl. »Kei­ne Rat­ten«, sag­te sie, »kei­ne Rat­ten.« Dann quietsch­te et­was, und sie wur­de halb irr­sin­nig vor Angst. Ha­ben Sie schon mal ge­se­hen, wie je­mand rich­tig aus dem Häus­chen ge­riet?«

»Ja«, sag­te Stern.

»Ich war so wü­tend wie kaum je zu­vor. Aber das war so­gar für mich zu­viel. Trotz­dem – sie hät­te Ba­by nicht weg­schi­cken sol­len. Es dau­er­te ein paar Stun­den, bis sie sich so weit er­holt hat­te, daß sie ans Te­le­fon ge­hen konn­te. Aber vor dem Abendes­sen war Ba­by wie­der bei uns.« Ich lach­te.

»Was freut dich?«

»Sie konn­te sich spä­ter nie so recht er­in­nern, was ei­gent­lich ge­sche­hen war. Ein paar Wo­chen nach dem Vor­fall hör­te ich sie mit Mi­riam dar­über spre­chen. Sie sag­te, daß das Haus plötz­lich ge­sun­ken sei. Ein Glück, daß sie Ba­by zu ei­ner ärzt­li­chen Un­ter­su­chung ge­schickt hät­te – das ar­me klei­ne Ding wä­re sonst wohl noch ver­letzt wor­den. Ich bin über­zeugt, daß sie die­se Ver­si­on selbst glaub­te.«

»Wahr­schein­lich. Das ist oft so. Was wir nicht glau­ben wol­len, glau­ben wir auch nicht.«

»Wie­viel von mei­ner Ge­schich­te glau­ben Sie?« frag­te ich ihn plötz­lich.

»Das sag­te ich dir schon vor der Be­hand­lung: Es kommt nicht dar­auf an. Ich ge­be mir gar nicht die Mü­he, zu glau­ben oder nicht zu glau­ben.«

»Sie ha­ben mich noch gar nicht ge­fragt, ob ich an mei­ne Ge­schich­te glau­be.«

»Das ist auch nicht nö­tig. Dar­über mußt du dir dei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken ma­chen.«

»Sind Sie ein gu­ter Psy­cho­the­ra­peut?«

»Ich glau­be schon«, sag­te er. »Wen hast du um­ge­bracht?«

Die Fra­ge traf mich, als ich nicht auf der Hut war. »Miß Kew«, sag­te ich. Im nächs­ten Au­gen­blick be­gann ich zu flu­chen und zu schimp­fen. »Das woll­te ich Ih­nen gar nicht sa­gen.«

»Mach dir kei­ne Sor­gen dar­über«, sag­te er. »Warum hast du es ge­tan?«

»Wenn ich das wüß­te, wä­re ich nicht zu Ih­nen ge­kom­men.«

»Du mußt sie wirk­lich ge­haßt ha­ben.«

Ich be­gann zu heu­len. Fünf­zehn Jah­re und dann so zu heu­len!

 

Er ließ mir Zeit, bis al­les aus mir her­aus war. Ich schluchz­te, daß mir die Keh­le schmerz­te. Mei­ne Na­se lief. Und dann bra­chen die Wor­te aus mir her­vor.

»Wis­sen Sie, wo­her ich kom­me? Die frü­he­s­te Er­in­ne­rung, die ich ha­be, ist, daß mich je­mand ins Ge­sicht box­te. Mit ei­ner Hand so groß wie mein Kopf. Ich se­he sie noch auf mich zu­kom­men. Weil ich wein­te. Seit­dem hat­te ich im­mer Hem­mun­gen, zu wei­nen. Ich hat­te ge­weint, weil ich hung­rig war. Viel­leicht fror ich auch.

Da­nach er­in­ne­re ich mich an große 5chlaf­sä­le. Wer am meis­ten steh­len konn­te, kam am bes­ten durch. Sie prü­geln einen wie ver­rückt, wenn man was an­ge­stellt hat, und be­loh­nen einen, wenn man brav war. Schöns­te Be­loh­nung: in Ru­he ge­las­sen zu wer­den. Ver­su­chen Sie mal, so zu le­ben. Ver­su­chen Sie zu le­ben, wenn das Al­ler­schöns­te, was Sie er­rei­chen kön­nen, Al­lein­sein ist. Ver­dammt noch mal.

Dann die Zeit mit Lo­ne und den Kin­dern. Et­was Wun­der­vol­les. Man ge­hör­te je­man­dem. Das hat­te ich nie zu­vor er­lebt. Zwei gel­be Lam­pen und ein Ka­min, und sie er­hel­len die Welt. Mehr braucht man nicht.

Dann der große Wech­sel. Sau­be­re Klei­der, ge­koch­tes Es­sen, fünf Ta­ge in der Wo­che Schu­le. Ko­lum­bus und Kö­nig Ar­thur und Staats­bür­ger­kun­de. Über al­lem die­ser große vier­e­cki­ge Eis­klum­pen. Man sieht, wie er schmilzt, wie die Ecken rund wer­den, und man weiß, daß es so ist, weil sie einen mag …

Zum Teu­fel, Miß Kew hat­te viel zu­viel Selbst­be­herr­schung, um süß­lich zu wer­den, aber das Ge­fühl ver­ließ uns nie. Lo­ne küm­mer­te sich um uns, weil es ein­fach zu dem Le­ben ge­hör­te, das er leb­te. Miß Kew küm­mer­te sich auch um uns, aber es stülp­te ihr bis­he­ri­ges Le­ben völ­lig um. Es war et­was, das sie be­wußt tun woll­te.

Sie hat­te ei­ne ko­mi­sche Auf­fas­sung von ›Recht‹ und ei­ne falsche Auf­fas­sung von ›Un­recht‹. Aber sie hielt dar­an fest und be­han­del­te uns dement­spre­chend. Wenn sie uns nicht ver­stand, glaub­te sie, es sei ihr ei­ge­ner Feh­ler – und es gab ei­ne Men­ge Din­ge, die sie nicht ver­stand und auch nie ver­ste­hen konn­te. Wenn al­les gut­ging, war es un­ser Er­folg. Die­ses letz­te Jahr war …«

»Nun?«

»Ich brach­te sie al­so um. Hö­ren Sie zu«, sag­te ich. Ich hat­te das Ge­fühl, daß ich schnell spre­chen muß­te. Ich hat­te zwar ge­nü­gend Zeit, aber ich woll­te es so schnell wie mög­lich hin­ter mich brin­gen. »Ich er­zäh­le Ih­nen al­les, was ich dar­über weiß. Fan­gen wir bei dem Tag vor dem Mord an. Ich er­wach­te am Mor­gen, und die Bet­tü­cher knis­ter­ten steif und sau­ber un­ter mir. Son­nen­licht drang durch die wei­ßen Vor­hän­ge und die rot-blau ge­mus­ter­ten Über­gar­di­nen. Der Schrank ist an­ge­füllt mit mei­nen Klei­dern – mei­nen ei­ge­nen Klei­dern, Sie ver­ste­hen. Frü­her hat­te mir nie et­was ganz al­lein ge­hört. Von un­ten hör­te man Mi­riams ge­schäf­ti­ges Teller­klap­pern und das Ge­läch­ter der Zwil­lin­ge. Sie lach­ten mit ihr, nicht mit­ein­an­der, wie sie es frü­her im­mer ge­tan hat­ten.

Im Zim­mer ne­ben mir ging Ja­nie um­her. Sie sang. Ich wuß­te, daß ihr Ge­sicht von in­nen her­aus leuch­te­te, auch wenn ich sie ge­ra­de nicht sah. Ich ste­he auf. Das Was­ser ist herr­lich heiß, und die Zahn­pas­ta brennt auf der Zun­ge. Die Klei­der pas­sen mir, und ich ge­he nach un­ten, und sie sind schon al­le ver­sam­melt. Ich freue mich, daß sie da sind, und sie freu­en sich, daß ich ge­kom­men bin, und wir set­zen uns erst an den Tisch, als Miß Kew her­un­ter­ge­kom­men ist und wir sie mit lau­tem Hal­lo be­grüßt ha­ben.

Und so ver­geht der Vor­mit­tag. Wir ha­ben Schu­le mit ei­ner klei­nen Pau­se im großen Sa­lon. Die Zwil­lin­ge ma­len das Al­pha­bet und stre­cken da­bei vor Ei­fer ih­re Zun­gen­spit­zen her­aus. Und wenn wir Zeit ha­ben, malt Ja­nie ein Bild, ein rich­ti­ges Bild mit ei­ner Kuh und Bäu­men und ei­nem gel­ben Zaun, der in der Fer­ne ver­schwin­det. Ich bin hilf­los mit­ten in ei­ner qua­dra­ti­schen Glei­chung ste­cken­ge­blie­ben, und Miß Kew beugt sich über mich, um mir zu hel­fen. Ich kann das La­ven­del rie­chen, von dem sie im­mer ein paar ge­trock­ne­te Zwei­ge zwi­schen ih­rer Wä­sche hat. Ich he­be den Kopf, da­mit ich es bes­ser rie­chen kann, und von drau­ßen hört man das Töp­fe­klap­pern.

Und der Nach­mit­tag geht auch so vor­bei, wie­der Schu­le und Spie­len im Gar­ten. Die Zwil­lin­ge spie­len Fan­gen, und sie lau­fen rich­tig auf ih­ren Bei­nen. Ja­nie malt die Blät­ter auf ih­rem Baum bunt und strengt sich an, al­les ge­nau­so zu ma­chen, wie Miß Kew es ihr ge­sagt hat. Und Ba­by hat ein hüb­sches Lauf­git­ter be­kom­men. Es be­wegt sich zwar nicht all­zu­viel, son­dern sitzt nur da und plap­pert vor sich hin, aber es hat im­mer viel zu es­sen und wird blitz­sau­ber ge­hal­ten.

Und dann ist Abend und Abendes­sen, und Miß Kew liest uns et­was vor. Sie ver­än­dert im­mer die Stim­me, wenn ei­ne neue Per­son in der Ge­schich­te spricht. Ein­mal liest sie schnell und flüs­ternd, wenn es un­heim­lich ist, und dann wie­der lang­sam. Trotz­dem kann man je­des Wort deut­lich ver­ste­hen.

Und den­noch muß­te ich sie um­brin­gen. Mehr weiß ich auch nicht.«

 

»Du hast nicht ge­sagt, wes­halb du sie um­ge­bracht hast«, mein­te Stern.

»Sind Sie denn dumm?« schrie ich ihn an.

Stern sag­te nichts. Ich dreh­te mich auf den Bauch, stütz­te das Kinn in bei­de Hän­de und sah ihn an. Man wuß­te nie, was in ihm vor­ging, aber dies­mal hat­te ich das Ge­fühl, daß er ver­wirrt war.

»Ich ha­be den Grund ge­sagt.«

»Mir nicht.«

Plötz­lich ver­stand ich, daß ich zu­viel von ihm ver­lang­te. Ich sag­te lang­sam: »Wir wach­ten al­le zur glei­chen Zeit auf. Wir ta­ten al­le, was ein an­de­rer von uns ver­lang­te. Wir leb­ten durch den Tag nach dem Kom­man­do ei­nes an­de­ren, dach­ten an­de­re Ge­dan­ken und sag­ten an­de­re Wor­te. Ja­nie mal­te die Bil­der, die ihr ein an­de­rer vor­schlug. Ba­by sprach nicht mit uns, und trotz­dem wa­ren wir zu­frie­den. Ver­ste­hen Sie jetzt?«

»Noch nicht.«

»Du lie­be Gü­te!« Ich dach­te ei­ne Zeit­lang nach. »Wir har­mo­nier­ten nicht mehr.«

»Har­mo­nie­ren? Ach so. Aber habt ihr denn nach Lo­nes Tod über­haupt har­mo­niert?«

»Das war et­was an­de­res. Das war wie ein Au­to, das kein Ben­zin mehr hat – das Au­to ist trotz­dem in­takt. Aber nach­dem uns Miß Kew er­zo­gen hat­te, blie­ben von dem Au­to nur noch Trüm­mer üb­rig. Ver­ste­hen Sie?«

Dies­mal dach­te er ei­ne Zeit­lang nach. Schließ­lich sag­te er: »Un­ser Ge­hirn zwingt uns zu selt­sa­men Hand­lun­gen. Ei­ni­ge da­von er­schei­nen völ­lig un­ver­nünf­tig, falsch, ver­rückt. Aber in al­len Din­gen, die wir tun, liegt ei­ne fes­te, uns nicht zu­gäng­li­che Lo­gik. Wenn man nur tief ge­nug nach­forscht, wird man auch in die­sen Hand­lun­gen kla­re Ur­sa­chen und Wir­kun­gen er­ken­nen. Merk dir, ich sag­te Lo­gik. Nicht Ver­nunft oder Rich­tig­keit oder Ge­rech­tig­keit oder sonst et­was die­ser Art. Lo­gik und Wahr­heit sind zwei sehr ver­schie­de­ne Be­grif­fe, wenn sie auch dem Ver­stand, der die lo­gi­schen Hand­lun­gen voll­zieht, oft als ein und das­sel­be er­schei­nen.

Wenn die­ser Ver­stand nun ver­schie­de­ne Zwe­cke gleich­zei­tig ver­folgt, ge­rät das Den­ken an der Ober­flä­che in Ver­wir­rung. Zu­rück zu dei­nem Fall. Ich kann durch­aus er­ken­nen, wor­auf du hin­aus­willst: Um die­se ein­ma­li­ge Bin­dung zwi­schen euch Kin­dern zu be­wah­ren oder zu er­neu­ern, muß­test du Miß Kew be­sei­ti­gen. Aber ich se­he nicht die Lo­gik in dei­nem Tun. Warum war die Wie­der­ge­win­nung die­ser ›Har­mo­nie‹ so wich­tig, daß du die neu­ge­won­ne­ne Si­cher­heit da­für auf­ge­ben woll­test, die dir doch zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen ge­fiel?«

»Viel­leicht war sie wirk­lich nicht so wich­tig«, sag­te ich ver­zwei­felt.

Stern beug­te sich vor und deu­te­te mit der Pfei­fe auf mich. »Du muß­test es ein­fach tun. Nach­her se­hen die Din­ge oft an­ders aus. Aber als dich dein Ver­stand da­zu an­trieb, war al­les an­de­re un­wich­tig ge­wor­den. Du muß­test Miß Kew ein­fach tö­ten, um die­se Har­mo­nie wie­der­zu­er­lan­gen. Ich weiß nicht, wes­halb, und du weißt es auch nicht.«

»Wie kön­nen wir es her­aus­fin­den?«

»Hm, wenn du dich stark ge­nug fühlst, brin­gen wir den un­an­ge­nehms­ten Teil hin­ter uns.«

Ich leg­te mich wie­der hin. »Ich bin be­reit.«

»Schön. Dann er­zäh­le in al­len Ein­zel­hei­ten, was du ge­tan hast, kurz be­vor du sie um­brach­test.«

 

Ich tas­te­te mich durch den letz­ten Tag, ver­such­te mich dar­an zu er­in­nern, wie das Es­sen ge­schmeckt hat­te und wie die Stim­men ge­klun­gen hat­ten. Ein Ein­druck kam im­mer wie­der: das Ge­fühl der sau­be­ren, ge­stärk­ten Bet­tü­cher. Ich woll­te es bei­sei­te schie­ben, da es ja am Ta­ges­an­fang stand, aber es ließ sich nicht ver­drän­gen.

»Ich ha­be es Ih­nen schon er­zählt«, sag­te ich. »Die Kin­der, die frem­de Be­feh­le aus­führ­ten, und Ba­by, das nicht mehr mit Ja­nie sprach, und un­se­re Zu­frie­den­heit. Das brach­te mich da­zu, Miß Kew zu tö­ten. Ich brauch­te lan­ge, bis ich das er­kann­te, und noch län­ger, bis ich mei­nen Plan durch­führ­te. Ich glau­be, ich lag stun­den­lang im Bett, bis ich wie­der auf­stand. Es war dun­kel und still drau­ßen. Ich ging aus mei­nem Zim­mer hin­un­ter in die Hal­le und in Miß Kews Schlaf­zim­mer. Ich brach­te sie um.«

»Wie?«

»Das ist al­les!« schrie ich, so laut ich konn­te. Dann be­ru­hig­te ich mich wie­der. »Es war schreck­lich dun­kel – es ist im­mer noch dun­kel. Ich weiß nicht. Ich will es auch nicht wis­sen. Sie hat uns lieb ge­habt. Ich weiß es. Aber ich muß­te sie tö­ten.«

»Schon gut, schon gut«, mein­te Stern. »Das brauchst du nicht im­mer wie­der zu be­to­nen. Du bist …«

»Was?«

»Du bist ziem­lich stark für dein Al­ter, nicht wahr, Ger­ry?«

»Ich glau­be schon. Stark ge­nug auf al­le Fäl­le.«

»Ja«, sag­te er.

»Ich se­he im­mer noch nicht die Lo­gik, von der Sie vor­hin spra­chen.« Ich häm­mer­te mit der Faust auf die Couch und un­ter­strich je­des mei­ner Wor­te mit ei­nem Schlag: »Warum – muß – te – ich – das – tun?«

»Hör auf da­mit«, sag­te er. »Du wirst dir weh tun.«

»Das wä­re gut«, er­wi­der­te ich.

»So?«

Ich stand auf und ging zum Schreib­tisch hin­über und hol­te mir et­was Was­ser. »Was soll ich nun ma­chen?«

»Was hast du nach ih­rem Tod ge­tan – bis zu dem Au­gen­blick, als du in mein Bü­ro kamst?«

»Nicht viel«, sag­te ich. »Ich ha­be es erst ges­tern nacht ge­tan. Ich lief zu­rück in mein Zim­mer, ganz be­täubt. Ich zog mei­ne Klei­der bis auf die Schu­he an. Dann schlich ich hin­aus. Ich ging lan­ge und ver­such­te mei­ne Ge­dan­ken zu ord­nen. Als die Post öff­ne­te, sah ich un­ter post­la­gernd nach. Miß Kew hat­te mich öf­ters auf die Post ge­schickt. Und nun fand ich den Scheck von dem Preis­aus­schrei­ben vor. Ich lös­te ihn bei der Bank ein, er­öff­ne­te ein Kon­to und ließ mir elf­hun­dert Dol­lar aus­zah­len. Dann kam ich auf die Idee, mir von ei­nem Psych­ia­ter hel­fen zu las­sen und ver­bum­mel­te fast den gan­zen Vor­mit­tag, bis ich Sie fand. Das ist al­les.«

»Hat­test du kei­ne Schwie­rig­kei­ten, den Scheck ein­zu­lö­sen?«

»Ich ha­be nie Schwie­rig­kei­ten, den Leu­ten mei­nen Wil­len auf­zu­zwin­gen.«

Er stieß einen Laut der Über­ra­schung aus.

»Ich weiß, was Sie den­ken – daß ich Miß Kew mei­nen Wil­len nicht auf­zwin­gen konn­te.«

»Das auch«, gab er zu.

»Wenn ich das ge­schafft hät­te«, er­klär­te ich ihm, »wä­re sie nicht mehr Miß Kew ge­we­sen. Beim Ban­kier war es ein­fach – ich muß­te ihn nur zwin­gen, Ban­kier zu sein.«

 

Ich sah ihn an, und plötz­lich wuß­te ich, warum er im­mer mit sei­ner Pfei­fe her­um­spiel­te. Da­mit er sie an­se­hen konn­te und sein Ge­gen­über nicht in sei­nem Ge­sichts­aus­druck las.

»Du hast sie um­ge­bracht«, sag­te er – und ich wuß­te, daß er nun das The­ma wech­seln wür­de –, »und da­mit et­was zer­stört, das dir wert­voll war. Es muß we­ni­ger wert­voll ge­we­sen sein als die Chan­ce, die al­te Bin­dung mit den Kin­dern wie­der­her­zu­stel­len. Und du weißt nicht ge­nau, worin der Wert die­ser Bin­dung liegt.« Er sah auf. »Trifft das in et­wa dei­nen Kum­mer?«

»Ja.«

»Du kennst den Trieb, aus dem die Men­schen tö­ten?« Als ich nicht ant­wor­te­te, fuhr er fort: »Selbs­t­er­hal­tungs­trieb. Den Wil­len, das Ich zu er­hal­ten – oder das, was man als Ich iden­ti­fi­ziert. Und das trifft in dei­nem Fall nicht zu, denn du hat­test weit grö­ße­re Über­le­benschan­cen, du und die gan­ze Grup­pe, wenn du bei Miß Kew blei­ben konn­test.«

»Dann hat­te ich al­so gar kei­nen rich­ti­gen Grund, sie zu tö­ten?«

»O doch, sonst hät­test du es nicht ge­tan. Wir konn­ten ihn nur bis jetzt nicht er­ken­nen. Das heißt, wir ha­ben den Grund, aber wir wis­sen nicht, warum er so wich­tig war. Die Ant­wort da­zu liegt in dir.«

»Wo?«

Er stand auf und ging auf und ab. »Wir ha­ben einen ziem­lich lücken­lo­sen Le­bens­lauf. Ge­wiß, Tat­sa­che und Phan­ta­sie über­la­gern sich, und von ei­ni­gen Ab­schnit­ten wis­sen wir nichts Ge­nau­es, aber wir ha­ben einen An­fang, ei­ne Mit­te und ein En­de. Ich kann es nicht si­cher sa­gen, aber mög­li­cher­wei­se fin­den wir die Ant­wort auf je­ner Brücke, die du vor­hin nicht über­que­ren woll­test. Weißt du noch?«

Ich wuß­te es nur zu1 gut. »Warum das?« frag­te ich. »Kön­nen wir nicht et­was an­de­res ver­su­chen?«

»Nein, weil du so gern aus­weichst«, sag­te er ru­hig. »Wes­halb schreckst du da­vor zu­rück?«

»Ma­chen Sie kei­nen Ele­fan­ten aus ei­ner Mücke«, sag­te ich. Manch­mal reg­te mich der Kerl auf. »Es be­un­ru­higt mich. Aber ich weiß nicht, aus wel­chem Grund.«

»Ir­gend et­was liegt da ver­bor­gen und kämpft ge­gen dich an. Es will nicht ans Licht. Des­halb ist es ver­mut­lich ge­nau das, was wir su­chen.«

»Al­so gut«, sag­te ich und spür­te wie­der die­se Übel­keit und Schwä­che. Ich gab noch ein­mal auf. Aber dann nahm ich mich zu­sam­men. »Ver­su­chen wir es.« Ich leg­te mich zu­rück.

Er ließ mich die De­cke be­trach­ten und ei­ne Wei­le ru­hig da­lie­gen, dann sag­te er: »Du bist in der Bi­blio­thek. Du hast Miß Kew ge­ra­de erst ken­nen­ge­lernt und er­zählst ihr von den an­de­ren Kin­dern.«

Ich lag ganz still da. Nichts ge­sch­ah. Doch, jetzt. In mei­nem In­nern ver­steif­te sich al­les. Im­mer stär­ker. Es war nicht mehr zum Aus­hal­ten, und den­noch ge­sch­ah nichts.

Ich hör­te, wie er auf­stand und zum Schreib­tisch hin­über­ging. Er mach­te et­was. Ein Kli­cken und Sum­men er­tön­te. Plötz­lich hör­te ich mei­ne ei­ge­ne Stim­me.

»Al­so, da ist mal Ja­nie. Sie ist elf wie ich. Und Bon­nie und Be­a­nie sind acht. Zwil­lin­ge, müs­sen Sie wis­sen. Und Ba­by ist drei.«

Und mein Schrei.

Und nichts …

Das Dun­kel wich. Ich hat­te die Hän­de zu Fäus­ten ge­ballt. Star­ke Fin­ger hiel­ten mich an den Hand­ge­len­ken fest. Ich mach­te die Au­gen auf. Ich war schweiß­durch­tränkt. Die Ther­mos­fla­sche lag auf dem Tep­pich ne­ben der Couch. Stern knie­te bei mir und hielt mei­ne Hand­ge­len­ke fest. Ich wehr­te mich nicht mehr.

»Was ist ge­sche­hen?«

Er ließ mich los und trat nach­denk­lich zu­rück. »Du lie­be Gü­te!« sag­te er. »Das war ei­ne La­dung!«

Ich griff mir an den Kopf und stöhn­te. Er warf mir ein Hand­tuch zu. »Was hat mich nie­der­ge­schla­gen?«

»Ich nahm un­ser gan­zes Ge­spräch auf Band auf«, er­klär­te er. »Als du dich nicht er­in­nern konn­test, ver­such­te ich dich an­zu­trei­ben, in­dem ich die Stel­le noch ein­mal ab­spiel­te. Manch­mal wirkt so et­was Wun­der.«

»Auch dies­mal«, stöhn­te ich. »Ich ha­be das Ge­fühl, daß bei mir ei­ne Si­che­rung durch­brann­te.«

»Ein gu­ter Ver­gleich. Du warst so na­he dar­an, über die Brücke zu ge­hen. Aber du bist lie­ber ohn­mäch­tig ge­wor­den, als den letz­ten Schritt zu tun.«

»Und was freut Sie so dar­an?«

»Dei­ne Ver­tei­di­gung liegt in den letz­ten Zü­gen«, sag­te er kurz. »Jetzt ha­ben wir es gleich. Nur noch ein Ver­such.«

»Halt. Wenn ich nun bei dem letz­ten Ver­such drauf­ge­he?«

»Das wirst du nicht. Du trägst die­se Epi­so­de nun so lan­ge schon im Un­ter­be­wußt­sein, und es hat dir nichts ge­scha­det.«

»Wirk­lich nicht?«

»Nicht so, daß sie dich um­ge­bracht hät­te.«

»Und wo­her wis­sen Sie, daß das nicht der Fall sein wird, wenn wir sie ans Licht zer­ren?«

»Du wirst es gleich selbst se­hen.«

Ich sah ihn von der Sei­te an. Ir­gend­wie wuß­te ich, was jetzt kom­men wür­de.

»Du weißt jetzt viel mehr über dich selbst als vor­her«, er­klär­te er lei­se. »Du hast jetzt die nö­ti­ge Ein­sicht. Du wirst die Din­ge, die du er­fährst, rich­tig ein­schät­zen. Viel­leicht nicht al­le, aber doch ge­nug, um dich zu schüt­zen. Hab’ kei­ne Angst. Du mußt mir ver­trau­en. Ich kann die Sit­zung un­ter­bre­chen, wenn sie zu schlimm für dich wird. Jetzt ent­span­ne dich. Sieh die De­cke an. Fühl dei­ne Ze­hen. Sieh sie nicht an. Sieh nach oben. Dei­ne Ze­hen, dei­ne großen Ze­hen. Be­weg sie nicht, aber füh­le sie. Zäh­le dei­ne Ze­hen. Eins, zwei, drei. Fühl die drit­te Ze­he von der großen Ze­he aus ge­rech­net. Spürst du, wie sie steif wird? Ganz steif. Die Ze­hen da­ne­ben wer­den auch steif. Ganz steif. Al­le dei­ne Ze­hen sind steif …«

»Was ma­chen Sie da?« fauch­te ich ihn an.

Er sag­te in der glei­chen flie­ßen­den Stim­me: »Du ver­traust mir, und dei­ne Ze­hen ver­trau­en mir auch. Sie sind steif, weil du mir ver­traust. Du …«

»Sie ver­su­chen mich zu hyp­no­ti­sie­ren. Das wer­de ich nicht zu­las­sen.«

»Du hyp­no­ti­sierst dich selbst. Du tust al­les selbst. Ich zei­ge dir nur den Weg. Ich zei­ge dei­nen Ze­hen den Weg. Ich zei­ge ihn nur dei­nen Ze­hen. Nie­mand kann dich zwin­gen, ir­gend­wo­hin zu ge­hen, wenn du nicht willst. Aber du willst da­hin ge­hen, wo dei­ne Ze­hen steif sind, wo dei­ne …«

Im­mer wei­ter, wei­ter, wei­ter. Und wo war das schwe­ben­de Gol­dor­na­ment, das Licht in sei­nen Au­gen, das ge­heim­nis­vol­le Auf- und Ab­ge­hen? Ich konn­te ihn nicht ein­mal se­hen, weil er hin­ter mir saß. Wo war das üb­li­che Ge­re­de, daß ich mü­de, ach so mü­de sei? Nun, er wuß­te, daß ich nicht mü­de war und auch nicht mü­de sein woll­te. Ich woll­te nur Ze­hen sein. Ich woll­te nur ei­ne ein­zi­ge, stei­fe Ze­he sein. Kein Ver­stand in den Ze­hen, Ze­hen zum Ge­hen, zum Ge­hen auf und ab, elf­mal, elf, ich bin elf …

Ich spal­te­te mich in zwei, und es war in Ord­nung, in den Teil, der zu­sah, und den an­de­ren Teil, der in die Bi­blio­thek zu­rück­ging.

Miß Kew beug­te sich über mich, aber nicht zu na­he, und auf mei­nem Stuhl ra­schel­te das Zei­tungs­pa­pier, auf dem ich sit­zen muß­te. Ich hat­te einen Schuh aus­ge­zo­gen, und mei­ne Ze­hen wa­ren steif, wor­über ich ein ge­lin­des Er­stau­nen fühl­te. Denn es war Hyp­no­se, aber ich war völ­lig bei Be­wußt­sein, auf der Couch in Sterns Zim­mer. Er re­de­te gleich­mä­ßig auf mich ein, und ich konn­te mich auf­set­zen und mit ihm spre­chen, wenn ich woll­te. Ich konn­te auch auf­ste­hen und weg­ge­hen, wenn ich woll­te. Doch ich woll­te gar nicht. Oh, wenn die­se Hyp­no­se so aus­sah, dann moch­te ich sie, dann war ich be­reit, mit­zu­ar­bei­ten. So war sie in Ord­nung.

Der Tisch, der Tisch mit dem Le­der, Miß Kews Ge­ze­ter, der Tisch mit dem Gold, Lo­ne hat es ge­wollt, ich, du, Miß Kew …

»… und Bon­nie und Be­a­nie sind acht. Zwil­lin­ge, müs­sen Sie wis­sen. Und Ba­by. Ba­by ist drei.«

»Ba­by ist drei«, sag­te sie.

Ein Druck, ein Deh­nen – und et­was zer­riß. Und der plötz­li­che Schmerz wur­de über­spült von dem Ge­fühl des Tri­um­phs, daß ich es ge­schafft hat­te.

Und dann kam al­les her­aus. Al­les auf ein­mal.

 

Ba­by ist drei? Mein Ba­by müß­te jetzt drei sein, wenn ich je ei­nes ge­habt hät­te. Aber ich hat­te ja kei­nes …

Lo­ne. Ich bin weit of­fen für dich. Ganz of­fen. Ist es so ge­nug?

Sei­ne Au­gen sind rie­sig. Ich bin si­cher, daß sich die Iris ganz schnell dreht, aber ich konn­te es nie be­wei­sen. Der su­chen­de Strahl, der un­sicht­bar von sei­nem Ge­hirn durch sei­ne Au­gen in mein Ge­hirn dringt. Weiß er, was das für mich be­deu­tet? Wä­re es ihm gleich­gül­tig? Es muß ihm gleich­gül­tig sein. Er weiß es nicht. Er leert mich, und ich fül­le nach, was er be­fiehlt. Er trinkt und war­tet und trinkt wie­der, und nie sieht er den Be­cher an.

Als ich ihn zum ers­ten­mal sah, tanz­te ich im Wind, im Wald, in der Wild­nis. Ich dreh­te mich, und da stand er im Schat­ten der Blät­ter und be­ob­ach­te­te mich. Ich haß­te ihn des­halb. Es war nicht mein Wald, nicht mein gold­durch­flu­te­ter, mit Far­nen durch­wach­se­ner Wald. Aber das Tan­zen nahm er mir, er raub­te es mir, in­dem er zu­sah. Ich haß­te ihn, haß­te sei­nen Blick, sei­ne Hal­tung, wie er so knö­chel­tief in den freund­li­chen nas­sen Far­nen stand, ein Baum, des­sen Wur­zeln Fü­ße wa­ren. So stand er da in sei­nen erd­far­be­nen Klei­dern. Als ich ste­hen­blieb, be­weg­te er sich, und da war er wie­der ein Mann, ein großer Mann mit mäch­ti­gen Af­fen­schul­tern, ein schmut­zi­ges Tier von ei­nem Mann, und mein gan­zer Haß wur­de plötz­lich zu Furcht, so daß ich wie an­ge­wur­zelt ste­hen­blei­ben muß­te.

Er wuß­te, was er ge­tan hat­te, aber es war ihm gleich­gül­tig. Tan­zen … Nie wie­der tan­zen kön­nen, denn ab jetzt konn­te ich nie wie­der si­cher sein, ob mich in den Wäl­dern nicht frem­de Au­gen be­ob­ach­te­ten, schmut­zi­ge, frem­de Män­ner, de­nen es gleich­gül­tig war, wenn sie et­was zer­stör­ten.

Som­mer­ta­ge, an de­nen mich die Klei­der er­drücken wür­den, und Win­ter­näch­te, die mich mit ih­rer Prü­de­rie ein­hüll­ten wie ein Lei­chen­tuch. Und nie wie­der tan­zen kön­nen, oh­ne mich an sein plötz­li­ches Auf­tau­chen zu er­in­nern. Wie ich ihn haß­te! Oh, wie ich ihn haß­te!

Al­lein an ei­ner Stel­le zu tan­zen, wo nie­mand mich kann­te, das war mei­ne ein­zi­ge Flucht vor der Miß Kew, die die an­de­ren kann­ten. Vor der Frau, die ins Vik­to­ria­ni­sche Zeit­al­ter ge­paßt hät­te, vor der Frau, die äl­ter aus­sah, als sie war. Die kor­rekt war, ge­stärk­te Schür­zen, Spit­zen und Lei­nen trug, und die ein­sam war. Jetzt wür­de ich wirk­lich die sein, für die sie mich hiel­ten, durch und durch, für im­mer und ewig, weil er mir das ein­zi­ge Ge­heim­nis ge­raubt hat­te, das ich zu be­sit­zen wag­te.

Er kam hin­aus in den Son­nen­schein und trat auf mich zu, wo­bei er sei­nen großen Kopf ein we­nig schief hielt. Ich blieb ste­hen, wo ich zu tan­zen auf­ge­hört hat­te, steif vor Haß und Furcht. Mein Arm war noch aus­ge­streckt und mei­ne Hüf­te ge­bo­gen.

Er sag­te: »Liest du Bü­cher?«

Ich konn­te es nicht er­tra­gen, daß er mir so na­he kam, aber ich konn­te mich auch nicht von der Stel­le rüh­ren. Er streck­te sei­ne har­te Hand aus und be­rühr­te mein Kinn. Er dreh­te mei­nen Kopf her­um, bis ich ihm ins Ge­sicht se­hen muß­te. Ich wich vor ihm zu­rück, aber mein Ge­sicht schmieg­te sich an sei­ne Hand, ob­wohl er mich nicht sehr fest hielt. »Du mußt ein paar Bü­cher für mich le­sen. Ich ha­be kei­ne Zeit, sie zu su­chen.«

»Wer sind Sie?« frag­te ich ihn.

»Lo­ne«, er­wi­der­te er. »Wirst du die Bü­cher für mich le­sen?«

»Nein. Las­sen Sie mich los! Las­sen Sie mich los!«

Er lach­te mich aus. Er hielt mich gar nicht fest.

»Was für Bü­cher?« rief ich.

 

Er hob mein Ge­sicht ein we­nig an, sehr be­hut­sam. Ich muß­te noch mehr zu ihm auf­se­hen. Er ließ sei­ne Hand sin­ken. Sei­ne Au­gen, die Iris – sie be­gan­nen sich zu dre­hen …

»öff­ne mir dein In­ne­res«, sag­te er. »Ich will nach­se­hen.«

In mei­nem Ge­dächt­nis wa­ren Bü­cher, und er un­ter­such­te die Ti­tel. Nein, nicht die Ti­tel, denn le­sen konn­te er nicht. Er sah nach, was ich von den Bü­chern wuß­te. Plötz­lich kam ich mir schreck­lich nutz­los vor, denn ich hat­te nur einen Bruch­teil des­sen, was er brauch­te.

»Was ist das?« frag­te er rauh.

Ich wuß­te, was er mein­te. Er hat­te es aus mei­nem In­nern ge­zo­gen. Ich hat­te selbst nicht ein­mal mehr ge­wußt, daß es drin­nen war, aber er zerr­te es ans Licht.

»Te­le­ki­ne­se«, sag­te ich.

»Wie macht man das?«

»Nie­mand weiß, ob man es über­haupt fer­tig­brin­gen kann. Man be­wegt rea­le Din­ge mit dem Ver­stand.«

»Man kann es«, sag­te er kurz. »Und das da?«

»Tele­por­ta­ti­on. Das ist das glei­che – nun, fast das glei­che. Man kann den ei­ge­nen Kör­per auf Be­fehl des Ver­stan­des an ir­gend­ei­ne an­de­re Stel­le be­we­gen.«

»Ja, ja, ich weiß schon«, sag­te er brum­mig.

»Mo­le­ku­lar­durch­drin­gung. Te­le­pa­thie und Hell­se­hen. Ich weiß nicht viel dar­über. Das Gan­ze kommt mir al­bern vor.«

»Lies dar­über. Es ist egal, ob du es ver­stehst oder nicht. Was ist das?«

Es war in mei­nem Ge­hirn, es kam auf mei­ne Lip­pen. »Ge­stalt.«

»Was be­deu­tet das?«

»Grup­pe. Man könn­te sa­gen, ei­ne Heil­me­tho­de für ver­schie­de­ne Krank­hei­ten. Oder vie­le Ge­dan­ken, in ei­nem Satz aus­ge­drückt. Das Gan­ze ist grö­ßer als die Sum­me der Ein­zel­tei­le.«

»Dar­über lies auch nach. Be­son­ders dar­über. Es ist sehr wich­tig, ver­stehst du?«

Er wand­te sich ab, und als sich sein Blick von mir lös­te, war es wie ein Schlag. Ich stol­per­te und fiel auf die Knie. Er ging zu­rück in die Wäl­der, oh­ne sich noch ein­mal um­zu­se­hen. Ich nahm mei­ne Sa­chen und rann­te nach Hau­se. Ich war wü­tend, und die Wut schüt­tel­te mich wie ein Sturm. Ich hat­te Angst. Ich wuß­te, ich wür­de die Bü­cher le­sen, und ich wuß­te, ich wür­de zu­rück­ge­hen, und ich wuß­te, ich wür­de nie wie­der tan­zen.

So las ich die Bü­cher und ging zu­rück. Manch­mal kam ich drei oder vier Ta­ge hin­ter­ein­an­der, und manch­mal, wenn ich ein be­stimm­tes Buch nicht fin­den konn­te, viel­leicht erst nach zehn Ta­gen. Er war im­mer auf der klei­nen Lich­tung, war­te­te im Schat­ten und nahm, was er aus den Bü­chern brauch­te. Mich ließ er un­be­ach­tet. Er er­wähn­te nie das nächs­te Tref­fen. Ob er täg­lich kam, um auf mich zu war­ten, oder ob er nur kam, wenn ich hin­ging, weiß ich nicht.

Er ließ mich Bü­cher le­sen, die mir nichts sag­ten, Bü­cher über Evo­lu­ti­on, Ge­sell­schafts- und Kul­tu­r­or­ga­ni­sa­tio­nen, My­tho­lo­gie …

Und so­viel wie mög­lich über Sym­bio­se. Ich un­ter­hielt mich nicht mit ihm. Manch­mal spra­chen wir kein Wort, und au­ßer sei­nen über­rasch­ten Aus­ru­fen war nichts zu hö­ren.

Er ent­riß mir die Bü­cher, wie er Bee­ren von ei­nem Strauch riß – al­le auf ein­mal. Er roch nach Schweiß und Er­de und den grü­nen Säf­ten, die er im Wald beim Vor­bei­strei­fen aus den Blät­tern preß­te.

Wenn er et­was aus den Bü­chern lern­te, so merk­te man es sei­ner äu­ße­ren Er­schei­nung nicht an.

Es kam ein Tag, an dem er ne­ben mir saß und an et­was her­um­zurät­seln schi­en.

Er sag­te: »Kennst du ein Buch, das über sol­che Din­ge Be­scheid gibt?« Er war­te­te lan­ge und dach­te nach. »Zum Bei­spiel Ter­mi­ten. Sie fres­sen das Holz, und klei­ne Bak­te­ri­en in ih­rem Ma­gen ver­dau­en es. Und die Ter­mi­ten fres­sen nur das, was die Bak­te­ri­en üb­riglas­sen. Was ist das?«

»Sym­bio­se«, er­in­ner­te ich mich. Ich er­in­ner­te mich nur an die Wor­te. Lo­ne hol­te den In­halt aus den Wor­ten und warf die Wor­te weg. »Zwei Le­bens­ar­ten, die von­ein­an­der ab­hän­gen und oh­ne ein­an­der nicht exis­tie­ren kön­nen.«

»Ja. Gibt es ein Buch über vier oder fünf die­ser Ar­ten?«

»Ich weiß nicht.«

Dann frag­te er: »Was ist das? Man hat einen Sen­der mit vier oder fünf Emp­fän­gern, und je­der Emp­fän­ger macht et­was an­de­res. Ei­ner gräbt, ei­ner fliegt, ei­ner macht Lärm, aber je­der nimmt sei­ne Be­feh­le von ei­ner Zen­tra­le ent­ge­gen. Je­der hat sei­ne ei­ge­ne Ener­gie und sei­ne ei­ge­ne Auf­ga­be. Wenn man statt Sen­der und Emp­fän­ger ver­schie­de­ne Le­be­we­sen nimmt, was ist das?«

»Wo je­der Or­ga­nis­mus ein Teil des Gan­zen ist, aber trotz­dem ge­trennt lebt? Nein, ich glau­be nicht … Wenn Sie nicht ge­sell­schaft­li­che Or­ga­ni­sa­tio­nen mei­nen, wie ein Team oder ei­ne Grup­pe von Leu­ten, die Be­feh­le von ei­nem Boß ent­ge­gen­neh­men.«

»Nein«, sag­te er so­fort, »nicht so. Wie ein ein­zi­ges Tier.« Er mach­te ei­ne Ges­te, und ich ver­stand.

»Sie mei­nen ei­ne Ge­stalt-Le­bens­form?« frag­te ich. »Das ist Phan­tas­te­rei!«

»Dar­über gibt es wohl kei­ne Bü­cher, was?«

»Nicht daß ich wüß­te.«

»Ich muß mehr dar­über er­fah­ren«, sag­te er schwer­fäl­lig. »Es gibt so et­was. Ich möch­te wis­sen, ob so et­was schon ein­mal da war.«

»Ich kann mir nicht vor­stel­len, wie es so et­was ge­ben soll­te.«

»Aber ich lü­ge nicht. Ein Teil, der Din­ge holt, ein Teil, der nach­denkt, ein Teil, der al­les her­aus­bringt, und ein Teil, der spricht.«

»Spricht? Nur Men­schen spre­chen.«

»Ich weiß«, sag­te er und stand auf, um weg­zu­ge­hen.

Ich such­te und such­te nach so ei­nem Buch, aber ich konn­te nichts der­glei­chen fin­den. So ging ich wie­der zu Lo­ne und sag­te ihm Be­scheid. Er schwieg sehr lan­ge und be­trach­te­te die blaue Hü­gel­ket­te am Ho­ri­zont. Dann sah er mich wie­der mit sei­nen bren­nen­den Au­gen an und such­te.

»Du lernst, aber du denkst nicht«, sag­te er und sah wie­der zum Ho­ri­zont.

»Das ist bei al­len Men­schen so«, mein­te er schließ­lich. »Es ge­schieht di­rekt vor ih­ren Au­gen, und sie se­hen nichts. Es gibt Ge­dan­ken­le­ser. Es gibt Men­schen, die Din­ge be­we­gen kön­nen, oh­ne sie zu be­rüh­ren. Es gibt Men­schen, die sich kraft ih­res Ver­stan­des selbst fort­be­we­gen kön­nen. Was es nicht gibt, ist ein Mensch, der sie al­le zu­sam­men­bringt – wie ein Ge­hirn, das al­le Ner­ven ver­ei­nigt, die Seh-, Ge­schmacks- und Ge­fühls­ner­ven.«

»Ich bin so ein Mensch«, schloß er. Dann saß er wie­der lan­ge stumm da. Ich glaub­te schon, er ha­be mich ver­ges­sen.

»Lo­ne«, sag­te ich, »was ma­chen Sie hier in den Wäl­dern?«

»Ich war­te«, sag­te er. »Ich bin noch nicht fer­tig.« Er sah mir in die Au­gen und brumm­te ver­ächt­lich. »›Fer­tig‹ nicht in eu­rem Sinn. Ich will sa­gen, daß mir noch et­was fehlt, bis al­les voll­stän­dig ist. Du weißt doch, daß ein Wurm wie­der zu ei­nem Wurm wird, auch wenn man ihn aus­ein­an­der­schnei­det? Nun, ver­ges­sen wir den Schnitt. An­ge­nom­men, er ist gleich so ent­stan­den. Ver­stehst du? Ich schaf­fe mir Tei­le. Ich ha­be noch nicht al­le. Und ich brau­che ein Buch über ein We­sen wie mich, wenn ich al­le Tei­le ge­fun­den ha­be.«

»Ich ken­ne kein sol­ches Buch. Kön­nen Sie mir nichts Ge­nau­e­res dar­über sa­gen? Viel­leicht fän­de ich dann das Rich­ti­ge.«

Er zer­brach einen Zweig zwi­schen sei­nen rie­si­gen Hän­den, leg­te die bei­den Bruch­stücke ne­ben­ein­an­der und zer­brach auch sie mit ei­ner kräf­ti­gen Be­we­gung.

»Ich weiß nur, daß ich das, was ich tue, tun muß wie ein Vo­gel, der sein Nest baut. Und ich weiß, daß ich am En­de kein Über­mensch sein wer­de. Mein Kör­per wird schnel­ler und stär­ker sein als al­les bis­her Da­ge­we­se­ne, aber der rich­ti­ge Kopf wird feh­len. Viel­leicht ist das so, weil ich ei­ner der ers­ten bin. So wie die­ser Höh­len­mensch, von dem du ge­le­sen hast …«

»Der Ne­an­der­ta­ler?«

»Ja. Sieh ihn dir nur an, er war ge­wiß kein Meis­ter­werk. Ein frü­her Ver­such. Und bei mir wird es ähn­lich sein. Aber viel­leicht fin­det sich noch ein­mal der rech­te Kopf, wenn ich al­les or­ga­ni­siert ha­be. Dann hat die Welt ein neu­es Meis­ter­werk.«

Er brumm­te zu­frie­den vor sich hin und ging sei­nes Weges.

Ich such­te ta­ge­lang, aber ich konn­te nicht das fin­den, wo­nach er ver­lang­te. In ei­nem Ma­ga­zin stand, daß der nächs­te Ent­wick­lungs­schritt des Men­schen eher psy­chi­scher als phy­si­scher Art sein wür­de, aber die­ser – die­ser Ge­staltor­ga­nis­mus war nicht er­wähnt. Dann fand ich einen Ar­ti­kel über ei­ne Art von Schleim­pil­zen, aber ihr Zu­sam­men­le­ben konn­te man nicht ein­mal Sym­bio­se nen­nen.

In mei­ner wis­sen­schaft­lich nicht durch­trai­nier­ten Vor­stel­lung war kein Platz für die­ses Ding, das er sich da aus­ge­dacht hat­te. Ich muß­te im­mer an ei­ne Ka­pel­le den­ken, in der je­der ein an­de­res In­stru­ment spielt und ei­ne an­de­re Me­lo­die, die doch un­ter­ein­an­der ei­ne Ein­heit bil­den. Aber das hat­te er ja nicht ge­meint.

So ging ich an ei­nem küh­len Herb­sta­bend wie­der zu ihm, und er nahm das we­ni­ge, das er in mei­nen Au­gen fand. Dann wand­te er sich mit ei­nem häß­li­chen Wort von mir ab. Ich ha­be es aus mei­nem Ge­dächt­nis ge­stri­chen.

»Du kannst es nicht fin­den«, sag­te er. »Komm nicht mehr hier­her.«

Er stand auf, ging zu ei­ner al­ten, sturm­zer­fetz­ten Bir­ke hin­über und lehn­te sich ge­gen ih­ren Stamm. Sein Blick durch­bohr­te die Schat­ten. Ich glau­be, er hat­te mich be­reits ver­ges­sen, denn als ich ihn so von der Nä­he an­sprach, zuck­te er wie ein auf­ge­scheuch­tes Ka­nin­chen zu­sam­men. Er muß­te voll­kom­men in sei­ne selt­sa­men Ge­dan­ken ver­sun­ken ge­we­sen sein, so daß er mich nicht hat­te kom­men hö­ren.

»Lo­ne«, sag­te ich. »Gib mir nicht die Schuld dar­an, daß ich nichts ge­fun­den ha­be.«

Er hat­te sich wie­der in der Ge­walt und sah mich mit die­sen bren­nen­den Au­gen an. »Wer gibt wem die Schuld?«

»Ich ha­be ver­sagt«, er­klär­te ich. »Und du bist jetzt wü­tend auf mich.«

Er sah mich so lan­ge an, daß mir un­be­hag­lich zu­mu­te wur­de.

»Ich weiß nicht, wo­von du sprichst«, sag­te er.

Ich konn­te es nicht zu­las­sen, daß er sich wie­der von mir ab­wand­te. Und er hät­te es ge­tan. Er hät­te mich für im­mer mit dem einen Ge­dan­ken al­lein ge­las­sen: Ich war ihm egal! Es war nicht Grau­sam­keit oder Ge­dan­ken­lo­sig­keit, denn die­se Ge­füh­le ken­ne ich. Er war wie ei­ne Kat­ze, der es gleich ist, ob sie ei­ne Tul­pen­blü­te ab­bricht oder nicht.

Ich pack­te ihn an den Ober­ar­men und schüt­tel­te ihn. Es war, als hät­te ich ver­sucht, mein Haus zu schüt­teln. »Du kannst es wis­sen!« schrie ich ihm ent­ge­gen. »Du weißt, was ich ge­le­sen ha­be. Du mußt auch wis­sen, was ich den­ke.«

Er schüt­tel­te den Kopf.

»Ich bin ein Mensch, ei­ne Frau«, schrie ich ihm zu. »Du hast mich im­mer wie­der aus­ge­nutzt und mir nichts ge­ge­ben. Du hast es fer­tig­ge­bracht, daß ich al­le mei­ne Ge­wohn­hei­ten auf­gab, daß ich Abend für Abend hin­ter Bü­chern saß, daß ich im Re­gen zu dir kam, im Re­gen und sonn­tags – und du sprichst nicht mit mir, du siehst mich nicht an, du weißt nichts über mich, und ich bin dir egal. Du hast einen Bann um mich ge­legt, den ich nicht durch­bre­chen konn­te. Und wenn du mich nicht mehr brau­chen kannst, sagst du ein­fach: ›Komm nicht mehr hier­her!‹«

»Muß ich et­was zu­rück­ge­ben, wenn ich et­was ge­nom­men ha­be?«

»Das ist un­ter Men­schen so üb­lich.«

Er summ­te über­rascht und in­ter­es­siert vor sich hin. »Was soll ich dir ge­ben? Ich ha­be nichts.«

Ich trat zu­rück. Ich fühl­te – ich weiß nicht, was ich fühl­te. Nach lan­ger Zeit sag­te ich: »Ich weiß nicht.«

Er zuck­te die Schul­tern und dreh­te sich um. Ich sprang ge­ra­de­zu auf ihn los und riß ihn zu­rück.

»Ich will, daß du …«

Ich konn­te ihn nicht an­se­hen. Ich konn­te kaum spre­chen. »Ich weiß nicht. Da ist et­was, aber ich weiß nicht, was es ist. Ich – ich könn­te es auch nicht sa­gen, wenn ich es wüß­te.« Als er wie­der den Kopf schüt­tel­te, nahm ich wie­der sei­ne Ar­me. »Du hast die Bü­cher in mei­nem In­nern ge­le­sen. Kannst du nicht mei­ne Ge­füh­le – mi­di le­sen?«

»Ich ha­be es noch nie ver­sucht.« Er hielt mein Ge­sicht hoch und kam ganz na­he.

»Bit­te«, sag­te er.

 

Der Strahl sei­ner Au­gen durch­forsch­te mich, und ich schrie auf. Ich ver­such­te ihm zu ent­kom­men. Das hat­te ich nicht ge­wollt, wirk­lich nicht. Ich kämpf­te mit al­ler Kraft. Ich glau­be, er hob mich ein­fach vom Bo­den hoch. Er hielt mich fest, bis er fer­tig war. Dann ließ er mich ein­fach fal­len. Ich lag da und schluchz­te. Er setz­te sich ne­ben mich. Er ver­such­te nicht, mich zu be­rüh­ren. Er ver­such­te nicht, weg­zu­ge­hen. End­lich be­ru­hig­te ich mich und setz­te mich auf. Ich war­te­te.

»So was ma­che ich nie wie­der«, sag­te er.

Ich zog den Rock um mei­ne Knö­chel und leg­te die Wan­ge auf die hoch­ge­zo­ge­nen Knie, so daß ich sein Ge­sicht se­hen konn­te. »Was ge­sch­ah?«

Er fluch­te. »Ver­damm­ter Misch­masch in dir. Drei­und­drei­ßig Jah­re alt – warum lebst du nur so?«

»Ich ha­be ein an­ge­neh­mes Le­ben«, sag­te ich ein we­nig be­lei­digt.

»Jaa«, sag­te er ge­dehnt. »Seit zehn Jah­ren bist du al­lein mit dei­ner Haus­häl­te­rin. Ganz al­lein.«

»Män­ner sind Tie­re. Und Frau­en …«

»Im Grun­de ge­nom­men haßt du Frau­en. Sie al­le ha­ben dir et­was vor­aus. Du weißt nicht, was es ist.«

»Ich will es gar nicht wis­sen. Ich bin glück­lich.«

»Blöd­sinn.«

Dar­auf sag­te ich nichts. Ich ver­ach­te die­se Art von Aus­drucks­wei­se.

»Zwei Din­ge willst du von mir. Mir er­schei­nen bei­de sinn­los.« Er sah mich zum ers­ten­mal mit ei­nem mensch­li­chen Aus­druck an: Es war rei­ne Ver­wun­de­rung. »Du möch­test al­les über mich er­fah­ren. Wo­her ich kom­me und wes­halb ich so ge­wor­den bin.«

»Ja, das will ich. Und das an­de­re?«

»Ich wur­de ir­gend­wo ge­bo­ren und bin ge­wach­sen wie ir­gend­ein Un­kraut.« Er hat­te mei­ne zwei­te Fra­ge igno­riert. »Mei­ne Leu­te ver­such­ten nicht mal die Wai­sen­hau­stour. Ich leb­te ei­ne Zeit­lang bei Frem­den, ver­such­te es mit der Schu­le, aber sie schmeck­te mir nicht. Die Stadt war zu klein für Son­der­schu­len. Du ver­stehst, ich war ein we­nig zu­rück­ge­blie­ben. So lief ich ein­fach um­her, als ei­ne Art Dorf­trot­tel. Und das wä­re ich ge­blie­ben, wenn ich mich nicht in die Wäl­der zu­rück­ge­zo­gen hät­te.«

»Wes­halb?«

Er über­leg­te und sag­te schließ­lich: »Ver­mut­lich, weil ich in der Le­bens­wei­se der an­de­ren kei­nen Sinn se­hen konn­te. Ich hat­te mich gut um­ge­se­hen und wuß­te, daß es ver­schie­de­ne Ar­ten gab, das Le­ben an­zu­pa­cken, aber kei­ne paß­te für mich. Hier drau­ßen kann ich le­ben, wie es mir ge­fällt.«

»Und das wä­re?« frag­te ich über ei­ne je­ner wei­ten Kluf­ten hin­weg, die sich zwi­schen mir und ihm dau­ernd bil­de­ten und wie­der über­brückt wur­den.

»Ich woll­te es aus dei­nen Bü­chern ler­nen.«

»Das hast du mir nie ge­sagt.«

 

Zum zwei­ten­mal sag­te er: »Du lernst, aber du denkst nicht. Es gibt ei­ne Art – nun, Per­son. Sie be­steht aus ge­trenn­ten Tei­len, aber sie ist ei­ne Ein­heit. Sie hat so et­was wie Hän­de, so et­was wie Bei­ne, so et­was wie einen Mund zum Spre­chen und ein Ge­hirn zum Den­ken. Das bin ich, das Ge­hirn die­ser Per­son. Ver­dammt schwach, ich muß zu­ge­ben, aber ich ha­be nichts Bes­se­res ge­fun­den.«

»Du bist ver­rückt.«

»Nein, bin ich nicht«, sag­te er, nicht im ge­rings­ten be­lei­digt und völ­lig über­zeugt. »Den Teil, der die Hän­de über­nimmt, ha­be ich schon. Sie be­we­gen sich, wann ich es be­feh­le, und sie tun, was ich will, ob­wohl sie noch zu jung sind, um viel Gu­tes zu tun. Ich ha­be auch schon den Teil, der spricht. Und der ist wirk­lich Klas­se.«

»Dei­ne Sprech­wei­se ist aber mi­se­ra­bel«, sag­te ich. Ich kann nun mal schlecht ge­spro­che­nes Eng­lisch nicht aus­ste­hen.

 

Er war über­rascht. »Ich spre­che nicht von mir. Sie ist in der Hüt­te bei den an­de­ren.«

»Sie?«

»Na, die­je­ni­ge, die spricht. Jetzt brau­che ich noch einen, der denkt, der zwei und zwei zu­sam­men­zäh­len kann und im­mer die rich­ti­ge Ant­wort be­reit hat. Und so­bald wir al­le bei­sam­men sind und die Tei­le an­ein­an­der ge­wöhnt sind, bin ich die­ses neue Ding, von dem ich dir er­zählt ha­be. Ver­stehst du? Nur – ich woll­te, ich hät­te einen klü­ge­ren Kopf.«

Mein ei­ge­ner Kopf summ­te. »Wie bist du auf die­se Idee ge­kom­men?«

Er be­trach­te­te mich ernst. »Wes­halb wach­sen dir Haa­re in der Ach­sel­höh­le?« frag­te er mich. »So et­was denkt man sich nicht aus. Es ist ein­fach da.«

»Was – was tust du, wenn du mir in die Au­gen siehst?«

»Möch­test du einen Na­men da­für? Ich weiß kei­nen. Ich weiß nicht, wie ich es ma­che. Ich weiß nur, daß ich je­den da­zu zwin­gen kann, das zu tun, was ich will. So kann ich dich zum Bei­spiel da­zu zwin­gen, daß du mich ver­gißt.«

»Ich will nicht ver­ges­sen«, sag­te ich mit er­stick­ter Stim­me.

»Du wirst es aber.« Ich wuß­te nicht, ob er da­mit mein­te, daß ich ihn ver­ges­sen wür­de oder daß ich ihn ver­ges­sen woll­te. »Du wirst mich has­sen, und dann, nach lan­ger Zeit, wirst du mir dank­bar sein. Viel­leicht wirst du auch ei­nes Ta­ges et­was für mich tun kön­nen. Du wirst so dank­bar sein, daß du es gern tun wirst. Aber du wirst al­les ver­ges­sen, bis auf ei­ne Art – Ge­fühl. Und viel­leicht mei­nen Na­men.«

Ich weiß nicht, was mich zu die­ser Fra­ge be­weg­te, aber ich stell­te sie ihm ganz ge­dan­ken­ver­lo­ren: »Und nie­mand wird je wis­sen, was zwi­schen dir und mir war?«

»Nein«, sag­te er. »Wenn nicht … Nun, au­ßer dem Kopf des Le­be­we­sens viel­leicht.« Er er­hob sich.

»War­te doch, war­te!« rief ich. Er durf­te jetzt nicht weg­ge­hen, nicht jetzt. Er war ein großes, schmut­zi­ges Tier von ei­nem Mann, aber auf ir­gend­ei­ne schreck­li­che Wei­se hat­te er mich ge­fan­gen­ge­nom­men. »Du hast mir noch nicht die­ses – an­de­re ge­ge­ben.«

»Ach das«, sag­te er. »Ja.«

Er be­weg­te sich wie der Blitz. Ein Druck, ein Hin­stre­cken und ein – ein Durch­bruch. Und mit ei­nem zer­rei­ßen­den Schmerz und ei­nem Auf­flam­men des Tri­um­phs, der den Schmerz über­la­ger­te, war es ge­sche­hen.

 

Ich kam zu mir und konn­te ge­nau die zwei Ebe­nen er­ken­nen:

Ich bin elf, atem­los von dem Schock, den das Ein­tre­ten ei­nes frem­den Ichs in mein In­ne­res ver­ur­sacht hat. Und:

Ich bin fünf­zehn und lie­ge auf der Couch, wäh­rend Stern gleich­mä­ßig wei­ter­sprach: »… Ru­hig, ru­hig, dei­ne Schen­kel und Knö­chel sind so steif wie dei­ne Ze­hen, dein Nacken ist so steif wie dein Bauch, er ist ru­hig und leicht und gar nicht vor­han­den. Steif, ganz steif …«

Ich setz­te mich auf und stell­te die Bei­ne auf den Bo­den. »Okay«, sag­te ich.

Stern sah mich ein we­nig ver­är­gert an. »Es wird hel­fen«, sag­te er, »aber du mußt mit­ar­bei­ten. Leg dich wie­der hin …«

»Es hat schon ge­hol­fen«, sag­te ich.

»Was?«

»Al­les. Von A bis Z.« Ich schnipp­te mit den Fin­gern. »Ein­fach so.«

Er sah mich durch­drin­gend an. »Was meinst du da­mit.«

»Es kam, ge­nau­so wie Sie sag­ten. In der Bi­blio­thek. Als ich elf war. Als sie sag­te: ›Ba­by ist drei.‹ Es riß et­was auf, was drei Jah­re lang in ihr ge­ar­bei­tet hat­te. Al­les kam her­aus. Es traf mich mit gan­zer Ge­walt. Oh­ne War­nung, oh­ne daß ich mich ver­tei­di­gen konn­te. Und ich war nur ein elf­jäh­ri­ges Kind. Es war ein sol­cher Schmerz da­bei, wie man sich ihn gar nicht vor­stel­len kann.«

»Wei­ter«, sag­te Stern.

»Das ist ei­gent­lich al­les. Ich mei­ne, es ist nicht die gan­ze Ge­schich­te. Aber die Haupt­sa­che da­bei ist doch, wie ich sie er­leb­te. Al­les auf ein­mal. All die Din­ge, die sie in­ner­halb von vier Mo­na­ten er­lebt hat­te. Sie kann­te Lo­ne.«

»Willst du da­mit sa­gen, daß du im Bruch­teil ei­ner Se­kun­de all das mit­er­lebt hast?«

»Ja.« Ich ver­such­te es ihm zu er­klä­ren. »Ver­ste­hen Sie, für die­se kur­ze Zeit war ich sie mit al­lem, was sie je ge­tan, ge­dacht, ge­hört und ge­fühlt hat­te. Al­les, al­les in der rich­ti­gen Rei­hen­fol­ge. Oder ei­ne Ein­zel­heit. Ich konn­te aus­wäh­len, was ich woll­te. Wenn ich Ih­nen er­zäh­le, was ich zum Abendes­sen hat­te, muß ich Ih­nen da­zu al­le an­de­ren Er­eig­nis­se von mei­ner Ge­burt an schil­dern? Nein. Ich sa­ge Ih­nen, ich war sie, und seit­dem kann ich mich an je­de Ein­zel­heit er­in­nern, die sie bis zu die­sem Zeit­punkt er­lebt hat­te. Ich war sie – wenn auch nur für den Bruch­teil ei­ner Se­kun­de.«

»Ge­stalt«, mur­mel­te er.

»Aha«, mein­te ich und dach­te dar­über nach. Ich dach­te über vie­le an­de­re Din­ge nach. Dann schob ich al­les einen Au­gen­blick bei­sei­te und frag­te: »Warum wuß­te ich das al­les nicht vor­her?«

»In dir war ei­ne star­ke Sper­re, die dich dar­an hin­der­te, an die­se Din­ge zu­rück­zu­den­ken.«

 

Ich stand er­regt auf. »Aber ich se­he nicht ein, wes­halb. Ich kann es ein­fach nicht ein­se­hen.«

»Ein na­tür­li­cher Ab­scheu«, mein­te er. »Was sagst du da­zu? Du hat­test einen Ekel da­vor, auch nur ei­ne Se­kun­de lang ein weib­li­ches Ego an­zu­neh­men.«

»Ganz am An­fang sag­ten Sie selbst, daß ich die­se Art von Pro­blem nicht hät­te.«

»Nun, dann viel­leicht fol­gen­des: Du sag­test, daß du bei die­ser Epi­so­de Schmerz ge­fühlt hät­test. Viel­leicht hat­test du Angst, die­sen Schmerz noch ein­mal durch­ma­chen zu müs­sen.«

»Las­sen Sie mich nach­den­ken. Ja – zum Teil. Und ich hat­te über­haupt Angst, in das In­ne­re ei­nes an­de­ren Men­schen ein­zu­drin­gen. Sie öff­ne­te sich mir, weil ich sie an Lo­ne er­in­ner­te. Ich drang in sie ein. Ich war noch nicht be­reit. Ich hat­te es zu­vor noch nie ge­tan – nur ganz mi­ni­mal und dann ge­gen den Wil­len der Ver­suchs­per­son. Ich drang ganz in sie ein, und das war zu­viel. Es schreck­te mich so ab, daß ich es jah­re­lang nicht mehr ver­such­te. Ich schloß es weg. Aber als ich äl­ter wur­de, wur­de auch die Kraft in mir stär­ker und stär­ker. Ich hat­te im­mer noch Angst, sie zu be­nut­zen. Und je mehr ich wuchs, de­sto mehr fühl­te ich tief in mir, daß ich Miß Kew tö­ten muß­te, be­vor sie das tö­te­te – was ich bin. Mein Gott!« schrie ich plötz­lich auf. »Wis­sen Sie, was ich bin?«

»Nein«, ant­wor­te­te er. »Willst du es mir sa­gen?«

»O ja«, sag­te ich. »So gern.«

Er hat­te die­sen be­rufs­mä­ßig in­ter­es­sier­ten Ge­sichts­aus­druck auf­ge­setzt, die­se Mas­ke, der man nicht ent­neh­men konn­te, ob er mir glaub­te oder nicht. Ich woll­te es ihm sa­gen, aber plötz­lich fehl­ten mir die Wor­te. Ich fühl­te die Din­ge und hat­te doch kei­nen Na­men für sie.

Lo­ne hol­te den In­halt aus den Wor­ten und warf die Wor­te weg.

Und noch frü­her: Du liest Bü­cher. Du mußt ein paar Bü­cher für mich le­sen.

Der Blick die­ser Au­gen. Die­ses … öff­nen.

Ich ging zu Stern hin­über. Er sah zu mir auf. Ich beug­te mich dicht über ihn. Zu­erst war er ver­blüfft, dann be­herrsch­te er sich und brach­te sein Ge­sicht noch nä­her an mei­nes.

»Mein Gott«, mur­mel­te er. »Ich ha­be mir die­se Au­gen vor­her nicht an­ge­se­hen. Ich hät­te schwö­ren kön­nen, daß sich die Iris dreht …«

 

Stern las Bü­cher. Er hat­te mehr Bü­cher ge­le­sen, als ich mir vor­stel­len konn­te. Ich drang in ihn ein und such­te nach den rich­ti­gen Be­grif­fen.

Ich kann nicht ge­nau be­schrei­ben, was ich da­bei fühl­te. Es war, als gin­ge ich durch einen Tun­nel, und in die­sem Tun­nel streck­ten sich mir Holzar­me ent­ge­gen – wie bei die­sem Ding auf dem Jahr­markt, wo man Mes­sin­g­rin­ge über die vor­ste­hen­den Höl­zer wer­fen muß­te, um et­was zu ge­win­nen.

Am En­de je­des Ar­mes hing der Ring. Man konn­te ihn ab­strei­fen oder hän­gen­las­sen.

Und jetzt stel­le man sich vor, man den­ke nur an die Rin­ge, die man braucht, und auf den Holzar­men be­fin­den sich nur noch sie. Und man selbst greift mit tau­send Hän­den nach ih­nen. Der Gang ist un­zäh­li­ge Mei­len lang, und man kann all die Rin­ge, die an den Wän­den und so­gar an der De­cke hän­gen, so schnell her­un­ter­neh­men, daß man nach ei­nem kur­z­en Blin­zeln fer­tig ist. Al­so, so ähn­lich war es, nur noch leich­ter.

Es war für mich leich­ter, als es für Lo­ne ge­we­sen war.

Ich rich­te­te mich auf und lös­te mich von Stern. Er sah blaß und er­schreckt aus.

»Es ist wie­der gut«, sag­te ich.

»Was hast du mit mir ge­macht?«

»Mir fehl­ten ei­ni­ge Wor­te. Na, na. Kom­men Sie wie­der zu sich.«

Ich muß­te ihn be­wun­dern. Er steck­te die Pfei­fe in die Ta­sche und preß­te die Fin­ger­spit­zen ge­gen Stirn und Wan­gen. Dann rich­te­te er sich auf und war wie­der ganz nor­mal.

»Ich weiß«, sag­te ich. »So hat sich Miß Kew ge­fühlt, als Lo­ne in ih­ren Bü­chern las.«

»Was bist du?«

»Ich wer­de es Ih­nen sa­gen. Ich bin das Zen­tral­gan­gli­on ei­nes Or­ga­nis­mus, der sich aus fol­gen­den Tei­len zu­sam­men­setzt: Ba­by, ein Kom­pu­ter. Bon­nie und Be­a­nie, Tele­por­ter. Ja­nie, Te­le­ki­ne­tin und zen­tra­le Kon­trol­le. Wir sind nichts Be­son­de­res. Den­ken Sie an die Tele­por­ta­ti­on der Yo­gi, die Te­le­ki­ne­se ei­ni­ger Glückss­pie­ler und Gauk­ler, die Ma­the­ma­ti­ker, die sich bis zum Wahn­sinn in ih­re Theo­ri­en ver­gra­ben und, nicht zu­letzt, an den so­ge­nann­ten Pol­ter­geist, der jun­ge Mäd­chen da­zu aus­nützt, Haus­halts­ge­gen­stän­de um­her­zu­tra­gen, oh­ne daß sie es wis­sen. Nur daß in die­sem Fall je­der mei­ner Tei­le Spit­zen­leis­tun­gen ent­wi­ckelt.

Lo­ne or­ga­ni­sier­te es, oder es bil­de­te sich um ihn her­aus. Es ist un­wich­tig, wie es sich ab­spiel­te. Ich er­setz­te Lo­ne, aber ich war bei sei­nem Tod noch zu un­ter­ent­wi­ckelt. Da­zu kam der Schock, als ich in Miß Kew ein­drang. In die­ser Hin­sicht hat­ten Sie recht, als Sie sag­ten, das Er­leb­nis ha­be mich un­ter­be­wußt dar­an ge­hin­dert, den Tat­sa­chen nach­zu­for­schen. Aber ich hat­te noch einen an­de­ren Grund, die­se Schwel­le ›Ba­by ist drei‹ nicht zu über­schrei­ten.

Wir ka­men auf die Fra­ge, was ich mehr schätz­te als die Si­cher­heit, die uns Miß Kew gab. Kön­nen Sie jetzt er­ken­nen, was es war? Mein Ge­staltor­ga­nis­mus muß­te in die­ser Si­cher­heit er­sti­cken. Ich kam zu dem Schluß, daß sie – oder ich – ge­tö­tet wer­den muß­te. Si­cher, die Tei­le wür­den wei­ter­le­ben: zwei far­bi­ge klei­ne Mäd­chen mit ei­nem Sprach­feh­ler, ein in sich ge­kehr­tes Mäd­chen mit ei­ner künst­le­ri­schen Nei­gung, ein mon­go­loi­der Idi­ot und ich – zu neun­zig Pro­zent Fä­hig­kei­ten, die nicht an die Ober­flä­che drin­gen konn­ten, und zu zehn Pro­zent ein ju­gend­li­cher Tau­ge­nichts.« Ich lach­te. »Na­tür­lich, sie muß­te ge­tö­tet wer­den. Zur Er­hal­tung des Ge­staltor­ga­nis­mus.«

Stern setz­te mehr­mals zum Spre­chen an und brach­te schließ­lich her­aus: »Aber ich se­he nicht …«

»Brau­chen Sie auch nicht«, lach­te ich. »Das ist herr­lich. Und Sie sind auch herr­lich. Jetzt will ich Ih­nen ei­nes sa­gen, weil Sie es viel­leicht in Ih­rem Be­ruf noch nicht er­lebt ha­ben. Sie spre­chen von Ok­klu­sio­nen, ha! Ich konn­te an der ›Ba­by-ist-drei‹-Bar­rie­re nicht vor­bei, weil in ihr der Schlüs­sel zu mei­nem wirk­li­chen Ich lag. Ich woll­te nicht dar­an er­in­nert wer­den, was ich tun muß­te, um mei­nen Ge­staltor­ga­nis­mus zu ret­ten. Ich woll­te nicht er­in­nert wer­den, daß ich ver­sagt hat­te. Ist das nicht herr­lich?«

»Ver­sagt? In­wie­fern ver­sagt?«

»Se­hen Sie. Ich be­gann Miß Kew zu lie­ben, und ich hat­te noch nie zu­vor je­man­den ge­liebt. Und den­noch muß­te ich sie tö­ten. Aber ich konn­te es nicht. Was tut der mensch­li­che Geist, wenn er vor zwei gleich zwin­gen­de For­de­run­gen ge­stellt wird, die sich wi­der­spre­chen?«

»Er – er könn­te sich ein­fach wei­gern. Wie du vor­her sag­test, brennt ei­ne Art Si­che­rung durch. Er wei­gert sich, auf die­sem Ge­biet zu funk­tio­nie­ren.«

»Nun, bei mir war das nicht der Fall. Ich ha­be die Schwel­le über­schrit­ten. Was sonst?«

»Er könn­te sich der Täu­schung hin­ge­ben, daß er be­reits ei­ne der For­de­run­gen er­füllt hat.«

 

Ich nick­te glück­lich. »Ich ha­be sie nicht um­ge­bracht. Ich be­schloß, daß ich es tun müß­te. Ich stand auf, zog mich an – und dann weiß ich nur noch, daß ich ganz ver­wirrt drau­ßen um­her­wan­der­te. Ich hol­te mein Geld – und jetzt weiß ich, daß ich mit mei­ner Su­perem­pa­thie je­des Preis­aus­schrei­ben ge­win­nen kann – und such­te einen Ge­hirn­wä­scher auf. Ich fand einen gu­ten.«

»Dan­ke«, sag­te er ver­wirrt. Er sah mich mit selt­sa­men Au­gen an. »Und was ist jetzt an­ders, nach­dem du es weißt? Was willst du tun?«

»Nach Hau­se ge­hen«, sag­te ich glück­lich. »Den Su­per­or­ga­nis­mus wie­der ins Le­ben ru­fen, ihn heim­lich üben, aber so, daß wir Miß Kew da­bei nicht un­glück­lich ma­chen. Wir wer­den so lan­ge bei ihr blei­ben, so­lan­ge es ihr an­ge­nehm ist. Und wir wer­den ihr Freu­de ma­chen. Sie wird so glück­lich sein, wie sie es in ih­ren kühns­ten Träu­men nicht ge­hofft hat. Das ar­me, hung­ri­ge Herz un­ter den stei­fen Spit­zen ver­dient es.«

»Und sie kann eu­ren – Ge­staltor­ga­nis­mus nicht tö­ten?«

»Nicht die Spur. Jetzt nicht mehr.«

»Wo­her weißt du, daß er nicht schon jetzt tot ist?«

»Wie?« wie­der­hol­te ich. »Wie weiß Ihr Kopf, daß Ihr Arm funk­tio­niert?«

Er be­feuch­te­te sei­ne Lip­pen. »Du gehst jetzt nach Hau­se, um ei­ne ält­li­che Jung­fer glück­lich zu ma­chen. Und da­nach?«

Ich zuck­te mit den Schul­tern. »Da­nach?« Ich ver­zog das Ge­sicht zu ei­ner spöt­ti­schen Mie­ne. »Hat der Pe­king­mensch den Ho­mo sa­pi­ens an­ge­se­hen, als er zum ers­ten­mal auf­recht ging, und ge­fragt: ›Was wird er da­nach ma­chen?‹ Wir wer­den le­ben, das ist al­les – wie ein Mensch, wie ein Baum, wie al­le an­de­ren Le­be­we­sen. Wir wer­den es­sen und wach­sen und ex­pe­ri­men­tie­ren und uns ver­meh­ren. Wir wer­den uns ver­tei­di­gen.« Ich streck­te die Hän­de aus. »Wir wer­den das tun, was die Na­tur uns vor­schreibt.«

»Aber was könnt ihr tun?«

»Was kann ein Elek­tro­mo­tor tun? Das hängt da­von ab, wo man ihn ein­setzt.«

Stern war sehr blaß. »Aber ihr seid der ein­zi­ge sol­che Or­ga­nis­mus …«

»Wirk­lich? Ich weiß es nicht. Ich glau­be es nicht. Ich ha­be Ih­nen von den Tei­len er­zählt, die es schon seit lan­gem gibt – von den Te­le­pa­then, den Pol­ter­geis­tern. Ih­nen fehl­te die Or­ga­ni­sa­ti­on. Sie hat­ten kei­ne Köp­fe, die sich der zer­flie­ßen­den Kör­per an­nah­men. Lo­ne war ei­ner, ich bin der nächs­te. Es muß noch mehr ge­ben. Das wer­den wir her­aus­fin­den, wenn wir reif sind.«

»Ihr – ihr seid noch nicht reif?«

»Du lie­be Gü­te – nein!« lach­te ich. »Wir sind noch im Kin­desal­ter. Wir ent­spre­chen in et­wa ei­nem drei­jäh­ri­gen Kind. Da ha­ben Sie es wie­der, aber dies­mal sa­ge ich es oh­ne Scheu: Ba­by ist drei.« Ich sah mei­ne Hän­de an. »Ba­by ist drei.« Ich hat­te es noch ein­mal ge­sagt, weil es mir so an­ge­nehm leicht über die Lip­pen kam. »Und wenn die­ses be­son­de­re Grup­pen­ba­by fünf ist, hat es viel­leicht Lust, Feu­er­wehr­mann zu wer­den. Mit acht will es Cow­boy oder FBI-Mann sein. Und wenn es er­wach­sen ist, wird es viel­leicht ei­ne Stadt bau­en oder Prä­si­dent wer­den wol­len.«

»O Gott!« sag­te er. »O Gott!«

Ich sah auf ihn her­ab. »Sie ha­ben Angst«, sag­te ich. »Sie fürch­ten sich vor Ho­mo ge­stalt

Er mach­te den Ver­such und lä­chel­te. »Das ist ei­ne Ba­stard­ter­mi­no­lo­gie.«

»Wir sind Ba­star­de«, sag­te ich. Ich gab ihm ein Zei­chen. »Set­zen Sie sich dort drü­ben hin.«

 

Er durch­quer­te den stil­len Raum und setz­te sich an den Schreib­tisch. Ich beug­te mich über ihn, und er schlief mit of­fe­nen Au­gen ein. Ich stand auf und sah mich im Raum um. Dann nahm ich die Ther­mos­fla­sche, füll­te sie und stell­te sie auf den Schreib­tisch. Ich strich die Ecke des Tep­pichs glatt und leg­te ein sau­be­res Hand­tuch auf die Couch. Dann öff­ne­te ich die Schreib­tisch­schub­la­de und sah mir das Ton­band an.

Es war, als hät­te ich nur die Hand aus­ge­streckt, und schon war Be­a­nie da. Sie stand mit großen Au­gen ne­ben dem Schreib­tisch.

»Sieh her«, er­klär­te ich ihr. »Paß gut auf. Du mußt die­ses Band lö­schen. Frag Ba­by, wie du es ma­chen sollst.«

Sie blin­zel­te mir zu und schüt­tel­te sich ein we­nig, und dann beug­te sie sich über das Ton­band. Sie war da – und weg – und wie­der da. Im Handum­dre­hen. Sie ging an mir vor­bei, dreh­te an zwei Knöp­fen und be­weg­te einen Zei­ger, bis es zwei­mal klick­te. Das Band lief mit ei­nem sum­men­den Ge­räusch zu­rück.

»Schon gut«, sag­te ich. »Ver­schwin­de.«

Sie ver­schwand.

Ich zog mei­ne Ja­cke an und ging zur Tür. Stern saß im­mer noch am Schreib­tisch und starr­te vor sich hin.

»Ein gu­ter Ge­hirn­wä­scher«, mur­mel­te ich vor mich hin. Ich fühl­te mich sehr wohl.

Drau­ßen war­te­te ich, dann dreh­te ich mich um und ging noch ein­mal hin­ein.

Stern sah mich an. »Setz dich dort drü­ben hin, Son­ny.«

»He«, sag­te ich. »Ent­schul­di­gung, Sir. Ich ha­be das falsche Bü­ro er­wi­scht.«

»Schon gut«, sag­te er.

Ich ging hin­aus und schloß die Tür. Den gan­zen Weg bis zu dem La­den, in dem ich Miß Kew ein paar Blu­men kauf­te, grins­te ich vor mich hin. Ich über­leg­te, wie er sich den ver­lo­re­nen Nach­mit­tag und die ge­won­ne­nen tau­send Dol­lar er­klä­ren wür­de.