Baby ist
drei
von
THEODORE STURGEON
Schließlich suchte ich diesen Stern auf. Er war nicht im geringsten verknöchert. Er sah von seinem Schreibtisch auf, musterte mich mit einem kurzen Blick und nahm einen Bleistift in die Hand.
»Nimm da drüben Platz, Sonny.«
Ich blieb stehen, wo ich stand, bis er wieder aufsah. Dann sagte ich: »Hören Sie mal, was würden Sie wohl sagen, wenn ein Liliputaner ’reinkäme? Setz dich dort drüben hin, Shorty?«
Er legte den Bleistift wieder weg und erhob sich. Er lächelte. Sein Lächeln war so schnell und scharf wie sein Blick. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber wie konnte ich wissen, daß du es nicht magst, wenn dich jemand mit Sonny anredet?«
Das klang schon besser, aber ich war immer noch wütend.
»Ich bin fünfzehn, und ich brauche es mir nicht gefallen zu lassen. Merken Sie sich, es geht mir gegen den Strich.«
Er lächelte wieder und sagte, es sei schon gut, und ich ging hinüber und setzte mich.
»Wie heißt du?«
»Gerard.«
»Vor- oder Nachname?«
»Beides«, sagte ich.
»Stimmt das auch?«
»Nein«, sagte ich. »Und fragen Sie mich auch nicht, wo ich wohne.«
Er legte den Bleistift weg. »So kommen wir nicht sehr weit.«
»Das liegt an Ihnen. Was paßt Ihnen nicht? Daß ich so feindselig bin? Ja, sicher, das bin ich. Und noch ’ne ganze Menge mehr. Sonst wäre ich nicht bei Ihnen. Lassen Sie sich durch so etwas abhalten?«
»Hm, nein, aber …«
»Was regt Sie dann auf? Ob ich zahlen kann?« Ich legte eine Tausenddollarnote auf den Schreibtisch. »So. Jetzt brauchen Sie mir wenigstens wegen des Geldes nicht nachzulaufen. Führen Sie Buch und sagen Sie mir, wenn es zu Ende ist. Ich gebe Ihnen dann wieder welches. Auf diese Weise brauchen Sie meine Adresse nicht.«
Er wollte das Geld nehmen.
»Halt«, sagte ich. »Lassen Sie es noch hier liegen. Ich möchte erst sicher sein, ob wir beide auch miteinander auskommen.«
Er faltete die Hände. »Auf diese Art mache ich keine Geschäfte, mein Junge – äh, Gerard.«
»Gerry«, verbesserte ich ihn. »Wenn Sie mit mir ein Geschäft machen wollen, müssen Sie sich nach mir richten.«
»Findest du nicht, daß du alles ein wenig kompliziert machst? Woher hast du die tausend Dollar?«
»Ich habe ein Preisausschreiben gewonnen. Fünfundzwanzig Worte oder weniger, wie herrlich es sei, die weiche Sudso-Unterwäsche zu tragen.«
Ich beugte mich vor. »Diesmal sage ich die Wahrheit.«
»Schon gut«, sagte er.
Ich war überrascht. Ich glaube, er merkte es, aber er sagte kein Wort mehr. Wartete einfach, daß ich zu reden anfangen würde.
»Bevor wir anfangen«, sagte ich, »wenn wir überhaupt anfangen, muß ich eines wissen. Was ich Ihnen erzähle – was während Ihrer Behandlung aus mir herauskommt –, bleibt das völlig unter uns? Wie bei einem Pfarrer oder Rechtsanwalt?«
»Völlig«, sagte er.
»Ganz gleich, was ich sage?«
»Ganz gleich.«
Ich beobachtete ihn, als er das sagte. Ich glaubte ihm.
»Nehmen Sie Ihr Geld«, sagte ich. »Ich bleibe.«
Er ließ es liegen und erwiderte: »Wie du vorhin sagtest, liegt das an mir. Du kannst so eine Behandlung nicht kaufen, wie du vielleicht eine Tafel Schokolade kaufst. Wir müssen zusammenarbeiten. Wenn einer von uns nicht dazu in der Lage ist, hat das Ganze keinen Sinn. Du kannst nicht zu dem erstbesten Psychotherapeuten gehen, den du im Telefonbuch findest, und verlangen, was dir einfällt, nur weil du dafür bezahlen kannst.«
»Ich habe Ihre Adresse nicht aus dem Telefonbuch, und ich erwarte auch nicht, daß Sie mir helfen können«, sagte ich müde. »Ich habe gründlich zwischen einem Dutzend oder mehr Gehirnwäschern gewählt, bevor ich mich für Sie entschloß.«
»Danke«, sagte er, und es sah so aus, als wolle er mich auslachen. Das ist etwas, das ich absolut nicht leiden kann. »Wie hast du das denn gemacht?« fragte er.
»Man hört und liest so allerhand. Sie wissen schon. Mehr bringen Sie aus mir nicht heraus. Lassen Sie es außer acht, wie meinen Namen und meine Adresse.«
Er sah mich lange an. Zum erstenmal ruhten seine Augen voll auf mir. Dann nahm er die Banknote in die Hand.
»Was soll ich zuerst tun?« fragte ich.
»Was meinst du damit?«
»Wie fangen wir an?«
»Wir haben schon angefangen, als du hereinkamst.«
Diesmal mußte ich lachen. »Schön, Sie sind mir über. Ich wußte nur, wie die Anfangsvorstellung verlaufen würde. Was Sie anschließend tun würden, war mir unbekannt. So konnte ich mich nicht darauf einstellen.«
»Das ist interessant«, meinte Stern. »Kundschaftest du immer alles vorher aus?«
»Immer.«
»Und wie oft ist das, was du herausbringst, richtig?«
»Immer. Außer … Aber weshalb sollte ich mit Ihnen über die Ausnahmen sprechen?«
Diesmal grinste er wirklich. »Ich verstehe. Einer meiner Patienten hat geschwatzt.«
»Einer Ihrer ehemaligen Patienten. Ihre Patienten selbst sagen nichts.«
»Ich bitte sie darum. Das gilt auch für dich. Was hast du von mir gehört?«
»Daß Sie aus dem, was die Leute sagen und tun, erkennen können, was sie sagen und tun werden. Daß Sie sie manchmal ruhig tun lassen, was sie wollen, und andere Male wieder nicht. Wie haben Sie denn das gelernt?«
Er dachte eine Zeitlang nach. »Vermutlich hatte ich schon von Geburt an einen Blick für das Detail. Und den Rest lernte ich aus meinen Fehlern. Ich habe so oft Leute falsch eingeschätzt, daß ich die Konsequenzen daraus zog. Heute mache ich nicht mehr viele Fehler. Und wie hast du es gelernt?«
»Wenn Sie mir das beantworten, brauche ich nicht wiederzukommen«, erklärte ich.
»Du weißt es wirklich nicht?«
»Ich wollte, ich wüßte es. Aber hören Sie mal, das bringt uns doch nicht weiter.«
Er zuckte mit den Schultern. »Das hängt davon ab, was du alles wissen möchtest.« Er schwieg einen Augenblick, und ich spürte wieder die volle Schärfe seines Blickes. »Aus welchem Konversationslexikon hast du dir eigentlich deine Anschauung von der Psychiatrie geholt?«
»Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen.«
Stern zog eine Schreibtischschublade auf und holte eine geschwärzte Pfeife heraus. Er roch an ihr und drehte sie um, während er mich ansah. »Die Psychiatrie schält den Menschen ab wie eine Zwiebel. Sie entfernt eine Haut nach der anderen, bis nur noch der innerste, unberührte Kern des Ichs zurückbleibt. Oder ein anderes Bild: Die Psychiatrie bohrt sich wie ein Ölbohrer in die Tiefe – nach unten, ein Stückchen daneben und wieder nach unten –, durch all den Dreck und die Felsschichten, bis sie auf die richtige Stelle trifft. Oder: Die Psychiatrie nimmt eine Handvoll sexueller Motive und schleudert sie auf die winzige Maschine deines Lebens, so daß sie auf bestimmte Episoden treffen. Noch mehr?«
Ich mußte lachen. »Der letzte Vergleich war ganz gut.«
»Der letzte war ziemlich schlecht. Sie sind alle schlecht. Sie versuchen etwas zu vereinfachen, das in sich und gerade durch seine Existenz sehr komplex ist. Die einzige Daumenregel, die du von mir bekommst, ist folgende: Niemand außer dir selbst weiß im Grunde, was mit dir nicht stimmt. Niemand außer dir selbst kann eine Heilmethode finden. Niemand außer dir wird wissen, daß es eine Heilmethode ist. Und sobald du sie gefunden hast, wird dir niemand helfen können, sie anzuwenden.«
»Und weshalb sind Sie dann hier?«
»Ich höre zu.«
»Ich zahle doch nicht jemand einen irrsinnig hohen Stundenlohn, wenn er nichts tut als zuhören.«
»Sicher. Aber du bist überzeugt davon, daß ich die wichtigen Dinge heraushöre.«
»Glauben Sie?« Ich dachte darüber nach. »Wahrscheinlich haben Sie recht.«
»Ich tue es aber nicht. Doch das wirst du mir nie glauben.«
Ich lachte. Er fragte mich, weshalb. »Weil Sie mich nicht mehr Sonny nennen«, sagte ich.
»Dich nicht.« Er schüttelte langsam den Kopf. Während er das tat, beobachtete er mich. »Und was möchtest du über dich wissen?
Es scheint dich zu beunruhigen, da du nicht willst, daß andere Leute davon erfahren.«
»Ich möchte wissen, warum ich jemand umgebracht habe«, sagte ich geradeheraus.
Es entsetzte ihn nicht im geringsten. »Leg dich dort drüben hin.«
Ich stand auf. »Auf die Couch?«
Er nickte.
Als ich mich ein wenig verlegen ausstreckte, sagte ich: »Ich komme mir vor wie in einem dummen Witz, den ich einmal gesehen habe.«
»Was für ein Witz?«
»Ein Kerl, der so gezeichnet ist, daß er wie ein Bündel Trauben aussieht.« Ich sah zur Decke. Sie war blaßgrau.
»Und was stand darunter?«
»›So was hängt sich an die Nerven!‹«
»Sehr schön«, sagte er ruhig.
Ich sah ihn genau an. Er gehörte zu der Sorte, die ganz versteckt lachen, wenn sie überhaupt lachen.
Er sagte: »Den könnte ich als Einleitung für mein geplantes Buch über interessante Fälle verwenden. Nein, dein Fall wird nicht darin vorkommen. Wie kamst du gerade darauf?« Als ich keine Antwort gab, stand er auf und schob seinen Stuhl so hinter mich, daß ich ihn nicht mehr sehen konnte. »Du kannst aufhören, mich zu testen, Sonny. Ich bin wirklich gut genug für deine Zwecke.«
Ich preßte meine Kiefer so fest zusammen, daß meine Backenzähne schmerzten. Dann entspannte ich mich. Ich entspannte mich völlig. Es war ein herrliches Gefühl. »Also gut«, sagte ich. »Es tut mir leid.« Er sagte nichts, aber ich hatte wieder das Gefühl, daß er lachte. Nicht über mich diesmal.
»Wie alt bist du?« fragte er mich plötzlich.
»Äh – fünfzehn.«
»Äh – fünfzehn«, wiederholte er. »Was bedeutete das ›Äh‹?«
»Nichts. Ich bin fünfzehn.«
»Als ich dich nach deinem Alter fragte, fiel dir plötzlich eine andere Zahl ein. Deshalb hast du gezögert. Dann hast du den Gedanken fallengelassen und ›fünfzehn‹ gesagt.«
»Nein, verdammt noch mal. Ich bin fünfzehn.«
»Ich sagte ja nicht, daß du es nicht wärst.« Seine Stimme nahm einen geduldigen Tonfall an. »Und an welche andere Zahl hast du gedacht?«
Ich wurde wieder wütend. »Ich habe an keine andere Zahl gedacht. Warum wollen Sie unbedingt solche Grunzlaute auswerten? Damit sie in das Bild passen, das Sie sich von mir gemacht haben?«
Er schwieg.
»Ich bin fünfzehn«, sagte ich trotzig. Und dann: »Es paßt mir nicht, daß ich noch so jung bin. Sie wissen das. Und ich mag nicht immerfort daran erinnert werden.«
Er wartete einfach und sagte immer noch nichts.
Ich fühlte mich besiegt. »Die Zahl war acht.«
»Du bist also acht. Und dein Name?«
»Gerry.« Ich stützte mich auf einen Ellbogen auf und drehte mich so weit herum, daß ich ihn ansehen konnte. Er hielt seine Pfeife von sich weg und untersuchte das Pfeifenrohr im Licht der Schreibtischlampe. »Gerry, ohne ›äh‹!«
»Schon gut«, sagte er milde, und ich kam mir richtig dumm vor.
Ich legte mich zurück und schloß die Augen.
Acht, dachte ich, acht.
»Bei Ihnen ist es kalt«, beschwerte ich mich.
Acht. Acht, sacht, gelacht, Ohnmacht. Ich bin acht und hab’ sacht gelacht. Doch das war Ohnmacht. Ich ärgerte mich über mich selbst und machte die Augen wieder auf.
Die Decke war immer noch grau. Das war gut. Stern saß mit seiner Pfeife irgendwo hinter mir. Er war in Ordnung. Ich atmete zweimal tief durch. Dreimal. Dann schloß ich die Augen wieder. Acht. Acht Jahre alt. Acht, Ohnmacht. Jahr, Gefahr. Alt, kalt. Verdammt noch mall Ich warf mich unruhig auf der Couch hin und her und versuchte die Kälte auszuschalten. Ich bin acht und hab’ sacht gelacht. Doch das war …
Ich stöhnte und zwang mich mit meiner ganzen Willenskraft, all die Achten und all die Reime und all ihre Bedeutung auszulöschen. Ich deckte eine schwarze Decke darüber. Irgend etwas mußte ich an Stelle des Dunkels setzen, weil es nicht bleiben wollte. So zeichnete ich eine leuchtende, große Acht und ließ sie im Raum hängen. Aber sie kippte um und begann innerhalb der Schleifen zu schimmern. Es war wie eine dieser Aufnahmen, die man durch ein Vergrößerungsglas sieht. Ich mußte hindurchsehen, ob ich wollte oder nicht.
Plötzlich gab ich den Kampf auf und ließ die Wellen über mir zusammenschlagen. Das Vergrößerungsglas kam näher und immer näher, bis ich mich darin sehen konnte.
Acht. Acht Jahre alt, kalt. Kalt wie die Raben im Graben. Der Graben lief neben den Eisenbahnschienen her. Das Unkraut vom letzten Jahr war kratzig und hart wie Stroh. Der Boden war rot, und wo er nicht glitschig und schlammig aussah, bildete er eine hartgefrorene Fläche, die an einen Blumentopf erinnerte. Im Augenblick, war er wieder so hart, mit Rauhreif überzogen und kalt wie die Wintersonne, die sich über die Berge schob. Nachts waren die Lichter warm, aber sie kamen alle aus Häusern, die fremden Leuten gehörten. Und tagsüber schien die Sonne wohl auch für die Fremden, weil sie mich nicht erwärmte.
Ich lag im Graben, weil ich sterben wollte. Die Nacht zuvor war es ein Platz wie jeder andere zum Schlafen gewesen, und heute war es ein Platz wie jeder andere zum Sterben. Ganz genausogut wie jeder andere. Acht Jahre alt. Auf dem Gaumen den zugleich anwidernden und süßen Geschmack von Schweineschmalz und Brot, das ich von einem Abfallhaufen genommen hatte. In mir das Gefühl der Spannung und Angst, das man hat, wenn man einen Abfallsack stiehlt und Schritte hört.
Und ich hörte Schritte.
Ich hatte seitlich zusammengerollt dagelegen. Jetzt legte ich mich auf den Bauch, denn manchmal treten sie einem in den Bauch. Ich bedeckte den Kopf mit den Armen. Mehr konnte ich nicht tun.
Nach einer Weile machte ich die Augen auf und sah mich um, ohne mich dabei zu bewegen. Da stand ein riesiger Schuh. In dem Schuh steckte ein Fuß, und ganz in der Nähe war der andere Schuh. Ich blieb liegen und wartete auf die Tracht Prügel. Sicher, es war mir ziemlich egal, aber als eine verdammte Schande empfand ich es doch jedesmal. Ich fing an zu weinen.
Der Schuh fuhr mir unter die Achselhöhle, aber er stieß mich nicht. Er rollte mich nur herum. Ich war so steif vor Kälte, daß ich mich wie ein Brett umdrehen ließ. Ich preßte einfach die Arme über Gesicht und Kopf und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Aus irgendeinem Grund hörte ich zu weinen auf. Ich glaube, man heult nur, wenn man noch eine winzige Chance hat, Hilfe zu erhalten.
Als nichts geschah, machte ich die Augen auf und schob die Arme ein wenig zur Seite, damit ich nach oben sehen konnte. Über mir stand ein Mann, und er war meilenhoch. Er trug einen verschossenen Arbeitsanzug und darüber eine alte Militärjacke, die unter den Armen große Schweißflecken hatte. Sein Gesicht war verwildert wie das von Leuten, die keinen richtigen Bart haben, aber doch immer mit Stoppeln herumlaufen.
Er sagte: »Steh auf!«
Ich sah auf seinen Schuh, aber er stieß nicht nach mir. Ich schob mich ein bißchen nach oben und wäre beinahe wieder zurückgefallen, wenn mich seine große Hand nicht im Rücken gestützt hätte. Einen Augenblick lehnte ich mich dagegen, weil ich nicht anders konnte. Dann richtete ich mich so weit auf, bis ich mich nur noch auf ein Knie stützte.
»Komm«, sagte er, »gehen wir.«
Ich kann beschwören, daß ich spürte, wie meine Knochen vor Kälte klirrten, aber ich schaffte es. Ich hatte beim Aufstehen einen großen weißen Stein mit aufgehoben. Ich wog ihn ab. Ich mußte sehen, ob ich ihn wirklich festhielt, so steif waren meine Finger. »Bleib mir vom Leibe, oder ich schlag’ dir mit diesem Stein die Zähne ein«, sagte ich.
Seine Hand zuckte so schnell nach unten, daß ich gar nicht sah, wohin er den Stein warf, den er mir aus den Fingern wand. Ich begann ihm Schimpfworte entgegenzuschreien, aber er drehte sich einfach um und ging die Böschung zum Schienenstrang hinauf.
Dann sah er über seine Schulter zurück und sagte: »Willst du nicht mitkommen?«
Er jagte mich nicht, deshalb lief ich nicht weg. Er sprach nicht mit mir, deshalb stritt ich nicht mit ihm. Er schlug mich nicht, deshalb wurde ich nicht wütend. Ich ging hinter ihm her. Er wartete auf mich. Er streckte die Hand nach mir aus, und ich spuckte sie an. So ging er weiter, bis zu den Schienen hinauf, bis ich ihn aus den Augen verlor. In meinen Händen und Füßen wurde das Blut wieder lebendig, und das stach, als hätte ich tausend Nadeln in mir. Als ich bis zum Schienenstrang gekommen war, sah ich, daß der Mann stehengeblieben war und auf mich wartete.
Hier war der Weg noch eben, aber als ich der Spur nachsah, bemerkte ich, daß er auf einen Berg zu führen schien, der immer steiler anstieg und vor mir aufragte. Und im nächsten Augenblick lag ich flach auf dem Rücken und starrte in den kalten Himmel hinauf.
Der Mann kam zurück und setzte sich in meine Nähe. Er versuchte nicht, mich anzurühren. Ich rang nach Atem, bis ich erkannte, daß alles gut sein würde, wenn ich nur einen Augenblick schlafen könnte. Nur einen kleinen Augenblick. Ich schloß die Augen.
Der Mann stieß mich mit den Fingern in die Rippen. Es schmerzte.
»Schlaf nicht«, sagte er.
Ich sah ihn an.
Er sagte: »Du bist ganz steif gefroren und vor Hunger schwach. Ich will dich mit nach Hause nehmen und dafür sorgen, daß du ein Bett und etwas Warmes zu essen bekommst. Aber es ist ein schönes Stück Weg bis da oben, und allein schaffst du das nicht. Wenn ich dich trage, wirst du dich dann genauso benehmen, als gingst du allein?«
»Was werden Sie mit mir anstellen, wenn ich bei Ihnen zu Hause bin?«
»Das sagte ich dir schon.«
»Also gut«, sagte ich.
Er hob mich auf und trug mich die Schienen hinunter. Wenn er irgend etwas anderes gesagt hätte, wäre ich einfach liegengeblieben, bis ich erfroren war. Und außerdem, was konnte er schon von mir wollen? Ich wäre zu nichts in der Lage gewesen.
Ich dachte nicht mehr darüber nach, sondern schlummerte ein.
Einmal wachte ich auf, als er von der Straße abwich und nach rechts ging. Er tauchte in den Wäldern unter. Ich sah keinen Weg, aber er schien zu wissen, wohin er ging.
Das nächstemal wachte ich von einem knirschenden Geräusch auf. Er trug mich über einen gefrorenen Teich, und das Eis unter seinen Füßen gab nach. Er beeilte sich nicht. Ich sah nach unten und erkannte die weißen Sprünge, die da entstanden, wo er seinen Fuß hinsetzte. Es war mir so egal. Ich döste wieder ein.
Schließlich setzte er mich ab. Wir waren da. »Da« – das war das Innere eines Raumes. Es war sehr warm. Er stellte mich auf die Beine, und ich kippte sofort um. Zuallererst sah ich zur Tür. Ich lief hinüber und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand, damit ich im Notfall fliehen konnte. Dann blickte ich mich um.
Es war ein großes Zimmer. Eine Wand war rauher Fels. Die übrigen bestanden aus Holzbalken, deren Ritzen verkleistert waren. An der Felswand brannte ein riesiges Feuer. Es war kein eigentlicher Feuerplatz, eher eine Art Vertiefung im Fels. Auf einem Regal an der gegenüberliegenden Seite stand eine alte Autobatterie, von der zwei gelbe Glühbirnen gespeist wurden. Sie baumelten einfach an langen Drähten. Außerdem gab es noch einen Tisch, ein paar Kisten und zwei dreibeinige Hocker. Die Luft roch nach Rauch und so wundervoll und herzzerreißend nach Essen, daß mir das Wasser im Mund zusammenlief.
»Was habe ich da mitgebracht, Baby?« fragte der Mann.
Und das Zimmer war voll von Kindern. Hm, eigentlich nur drei, aber mir schienen es mehr als drei zu sein. Da war ein Mädchen etwa in meinem Alter – acht, meine ich –, ihre linke Wange war mit blauer Farbe beschmiert. Das Mädchen hatte eine Staffelei und eine Palette und eine ganze Handvoll Pinsel. Aber die Pinsel benutzte sie gar nicht. Sie schmierte die Farbe mit den Fingern auf das Gemälde. Dann sah ich noch ein kleines Negermädchen von etwa fünf Jahren, das mich aus großen runden Augen anstarrte.
Und in einer Holzwiege, die auf zwei Sägeböcken stand, lag das Baby. Es tat, was alle Babys tun, sabberte ein wenig, warf die Ärmchen hoch und strampelte mit den Beinen.
Als der Mann sprach, sah das Mädchen an der Staffelei zuerst mich und dann das Baby an. Das Baby strampelte und sabberte.
Das Mädchen sagte: »Er heißt Gerry, und er ist wütend.«
»Worüber ist er wütend?« fragte der Mann. Er sah das Baby an.
»Über alles«, sagte das Mädchen. »Über alles und jeden.«
»Woher kommt er?«
»He, was soll denn das?« sagte ich, aber niemand beachtete mich. Der Mann stellte dem Baby weiterhin Fragen, und das Mädchen mit der Palette beantwortete sie. Verrückteste Sache, die ich je erlebt hatte.
»Er ist von der Staatsschule weggelaufen«, sagte das Mädchen. »Zu essen bekam er genug, aber keiner war in Harmonie mit ihm.«
Genauso sagte sie: Keiner war in Harmonie mit ihm.
Da riß ich die Tür auf. Ein Schwall kalter Luft kam herein. »Sie gemeiner Kerl«, rief ich dem Mann zu. »Sie sind von der Schule.«
»Mach die Tür zu, Janie«, sagte der Mann. Das Mädchen an der Staffelei rührte sich nicht, aber die Tür fiel hinter mir mit einem lauten Knall zu. Ich wollte sie wieder aufmachen, aber sie rührte sich nicht. Mit einem Aufschrei rüttelte ich daran.
»Eigentlich müßtest du dafür in der Ecke stehen«, sagte der Mann. »Stelle ihn in die Ecke, Janie.«
Janie sah mich an. Einer der dreibeinigen Hocker segelte auf mich zu. Er blieb mitten in der Luft stehen und drehte sich zur Seite. Mit dem flachen Sitz schob er mich weiter. Ich sprang zurück. Er kam mir nach. Ich wich seitlich aus, und das war die Ecke. Der Hocker kam näher. Ich wollte ihn abwehren, verletzte mich aber an der Hand. Ich drückte ihn nieder und wollte über ihn hinwegspringen. Aber er kippte um, und ich stolperte über ihn. Ich stand wieder auf und stellte mich zitternd in die Ecke.
Der Hocker schwenkte wieder in die richtige Lage und ging vor mir zu Boden.
»Danke, Janie«, sagte der Mann. Er wandte sich mir zu. »Bleib du da stehen und sei jetzt still. Ich kümmere mich später noch um dich. Warum machst du nur so einen Wirbel?« Und dann wandte er sich an Baby und fragte: »Hat er etwas, das wir brauchen?«
Wieder antwortete das kleine Mädchen. »Sicher«, sagte sie. »Er ist derjenige.«
»Schön«, sagte der Mann, »du mußt es wissen.« Er kam zu mir. »Gerry, du kannst hier bei uns wohnen. Ich komme nicht von der Schule. Ich bringe dich nie zurück.«
»Häh – wirklich?«
»Er haßt dich«, sagte Janie.
»Was kann ich dagegen tun?« wollte er wissen.
Janie wandte den Kopf, um in die Wiege zu sehen. »Gib ihm etwas zu essen.«
Der Mann nickte und machte sich am Feuer zu schaffen.
In der Zwischenzeit war das kleine Negermädchen nicht von der Stelle gegangen. Es sah mich einfach aus seinen kugelrunden Augen an. Janie beschäftigte sich wieder mit ihrer Malerei, und Baby lag still in seiner Wiege. So erwiderte ich den Blick des kleinen Mädchens. Schließlich fauchte ich: »Warum, zum Teufel, glotzt du mich so an?«
Sie grinste mich an. »Gerry hoho«, sagte sie und verschwand. Ich meine, sie verschwand wirklich. Sie ging aus wie ein Licht, und nur ihre Kleider waren noch da, wo sie gestanden hatte. Ihr winziges Kleidchen flatterte noch einen Augenblick in der Luft und fiel dann zu Boden. Das war es. Sie blieb verschwunden.
»Gerry hihi«, hörte ich. Ich sah nach oben, und da war sie, auf einem Vorsprung zwischen Holz und Decke. Als ich noch einmal hinsah, war sie schon wieder verschwunden.
»Gerry hoho«, rief sie. Jetzt balancierte sie oben auf den Kisten, die als Vorratsregale benutzt wurden und sich am anderen Ende des Zimmers befanden.
»Gerry hihi!« Jetzt war sie unter dem Tisch.
»Gerry hoho!« Diesmal stand sie neben mir in der Ecke und bedrängte mich.
Ich schrie auf, versuchte ihr auszuweichen und fiel über den Hocker. Den Hocker fürchtete ich noch mehr, so zuckte ich zurück und ging wieder in die Ecke. Das kleine Mädchen war fort.
Der Mann sah von seinen Hantierungen am Feuer auf und rief: »Jetzt reicht es aber, Kinder.«
Es herrschte Stille, und dann kam das Mädchen langsam aus der untersten Regalreihe heraus.
»Wie hast du das gemacht?« wollte ich wissen.
»Hoho«, sagte sie.
»Es ist leicht«, antwortete Janie an ihrer Stelle. »Sie sind in Wirklichkeit Zwillinge.«
»Oh«, sagte ich. Dann kam ein zweites Mädchen, das sich um kein Haar von dem ersten unterschied, von irgendwo aus den Schatten und stellte sich daneben auf. Sie standen nebeneinander und starrten mich nun gemeinsam an. Diesmal ließ ich sie ruhig starren.
»Das sind Bonnie und Beanie«, sagte die Malerin. »In der Wiege liegt Baby, und das –«, sie deutete auf den Mann, »– ist Lone. Ich heiße Janie.«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und so brachte ich nur ein »Ja« heraus.
»Wasser, Janie«, sagte Lone. Er hielt ihr einen Topf entgegen. Ich hörte Wassergeplätscher, konnte aber nicht sehen, woher es kam. »Das reicht«, sagte er und hing den Topf über das Feuer. Er holte einen gesprungenen Porzellanteller und brachte ihn mir. Er war ganz gefüllt mit saftigen Fleischbrocken, Soße, Klößen und gelben Rüben. »Hier, Gerry. Setz dich.«
Ich sah auf den Hocker. »Hierhin?«
»Natürlich.«
»Nicht ich«, sagte ich. Ich nahm den Teller und lehnte mich an die Wand.
»He«, sagte er nach einer Zeit, »wir haben alle schon gegessen. Keiner nimmt dir den Teller weg. Du kannst ganz langsam essen.«
Ich aß noch schneller als vorher. Ich war fast fertig, als ich alles wieder von mir gab. Dann fiel ich aus irgendeinem Grund mit dem Kopf gegen die Hockerkante. Ich ließ Teller und Löffel fallen und blieb liegen. Mir war wirklich elend zumute.
Lone kam zu mir herüber und beugte sich über mich. »Tut mir leid, Kleiner«, sagte er. »Machst du bitte sauber, Janie?«
Direkt vor meinen Augen verschwand das Zeug vom Boden. In diesem Moment und auch danach war mir alles egal. Ich fühlte den Kopf des Mannes neben meinem Hals. Dann fuhr er mir durch das Haar.
»Beanie, bring ihm eine Decke. Wir gehen alle schlafen. Er braucht jetzt eine Zeitlang Ruhe.«
Ich fühlte, wie die Decke um mich gewickelt wurde, und ich war eingeschlafen, bevor er mich richtig hingelegt hatte.
Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, als ich wieder aufwachte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, und das jagte mir Angst ein. Ich hob den Kopf und sah die glühenden Aschereste am Feuerplatz. Lone hatte sich in seinen Kleidern ausgestreckt. Janies Staffelei wirkte in dem rötlichen Dunkel wie ein riesiges Raubinsekt. Ich sah, daß Babys Kopf in der Wiege auftauchte, aber ich konnte nicht feststellen, ob es mich ansah oder nicht. Janie lag neben der Tür am Boden, und die Zwillinge hatten es sich auf dem alten Tisch bequem gemacht. Nichts außer Babys Kopf bewegte sich.
Ich stand auf und sah mich im Raum um. Nur ein Zimmer, nur eine Tür. Ich ging auf Zehenspitzen zu ihr hinüber. Als ich an Janie vorbeikam, öffnete sie die Augen.
»Was ist los?« flüsterte sie.
»Geht dich nichts an«, sagte ich. Ich ging zur Tür, als kümmerte ich mich nicht um sie, aber ich beobachtete sie genau. Sie tat nichts. Aber die Tür war so fest verschlossen wie beim erstenmal, als ich zu fliehen versucht hatte.
Ich ging zurück zu Janie. Sie sah mich nur an. Sie war nicht wütend. »Ich muß aber dringend mal«, sagte ich.
»Ach so«, meinte sie. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
Plötzlich stöhnte ich und griff nach meinem Leib. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das ich hatte. Es war kein eigentlicher Schmerz. Man konnte es mit nichts vergleichen.
»Okay«, sagte Janie. »Du kannst wieder ins Bett gehen.«
»Aber ich muß doch …«
»Was mußt du?«
»Nichts.« Das stimmte. Ich mußte nicht mehr hinausgehen.
»Nächstesmal brauchst du es mir nur zu sagen. Ich denke mir nichts dabei.«
Ich sagte nichts und ging zu meiner Decke zurück.
»Ist das alles?« fragte Stern. Ich lag auf der Couch und sah zu der grauen Decke hinauf. Er fuhr fort: »Wie alt bist du?«
»Fünfzehn«, sagte ich schläfrig. Er wartete, bis für mich die graue Decke wieder in Wände überging, in einen Boden, einen Teppich und Lampen, einen Schreibtisch und einen Stuhl, auf dem Stern saß. Ich setzte mich auf und stützte meinen Kopf einen Augenblick in die Hände. Dann sah ich Stern an. Er spielte mit seiner Pfeife und erwiderte meinen Blick. »Was haben Sie mit mir gemacht?«
»Ich sagte es dir vorher. Ich mache nichts. Du selbst tust es.«
»Sie haben mich hypnotisiert.«
»Nein.« Seine Stimme war ruhig, aber ich wußte, daß er nicht log.
»Was sollte das alles dann? Ich war … Es kam mir vor, als erlebte ich das Ganze noch einmal mit.«
»Fühlst du etwas?«
»Alles.« Ich schauderte. »Jede verdammte Einzelheit. Was war es?«
»Jeder, der es fertigbringt, fühlt sich hinterher besser. Du kannst die Sache jetzt immer wieder durchgehen, und jedesmal wird es weniger schmerzen. Du wirst sehen.«
Es war zum erstenmal seit Jahren, daß mich etwas erstaunte. Ich drehte seine Worte hin und her und fragte ihn dann: »Wenn ich es selbst getan habe, wie konnte es dann kommen, daß ich es vorher noch nie erlebt habe?«
»Man braucht jemand, der einem zuhört.«
»Zuhören? Habe ich denn gesprochen?«
»Wie ein Wasserfall.«
»Über alles, was geschehen ist?«
»Wie kann ich das wissen? Ich war nicht dabei. Du hast die Dinge erlebt.«
»Sie glauben nicht, daß es wahr ist, nicht wahr? Diese Kinder, die verschwinden können, und der tanzende Hocker und all das andere?«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht meine Aufgabe, zu glauben oder nicht zu glauben. Ist es dir als Wirklichkeit vorgekommen?«
»Ja, zum Teufel.«
»Nun, das ist das einzige, das zählt. Lebst du noch mit diesen Leuten zusammen?«
Ich biß einen Fingernagel ab, der mich schon die ganze Zeit geärgert hatte. »Nein, schon lange nicht mehr. Seit Baby drei war.« Ich sah ihn an. »Sie haben Ähnlichkeit mit Lone.«
»Weshalb?«
»Ich weiß nicht.« Doch plötzlich fügte ich hinzu: »Nein, ich habe mich getäuscht. Wie konnte ich nur auf so etwas kommen?« Mit einer schnellen Bewegung legte ich mich wieder hin.
Die Decke war grau und die Lampe gedämpft. Ich hörte, wie er an seiner Pfeife herumkaute. Ich lag lange so da.
»Nichts geschieht«, sagte ich plötzlich.
»Was soll denn geschehen?«
»Das gleiche wie vorher.«
»Es muß etwas in dir sein, das ins Freie drängt. Laß es ruhig kommen.«
Es war, als befände sich in meinem Kopf eine rotierende Spule, auf der die Orte und Dinge und Menschen fotografiert waren, die ich festzuhalten versuchte. Aber sie drehte sich sehr schnell, so schnell, daß ich ein Bild vom anderen nicht unterscheiden konnte. Ich brachte sie zum Anhalten, und sie hielt bei einer Lücke. Ich drehte sie wieder weiter und hielt sie wieder an.
»Nichts geschieht«, wiederholte ich.
»Baby ist drei«, erinnerte er mich.
»Oh«, sagte ich. »Das.« Ich schloß die Augen.
Das könnte es sein. Sein, Schein. Ein Schein in der Nacht. Baby lacht. Baby lacht in der Nacht, wenn niemand wacht …
Es gab viele Nächte, in denen ich auf jener Decke lag, und viele Nächte, in denen ich es nicht tat. Irgend etwas rührte sich immer in Lones Haus. Manchmal schlief ich unter Tags. Augenblicke, in denen alle zusammen schliefen, gab es eigentlich nur, wenn jemand von uns krank war – so wie ich damals am Tage meiner Ankunft. Im Zimmer herrschte immer eine Art Dunkel, sowohl bei Tag als auch bei Nacht. Immer brannte das Feuer, und immer baumelten die beiden gelben Birnen von ihren Drähten. Als sie zu schwach wurden, reparierte Janie die Batterie, und sie brannten wieder heller.
Janie tat alles, was getan werden mußte und was sonst niemand tun mochte. Auch die anderen hatten ihre Arbeiten. Lone war viel im Freien. Manchmal halfen ihm die Zwillinge, aber sie blieben nie lange fort. Schwupp! waren sie draußen – und schwupp! wieder im Haus. Nur Baby lag einfach in seiner Wiege.
Ich selbst hatte auch zu tun. Ich zerkleinerte Holz, baute neue Regale, und manchmal ging ich mit Janie und den Zwillingen schwimmen. Und ich unterhielt mich mit Lone. Ich tat nichts, was die anderen nicht auch hätten tun können, aber sie selbst konnten lauter Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich war die ganze Zeit wütend darüber. Aber ich hätte nicht gewußt, was ich mit mir anfangen sollte, wenn ich nicht immer über dieses oder jenes wütend gewesen wäre. Das hielt uns nicht davon ab, zu harmonieren. Ja, so sagte Janie immer. Harmonieren. Baby hatte ihr das Wort verraten. Sie sagte, es bedeutete, daß wir alle ein Ganzes darstellten, wenn auch jeder von uns etwas anderes tat. Zwei Arme, zwei Beine, ein Körper, ein Kopf – alle arbeiten zusammen, obwohl ein Kopf nicht gehen und Arme nicht denken können.
Baby sprach die ganze Zeit. Es war wie ein Sender, der ein vierundzwanzigstündiges Programm hat. Man kann das Programm mithören, wenn man einschaltet, aber es läuft auch ab, wenn man nicht einschaltet. Wenn ich sage, daß Baby sprach, habe ich mich vielleicht unklar ausgedrückt. Es gab meistens Zeichen. Man hätte glauben können, daß diese Arm- und Beinbewegungen, diese unbestimmten Gesten, bedeutungslos waren. Aber das stimmte nicht. Es waren Zeichen. Ganze Gedanken konnte so eine Handbewegung ausdrücken.
Man braucht sich nur vorzustellen, daß es die linke Hand aufspreizte, die rechte hochwarf und schüttelte und mit der linken Ferse kräftig gegen die Wiege stieß. Das konnte dann bedeuten: »Jeder, der glaubt, daß ein Star kein schöner Vogel ist, hat keine Ahnung, was in so einem Star eigentlich vorgeht.« Oder sonst etwas von der Art.
Lone konnte das Zeug nicht deuten und ich auch nicht. Die Zwillinge konnten es, aber es war ihnen egal. Nur Janie beobachtete den Kleinen dauernd. Er wußte immer, was man fragen wollte, auch wenn man noch gar nicht gefragt hatte, und er sagte es Janie, und sie gab dann die Antwort. Niemand konnte alles verstehen, auch nicht Janie. Lone erklärte mir einmal, daß alle Babys die Zeichensprache beherrschen. Aber weil niemand sie versteht, hören sie auf, sie zu benützen, und vergessen sie bald. Sie vergessen sie fast. Etwas bleibt immer übrig. Deshalb gibt es in der ganzen Welt Gesten, die gleich sind und uns zum Lachen bringen, und andere, die uns wild machen. Aber wie bei allem, was Lone sagte, wußte ich nicht so recht, ob er es ernst meinte oder nicht.
Ich weiß nur, daß Janie dazusitzen pflegte und ihre Bilder malte und dabei Baby ansah. Manchmal lachte sie hellauf, und manchmal holte sie die Zwillinge, damit sie auch hinsahen. Die lachten dann auch, oder sie warteten, bis Baby mit seinen Zeichen fertig war, und krochen dann in eine Ecke, wo sie leise miteinander flüsterten. Baby wuchs nie. Janie und die Zwillinge wurden größer, ich auch. Aber Baby nicht. Es lag einfach in seiner Wiege.
Janie fütterte und säuberte es alle zwei bis drei Tage. Es weinte nicht und machte keine Schwierigkeiten. Keiner ging in seine Nähe.
Janie zeigte jedes Bild, das sie gemalt hatte, dem Kleinen, bevor sie die Leinwand säuberte und ein neues malte. Sie mußte die Leinwand säubern, weil sie nur drei Stück davon hatte. Das war ganz gut so, denn ich stelle mir nur ungern vor, wie die Wohnung ausgesehen hätte, wenn sie die Bilder alle aufbewahrt hätte. Sie malte nämlich vier bis fünf pro Tag.
Lone und die Zwillinge waren dauernd auf dem Sprung, um für Janie neues Terpentin zu besorgen. Sie konnte die Farben ihrer Bilder mühelos wieder in die kleinen Töpfe befördern, indem sie jede einzelne Farbe scharf ansah. Aber mit dem Terpentin war das eine andere Sache. Sie sagte, daß Baby sich all ihre Bilder merkte und daß sie sie deshalb nicht aufzuheben brauchte. Es waren alles Bilder von Maschinen und Kraftübertragungselementen und mechanischen Verbindungen und Dingen, die wie elektrische Stromkreise aussahen. Ich hielt nie allzuviel von ihnen.
Einmal ging ich mit Lone, um etwas Terpentin und ein paar Frühstücksschinken zu besorgen. Wir wanderten durch die Wälder zu dem Schienenstrang und dann noch ein paar Meilen weiter, bis wir die Lichter einer Stadt sehen konnten. Dann wieder durch Wald und einige Alleen, bis wir in ein Hintergäßchen kamen.
Lone war wie immer. Er ging dahin und dachte.
Wir kamen zu einer Eisenwarenhandlung, und er ging die Stufen hinauf. Er sah das Schloß an der Tür an und schüttelte den Kopf. Dann kam er wieder zu mir zurück.
Dann fanden wir einen Gemischtwarenladen. Lone brummte, und wir stellten uns in den Schatten neben der Tür. Ich sah hinein.
Plötzlich war Beanie im Laden, nackt wie immer, wenn sie solche Reisen machte. Sie kam und öffnete uns die Tür von innen. Wir gingen hinein, und Lone versperrte die Tür hinter uns.
»Mach, daß du heimkommst, Beanie«, sagte er. »Du holst dir hier noch den Tod.«
Sie grinste mich an, sagte »Hoho!« und verschwand.
Wir entdeckten ein paar herrliche Frühstücksschinken und einen Zehnliterkanister mit Terpentin. Ich nahm mir einen leuchtendgelben Kugelschreiber, aber Lone schimpfte, und ich mußte ihn wieder zurücklegen.
»Wir nehmen nur das, was wir brauchen«, erklärte er.
Als wir hinausgingen, erschien Beanie wieder und verschloß die Tür. Ich ging nur ein paarmal mit Lone – immer dann, wenn er mehr mitbringen mußte, als er allein tragen konnte.
Ich war ungefähr drei Jahre dort. Das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Lone war da, oder er war im Freien draußen. Aber man merkte den Unterschied kaum. Die Zwillinge hingen wie die Kletten aneinander. Janie mochte ich sehr gern, aber wir sprachen nur wenig miteinander. Baby sprach die ganze Zeit, wenn ich es auch nicht verstehen konnte.
Wir hatten alle unsere Beschäftigung, und wir harmonierten.
Ich richtete mich plötzlich auf und stützte die Arme auf die Couch.
»Was ist los?« fragte Stern.
»Nichts ist los. Aber das alles bringt mich nicht weiter.«
»Das sagtest du schon ganz zu Anfang. Glaubst du, daß du in der Zwischenzeit nicht weitergekommen bist?«
»O doch, aber …«
»Wie willst du also wissen, ob es nicht dieses Mal das gleiche ist?«
Als ich nichts erwiderte, fragte er: »Hat dir die letzte Erinnerung nicht gefallen?«
»Es geht nicht darum, ob mir etwas gefällt oder nicht«, sagte ich wütend. »Es hat einfach nichts bedeutet. Geschwätz.«
»Was für ein Unterschied bestand denn zwischen der letzten und der jetzigen Sitzung?«
»Ach du liebe Güte! Beim erstenmal fühlte ich alles. Ich erlebte es richtig mit. Aber dieses Mal – nichts.«
»Und warum wohl?«
»Ich weiß es nicht. Sie sollen es mir sagen.«
»Angenommen«, sagte er nachdenklich, »daß es in diesem Zeitabschnitt eine Episode gab, die so unangenehm war, daß du sie nicht noch einmal erleben wolltest?«
»Unangenehm? Halten Sie es vielleicht für angenehm, zu erfrieren?«
»Es gibt verschiedene Arten von unangenehm. Manchmal ist das, wonach man sucht – die Kleinigkeit, die alle Schwierigkeiten lösen würde –, so abstoßend, daß der Patient nicht wagt, es zu berühren. Oder daß er es zu verbergen sucht. Warte mal«, unterbrach er sich plötzlich, »›unangenehm‹ und ›abstoßend‹ ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Es könnte durchaus etwas sein, das dir sehr erstrebenswert vorkommt. Nur willst du nicht, daß die Sache geradegebogen wird.«
»Ich will aber, daß alles geradegebogen wird.«
Er wartete, als müßte er zuerst seine Gedanken ordnen, und sagte dann: »Irgend etwas in dem Satz ›Baby ist drei‹ läßt dich zurückschrecken. Warum eigentlich?«
»Ich will verdammt sein, wenn ich es weiß.«
»Wer sagte es?«
»Ich weiß es nicht – äh …«
Er grinste. »Äh?«
Ich grinste zurück. »Ich sagte es.«
»Okay. Wann?«
Ich grinste nicht mehr. Er beugte sich vor und stand dann auf.
»Was ist los?« fragte ich.
»Ich wußte nicht, daß sich jemand so in seine Wut verbeißen könnte.«
Ich sagte nichts. Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber.
»Du willst also nicht mehr weitermachen, nicht wahr?«
»Nein.«
»Angenommen, ich sage dir auf den Kopf zu, daß du aufhörst, weil du ganz nahe daran bist, das herauszufinden, was du wissen willst?«
»Und warum sagen Sie es nicht und warten auf meine Reaktion?«
Er schüttelte nur den Kopf. »Ich habe dir nichts zu sagen. Nur zu, geh, wenn du willst. Ich gebe dir den Rest deines Geldes zurück.«
»Wie viele Leute hören eigentlich auf, wenn sie kurz vor der Antwort stehen?«
»Nicht sehr viele.«
»Gut, ich auch nicht.« Ich legte mich wieder auf die Couch.
Er lachte nicht, und er sagte auch nicht: »Gut.« Er machte überhaupt kein Aufhebens davon. Er nahm lediglich seinen Telefonhörer ab und sagte: »Sagen Sie für diesen Nachmittag alle anderen Verabredungen ab.«
Dann rutschte er seinen Stuhl so von mir weg, daß ich ihn nicht sehen konnte.
Es war sehr ruhig in seinem Raum. Er hatte ihn mit schalldichten Wänden verkleiden lassen.
Ich sagte: »Warum, glauben Sie, hat Lone mich so lange da draußen wohnen lassen, wenn ich nichts von all den Dingen verstand, die die anderen Kinder fertigbrachten?«
»Vielleicht hattest du doch deine Fähigkeiten.«
»O nein«, sagte ich bestimmt. »Ich habe es immer wieder versucht. Ich war stark für einen Jungen meines Alters, und ich wußte, daß es immer besser ist, den Mund zu halten, aber davon abgesehen, unterschied ich mich nicht von anderen Kindern. Ich glaube auch nicht, daß ich jetzt anders als normale Fünfzehnjährige bin – nur daß sie nicht mit Lone und den anderen zusammen gelebt haben.«
»Hat das etwas mit ›Baby ist drei‹ zu tun?«
Ich sah zu der grauen Decke auf. »Baby ist drei. Baby ist drei. Ich ging zu einem großen Haus mit einem gewundenen Pfad, der unter einer Art Pergola verlief. Baby ist drei. Baby ist …«
»Wie alt bist du?«
»Dreiunddreißig.«
Ich sagte es, und im nächsten Augenblick schoß ich von der Couch hoch wie von der Tarantel gestochen. Ich lief auf die Tür zu.
»Sei kein Narr«, sagte Stern. »Willst du, daß ich deinetwegen den ganzen Nachmittag verliere?«
»Das ist mir egal. Ich zahle dafür.«
»Schon gut, es liegt ganz bei dir.«
Ich ging zurück. »Dieser Teil der Geschichte liegt mir überhaupt nicht.«
»Gut. Dann kommen wir der Sache schon näher.«
»Weshalb habe ich ›dreiunddreißig‹ gesagt? Ich bin fünfzehn. Und noch eines …«
»Ja?«
»Dieses ›Baby ist drei‹ – schön, ich habe es gesagt. Aber wenn ich darüber nachdenke, so ist es nicht meine Stimme, die es sagt.«
»So wie dreiunddreißig nicht dein Alter ist?«
»Ja«, flüsterte ich.
»Gerry«, sagte er warm, »du brauchst dich vor nichts zu fürchten.«
Ich merkte, daß ich zu aufgeregt atmete. Ich versuchte mich zur Ruhe zu zwingen. »Es gefällt mir nicht, daß ich mich an Dinge erinnere, die eine fremde Stimme mir zuflüstert«, sagte ich.
»Sieh mal«, sagte er mir, »diese Gehirnwäscherei, wie du es vor einer Weile nanntest, ist nicht so, wie sie sich die meisten Leute vorstellen. Wenn ich dich in deine Geisteswelt begleite – oder wenn du allein hineingehst –, wirst du eine Welt finden, die sich von der Wirklichkeit nicht allzusehr unterscheidet. Anfangs wird es zwar so scheinen, weil der Patient sich noch nicht von all seinen Phantastereien, den Irrationalitäten und außergewöhnlichen Erlebnissen getrennt hat. Aber jeder lebt in dieser Art von Welt. Als einer unserer großen Geister den Satz prägte: ›Die Wahrheit ist unwirklicher als die Dichtung‹, sprach er über dieses Phänomen.
Wohin wir gehen, was wir tun – wir sind von Symbolen umgeben, von Dingen, die wir gar nicht ansehen oder die uns gar nicht auffallen würden, wenn wir hinsähen. Wenn jemand es fertigbrächte, dir genau zu erzählen, was er tat und erlebte, als er zehn Schritt die Straße hinunterging, würdest du so einen verwirrenden, verzerrten und unvollständigen Eindruck erhalten wie noch nie in deinem Leben. Keiner sieht seine Umgebung mit Aufmerksamkeit an, bis er an einen Platz wie diesen gerät. Es macht keinen Unterschied, ob man dabei vergangene Ereignisse betrachtet. Wichtig ist lediglich, daß man klarer als je zuvor sieht, weil man sich bemüht, zu sehen.
Nun zurück zu diesem ›Dreiunddreißig‹. Ich glaube, es ist einer der häßlichsten Schocks, die man erlebt, wenn man merkt, daß man sich an die Erlebnisse anderer erinnern kann. Das Ego ist zu wichtig, um das durchgehen zu lassen. Aber bedenke das eine: Dein ganzes Denken spielt sich nach einem Kode ab, und du kannst nur etwa ein Zehntel davon entschlüsseln. Nun kommt dir ein Stück Kode in den Weg, das für deine Gefühle abstoßend wirkt. Siehst du nicht, daß es nur einen Weg gibt, ihn zu entschlüsseln? Du darfst ihm nicht ausweichen.«
»Sie wollen sagen, daß ich angefangen habe, mich – mit dem Verstand eines anderen zu erinnern?«
»Dir erschien es wenigstens eine Weile so, und das muß etwas bedeuten. Versuchen wir, es herauszufinden.«
»Gut.« Mir war übel, und ich fühlte mich erschöpft. Und plötzlich erkannte ich, daß die Übelkeit und die Erschöpfung eine Reaktion meines Körpers waren, die meinem Verstand helfen wollten, diese unangenehme Sache zu umgehen.
»Baby ist drei«, sagte er.
Baby ist drei, ich bin dreiunddreißig. Ich, du, Kew …
»Kew!« schrie ich auf. Stern sagte nichts. »Sehen Sie«, erklärte ich, »ich weiß nicht, wie ich darauf komme, aber irgendwie bin ich sicher, daß wir auf diesem Weg nicht weiterkommen. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich es anders versuche?«
»Du bist der Doktor«, sagte er nur.
Ich mußte lachen. Dann schloß ich die Augen.
Dort hinter den Hecken und felsigen Ecken verstecken sich Türen und Fenster. Der Rasen ist sauber und grün, alle Blumen blühen.
Es war, als wagten sie es nicht, ihre Blütenblätter abzuwerfen, aus Angst, die Ordnung zu stören. Ich ging die Auffahrtsallee hinauf. Ich hatte Schuhe an, und sie beengten meine Füße. Ich wollte nicht zu dem Haus gehen, aber ich mußte.
Ich ging die Stufen zwischen den großen weißen Säulen hinauf und sah die Tür an. Ich wollte, ich hätte durch sie hindurchsehen können, aber sie war so dick und weiß. Über der Tür befand sich ein fächerförmiges Fenster, aber es war zu hoch oben. Neben der Tür waren auch zwei Fenster, doch sie setzten sich aus farbigem Glas zusammen. Ich schlug mit der Hand gegen die Tür und machte sie dabei schmutzig.
Nichts rührte sich, so schlug ich noch einmal dagegen. Sie wurde aufgerissen, und eine hagere Schwarze stand im Eingang. »Was willst du?«
Ich sagte ihr, daß ich Miß Kew sprechen müsse.
»So etwas wie dich will Miß Kew gar nicht sehen«, sagte sie. Sie sprach zu laut. »Dein Gesicht ist schmutzig.«
Ich begann wütend zu werden. Es hatte mir schon gar nicht gepaßt, daß ich hierherkommen mußte, wo man im hellen Tageslicht an fremden Leuten vorbeiging. So sagte ich: »Mein Gesicht geht Sie überhaupt nichts an. Wo ist Miß Kew? Los, holen Sie sie.«
Sie keuchte. »Hör mal, so kannst du doch nicht mit mir sprechen!«
»Ich will überhaupt nicht mit Ihnen sprechen, weder so noch so«, erklärte ich. »Lassen Sie mich hinein.«
Ich wünschte mir, Janie wäre hier. Janie hätte sie vom Eingang weggebracht. Aber so mußte ich allein mit ihr fertig werden. Ich war zu langsam. Noch bevor ich überhaupt ein Schimpfwort hervorgebracht hatte, knallte sie mir die Tür vor der Nase zu.
So trommelte ich mit dem Fuß gegen die Tür. Für diesen Zweck eignen sich Schuhe fabelhaft. Nach einer Weile riß sie die Tür so plötzlich auf, daß ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Sie hatte einen Besen in der Hand. »Schau, daß du von hier fortkommst, du Schmutzfink, sonst hole ich die Polizei«, kreischte sie.
Sie gab mir einen Stoß, und ich fiel hin.
Ich stand wieder auf und lief ihr nach. Sie trat einen Schritt zurück und versetzte mir einen Schlag mit dem Besen, als ich in ihrer Nähe war, aber auf alle Fälle war ich jetzt wenigstens drinnen. Die Frau stieß kleine, schrille Laute aus und machte sich an die Verfolgung. Ich nahm ihr den Besen weg, und dann schrie jemand: »Miriam!«
Ich wurde ganz steif, während die Schwarze einer Hysterie nahe war. »Oh, Miß Kew, seien Sie vorsichtig! Er wird uns alle umbringen. Holen Sie die Polizei …!«
»Miriam!« keifte die andere Frau wieder, und Miriam beruhigte sich. Am Treppenkopf stand diese Frau mit dem Backpflaumengesicht und dem spitzenbesetzten Kleid. Sie sah sehr viel älter aus, als sie war, vermutlich, weil sie den Mund so fest zusammenpreßte. Ich glaube, sie war etwa dreiunddreißig – dreiunddreißig! Sie hatte tückische Augen und eine kleine Nase.
»Sind Sie Miß Kew?« fragte ich sie.
»Ja. Was soll denn dieses Eindringen in mein Haus?«
»Ich muß mit Ihnen reden, Miß Kew.«
»Sag ›sprechen‹ und nicht ›reden‹. Halte dich gerade und laß das Murmeln.«
»Ich hole die Polizei«, sagte das Dienstmädchen.
Miß Kew wandte sich ihr zu. »Das hat noch Zeit, Miriam. Nun, du kleiner Schmutzfink, was willst du von mir?«
»Ich muß mit Ihnen allein reden«, erklärte ich ihr.
»Lassen Sie das nicht zu, Miß Kew«, jammerte das Mädchen.
»Sei still, Miriam. Kleiner Junge, ich sagte dir doch, du sollst nicht ›reden‹ sagen. Sprich ruhig vor Miriam. Sie darf alles hören.«
»Blödes Zeug.« Beiden blieb der Mund offenstehen. »Lone hat es mir verboten.«
»Miß Kew, wollen Sie wirklich …«
»Sei still, Miriam. Junger Mann, du wirst dich anständig …« Doch dann quollen ihr die Augen hervor. »Wer, sagtest du …?«
»Lone. Er hat es mir verboten.«
»Lone.« Sie stand an der Treppe und sah ihre Hände an. Dann sagte sie: »Miriam, ich brauche dich nicht mehr.« Und man hätte nicht glauben wollen, daß das die gleiche Frau wie vorhin war.
Das Mädchen wollte widersprechen, aber Miß Kew deutete mit dem Zeigefinger hinaus, und ihr Finger war so spitz und scharf, daß er an einen Gewehrlauf erinnerte. Das Mädchen verschwand schleunigst.
»He«, rief ich ihr nach. »Hier ist Ihr Besen.« Ich wollte ihn ihr nachwerfen, aber Miß Kew nahm ihn mir ab.
»Hier herein«, sagte sie.
Sie ließ mich vor sich her in ein Zimmer gehen, das so groß wie der Weiher war, in dem wir immer schwammen. Überall sah man Bücher, und die Tische waren mit Leder überzogen und hatten goldene Blümchen an den Ecken.
Sie deutete auf einen Stuhl. »Setz dich. Nein, warte einen Augenblick.« Sie ging zum Kamin und holte eine Zeitung aus einer Schachtel, die sie auf dem Stuhl ausbreitete. »Jetzt setz dich.«
Ich setzte mich auf den Stuhl, und sie schleppte einen zweiten Stuhl herbei, aber auf den legte sie kein Papier.
»Was ist los?« fragte sie. »Wo ist Lone?«
»Tot«, sagte ich.
Sie hielt den Atem an und wurde schneeweiß. Dann starrte sie mich an, bis ihre Augen ganz wässerig waren.
»Tot? Lone ist tot?«
»Ja. Wir hatten letzte Woche einen Wolkenbruch, und als Lone am nächsten Abend bei dem starken Sturm hinausging, kam er an einer alten Eiche vorbei, die vom Wasser unterspült war. Der Baum hat ihn erschlagen.«
»Hat ihn erschlagen«, flüsterte sie. »O nein, das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!«
»Und ob es wahr ist. Wir haben ihn heute morgen eingegraben. Wir konnten ihn nicht mehr länger so lassen. Er begann zu …«
»Sei still!« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
»Was ist denn los?«
»Es ist gleich vorbei«, sagte sie leise. Sie stand auf und stellte sich mit dem Rücken zu mir an den Kamin. Ich zog einen meiner Schuhe aus, während ich darauf wartete, daß sie zurückkam. Aber statt dessen sprach sie vom Kamin aus. »Bist du Lones kleiner Junge?«
»Ja. Er sagte mir, ich solle hierherkommen.«
»Ach, mein armer, kleiner Junge!« Sie lief auf mich zu, und einen Augenblick lang dachte ich, sie wolle mich auf die Arme nehmen. Aber kurz vor mir blieb sie stehen und rümpfte die Nase ein wenig.
»Wie – wie heißt du?«
»Gerry.«
»Nun, Gerry, wie würde es dir gefallen, in diesem hübschen großen Haus zu wohnen und – und saubere Kleider und alles andere zu bekommen?«
»Ja, so stelle ich mir das Ganze auch vor. Lone sagte mir, ich solle zu Ihnen kommen. Er sagte, Sie hätten so viel Zaster, daß Sie nicht wüßten, wohin damit. Und außerdem schuldeten Sie ihm einen Gefallen.«
»Ich ihm?« Das schien sie zu verwundern.
»Ja.« Ich versuchte es ihr näher zu erklären. »Er sagte, er hätte einmal etwas für Sie getan, und Sie hätten versprochen, es ihm zurückzuzahlen, wenn Sie könnten. So war es.«
»Was hat er dir darüber erzählt?« Ihre Stimme kreischte wieder.
»Nicht ’ne verdammte Silbe.«
»Bitte, sag dieses Wort nie wieder«, bat sie mit geschlossenen Augen. Dann öffnete sie sie wieder und nickte entschlossen. »Ich habe es versprochen, und ich werde es halten. Du kannst von jetzt an hierbleiben. Wenn – wenn du willst.«
»Mit mir hat das nichts zu tun. Lone hat es mir befohlen.«
»Du wirst dich hier wohlfühlen«, sagte sie. Sie musterte mich von oben bis unten. »Dafür werde ich sorgen.«
»Okay. Soll ich jetzt die anderen holen?«
»Die anderen – auch Kinder?«
»Ja. Das gilt nicht nur für mich. Für uns alle – für die ganze Bande.«
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, zog ein lächerlich kleines Seidentuch aus der Tasche und tupfte sich die Lippen damit ab. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen. »Erzähl mir von diesen – diesen anderen Kindern.«
»Also, da ist mal Janie. Sie ist elf wie ich. Und Bonnie und Beanie sind acht. Zwillinge, müssen Sie wissen. Und Baby. Baby ist drei.«
»Baby ist drei«, wiederholte sie.
Ich schrie. Stern kniete sofort neben meiner Couch und drückte seine Handflächen gegen meine Wangen, um meinen Kopf ruhig zu halten, denn ich hatte ihn hin und her geworfen.
»Guter Junge«, sagte er. »Du hast es gefunden. Du weißt noch nicht, was es ist, aber du weißt, wo es ist.«
»Und ob«, sagte ich heiser. »Haben Sie ein Glas Wasser?«
Er goß mir etwas Wasser aus einer Thermosflasche ein. Es war so kalt, daß es weh tat. Ich legte mich zurück und ruhte mich aus, als hätte ich eine Klippe überwunden. »So etwas kann ich nicht noch einmal aushalten«, sagte ich.
»Willst du, daß wir für heute aufhören?«
»Und Sie?«
»Ich kann weitermachen, so lange du willst.«
Ich dachte darüber nach. »Ich würde gern noch weitermachen, aber einen dicken Brocken vertrage ich jetzt nicht. Wenigstens nicht im Augenblick.«
»Wenn du noch einen dieser ungenauen Vergleiche hören willst«, sagte Stern, »bitte: Die Psychiatrie ist wie eine Straßenkarte. Es gibt immer verschiedene Wege, um zu einem Punkt zu gelangen.«
»Ich nehme den Umweg«, erklärte ich ihm. »Die achtspurige Autobahn. Nicht den steilen Pfad über die Berge. Meine Kupplung schleift. Wo muß ich abbiegen?«
Er lachte vor sich hin. Seine Stimme gefiel mir. »Einfach an der Kiesauffahrt vorbei.«
»Da war ich schon. Da ist eine Brücke eingestürzt.«
»Du kennst aber die ganze Strecke. Fang jenseits der Brücke an.«
»Daran habe ich nicht gedacht. Ich glaubte, ich müßte die ganze Strecke Schritt für Schritt abgehen.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber wenn du den Rest der Strecke gegangen bist, wird es dir nicht mehr schwerfallen, die Brücke zu überqueren. Möglicherweise ist auf der Brücke gar keine wichtige Station. Aber das kannst du erst wissen, wenn du alles andere abgesucht hast.«
»Fangen wir an.« Irgendwie war ich nun doch gespannt.
»Darf ich einen Vorschlag machen?«
»Nur zu.«
»Erzähl einfach«, sagte er. »Versuch nicht, zu weit in das einzudringen, was du erlebt hast. Die erste Periode – als du acht warst – hast du stark miterlebt. Die zweite mit den fremden Kindern hast du nur erzählt. Dann den Besuch – den hast du wieder miterlebt. Jetzt mußt du wieder erzählen.«
»Gut.«
Er wartete und sagte dann ruhig: »In der Bibliothek. Du hast ihr von den anderen Kindern erzählt.«
Ich erzählte ihr von ihnen … und dann sagte sie … und irgend etwas geschah, und ich schrie auf. Sie tröstete mich, und ich schrie ihr Schimpfworte entgegen.
Aber denken wir jetzt nicht daran. Machen wir weiter.
In der Bibliothek. Das Leder, der Tisch, und ob ich bei Miß Kew erreiche, was Lone von mir verlangt hatte.
Lone hatte folgendes gesagt: »In den Heights lebt eine Frau. Heißt Kew. Sie wird sich um euch kümmern müssen. Du mußt sie dazu bringen, daß sie es tut. Macht alles, was sie sagt, aber bleibt zusammen. Paß auf, daß sich keines von den anderen trennt, verstanden? Außerdem seid brav bei Miß Kew, dann wird sie euch gut behandeln. Und jetzt tue, was ich dir gesagt habe.« Das waren Lones Worte. Zwischen jedem Wort befand sich ein Bindeglied, stärker als eine Stahltrosse, und das Ganze konnte auf keinen Fall auseinandergerissen werden. Wenigstens nicht von mir.
»Wo sind deine Geschwister und das Baby?« fragte Miß Kew.
»Ich hole sie.«
»Sind sie weit von hier?«
»Nicht so sehr.«
Sie sagte nichts mehr, also stand ich auf. »Ich komme bald wieder.«
»Warte«, sagte sie. »Ich – wirklich, ich bin noch gar nicht zum Nachdenken gekommen. Ich meine – ich muß natürlich noch alles herrichten.«
»Sie brauchen nicht nachzudenken und nichts herzurichten«, sagte ich. »Sie haben alles bereit. Bis später.«
Von der Tür her hörte ich ihre Stimme, die mich immer lauter verfolgte, je schneller ich ging.
»Junger Mann, wenn du in meinem Haus wohnen willst, mußt du dir noch weit bessere Manieren angewöhnen …«
Und so ging es fort.
»Okay, okay!« schrie ich zurück und ging hinaus.
Die Sonne schien warm, und der Himmel war prachtvoll, und ich hatte Lones Hütte bald erreicht.
Das Feuer war ausgegangen, und Baby stank. Janie hatte ihre Staffelei zusammengeklappt und saß jetzt neben der Tür auf dem Boden. Sie vergrub den Kopf in den Armen. Bonnie und Beanie saßen zusammen auf einem Hocker, hielten sich umschlungen, so eng es nur ging, und sahen nicht auf. Sie machten den Eindruck, als ob sie frieren würden, obwohl es überhaupt nicht kalt war.
Ich boxte Janie in den Arm, um sie aus ihrer düsteren Stimmung aufzurütteln. Sie hatte graue Augen – vielleicht waren sie auch mehr grün –, aber jetzt schimmerten sie ganz seltsam.
»Was ist denn hier los?« fragte ich.
»Was soll denn los sein?« fragte sie zurück.
»Na, mit euch allen.«
»Uns ist alles egal. Sonst nichts«, erklärte sie.
»Na schön«, sagte ich. »Aber wir müssen trotzdem tun, was Lone uns befohlen hat. Los, kommt.«
»Nein.« Ich sah die Zwillinge an. Sie drehten mir den Rücken zu. »Sie haben Hunger«, sagte Janie ruhig.
»Na, und warum gibst du ihnen nichts zu essen?«
Sie zuckte nur mit den Schultern. Ich setzte mich. Warum mußte sich Lone aber auch von dem Baum erdrücken lassen?
»Wir harmonieren nicht mehr«, sagte Janie. Es schien eine Erklärung für alles zu sein.
»Sieh mal«, sagte ich. »Ich muß jetzt für euch Lone sein.«
Janie dachte darüber nach, und Baby stieß mit den Beinen. Janie sah den Kleinen an. »Das kannst du nicht«, sagte sie.
»Ich weiß, wo man Essen und Terpentin holen kann, und ich bin stark genug, um die schweren Sachen zu tragen«, erklärte ich. »Ich weiß auch, wo Lone dieses Moos holte, das er in die Mauerritzen stopfte, und ich kann Holz hacken und Feuer machen.«
Aber ich konnte nicht Beanie und Bonnie von weit her zitieren, damit sie mir Türen aufsperrten. Ich konnte Janie keine Befehle geben, damit sie Wasser holte und die Batterie in Ordnung brachte. Ich konnte nicht dafür sorgen, daß wir harmonierten.
Wir blieben eine ganze Zeit so sitzen. Dann hörte ich die Wiege quietschen und knarren. Ich sah auf. Janie starrte Baby an.
»Gut«, sagte sie. »Gehen wir.«
»Wer sagt das?«
»Baby.«
»Wer ist hier der Anführer?« fragte ich wütend. »Ich oder Baby?«
»Baby«, sagte Janie.
Ich stand auf und ging zu ihr hinüber, weil ich ihr auf den Mund schlagen wollte, doch dann blieb ich stehen.
Wenn Baby so mit ihnen reden konnte wie Lone, dann würde alles gutgehen. Wenn ich aber anfing, sie alle herumzuschubsen, erreichte ich nicht das geringste damit. So sagte ich nichts. Janie stand auf und ging zur Tür. Die Zwillinge sahen ihr nach. Dann verschwand Beanie. Bonnie nahm Beanies Kleider mit und ging nach draußen. Ich holte Baby aus der provisorischen Wiege und legte es mir auf die Schulter.
Es war besser, als wir alle draußen waren. Es wurde schon spät, und die Luft war warm. Die Zwillinge tauchten hier und da zwischen den Bäumen auf und huschten umher wie Eichhörnchen. Janie und ich gingen nebeneinanderher, wie immer, wenn wir spazierengingen oder zum Schwimmen wollten. Baby begann zu strampeln, und Janie sah ihm eine Zeitlang zu. Dann fütterte sie es, und es war wieder still.
Als wir in die Nähe der Stadt kamen, wäre es mir lieber gewesen, wenn sich alle dicht an mich hielten. Aber ich fürchtete mich, etwas zu sagen. Baby mußte es an meiner Stelle getan haben. Die Zwillinge kamen zu uns zurück, und Janie gab ihnen ihre Kleider wieder, und sie gingen ganz brav vor uns her. Ich weiß nicht, wie Baby das fertigbrachte.
Wir kamen ungehindert vorwärts. Nur in einer Straße in der Nähe von Miß Kews Haus kam uns so ein blöder Kerl entgegen. Er blieb wie angewurzelt stehen und gaffte uns an. Janie erwiderte seinen Blick und brachte es fertig, daß ihm der Hut ganz tief über die Augen rutschte. Er hatte mächtig Arbeit, bis er ihn wieder hochbekam.
Was sagen Sie nun – als wir an das Haus kamen, hatte jemand den ganzen Schmutz von der Tür abgewaschen, den meine Finger dort hinterlassen hatten.
»Hier wohnt noch eine Frau namens Miriam«, erklärte ich Janie. »Wenn sie einen Ton sagt, dann mußt du erwidern, sie solle sich zum Teufel scheren.«
Die Tür ging auf, und es war Miriam. Sie warf uns nur einen Blick zu und wich sechs Meter zurück. Wir gingen alle nacheinander hinein. Miriam bekam wieder Luft und kreischte: »Miß Kew! Miß Kew!«
»Scher dich zum Teufel!« sagte Janie und sah mich an. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Zum erstenmal hatte Janie etwas getan, das ich ihr befohlen hatte.
Miß Kew kam die Treppe herunter. Sie trug ein anderes Kleid, aber es war ebenso lächerlich und hatte ebenso viele Spitzen wie das erste. Sie machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus, und so ließ sie ihn einfach offen und wartete darauf, ob etwas geschehen würde. Schließlich sagte sie: »Der liebe Heiland verschone uns!«
Die Zwillinge stellten sich nebeneinander auf und gafften sie an. Miriam trat ein paar Schritte zurück, drängte sich an die Wand und glitt an uns vorbei zur Tür, um sie zu schließen. Sie sagte: »Miß Kew, wenn das die Kinder sind, die in Zukunft bei uns wohnen sollen, dann kündige ich.«
Janie sagte: »Scher dich zum Teufel!«
Gerade in diesem Augenblick kauerte sich Bonnie auf dem Teppich nieder. Miriam stieß einen Schrei aus und sprang auf sie zu. Sie packte Bonnie am Arm und wollte sie hochreißen. Bonnie verschwand, und Miriam hielt ein armseliges Kleidchen in der Hand. Ihr Gesichtsausdruck war einmalig. Beanie grinste von einem Ohr zum anderen und begann wie verrückt zu winken. Ich sah in die Richtung, in die sie winkte, und da saß Bonnie splitternackt am Treppengeländer.
Miß Kew drehte sich um, sah sie und setzte sich stumm auf eine Treppenstufe. Auch Miriam setzte sich, als habe ihr jemand eins auf den Kopf gegeben.
Beanie nahm Bonnies Kleid, ging an Miß Kew vorbei die Treppen hinauf und überreichte es Bonnie. Bonnie zog es an. Miß Kew drehte sich langsam um und sah hinauf. Da kamen Beanie und Bonnie brav Hand in Hand die Treppe herunter und auf mich zu. Sie stellten sich wie zwei Soldaten auf und starrten Miß Kew an.
»Was ist mit ihr los?« wollte Janie wissen.
»Ihr wird alle Augenblicke schlecht.«
»Dann gehen wir wieder heim.«
»Nein«, sagte ich.
Miß Kew hielt sich am Treppengeländer fest und zog sich mühsam hoch. Sie lehnte sich eine Weile mit geschlossenen Augen dagegen. Doch ganz plötzlich versteifte sich ihre Haltung. Sie sah um zehn Zentimeter größer aus. Dann marschierte sie auf uns zu.
»Gerard!« trompetete sie.
Ich glaube, sie wollte ursprünglich etwas anderes sagen. Aber dann blieb sie mit einem Ruck stehen und zielte mit ihrem Finger auf mich. »Was, um Himmels willen, ist denn das?«
Erst verstand ich sie nicht richtig und drehte mich um, um zu sehen, was sie meinte. »Was?«
»Das! Das!«
»Oh«, meinte ich. »Das ist Baby.«
Ich holte es von meinen Schultern herunter und hielt es ihr hin, damit sie es näher ansehen konnte. Sie stöhnte ein bißchen, aber dann kam sie noch einen Schritt näher und riß mir Baby aus den Händen. Sie hielt es ein wenig von sich weg und stöhnte wieder. Dann nannte sie es ein armes, kleines Ding und lief weg und legte das Kind auf ein langes, bankähnliches Gebilde, auf dem eine Menge Kissen lagen. Darüber war ein buntes Glasfenster. Sie beugte sich über den Kleinen, steckte die Knöchel in den Mund und biß daran herum. Dabei stöhnte sie immerzu. Schließlich drehte sie sich zu mir um.
»Wie lange ist er schon so?«
Ich sah Janie an, und sie sah mich an. »Er war schon immer so«, sagte ich.
Sie hustete und rannte zu Miriam hinüber, die auf dem Boden lag. Sie schlug Miriam ein paarmal ins Gesicht, bis sie die Augen öffnete. Sie setzte sich auf und sah uns an. Dann zuckte sie zusammen und machte die Augen wieder zu. Miß Kew stützte sie, als sie aufstand.
»Reiß dich zusammen«, knirschte Miß Kew zwischen den Zähnen. »Hol eine Schüssel mit heißem Wasser und Seife. Waschlappen. Handtücher. Beeil dich.« Sie gab Miriam einen festen Schubs. Miriam stolperte, hielt sich an der Wand fest und lief dann los.
Miß Kew ging zurück zu Baby und beugte sich über den Kleinen. Sie hatte die Lippen zusammengepreßt.
»Machen Sie kein Theater mit ihm«, sagte ich. »Er ist völlig in Ordnung. Wir haben Hunger.«
Sie warf mir einen Blick zu, als hätte ich sie geschlagen. »Du darfst nicht so mit mir sprechen, verstanden?«
»Sehen Sie«, sagte ich, »uns paßt das Ganze ja genausowenig wie Ihnen. Wenn Lone es uns nicht befohlen hätte, wären wir niemals hierhergekommen. Uns gefiel es da, wo wir waren.«
»Sag nicht, ›es paßt mir nicht‹.« Miß Kew sah uns der Reihe nach an. Dann nahm sie wieder dieses lächerlich kleine Taschentuch und preßte es gegen ihren Mund.
»Siehst du?« sagte ich zu Janie. »Dauernd wird ihr schlecht.«
»Hoho«, machte Bonnie.
Miß Kew warf ihr einen langen Blick zu.
»Gerard«, sagte sie mit seltsam unterdrückter Stimme. »Soviel ich weiß, hast du gesagt, daß diese Kinder deine Geschwister sind.«
»Ja. Und?«
Sie sah mich an, als hielte sie mich für ziemlich beschränkt. »Farbige kleine Mädchen können niemals unsere Geschwister sein, Gerard.«
»Unsere schon«, mischte sich Janie ein.
Miß Kew ging auf und ab – ziemlich schnell. »Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns«, sagte sie zu sich selbst.
Miriam kam mit einem riesigen ovalen Behälter herein. Über den Arm hatte sie Handtücher und andere Dinge gelegt. Sie stellte alles auf dem bankähnlichen Ding ab. Miß Kew steckte ihre Hand ins Wasser, dann nahm sie Baby auf und tauchte es hinein. Baby begann zu strampeln.
Ich trat einen Schritt vor und sagte: »Halten Sie mal einen Augenblick. Nicht weitermachen! Was haben Sie denn mit Baby vor?«
Janie sagte: »Sei still, Gerry. Er sagt, es sei gut so.«
»Gut? Ersäufen will sie ihn.«
»Nein. Jetzt halt den Mund.«
Miß Kew rieb Baby von oben bis unten mit Seife ein, drehte es ein paarmal herum und schrubbte es ab. Dann erstickte es fast in einem riesigen Handtuch. Miriam stand mit dummem Gesicht daneben, als sie ihm eine Art Geschirrtuch so um die Beine wickelte, daß es hinterher wie eine Hose aussah. Als sie damit fertig war, hätte man nicht glauben mögen, daß das ein und dasselbe Baby war. Und auch Miß Kew selbst schien sich verändert zu haben. Sie atmete schwer, und ihr Mund war noch strenger zusammengekniffen. Sie hielt Baby Miriam hin.
»Nimm das arme Ding«, sagte sie. »Und leg es …«
Aber Miriam trat einen Schritt zurück. »Tut mir leid, Miß Kew, aber ich gehe. Ich …«
Miß Kew trompetete ihr entgegen: »Du kannst mich in dieser Situation nicht allein lassen. Diese Kinder brauchen Hilfe. Siehst du das nicht selbst?«
Miriam sah mich und Janie an. Sie zitterte. »Sie sind hier nicht sicher, Miß Kew. Die sind nicht nur schmutzig, die sind plem-plem.«
»Wir beide hätten nicht anders ausgesehen, wenn man uns so vernachlässigt hätte. Und sag nicht ›plemplem‹! Gerard?«
»Was?«
»Sag nicht … O Himmel, wir haben so viel zu tun. Gerard, wenn ihr hier leben wollt, dann müßt ihr euch noch sehr ändern. Ihr könnt nicht unter diesem Dach bleiben und euch so benehmen wie bisher. Verstehst du das?«
»Ja, sicher. Lone sagte, daß wir genau das tun sollten, was Sie sagen, damit Sie zufrieden sind.«
»Wirst du alles tun, was ich sage?«
»Habe ich das nicht gerade erklärt?«
»Gerard, du mußt noch lernen, daß man mit mir nicht in diesem Ton sprechen darf. Nun, junger Mann, wenn ich dich bitten würde, auch das zu befolgen, was Miriam sagt, würdest du gehorchen?«
»Was meinst du?« fragte ich Janie.
»Ich werde Baby fragen.« Janie sah Baby an, und Baby warf die Ärmchen hoch und plapperte etwas.
Janie sagte: »Ist schon okay.«
»Gerard, ich habe dich etwas gefragt«, rief Miß Kew.
»Nun kippen Sie nicht gleich aus den Socken«, sagte ich. »Ich muß mich doch erst mit den anderen beraten. Ja, wenn Sie wollen, gehorchen wir auch Miriam.«
Miß Kew wandte sich an Miriam. »Hast du das gehört, Miriam?«
Miriam sah Miß Kew und dann uns an und schüttelte den Kopf. Dann streckte sie ihre Hände ein wenig nach Beanie und Bonnie aus.
Die beiden gingen ruhig zu ihr hin. Jede nahm sie bei einer Hand. Sie sahen zu ihr auf und grinsten. Vermutlich hatten sie irgendeine kleine Teufelei vor, aber sie machten ganz brave Gesichter.
Miriam verzog den Mund und sah einen Augenblick geradezu menschlich aus. Sie sagte: »Schon gut, Miß Kew.«
Miß Kew ging zu ihr hinüber und händigte ihr Baby aus, und sie ging damit nach oben. Miß Kew schickte uns Miriam nach. Wir gingen alle die Treppen hinauf.
Von da an haben sie uns bearbeitet und nicht mehr losgelassen – drei Jahre lang.
»Es war die Hölle«, sagte ich zu Stern.
»Sie konnten nichts anderes tun.«
»Vermutlich nicht. Aber wir konnten auch nichts für unsere Art. Sehen Sie, wir taten genau, was Lone uns befohlen hatte. Nichts auf der Welt konnte uns davon abhalten. Uns waren die Hände gebunden, und wir mußten alles tun, was Miß Kew uns befahl. Aber sie und Miriam schienen das nie zu verstehen. Ich schätze, sie hatten das Gefühl, sie müßten alles bis zum Äußersten treiben. Dabei hätten sie uns nur zu sagen brauchen, was wir tun sollten. Wir hätten es getan. Es hätte doch gereicht, wenn sie zum Beispiel gesagt hätte, ich dürfe nicht in einem Bett mit Janie schlafen.
Aber Miß Kew machte ein richtiges Theater daraus. So wie sie sich aufführte, hätte man glauben können, daß wir die Kronjuwelen gestohlen hatten. Oder wenn sie sagte: ›Ihr müßt euch wie kleine Damen und Gentlemen benehmen!‹, so sagte uns das überhaupt nichts. Und zwei von drei Befehlen, die sie uns gab, waren von dieser Art.
›Äh-äh‹, pflegte sie zu sagen, ›achte auf deine Sprache!‹ Das kapierte ich anfangs überhaupt nicht. Schließlich fragte ich sie, was, zum Teufel, sie damit meinte, und da sagte sie es mir endlich. Aber Sie verstehen, was ich damit sagen will.«
»Natürlich«, erklärte Stern. »Wurde es mit der Zeit nicht einfacher, sie zu verstehen?«
»Wirklichen Streit hatten wir eigentlich nur zweimal. Einmal wegen der Zwillinge und einmal wegen Baby. Das war wirklich arg.«
»Was geschah denn?«
»Mit den Zwillingen? Nun, als wir ungefähr eine Woche dort waren, merkten wir allmählich, daß etwas faul war. Janie und ich, wollte ich sagen. Wir bekamen Bonnie und Beanie praktisch nie zu sehen. Es war, als sei das Haus in zwei Hälften geteilt, eine für Miß Kew, Janie und mich und die andere für Miriam und die Zwillinge. Schätzungsweise hätten wir es früher bemerkt, wenn nicht alles so fremd für uns gewesen wäre. Die neuen Kleider und die Betten und all das. Aber es war so: Wir durften alle im Nebenhof spielen, und wenn es dann zum Essen ging, wurden die Zwillinge von uns getrennt und mußten mit Miriam essen, während wir mit Miß Kew aßen. Und so fragte Janie: »Warum essen die Zwillinge nicht mit uns?«
»Miriam paßt auf sie auf, meine Liebe«, erwiderte Miß Kew.
Janie sah sie mit ihren graugrünen Augen an. »Das weiß ich. Lassen Sie sie hier essen, dann passe ich auf sie auf.«
Miß Kews Mund wurde wieder ganz streng, und sie sagte: »Sie sind farbige kleine Mädchen, Jane. Und jetzt iß deinen Teller leer.«
Aber sie erklärte weder mir noch Janie, worum es ging. Ich sagte: »Ich will, daß sie bei uns essen. Lone sagte, daß wir zusammenbleiben müßten.«
»Aber ihr seid doch zusammen«, erwiderte sie. »Wir wohnen alle in einem Haus. Wir essen das gleiche Essen. Und jetzt sprechen wir nicht mehr über diese Sache.«
Ich sah Janie an, und sie sah mich an, und sie sagte: »Und warum können wir dann nicht alle hier essen?«
Miß Kew legte die Gabel weg und sah sie grimmig an. »Das habe ich euch schon erklärt, und jetzt möchte ich nicht mehr darüber sprechen.«
Also, das hielt ich wirklich für ungerecht. Und so rief ich, so laut ich konnte: »Bonnie! Beanie!« Schwupp! waren sie in unserem Zimmer.
Und da brach die Hölle los. Miß Kew befahl ihnen, hinauszugehen, und sie wollten nicht, und Miriam kam mit ihren Kleidern angelaufen, aber sie konnte sie nicht fangen. Miß Kew brüllte sie an, und als das nichts nützte, brüllte sie mich an. Sie sagte, das sei zuviel. Nun, schon möglich, daß sie eine schwere Woche hinter sich hatte, aber uns war es nicht besser ergangen. Schließlich befahl uns Miß Kew, aus ihrem Haus zu verschwinden.
Ich holte Baby und ging, und die Zwillinge und Janie kamen mit. Miß Kew wartete, bis wir alle draußen waren, und dann rannte sie uns wieder nach. Sie blieb so vor uns stehen, daß wir nicht weiterkonnten.
»Befolgt ihr so Lones Wünsche?« fragte sie.
Ich erwiderte: »Ja.«
Sie sagte, soviel sie verstanden hätte, wollte Lone, daß wir bei ihr blieben. Worauf ich ihr entgegenhielt, daß Lone gesagt habe, wir müßten alle zusammenbleiben.
Sie wollte, daß wir zurückkämen und uns noch einmal mit ihr unterhielten. Janie fragte Baby, und Baby sagte ja. Also gingen wir zurück.
Wir schlossen einen Kompromiß. Wir aßen nicht mehr im Speisezimmer. Im Haus war eine große Veranda, so eine mit Glasfenstern, einer Tür zum Speisezimmer und einer anderen Tür zur Küche. Da draußen aßen wir alle zusammen. Miß Kew mußte wieder allein essen.
Aber einen komischen Erfolg hatte das Ganze.
»Und der war?« wollte Stern wissen.
Ich lachte. »Miriam. Sie sah aus wie immer und schimpfte wie immer, aber sie schob uns jetzt oft zwischen den Mahlzeiten kleine Leckerbissen zu. Ich brauchte zwei Jahre, bis ich herausfand, was das alles eigentlich sollte. Wie mir die Leute so erzählten, scheint es zwei Armeen zu geben, die sich wegen der verschiedenen Rassenansichten bekämpfen. Die einen wollen, daß Schwarz und Weiß getrennt leben, und die anderen wollen, daß sie zusammen sind. Aber ich verstehe nicht, warum sich beide Gruppen so sehr darüber aufregen. Warum lassen sie das Thema nicht einfach?«
»Sie können nicht. Siehst du, Gerry, die Menschen müssen daran glauben, daß sie in irgendeiner Form den anderen überlegen sind. Du und Lone und die anderen Kinder – ihr wart eine enge Gemeinschaft. Habt ihr nie das Gefühl gehabt, daß ihr ein wenig den anderen Menschen überlegen wart? Besser als sie?«
»Besser? Wie hätten wir besser sein können?«
»Oder anders.«
»Nun ja, das vielleicht schon, aber wir haben uns nie Gedanken darüber gemacht. Anders, ja. Aber nicht besser.«
»Du bist ein einmaliger Fall«, sagte Stern. »Und jetzt erzähl mir über den anderen Streit, den ihr hattet. Wegen Baby.«
»Baby – ja. Also, das war ein paar Monate, nachdem wir zu Miß Kew gezogen waren. Alles ging schon ziemlich gut. Wir sagten von selbst ›danke‹ und ›bitte‹, und sie holte den versäumten Unterricht an uns nach. Fünf Tage in der Woche hatten wir vormittags und nachmittags regelmäßig Schule. Jane mußte sich schon längst nicht mehr um Baby kümmern, und die Zwillinge strolchten herum, wo es ihnen Spaß machte. Das war lustig. Sie tauchten einmal da auf, im nächsten Augenblick wieder dort, und Miß Kew wollte oft ihren Augen nicht trauen. Es regte sie aber auch zu sehr auf, wenn die beiden plötzlich irgendwo nackt im Raum schwebten. So ließen sie es bleiben, und Miß Kew war zufrieden. Sie war überhaupt mit der Entwicklung zufrieden. Seit Jahren hatte sie völlig allein gelebt – seit Jahren. Sie hatte sogar eine Uhr vor dem Haus, damit niemand hereinzukommen brauchte. Aber in unserer Gegenwart schien sie aufzuleben. Sie trug nicht mehr diese Altweiberrüschen und begann halbwegs menschlich auszusehen. Manchmal aß sie sogar mit uns zusammen.
Aber eines Tages wachte ich auf und hatte ein ganz unheimliches Gefühl. Es war, als hätte mir jemand im Schlaf etwas gestohlen und ich wußte nicht, was es war. Ich kletterte aus dem Fenster und den Balkon entlang zu Janies Zimmer, was ich eigentlich nicht tun durfte. Sie war noch im Bett. Ich ging hin und weckte sie. Ich sehe noch genau ihre Augen vor mir, wie sie sich noch im Schlaf zu einem Schlitz öffneten und dann ganz groß und rund wurden. Ich mußte ihr nicht sagen, was mich beunruhigte. Sie wußte es, und sie wußte auch, was uns fehlte.
»Baby ist fort«, sagte sie.
Da war es uns gleichgültig, wen wir aufweckten. Wir polterten aus ihrem Zimmer hinunter in die Halle und in den kleinen Raum am Ende des Ganges, wo Baby schlief. Wir wollten es nicht glauben. Die hübsche Wiege, die weiße Truhe mit den Schubladen und all das Rasselzeug zum Spielen waren fort. Statt dessen stand ein Schreibtisch im Zimmer. Es sah aus, als hätte Baby nie in dem Raum gewohnt.
Wir sagten nichts. Wir drehten uns auf der Stelle um und platzten in Miß Kews Schlafzimmer. Ich war erst ein einzigesmal dort gewesen und Janie auch nicht viel öfter. Aber verboten oder nicht, das war uns jetzt gleichgültig. Sie setzte sich auf und lehnte sich an das Brett am Kopfende. Sie sah uns beide kühl an.
»Was soll das bedeuten?« fragte sie uns.
»Wo ist Baby?« schrie ich ihr entgegen.
»Gerard«, sagte sie ruhig, »du brauchst mich nicht anzuschreien.«
Jane war ein wirklich ruhiges Kind, aber sie sagte: »Sagen Sie uns lieber, wo es ist, Miß Kew.« Und Sie hätten Angst bekommen, wenn Sie ihre Augen dabei angesehen hätten.
Ganz plötzlich legte Miß Kew ihre steinerne Miene ab und streckte uns die Hände entgegen. »Kinder«, sagte sie, »es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Aber ich habe sein Bestes gewollt. Ich habe Baby weggeschickt. Es soll mit Kindern zusammen leben, die in einer ähnlichen Verfassung sind. Hier hätten wir das Kleine nie glücklich machen können. Ihr wißt es.«
»Er sagte uns nie, daß er nicht glücklich wäre«, meinte Jane.
Miß Kew brachte ein gepreßtes Lachen hervor. »Wenn er nur sprechen könnte, der arme kleine Kerl.«
»Bringen Sie ihn lieber wieder zurück«, sagte ich. »Sie wissen nicht, was Sie da sagen. Ich habe Ihnen doch erklärt, daß wir uns nie voneinander trennen dürften.«
Sie wurde wütend, aber sie beherrschte sich. »Ich will versuchen, es dir zu erklären, Liebling«, sagte sie. »Du und Jane und die Zwillinge – ihr seid alle normale, gesunde Kinder und werdet tüchtige Männer und Frauen werden. Aber mit dem armen Baby ist es anders. Es wird nicht mehr viel wachsen, und es wird nie wie die anderen Kinder herumlaufen und spielen können.«
»Aber das hat doch nichts damit zu tun«, widersprach Jane. »Sie hatten kein Recht, ihn wegzugeben.«
Ich nickte und fügte hinzu: »Bringen Sie ihn schnell wieder her.«
Da wurde sie giftig. »Unter den vielen Dingen, die ich euch beigebracht habe, ist auch die Regel, daß man älteren Leuten nicht widersprechen soll. Und jetzt lauft, zieht euch an und geht zum Frühstück hinauf. Sprechen wir nicht mehr über die Sache.«
Ich sagte ihr, so freundlich ich konnte: »Miß Kew, es wird Ihnen noch leid tun, wenn Sie Baby nicht zurückbringen lassen.«
Da sprang sie aus dem Bett und führte uns aus ihrem Zimmer.
Ich schwieg eine Zeitlang, und Stern fragte: »Was geschah dann?«
»Oh«, sagte ich, »sie holte es zurück.« Ich lachte plötzlich. »Jetzt ist es natürlich lustig, wenn man sich zurückerinnert. Ungefähr ein Vierteljahr kommandierte sie uns herum und bestimmte, was wir tun und lassen sollten, und dann verweigerten wir ihr plötzlich den Gehorsam. Wir hatten unser Möglichstes versucht, mit ihr auszukommen, wirklich, aber diesmal war sie zu weit gegangen. Von der Sekunde an, in der sie die Tür hinter uns zuschlug, bekam sie ihre Behandlung. Sie hatte einen großen Porzellantopf unter dem Bett stehen. Der hob sich jetzt in die Luft und krachte in den Kommodenspiegel. Dann öffnete sich eine der Kommodenschubladen, und ein Handschuh kam heraus, der ihr immer wieder ins Gesicht schlug.
Sie wollte zurück ins Bett springen, aber ein ganzer Teil der Decke löste sich ab und fiel auf das Bett. In dem kleinen Bad drehte sich der Stöpsel von selbst in den Badewannenabfluß, und der Hahn öffnete sich. Kurz bevor die Wanne überfloß, fielen alle Kleider von Miß Kew hinein. Sie wollte aus dem Zimmer laufen, aber die Tür blieb zu, und als sie fest daran rüttelte, öffnete sie sich so schnell, daß sie stolperte und zu Boden fiel. Da gingen wir zu ihr und sahen sie an. Sie weinte. Bis dahin hatten wir nicht gewußt, daß sie überhaupt weinen konnte.
»Holen Sie jetzt Baby zurück?« fragte ich sie.
Sie lag einfach da und weinte. Nach einer Weile sah sie zu uns auf. Es war wirklich mitleiderregend. Wir halfen ihr auf und holten ihr einen Stuhl. Sie sah erst uns und dann den zerbrochenen Spiegel an, bis ihr Blick zu der eingefallenen Decke glitt. »Was ist denn geschehen?« flüsterte sie. »Was ist geschehen?«
»Sie haben uns Baby weggenommen«, sagte ich. »Deshalb.«
Da sprang sie auf und sagte mit leiser, wirklich ängstlicher Stimme: »Irgend etwas hat das Haus erschüttert. Vielleicht hat uns ein Flugzeug gestreift. Oder ein Erdbeben hat stattgefunden. Sprechen wir nach dem Frühstück über Baby.«
»Gib ihr noch mehr, Janie«, sagte ich.
Ein dicker Wasserstrahl schoß ihr ins Gesicht und über die Brust, so daß ihr das nasse Nachthemd am Leib klebte. Das schien sie am meisten zu entsetzen. Dann standen ihre Zöpfe steil in die Luft, immer höher, bis sie selbst aufstehen mußte. Sie riß den Mund auf, um loszuschreien, und die Puderwatte von der Ankleidekommode verschwand darin. Sie zog sie wieder heraus.
»Was macht ihr nur?« rief sie wieder weinend.
Janie sah sie nur an, verschränkte die Hände brav auf dem Rücken und sagte: »Wir haben gar nichts gemacht.«
Und ich fügte hinzu: »Bis jetzt haben wir noch nichts gemacht. Holen Sie Baby zurück?«
Und sie schrie uns entgegen: »Aufhören! Aufhören! Ich will nichts mehr von diesem mongoloiden Idioten hören. Er nutzt niemandem etwas, nicht einmal sich selbst. Wie konnte ich nur jemals annehmen, daß er von mir ist?«
Ich sagte: »Laß ein paar Ratten kommen, Janie.«
Man hörte ein Rascheln in der Diele. Miß Kew bedeckte das Gesicht mit den Händen und sank auf einen Stuhl. »Keine Ratten«, sagte sie, »keine Ratten.« Dann quietschte etwas, und sie wurde halb irrsinnig vor Angst. Haben Sie schon mal gesehen, wie jemand richtig aus dem Häuschen geriet?«
»Ja«, sagte Stern.
»Ich war so wütend wie kaum je zuvor. Aber das war sogar für mich zuviel. Trotzdem – sie hätte Baby nicht wegschicken sollen. Es dauerte ein paar Stunden, bis sie sich so weit erholt hatte, daß sie ans Telefon gehen konnte. Aber vor dem Abendessen war Baby wieder bei uns.« Ich lachte.
»Was freut dich?«
»Sie konnte sich später nie so recht erinnern, was eigentlich geschehen war. Ein paar Wochen nach dem Vorfall hörte ich sie mit Miriam darüber sprechen. Sie sagte, daß das Haus plötzlich gesunken sei. Ein Glück, daß sie Baby zu einer ärztlichen Untersuchung geschickt hätte – das arme kleine Ding wäre sonst wohl noch verletzt worden. Ich bin überzeugt, daß sie diese Version selbst glaubte.«
»Wahrscheinlich. Das ist oft so. Was wir nicht glauben wollen, glauben wir auch nicht.«
»Wieviel von meiner Geschichte glauben Sie?« fragte ich ihn plötzlich.
»Das sagte ich dir schon vor der Behandlung: Es kommt nicht darauf an. Ich gebe mir gar nicht die Mühe, zu glauben oder nicht zu glauben.«
»Sie haben mich noch gar nicht gefragt, ob ich an meine Geschichte glaube.«
»Das ist auch nicht nötig. Darüber mußt du dir deine eigenen Gedanken machen.«
»Sind Sie ein guter Psychotherapeut?«
»Ich glaube schon«, sagte er. »Wen hast du umgebracht?«
Die Frage traf mich, als ich nicht auf der Hut war. »Miß Kew«, sagte ich. Im nächsten Augenblick begann ich zu fluchen und zu schimpfen. »Das wollte ich Ihnen gar nicht sagen.«
»Mach dir keine Sorgen darüber«, sagte er. »Warum hast du es getan?«
»Wenn ich das wüßte, wäre ich nicht zu Ihnen gekommen.«
»Du mußt sie wirklich gehaßt haben.«
Ich begann zu heulen. Fünfzehn Jahre und dann so zu heulen!
Er ließ mir Zeit, bis alles aus mir heraus war. Ich schluchzte, daß mir die Kehle schmerzte. Meine Nase lief. Und dann brachen die Worte aus mir hervor.
»Wissen Sie, woher ich komme? Die früheste Erinnerung, die ich habe, ist, daß mich jemand ins Gesicht boxte. Mit einer Hand so groß wie mein Kopf. Ich sehe sie noch auf mich zukommen. Weil ich weinte. Seitdem hatte ich immer Hemmungen, zu weinen. Ich hatte geweint, weil ich hungrig war. Vielleicht fror ich auch.
Danach erinnere ich mich an große 5chlafsäle. Wer am meisten stehlen konnte, kam am besten durch. Sie prügeln einen wie verrückt, wenn man was angestellt hat, und belohnen einen, wenn man brav war. Schönste Belohnung: in Ruhe gelassen zu werden. Versuchen Sie mal, so zu leben. Versuchen Sie zu leben, wenn das Allerschönste, was Sie erreichen können, Alleinsein ist. Verdammt noch mal.
Dann die Zeit mit Lone und den Kindern. Etwas Wundervolles. Man gehörte jemandem. Das hatte ich nie zuvor erlebt. Zwei gelbe Lampen und ein Kamin, und sie erhellen die Welt. Mehr braucht man nicht.
Dann der große Wechsel. Saubere Kleider, gekochtes Essen, fünf Tage in der Woche Schule. Kolumbus und König Arthur und Staatsbürgerkunde. Über allem dieser große viereckige Eisklumpen. Man sieht, wie er schmilzt, wie die Ecken rund werden, und man weiß, daß es so ist, weil sie einen mag …
Zum Teufel, Miß Kew hatte viel zuviel Selbstbeherrschung, um süßlich zu werden, aber das Gefühl verließ uns nie. Lone kümmerte sich um uns, weil es einfach zu dem Leben gehörte, das er lebte. Miß Kew kümmerte sich auch um uns, aber es stülpte ihr bisheriges Leben völlig um. Es war etwas, das sie bewußt tun wollte.
Sie hatte eine komische Auffassung von ›Recht‹ und eine falsche Auffassung von ›Unrecht‹. Aber sie hielt daran fest und behandelte uns dementsprechend. Wenn sie uns nicht verstand, glaubte sie, es sei ihr eigener Fehler – und es gab eine Menge Dinge, die sie nicht verstand und auch nie verstehen konnte. Wenn alles gutging, war es unser Erfolg. Dieses letzte Jahr war …«
»Nun?«
»Ich brachte sie also um. Hören Sie zu«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, daß ich schnell sprechen mußte. Ich hatte zwar genügend Zeit, aber ich wollte es so schnell wie möglich hinter mich bringen. »Ich erzähle Ihnen alles, was ich darüber weiß. Fangen wir bei dem Tag vor dem Mord an. Ich erwachte am Morgen, und die Bettücher knisterten steif und sauber unter mir. Sonnenlicht drang durch die weißen Vorhänge und die rot-blau gemusterten Übergardinen. Der Schrank ist angefüllt mit meinen Kleidern – meinen eigenen Kleidern, Sie verstehen. Früher hatte mir nie etwas ganz allein gehört. Von unten hörte man Miriams geschäftiges Tellerklappern und das Gelächter der Zwillinge. Sie lachten mit ihr, nicht miteinander, wie sie es früher immer getan hatten.
Im Zimmer neben mir ging Janie umher. Sie sang. Ich wußte, daß ihr Gesicht von innen heraus leuchtete, auch wenn ich sie gerade nicht sah. Ich stehe auf. Das Wasser ist herrlich heiß, und die Zahnpasta brennt auf der Zunge. Die Kleider passen mir, und ich gehe nach unten, und sie sind schon alle versammelt. Ich freue mich, daß sie da sind, und sie freuen sich, daß ich gekommen bin, und wir setzen uns erst an den Tisch, als Miß Kew heruntergekommen ist und wir sie mit lautem Hallo begrüßt haben.
Und so vergeht der Vormittag. Wir haben Schule mit einer kleinen Pause im großen Salon. Die Zwillinge malen das Alphabet und strecken dabei vor Eifer ihre Zungenspitzen heraus. Und wenn wir Zeit haben, malt Janie ein Bild, ein richtiges Bild mit einer Kuh und Bäumen und einem gelben Zaun, der in der Ferne verschwindet. Ich bin hilflos mitten in einer quadratischen Gleichung steckengeblieben, und Miß Kew beugt sich über mich, um mir zu helfen. Ich kann das Lavendel riechen, von dem sie immer ein paar getrocknete Zweige zwischen ihrer Wäsche hat. Ich hebe den Kopf, damit ich es besser riechen kann, und von draußen hört man das Töpfeklappern.
Und der Nachmittag geht auch so vorbei, wieder Schule und Spielen im Garten. Die Zwillinge spielen Fangen, und sie laufen richtig auf ihren Beinen. Janie malt die Blätter auf ihrem Baum bunt und strengt sich an, alles genauso zu machen, wie Miß Kew es ihr gesagt hat. Und Baby hat ein hübsches Laufgitter bekommen. Es bewegt sich zwar nicht allzuviel, sondern sitzt nur da und plappert vor sich hin, aber es hat immer viel zu essen und wird blitzsauber gehalten.
Und dann ist Abend und Abendessen, und Miß Kew liest uns etwas vor. Sie verändert immer die Stimme, wenn eine neue Person in der Geschichte spricht. Einmal liest sie schnell und flüsternd, wenn es unheimlich ist, und dann wieder langsam. Trotzdem kann man jedes Wort deutlich verstehen.
Und dennoch mußte ich sie umbringen. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Du hast nicht gesagt, weshalb du sie umgebracht hast«, meinte Stern.
»Sind Sie denn dumm?« schrie ich ihn an.
Stern sagte nichts. Ich drehte mich auf den Bauch, stützte das Kinn in beide Hände und sah ihn an. Man wußte nie, was in ihm vorging, aber diesmal hatte ich das Gefühl, daß er verwirrt war.
»Ich habe den Grund gesagt.«
»Mir nicht.«
Plötzlich verstand ich, daß ich zuviel von ihm verlangte. Ich sagte langsam: »Wir wachten alle zur gleichen Zeit auf. Wir taten alle, was ein anderer von uns verlangte. Wir lebten durch den Tag nach dem Kommando eines anderen, dachten andere Gedanken und sagten andere Worte. Janie malte die Bilder, die ihr ein anderer vorschlug. Baby sprach nicht mit uns, und trotzdem waren wir zufrieden. Verstehen Sie jetzt?«
»Noch nicht.«
»Du liebe Güte!« Ich dachte eine Zeitlang nach. »Wir harmonierten nicht mehr.«
»Harmonieren? Ach so. Aber habt ihr denn nach Lones Tod überhaupt harmoniert?«
»Das war etwas anderes. Das war wie ein Auto, das kein Benzin mehr hat – das Auto ist trotzdem intakt. Aber nachdem uns Miß Kew erzogen hatte, blieben von dem Auto nur noch Trümmer übrig. Verstehen Sie?«
Diesmal dachte er eine Zeitlang nach. Schließlich sagte er: »Unser Gehirn zwingt uns zu seltsamen Handlungen. Einige davon erscheinen völlig unvernünftig, falsch, verrückt. Aber in allen Dingen, die wir tun, liegt eine feste, uns nicht zugängliche Logik. Wenn man nur tief genug nachforscht, wird man auch in diesen Handlungen klare Ursachen und Wirkungen erkennen. Merk dir, ich sagte Logik. Nicht Vernunft oder Richtigkeit oder Gerechtigkeit oder sonst etwas dieser Art. Logik und Wahrheit sind zwei sehr verschiedene Begriffe, wenn sie auch dem Verstand, der die logischen Handlungen vollzieht, oft als ein und dasselbe erscheinen.
Wenn dieser Verstand nun verschiedene Zwecke gleichzeitig verfolgt, gerät das Denken an der Oberfläche in Verwirrung. Zurück zu deinem Fall. Ich kann durchaus erkennen, worauf du hinauswillst: Um diese einmalige Bindung zwischen euch Kindern zu bewahren oder zu erneuern, mußtest du Miß Kew beseitigen. Aber ich sehe nicht die Logik in deinem Tun. Warum war die Wiedergewinnung dieser ›Harmonie‹ so wichtig, daß du die neugewonnene Sicherheit dafür aufgeben wolltest, die dir doch zugegebenermaßen gefiel?«
»Vielleicht war sie wirklich nicht so wichtig«, sagte ich verzweifelt.
Stern beugte sich vor und deutete mit der Pfeife auf mich. »Du mußtest es einfach tun. Nachher sehen die Dinge oft anders aus. Aber als dich dein Verstand dazu antrieb, war alles andere unwichtig geworden. Du mußtest Miß Kew einfach töten, um diese Harmonie wiederzuerlangen. Ich weiß nicht, weshalb, und du weißt es auch nicht.«
»Wie können wir es herausfinden?«
»Hm, wenn du dich stark genug fühlst, bringen wir den unangenehmsten Teil hinter uns.«
Ich legte mich wieder hin. »Ich bin bereit.«
»Schön. Dann erzähle in allen Einzelheiten, was du getan hast, kurz bevor du sie umbrachtest.«
Ich tastete mich durch den letzten Tag, versuchte mich daran zu erinnern, wie das Essen geschmeckt hatte und wie die Stimmen geklungen hatten. Ein Eindruck kam immer wieder: das Gefühl der sauberen, gestärkten Bettücher. Ich wollte es beiseite schieben, da es ja am Tagesanfang stand, aber es ließ sich nicht verdrängen.
»Ich habe es Ihnen schon erzählt«, sagte ich. »Die Kinder, die fremde Befehle ausführten, und Baby, das nicht mehr mit Janie sprach, und unsere Zufriedenheit. Das brachte mich dazu, Miß Kew zu töten. Ich brauchte lange, bis ich das erkannte, und noch länger, bis ich meinen Plan durchführte. Ich glaube, ich lag stundenlang im Bett, bis ich wieder aufstand. Es war dunkel und still draußen. Ich ging aus meinem Zimmer hinunter in die Halle und in Miß Kews Schlafzimmer. Ich brachte sie um.«
»Wie?«
»Das ist alles!« schrie ich, so laut ich konnte. Dann beruhigte ich mich wieder. »Es war schrecklich dunkel – es ist immer noch dunkel. Ich weiß nicht. Ich will es auch nicht wissen. Sie hat uns lieb gehabt. Ich weiß es. Aber ich mußte sie töten.«
»Schon gut, schon gut«, meinte Stern. »Das brauchst du nicht immer wieder zu betonen. Du bist …«
»Was?«
»Du bist ziemlich stark für dein Alter, nicht wahr, Gerry?«
»Ich glaube schon. Stark genug auf alle Fälle.«
»Ja«, sagte er.
»Ich sehe immer noch nicht die Logik, von der Sie vorhin sprachen.« Ich hämmerte mit der Faust auf die Couch und unterstrich jedes meiner Worte mit einem Schlag: »Warum – muß – te – ich – das – tun?«
»Hör auf damit«, sagte er. »Du wirst dir weh tun.«
»Das wäre gut«, erwiderte ich.
»So?«
Ich stand auf und ging zum Schreibtisch hinüber und holte mir etwas Wasser. »Was soll ich nun machen?«
»Was hast du nach ihrem Tod getan – bis zu dem Augenblick, als du in mein Büro kamst?«
»Nicht viel«, sagte ich. »Ich habe es erst gestern nacht getan. Ich lief zurück in mein Zimmer, ganz betäubt. Ich zog meine Kleider bis auf die Schuhe an. Dann schlich ich hinaus. Ich ging lange und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Als die Post öffnete, sah ich unter postlagernd nach. Miß Kew hatte mich öfters auf die Post geschickt. Und nun fand ich den Scheck von dem Preisausschreiben vor. Ich löste ihn bei der Bank ein, eröffnete ein Konto und ließ mir elfhundert Dollar auszahlen. Dann kam ich auf die Idee, mir von einem Psychiater helfen zu lassen und verbummelte fast den ganzen Vormittag, bis ich Sie fand. Das ist alles.«
»Hattest du keine Schwierigkeiten, den Scheck einzulösen?«
»Ich habe nie Schwierigkeiten, den Leuten meinen Willen aufzuzwingen.«
Er stieß einen Laut der Überraschung aus.
»Ich weiß, was Sie denken – daß ich Miß Kew meinen Willen nicht aufzwingen konnte.«
»Das auch«, gab er zu.
»Wenn ich das geschafft hätte«, erklärte ich ihm, »wäre sie nicht mehr Miß Kew gewesen. Beim Bankier war es einfach – ich mußte ihn nur zwingen, Bankier zu sein.«
Ich sah ihn an, und plötzlich wußte ich, warum er immer mit seiner Pfeife herumspielte. Damit er sie ansehen konnte und sein Gegenüber nicht in seinem Gesichtsausdruck las.
»Du hast sie umgebracht«, sagte er – und ich wußte, daß er nun das Thema wechseln würde –, »und damit etwas zerstört, das dir wertvoll war. Es muß weniger wertvoll gewesen sein als die Chance, die alte Bindung mit den Kindern wiederherzustellen. Und du weißt nicht genau, worin der Wert dieser Bindung liegt.« Er sah auf. »Trifft das in etwa deinen Kummer?«
»Ja.«
»Du kennst den Trieb, aus dem die Menschen töten?« Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Selbsterhaltungstrieb. Den Willen, das Ich zu erhalten – oder das, was man als Ich identifiziert. Und das trifft in deinem Fall nicht zu, denn du hattest weit größere Überlebenschancen, du und die ganze Gruppe, wenn du bei Miß Kew bleiben konntest.«
»Dann hatte ich also gar keinen richtigen Grund, sie zu töten?«
»O doch, sonst hättest du es nicht getan. Wir konnten ihn nur bis jetzt nicht erkennen. Das heißt, wir haben den Grund, aber wir wissen nicht, warum er so wichtig war. Die Antwort dazu liegt in dir.«
»Wo?«
Er stand auf und ging auf und ab. »Wir haben einen ziemlich lückenlosen Lebenslauf. Gewiß, Tatsache und Phantasie überlagern sich, und von einigen Abschnitten wissen wir nichts Genaues, aber wir haben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Ich kann es nicht sicher sagen, aber möglicherweise finden wir die Antwort auf jener Brücke, die du vorhin nicht überqueren wolltest. Weißt du noch?«
Ich wußte es nur zu1 gut. »Warum das?« fragte ich. »Können wir nicht etwas anderes versuchen?«
»Nein, weil du so gern ausweichst«, sagte er ruhig. »Weshalb schreckst du davor zurück?«
»Machen Sie keinen Elefanten aus einer Mücke«, sagte ich. Manchmal regte mich der Kerl auf. »Es beunruhigt mich. Aber ich weiß nicht, aus welchem Grund.«
»Irgend etwas liegt da verborgen und kämpft gegen dich an. Es will nicht ans Licht. Deshalb ist es vermutlich genau das, was wir suchen.«
»Also gut«, sagte ich und spürte wieder diese Übelkeit und Schwäche. Ich gab noch einmal auf. Aber dann nahm ich mich zusammen. »Versuchen wir es.« Ich legte mich zurück.
Er ließ mich die Decke betrachten und eine Weile ruhig daliegen, dann sagte er: »Du bist in der Bibliothek. Du hast Miß Kew gerade erst kennengelernt und erzählst ihr von den anderen Kindern.«
Ich lag ganz still da. Nichts geschah. Doch, jetzt. In meinem Innern versteifte sich alles. Immer stärker. Es war nicht mehr zum Aushalten, und dennoch geschah nichts.
Ich hörte, wie er aufstand und zum Schreibtisch hinüberging. Er machte etwas. Ein Klicken und Summen ertönte. Plötzlich hörte ich meine eigene Stimme.
»Also, da ist mal Janie. Sie ist elf wie ich. Und Bonnie und Beanie sind acht. Zwillinge, müssen Sie wissen. Und Baby ist drei.«
Und mein Schrei.
Und nichts …
Das Dunkel wich. Ich hatte die Hände zu Fäusten geballt. Starke Finger hielten mich an den Handgelenken fest. Ich machte die Augen auf. Ich war schweißdurchtränkt. Die Thermosflasche lag auf dem Teppich neben der Couch. Stern kniete bei mir und hielt meine Handgelenke fest. Ich wehrte mich nicht mehr.
»Was ist geschehen?«
Er ließ mich los und trat nachdenklich zurück. »Du liebe Güte!« sagte er. »Das war eine Ladung!«
Ich griff mir an den Kopf und stöhnte. Er warf mir ein Handtuch zu. »Was hat mich niedergeschlagen?«
»Ich nahm unser ganzes Gespräch auf Band auf«, erklärte er. »Als du dich nicht erinnern konntest, versuchte ich dich anzutreiben, indem ich die Stelle noch einmal abspielte. Manchmal wirkt so etwas Wunder.«
»Auch diesmal«, stöhnte ich. »Ich habe das Gefühl, daß bei mir eine Sicherung durchbrannte.«
»Ein guter Vergleich. Du warst so nahe daran, über die Brücke zu gehen. Aber du bist lieber ohnmächtig geworden, als den letzten Schritt zu tun.«
»Und was freut Sie so daran?«
»Deine Verteidigung liegt in den letzten Zügen«, sagte er kurz. »Jetzt haben wir es gleich. Nur noch ein Versuch.«
»Halt. Wenn ich nun bei dem letzten Versuch draufgehe?«
»Das wirst du nicht. Du trägst diese Episode nun so lange schon im Unterbewußtsein, und es hat dir nichts geschadet.«
»Wirklich nicht?«
»Nicht so, daß sie dich umgebracht hätte.«
»Und woher wissen Sie, daß das nicht der Fall sein wird, wenn wir sie ans Licht zerren?«
»Du wirst es gleich selbst sehen.«
Ich sah ihn von der Seite an. Irgendwie wußte ich, was jetzt kommen würde.
»Du weißt jetzt viel mehr über dich selbst als vorher«, erklärte er leise. »Du hast jetzt die nötige Einsicht. Du wirst die Dinge, die du erfährst, richtig einschätzen. Vielleicht nicht alle, aber doch genug, um dich zu schützen. Hab’ keine Angst. Du mußt mir vertrauen. Ich kann die Sitzung unterbrechen, wenn sie zu schlimm für dich wird. Jetzt entspanne dich. Sieh die Decke an. Fühl deine Zehen. Sieh sie nicht an. Sieh nach oben. Deine Zehen, deine großen Zehen. Beweg sie nicht, aber fühle sie. Zähle deine Zehen. Eins, zwei, drei. Fühl die dritte Zehe von der großen Zehe aus gerechnet. Spürst du, wie sie steif wird? Ganz steif. Die Zehen daneben werden auch steif. Ganz steif. Alle deine Zehen sind steif …«
»Was machen Sie da?« fauchte ich ihn an.
Er sagte in der gleichen fließenden Stimme: »Du vertraust mir, und deine Zehen vertrauen mir auch. Sie sind steif, weil du mir vertraust. Du …«
»Sie versuchen mich zu hypnotisieren. Das werde ich nicht zulassen.«
»Du hypnotisierst dich selbst. Du tust alles selbst. Ich zeige dir nur den Weg. Ich zeige deinen Zehen den Weg. Ich zeige ihn nur deinen Zehen. Niemand kann dich zwingen, irgendwohin zu gehen, wenn du nicht willst. Aber du willst dahin gehen, wo deine Zehen steif sind, wo deine …«
Immer weiter, weiter, weiter. Und wo war das schwebende Goldornament, das Licht in seinen Augen, das geheimnisvolle Auf- und Abgehen? Ich konnte ihn nicht einmal sehen, weil er hinter mir saß. Wo war das übliche Gerede, daß ich müde, ach so müde sei? Nun, er wußte, daß ich nicht müde war und auch nicht müde sein wollte. Ich wollte nur Zehen sein. Ich wollte nur eine einzige, steife Zehe sein. Kein Verstand in den Zehen, Zehen zum Gehen, zum Gehen auf und ab, elfmal, elf, ich bin elf …
Ich spaltete mich in zwei, und es war in Ordnung, in den Teil, der zusah, und den anderen Teil, der in die Bibliothek zurückging.
Miß Kew beugte sich über mich, aber nicht zu nahe, und auf meinem Stuhl raschelte das Zeitungspapier, auf dem ich sitzen mußte. Ich hatte einen Schuh ausgezogen, und meine Zehen waren steif, worüber ich ein gelindes Erstaunen fühlte. Denn es war Hypnose, aber ich war völlig bei Bewußtsein, auf der Couch in Sterns Zimmer. Er redete gleichmäßig auf mich ein, und ich konnte mich aufsetzen und mit ihm sprechen, wenn ich wollte. Ich konnte auch aufstehen und weggehen, wenn ich wollte. Doch ich wollte gar nicht. Oh, wenn diese Hypnose so aussah, dann mochte ich sie, dann war ich bereit, mitzuarbeiten. So war sie in Ordnung.
Der Tisch, der Tisch mit dem Leder, Miß Kews Gezeter, der Tisch mit dem Gold, Lone hat es gewollt, ich, du, Miß Kew …
»… und Bonnie und Beanie sind acht. Zwillinge, müssen Sie wissen. Und Baby. Baby ist drei.«
»Baby ist drei«, sagte sie.
Ein Druck, ein Dehnen – und etwas zerriß. Und der plötzliche Schmerz wurde überspült von dem Gefühl des Triumphs, daß ich es geschafft hatte.
Und dann kam alles heraus. Alles auf einmal.
Baby ist drei? Mein Baby müßte jetzt drei sein, wenn ich je eines gehabt hätte. Aber ich hatte ja keines …
Lone. Ich bin weit offen für dich. Ganz offen. Ist es so genug?
Seine Augen sind riesig. Ich bin sicher, daß sich die Iris ganz schnell dreht, aber ich konnte es nie beweisen. Der suchende Strahl, der unsichtbar von seinem Gehirn durch seine Augen in mein Gehirn dringt. Weiß er, was das für mich bedeutet? Wäre es ihm gleichgültig? Es muß ihm gleichgültig sein. Er weiß es nicht. Er leert mich, und ich fülle nach, was er befiehlt. Er trinkt und wartet und trinkt wieder, und nie sieht er den Becher an.
Als ich ihn zum erstenmal sah, tanzte ich im Wind, im Wald, in der Wildnis. Ich drehte mich, und da stand er im Schatten der Blätter und beobachtete mich. Ich haßte ihn deshalb. Es war nicht mein Wald, nicht mein golddurchfluteter, mit Farnen durchwachsener Wald. Aber das Tanzen nahm er mir, er raubte es mir, indem er zusah. Ich haßte ihn, haßte seinen Blick, seine Haltung, wie er so knöcheltief in den freundlichen nassen Farnen stand, ein Baum, dessen Wurzeln Füße waren. So stand er da in seinen erdfarbenen Kleidern. Als ich stehenblieb, bewegte er sich, und da war er wieder ein Mann, ein großer Mann mit mächtigen Affenschultern, ein schmutziges Tier von einem Mann, und mein ganzer Haß wurde plötzlich zu Furcht, so daß ich wie angewurzelt stehenbleiben mußte.
Er wußte, was er getan hatte, aber es war ihm gleichgültig. Tanzen … Nie wieder tanzen können, denn ab jetzt konnte ich nie wieder sicher sein, ob mich in den Wäldern nicht fremde Augen beobachteten, schmutzige, fremde Männer, denen es gleichgültig war, wenn sie etwas zerstörten.
Sommertage, an denen mich die Kleider erdrücken würden, und Winternächte, die mich mit ihrer Prüderie einhüllten wie ein Leichentuch. Und nie wieder tanzen können, ohne mich an sein plötzliches Auftauchen zu erinnern. Wie ich ihn haßte! Oh, wie ich ihn haßte!
Allein an einer Stelle zu tanzen, wo niemand mich kannte, das war meine einzige Flucht vor der Miß Kew, die die anderen kannten. Vor der Frau, die ins Viktorianische Zeitalter gepaßt hätte, vor der Frau, die älter aussah, als sie war. Die korrekt war, gestärkte Schürzen, Spitzen und Leinen trug, und die einsam war. Jetzt würde ich wirklich die sein, für die sie mich hielten, durch und durch, für immer und ewig, weil er mir das einzige Geheimnis geraubt hatte, das ich zu besitzen wagte.
Er kam hinaus in den Sonnenschein und trat auf mich zu, wobei er seinen großen Kopf ein wenig schief hielt. Ich blieb stehen, wo ich zu tanzen aufgehört hatte, steif vor Haß und Furcht. Mein Arm war noch ausgestreckt und meine Hüfte gebogen.
Er sagte: »Liest du Bücher?«
Ich konnte es nicht ertragen, daß er mir so nahe kam, aber ich konnte mich auch nicht von der Stelle rühren. Er streckte seine harte Hand aus und berührte mein Kinn. Er drehte meinen Kopf herum, bis ich ihm ins Gesicht sehen mußte. Ich wich vor ihm zurück, aber mein Gesicht schmiegte sich an seine Hand, obwohl er mich nicht sehr fest hielt. »Du mußt ein paar Bücher für mich lesen. Ich habe keine Zeit, sie zu suchen.«
»Wer sind Sie?« fragte ich ihn.
»Lone«, erwiderte er. »Wirst du die Bücher für mich lesen?«
»Nein. Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los!«
Er lachte mich aus. Er hielt mich gar nicht fest.
»Was für Bücher?« rief ich.
Er hob mein Gesicht ein wenig an, sehr behutsam. Ich mußte noch mehr zu ihm aufsehen. Er ließ seine Hand sinken. Seine Augen, die Iris – sie begannen sich zu drehen …
»öffne mir dein Inneres«, sagte er. »Ich will nachsehen.«
In meinem Gedächtnis waren Bücher, und er untersuchte die Titel. Nein, nicht die Titel, denn lesen konnte er nicht. Er sah nach, was ich von den Büchern wußte. Plötzlich kam ich mir schrecklich nutzlos vor, denn ich hatte nur einen Bruchteil dessen, was er brauchte.
»Was ist das?« fragte er rauh.
Ich wußte, was er meinte. Er hatte es aus meinem Innern gezogen. Ich hatte selbst nicht einmal mehr gewußt, daß es drinnen war, aber er zerrte es ans Licht.
»Telekinese«, sagte ich.
»Wie macht man das?«
»Niemand weiß, ob man es überhaupt fertigbringen kann. Man bewegt reale Dinge mit dem Verstand.«
»Man kann es«, sagte er kurz. »Und das da?«
»Teleportation. Das ist das gleiche – nun, fast das gleiche. Man kann den eigenen Körper auf Befehl des Verstandes an irgendeine andere Stelle bewegen.«
»Ja, ja, ich weiß schon«, sagte er brummig.
»Molekulardurchdringung. Telepathie und Hellsehen. Ich weiß nicht viel darüber. Das Ganze kommt mir albern vor.«
»Lies darüber. Es ist egal, ob du es verstehst oder nicht. Was ist das?«
Es war in meinem Gehirn, es kam auf meine Lippen. »Gestalt.«
»Was bedeutet das?«
»Gruppe. Man könnte sagen, eine Heilmethode für verschiedene Krankheiten. Oder viele Gedanken, in einem Satz ausgedrückt. Das Ganze ist größer als die Summe der Einzelteile.«
»Darüber lies auch nach. Besonders darüber. Es ist sehr wichtig, verstehst du?«
Er wandte sich ab, und als sich sein Blick von mir löste, war es wie ein Schlag. Ich stolperte und fiel auf die Knie. Er ging zurück in die Wälder, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich nahm meine Sachen und rannte nach Hause. Ich war wütend, und die Wut schüttelte mich wie ein Sturm. Ich hatte Angst. Ich wußte, ich würde die Bücher lesen, und ich wußte, ich würde zurückgehen, und ich wußte, ich würde nie wieder tanzen.
So las ich die Bücher und ging zurück. Manchmal kam ich drei oder vier Tage hintereinander, und manchmal, wenn ich ein bestimmtes Buch nicht finden konnte, vielleicht erst nach zehn Tagen. Er war immer auf der kleinen Lichtung, wartete im Schatten und nahm, was er aus den Büchern brauchte. Mich ließ er unbeachtet. Er erwähnte nie das nächste Treffen. Ob er täglich kam, um auf mich zu warten, oder ob er nur kam, wenn ich hinging, weiß ich nicht.
Er ließ mich Bücher lesen, die mir nichts sagten, Bücher über Evolution, Gesellschafts- und Kulturorganisationen, Mythologie …
Und soviel wie möglich über Symbiose. Ich unterhielt mich nicht mit ihm. Manchmal sprachen wir kein Wort, und außer seinen überraschten Ausrufen war nichts zu hören.
Er entriß mir die Bücher, wie er Beeren von einem Strauch riß – alle auf einmal. Er roch nach Schweiß und Erde und den grünen Säften, die er im Wald beim Vorbeistreifen aus den Blättern preßte.
Wenn er etwas aus den Büchern lernte, so merkte man es seiner äußeren Erscheinung nicht an.
Es kam ein Tag, an dem er neben mir saß und an etwas herumzurätseln schien.
Er sagte: »Kennst du ein Buch, das über solche Dinge Bescheid gibt?« Er wartete lange und dachte nach. »Zum Beispiel Termiten. Sie fressen das Holz, und kleine Bakterien in ihrem Magen verdauen es. Und die Termiten fressen nur das, was die Bakterien übriglassen. Was ist das?«
»Symbiose«, erinnerte ich mich. Ich erinnerte mich nur an die Worte. Lone holte den Inhalt aus den Worten und warf die Worte weg. »Zwei Lebensarten, die voneinander abhängen und ohne einander nicht existieren können.«
»Ja. Gibt es ein Buch über vier oder fünf dieser Arten?«
»Ich weiß nicht.«
Dann fragte er: »Was ist das? Man hat einen Sender mit vier oder fünf Empfängern, und jeder Empfänger macht etwas anderes. Einer gräbt, einer fliegt, einer macht Lärm, aber jeder nimmt seine Befehle von einer Zentrale entgegen. Jeder hat seine eigene Energie und seine eigene Aufgabe. Wenn man statt Sender und Empfänger verschiedene Lebewesen nimmt, was ist das?«
»Wo jeder Organismus ein Teil des Ganzen ist, aber trotzdem getrennt lebt? Nein, ich glaube nicht … Wenn Sie nicht gesellschaftliche Organisationen meinen, wie ein Team oder eine Gruppe von Leuten, die Befehle von einem Boß entgegennehmen.«
»Nein«, sagte er sofort, »nicht so. Wie ein einziges Tier.« Er machte eine Geste, und ich verstand.
»Sie meinen eine Gestalt-Lebensform?« fragte ich. »Das ist Phantasterei!«
»Darüber gibt es wohl keine Bücher, was?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Ich muß mehr darüber erfahren«, sagte er schwerfällig. »Es gibt so etwas. Ich möchte wissen, ob so etwas schon einmal da war.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es so etwas geben sollte.«
»Aber ich lüge nicht. Ein Teil, der Dinge holt, ein Teil, der nachdenkt, ein Teil, der alles herausbringt, und ein Teil, der spricht.«
»Spricht? Nur Menschen sprechen.«
»Ich weiß«, sagte er und stand auf, um wegzugehen.
Ich suchte und suchte nach so einem Buch, aber ich konnte nichts dergleichen finden. So ging ich wieder zu Lone und sagte ihm Bescheid. Er schwieg sehr lange und betrachtete die blaue Hügelkette am Horizont. Dann sah er mich wieder mit seinen brennenden Augen an und suchte.
»Du lernst, aber du denkst nicht«, sagte er und sah wieder zum Horizont.
»Das ist bei allen Menschen so«, meinte er schließlich. »Es geschieht direkt vor ihren Augen, und sie sehen nichts. Es gibt Gedankenleser. Es gibt Menschen, die Dinge bewegen können, ohne sie zu berühren. Es gibt Menschen, die sich kraft ihres Verstandes selbst fortbewegen können. Was es nicht gibt, ist ein Mensch, der sie alle zusammenbringt – wie ein Gehirn, das alle Nerven vereinigt, die Seh-, Geschmacks- und Gefühlsnerven.«
»Ich bin so ein Mensch«, schloß er. Dann saß er wieder lange stumm da. Ich glaubte schon, er habe mich vergessen.
»Lone«, sagte ich, »was machen Sie hier in den Wäldern?«
»Ich warte«, sagte er. »Ich bin noch nicht fertig.« Er sah mir in die Augen und brummte verächtlich. »›Fertig‹ nicht in eurem Sinn. Ich will sagen, daß mir noch etwas fehlt, bis alles vollständig ist. Du weißt doch, daß ein Wurm wieder zu einem Wurm wird, auch wenn man ihn auseinanderschneidet? Nun, vergessen wir den Schnitt. Angenommen, er ist gleich so entstanden. Verstehst du? Ich schaffe mir Teile. Ich habe noch nicht alle. Und ich brauche ein Buch über ein Wesen wie mich, wenn ich alle Teile gefunden habe.«
»Ich kenne kein solches Buch. Können Sie mir nichts Genaueres darüber sagen? Vielleicht fände ich dann das Richtige.«
Er zerbrach einen Zweig zwischen seinen riesigen Händen, legte die beiden Bruchstücke nebeneinander und zerbrach auch sie mit einer kräftigen Bewegung.
»Ich weiß nur, daß ich das, was ich tue, tun muß wie ein Vogel, der sein Nest baut. Und ich weiß, daß ich am Ende kein Übermensch sein werde. Mein Körper wird schneller und stärker sein als alles bisher Dagewesene, aber der richtige Kopf wird fehlen. Vielleicht ist das so, weil ich einer der ersten bin. So wie dieser Höhlenmensch, von dem du gelesen hast …«
»Der Neandertaler?«
»Ja. Sieh ihn dir nur an, er war gewiß kein Meisterwerk. Ein früher Versuch. Und bei mir wird es ähnlich sein. Aber vielleicht findet sich noch einmal der rechte Kopf, wenn ich alles organisiert habe. Dann hat die Welt ein neues Meisterwerk.«
Er brummte zufrieden vor sich hin und ging seines Weges.
Ich suchte tagelang, aber ich konnte nicht das finden, wonach er verlangte. In einem Magazin stand, daß der nächste Entwicklungsschritt des Menschen eher psychischer als physischer Art sein würde, aber dieser – dieser Gestaltorganismus war nicht erwähnt. Dann fand ich einen Artikel über eine Art von Schleimpilzen, aber ihr Zusammenleben konnte man nicht einmal Symbiose nennen.
In meiner wissenschaftlich nicht durchtrainierten Vorstellung war kein Platz für dieses Ding, das er sich da ausgedacht hatte. Ich mußte immer an eine Kapelle denken, in der jeder ein anderes Instrument spielt und eine andere Melodie, die doch untereinander eine Einheit bilden. Aber das hatte er ja nicht gemeint.
So ging ich an einem kühlen Herbstabend wieder zu ihm, und er nahm das wenige, das er in meinen Augen fand. Dann wandte er sich mit einem häßlichen Wort von mir ab. Ich habe es aus meinem Gedächtnis gestrichen.
»Du kannst es nicht finden«, sagte er. »Komm nicht mehr hierher.«
Er stand auf, ging zu einer alten, sturmzerfetzten Birke hinüber und lehnte sich gegen ihren Stamm. Sein Blick durchbohrte die Schatten. Ich glaube, er hatte mich bereits vergessen, denn als ich ihn so von der Nähe ansprach, zuckte er wie ein aufgescheuchtes Kaninchen zusammen. Er mußte vollkommen in seine seltsamen Gedanken versunken gewesen sein, so daß er mich nicht hatte kommen hören.
»Lone«, sagte ich. »Gib mir nicht die Schuld daran, daß ich nichts gefunden habe.«
Er hatte sich wieder in der Gewalt und sah mich mit diesen brennenden Augen an. »Wer gibt wem die Schuld?«
»Ich habe versagt«, erklärte ich. »Und du bist jetzt wütend auf mich.«
Er sah mich so lange an, daß mir unbehaglich zumute wurde.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte er.
Ich konnte es nicht zulassen, daß er sich wieder von mir abwandte. Und er hätte es getan. Er hätte mich für immer mit dem einen Gedanken allein gelassen: Ich war ihm egal! Es war nicht Grausamkeit oder Gedankenlosigkeit, denn diese Gefühle kenne ich. Er war wie eine Katze, der es gleich ist, ob sie eine Tulpenblüte abbricht oder nicht.
Ich packte ihn an den Oberarmen und schüttelte ihn. Es war, als hätte ich versucht, mein Haus zu schütteln. »Du kannst es wissen!« schrie ich ihm entgegen. »Du weißt, was ich gelesen habe. Du mußt auch wissen, was ich denke.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich bin ein Mensch, eine Frau«, schrie ich ihm zu. »Du hast mich immer wieder ausgenutzt und mir nichts gegeben. Du hast es fertiggebracht, daß ich alle meine Gewohnheiten aufgab, daß ich Abend für Abend hinter Büchern saß, daß ich im Regen zu dir kam, im Regen und sonntags – und du sprichst nicht mit mir, du siehst mich nicht an, du weißt nichts über mich, und ich bin dir egal. Du hast einen Bann um mich gelegt, den ich nicht durchbrechen konnte. Und wenn du mich nicht mehr brauchen kannst, sagst du einfach: ›Komm nicht mehr hierher!‹«
»Muß ich etwas zurückgeben, wenn ich etwas genommen habe?«
»Das ist unter Menschen so üblich.«
Er summte überrascht und interessiert vor sich hin. »Was soll ich dir geben? Ich habe nichts.«
Ich trat zurück. Ich fühlte – ich weiß nicht, was ich fühlte. Nach langer Zeit sagte ich: »Ich weiß nicht.«
Er zuckte die Schultern und drehte sich um. Ich sprang geradezu auf ihn los und riß ihn zurück.
»Ich will, daß du …«
Ich konnte ihn nicht ansehen. Ich konnte kaum sprechen. »Ich weiß nicht. Da ist etwas, aber ich weiß nicht, was es ist. Ich – ich könnte es auch nicht sagen, wenn ich es wüßte.« Als er wieder den Kopf schüttelte, nahm ich wieder seine Arme. »Du hast die Bücher in meinem Innern gelesen. Kannst du nicht meine Gefühle – midi lesen?«
»Ich habe es noch nie versucht.« Er hielt mein Gesicht hoch und kam ganz nahe.
»Bitte«, sagte er.
Der Strahl seiner Augen durchforschte mich, und ich schrie auf. Ich versuchte ihm zu entkommen. Das hatte ich nicht gewollt, wirklich nicht. Ich kämpfte mit aller Kraft. Ich glaube, er hob mich einfach vom Boden hoch. Er hielt mich fest, bis er fertig war. Dann ließ er mich einfach fallen. Ich lag da und schluchzte. Er setzte sich neben mich. Er versuchte nicht, mich zu berühren. Er versuchte nicht, wegzugehen. Endlich beruhigte ich mich und setzte mich auf. Ich wartete.
»So was mache ich nie wieder«, sagte er.
Ich zog den Rock um meine Knöchel und legte die Wange auf die hochgezogenen Knie, so daß ich sein Gesicht sehen konnte. »Was geschah?«
Er fluchte. »Verdammter Mischmasch in dir. Dreiunddreißig Jahre alt – warum lebst du nur so?«
»Ich habe ein angenehmes Leben«, sagte ich ein wenig beleidigt.
»Jaa«, sagte er gedehnt. »Seit zehn Jahren bist du allein mit deiner Haushälterin. Ganz allein.«
»Männer sind Tiere. Und Frauen …«
»Im Grunde genommen haßt du Frauen. Sie alle haben dir etwas voraus. Du weißt nicht, was es ist.«
»Ich will es gar nicht wissen. Ich bin glücklich.«
»Blödsinn.«
Darauf sagte ich nichts. Ich verachte diese Art von Ausdrucksweise.
»Zwei Dinge willst du von mir. Mir erscheinen beide sinnlos.« Er sah mich zum erstenmal mit einem menschlichen Ausdruck an: Es war reine Verwunderung. »Du möchtest alles über mich erfahren. Woher ich komme und weshalb ich so geworden bin.«
»Ja, das will ich. Und das andere?«
»Ich wurde irgendwo geboren und bin gewachsen wie irgendein Unkraut.« Er hatte meine zweite Frage ignoriert. »Meine Leute versuchten nicht mal die Waisenhaustour. Ich lebte eine Zeitlang bei Fremden, versuchte es mit der Schule, aber sie schmeckte mir nicht. Die Stadt war zu klein für Sonderschulen. Du verstehst, ich war ein wenig zurückgeblieben. So lief ich einfach umher, als eine Art Dorftrottel. Und das wäre ich geblieben, wenn ich mich nicht in die Wälder zurückgezogen hätte.«
»Weshalb?«
Er überlegte und sagte schließlich: »Vermutlich, weil ich in der Lebensweise der anderen keinen Sinn sehen konnte. Ich hatte mich gut umgesehen und wußte, daß es verschiedene Arten gab, das Leben anzupacken, aber keine paßte für mich. Hier draußen kann ich leben, wie es mir gefällt.«
»Und das wäre?« fragte ich über eine jener weiten Kluften hinweg, die sich zwischen mir und ihm dauernd bildeten und wieder überbrückt wurden.
»Ich wollte es aus deinen Büchern lernen.«
»Das hast du mir nie gesagt.«
Zum zweitenmal sagte er: »Du lernst, aber du denkst nicht. Es gibt eine Art – nun, Person. Sie besteht aus getrennten Teilen, aber sie ist eine Einheit. Sie hat so etwas wie Hände, so etwas wie Beine, so etwas wie einen Mund zum Sprechen und ein Gehirn zum Denken. Das bin ich, das Gehirn dieser Person. Verdammt schwach, ich muß zugeben, aber ich habe nichts Besseres gefunden.«
»Du bist verrückt.«
»Nein, bin ich nicht«, sagte er, nicht im geringsten beleidigt und völlig überzeugt. »Den Teil, der die Hände übernimmt, habe ich schon. Sie bewegen sich, wann ich es befehle, und sie tun, was ich will, obwohl sie noch zu jung sind, um viel Gutes zu tun. Ich habe auch schon den Teil, der spricht. Und der ist wirklich Klasse.«
»Deine Sprechweise ist aber miserabel«, sagte ich. Ich kann nun mal schlecht gesprochenes Englisch nicht ausstehen.
Er war überrascht. »Ich spreche nicht von mir. Sie ist in der Hütte bei den anderen.«
»Sie?«
»Na, diejenige, die spricht. Jetzt brauche ich noch einen, der denkt, der zwei und zwei zusammenzählen kann und immer die richtige Antwort bereit hat. Und sobald wir alle beisammen sind und die Teile aneinander gewöhnt sind, bin ich dieses neue Ding, von dem ich dir erzählt habe. Verstehst du? Nur – ich wollte, ich hätte einen klügeren Kopf.«
Mein eigener Kopf summte. »Wie bist du auf diese Idee gekommen?«
Er betrachtete mich ernst. »Weshalb wachsen dir Haare in der Achselhöhle?« fragte er mich. »So etwas denkt man sich nicht aus. Es ist einfach da.«
»Was – was tust du, wenn du mir in die Augen siehst?«
»Möchtest du einen Namen dafür? Ich weiß keinen. Ich weiß nicht, wie ich es mache. Ich weiß nur, daß ich jeden dazu zwingen kann, das zu tun, was ich will. So kann ich dich zum Beispiel dazu zwingen, daß du mich vergißt.«
»Ich will nicht vergessen«, sagte ich mit erstickter Stimme.
»Du wirst es aber.« Ich wußte nicht, ob er damit meinte, daß ich ihn vergessen würde oder daß ich ihn vergessen wollte. »Du wirst mich hassen, und dann, nach langer Zeit, wirst du mir dankbar sein. Vielleicht wirst du auch eines Tages etwas für mich tun können. Du wirst so dankbar sein, daß du es gern tun wirst. Aber du wirst alles vergessen, bis auf eine Art – Gefühl. Und vielleicht meinen Namen.«
Ich weiß nicht, was mich zu dieser Frage bewegte, aber ich stellte sie ihm ganz gedankenverloren: »Und niemand wird je wissen, was zwischen dir und mir war?«
»Nein«, sagte er. »Wenn nicht … Nun, außer dem Kopf des Lebewesens vielleicht.« Er erhob sich.
»Warte doch, warte!« rief ich. Er durfte jetzt nicht weggehen, nicht jetzt. Er war ein großes, schmutziges Tier von einem Mann, aber auf irgendeine schreckliche Weise hatte er mich gefangengenommen. »Du hast mir noch nicht dieses – andere gegeben.«
»Ach das«, sagte er. »Ja.«
Er bewegte sich wie der Blitz. Ein Druck, ein Hinstrecken und ein – ein Durchbruch. Und mit einem zerreißenden Schmerz und einem Aufflammen des Triumphs, der den Schmerz überlagerte, war es geschehen.
Ich kam zu mir und konnte genau die zwei Ebenen erkennen:
Ich bin elf, atemlos von dem Schock, den das Eintreten eines fremden Ichs in mein Inneres verursacht hat. Und:
Ich bin fünfzehn und liege auf der Couch, während Stern gleichmäßig weitersprach: »… Ruhig, ruhig, deine Schenkel und Knöchel sind so steif wie deine Zehen, dein Nacken ist so steif wie dein Bauch, er ist ruhig und leicht und gar nicht vorhanden. Steif, ganz steif …«
Ich setzte mich auf und stellte die Beine auf den Boden. »Okay«, sagte ich.
Stern sah mich ein wenig verärgert an. »Es wird helfen«, sagte er, »aber du mußt mitarbeiten. Leg dich wieder hin …«
»Es hat schon geholfen«, sagte ich.
»Was?«
»Alles. Von A bis Z.« Ich schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«
Er sah mich durchdringend an. »Was meinst du damit.«
»Es kam, genauso wie Sie sagten. In der Bibliothek. Als ich elf war. Als sie sagte: ›Baby ist drei.‹ Es riß etwas auf, was drei Jahre lang in ihr gearbeitet hatte. Alles kam heraus. Es traf mich mit ganzer Gewalt. Ohne Warnung, ohne daß ich mich verteidigen konnte. Und ich war nur ein elfjähriges Kind. Es war ein solcher Schmerz dabei, wie man sich ihn gar nicht vorstellen kann.«
»Weiter«, sagte Stern.
»Das ist eigentlich alles. Ich meine, es ist nicht die ganze Geschichte. Aber die Hauptsache dabei ist doch, wie ich sie erlebte. Alles auf einmal. All die Dinge, die sie innerhalb von vier Monaten erlebt hatte. Sie kannte Lone.«
»Willst du damit sagen, daß du im Bruchteil einer Sekunde all das miterlebt hast?«
»Ja.« Ich versuchte es ihm zu erklären. »Verstehen Sie, für diese kurze Zeit war ich sie mit allem, was sie je getan, gedacht, gehört und gefühlt hatte. Alles, alles in der richtigen Reihenfolge. Oder eine Einzelheit. Ich konnte auswählen, was ich wollte. Wenn ich Ihnen erzähle, was ich zum Abendessen hatte, muß ich Ihnen dazu alle anderen Ereignisse von meiner Geburt an schildern? Nein. Ich sage Ihnen, ich war sie, und seitdem kann ich mich an jede Einzelheit erinnern, die sie bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte. Ich war sie – wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.«
»Gestalt«, murmelte er.
»Aha«, meinte ich und dachte darüber nach. Ich dachte über viele andere Dinge nach. Dann schob ich alles einen Augenblick beiseite und fragte: »Warum wußte ich das alles nicht vorher?«
»In dir war eine starke Sperre, die dich daran hinderte, an diese Dinge zurückzudenken.«
Ich stand erregt auf. »Aber ich sehe nicht ein, weshalb. Ich kann es einfach nicht einsehen.«
»Ein natürlicher Abscheu«, meinte er. »Was sagst du dazu? Du hattest einen Ekel davor, auch nur eine Sekunde lang ein weibliches Ego anzunehmen.«
»Ganz am Anfang sagten Sie selbst, daß ich diese Art von Problem nicht hätte.«
»Nun, dann vielleicht folgendes: Du sagtest, daß du bei dieser Episode Schmerz gefühlt hättest. Vielleicht hattest du Angst, diesen Schmerz noch einmal durchmachen zu müssen.«
»Lassen Sie mich nachdenken. Ja – zum Teil. Und ich hatte überhaupt Angst, in das Innere eines anderen Menschen einzudringen. Sie öffnete sich mir, weil ich sie an Lone erinnerte. Ich drang in sie ein. Ich war noch nicht bereit. Ich hatte es zuvor noch nie getan – nur ganz minimal und dann gegen den Willen der Versuchsperson. Ich drang ganz in sie ein, und das war zuviel. Es schreckte mich so ab, daß ich es jahrelang nicht mehr versuchte. Ich schloß es weg. Aber als ich älter wurde, wurde auch die Kraft in mir stärker und stärker. Ich hatte immer noch Angst, sie zu benutzen. Und je mehr ich wuchs, desto mehr fühlte ich tief in mir, daß ich Miß Kew töten mußte, bevor sie das tötete – was ich bin. Mein Gott!« schrie ich plötzlich auf. »Wissen Sie, was ich bin?«
»Nein«, antwortete er. »Willst du es mir sagen?«
»O ja«, sagte ich. »So gern.«
Er hatte diesen berufsmäßig interessierten Gesichtsausdruck aufgesetzt, diese Maske, der man nicht entnehmen konnte, ob er mir glaubte oder nicht. Ich wollte es ihm sagen, aber plötzlich fehlten mir die Worte. Ich fühlte die Dinge und hatte doch keinen Namen für sie.
Lone holte den Inhalt aus den Worten und warf die Worte weg.
Und noch früher: Du liest Bücher. Du mußt ein paar Bücher für mich lesen.
Der Blick dieser Augen. Dieses … öffnen.
Ich ging zu Stern hinüber. Er sah zu mir auf. Ich beugte mich dicht über ihn. Zuerst war er verblüfft, dann beherrschte er sich und brachte sein Gesicht noch näher an meines.
»Mein Gott«, murmelte er. »Ich habe mir diese Augen vorher nicht angesehen. Ich hätte schwören können, daß sich die Iris dreht …«
Stern las Bücher. Er hatte mehr Bücher gelesen, als ich mir vorstellen konnte. Ich drang in ihn ein und suchte nach den richtigen Begriffen.
Ich kann nicht genau beschreiben, was ich dabei fühlte. Es war, als ginge ich durch einen Tunnel, und in diesem Tunnel streckten sich mir Holzarme entgegen – wie bei diesem Ding auf dem Jahrmarkt, wo man Messingringe über die vorstehenden Hölzer werfen mußte, um etwas zu gewinnen.
Am Ende jedes Armes hing der Ring. Man konnte ihn abstreifen oder hängenlassen.
Und jetzt stelle man sich vor, man denke nur an die Ringe, die man braucht, und auf den Holzarmen befinden sich nur noch sie. Und man selbst greift mit tausend Händen nach ihnen. Der Gang ist unzählige Meilen lang, und man kann all die Ringe, die an den Wänden und sogar an der Decke hängen, so schnell herunternehmen, daß man nach einem kurzen Blinzeln fertig ist. Also, so ähnlich war es, nur noch leichter.
Es war für mich leichter, als es für Lone gewesen war.
Ich richtete mich auf und löste mich von Stern. Er sah blaß und erschreckt aus.
»Es ist wieder gut«, sagte ich.
»Was hast du mit mir gemacht?«
»Mir fehlten einige Worte. Na, na. Kommen Sie wieder zu sich.«
Ich mußte ihn bewundern. Er steckte die Pfeife in die Tasche und preßte die Fingerspitzen gegen Stirn und Wangen. Dann richtete er sich auf und war wieder ganz normal.
»Ich weiß«, sagte ich. »So hat sich Miß Kew gefühlt, als Lone in ihren Büchern las.«
»Was bist du?«
»Ich werde es Ihnen sagen. Ich bin das Zentralganglion eines Organismus, der sich aus folgenden Teilen zusammensetzt: Baby, ein Komputer. Bonnie und Beanie, Teleporter. Janie, Telekinetin und zentrale Kontrolle. Wir sind nichts Besonderes. Denken Sie an die Teleportation der Yogi, die Telekinese einiger Glücksspieler und Gaukler, die Mathematiker, die sich bis zum Wahnsinn in ihre Theorien vergraben und, nicht zuletzt, an den sogenannten Poltergeist, der junge Mädchen dazu ausnützt, Haushaltsgegenstände umherzutragen, ohne daß sie es wissen. Nur daß in diesem Fall jeder meiner Teile Spitzenleistungen entwickelt.
Lone organisierte es, oder es bildete sich um ihn heraus. Es ist unwichtig, wie es sich abspielte. Ich ersetzte Lone, aber ich war bei seinem Tod noch zu unterentwickelt. Dazu kam der Schock, als ich in Miß Kew eindrang. In dieser Hinsicht hatten Sie recht, als Sie sagten, das Erlebnis habe mich unterbewußt daran gehindert, den Tatsachen nachzuforschen. Aber ich hatte noch einen anderen Grund, diese Schwelle ›Baby ist drei‹ nicht zu überschreiten.
Wir kamen auf die Frage, was ich mehr schätzte als die Sicherheit, die uns Miß Kew gab. Können Sie jetzt erkennen, was es war? Mein Gestaltorganismus mußte in dieser Sicherheit ersticken. Ich kam zu dem Schluß, daß sie – oder ich – getötet werden mußte. Sicher, die Teile würden weiterleben: zwei farbige kleine Mädchen mit einem Sprachfehler, ein in sich gekehrtes Mädchen mit einer künstlerischen Neigung, ein mongoloider Idiot und ich – zu neunzig Prozent Fähigkeiten, die nicht an die Oberfläche dringen konnten, und zu zehn Prozent ein jugendlicher Taugenichts.« Ich lachte. »Natürlich, sie mußte getötet werden. Zur Erhaltung des Gestaltorganismus.«
Stern setzte mehrmals zum Sprechen an und brachte schließlich heraus: »Aber ich sehe nicht …«
»Brauchen Sie auch nicht«, lachte ich. »Das ist herrlich. Und Sie sind auch herrlich. Jetzt will ich Ihnen eines sagen, weil Sie es vielleicht in Ihrem Beruf noch nicht erlebt haben. Sie sprechen von Okklusionen, ha! Ich konnte an der ›Baby-ist-drei‹-Barriere nicht vorbei, weil in ihr der Schlüssel zu meinem wirklichen Ich lag. Ich wollte nicht daran erinnert werden, was ich tun mußte, um meinen Gestaltorganismus zu retten. Ich wollte nicht erinnert werden, daß ich versagt hatte. Ist das nicht herrlich?«
»Versagt? Inwiefern versagt?«
»Sehen Sie. Ich begann Miß Kew zu lieben, und ich hatte noch nie zuvor jemanden geliebt. Und dennoch mußte ich sie töten. Aber ich konnte es nicht. Was tut der menschliche Geist, wenn er vor zwei gleich zwingende Forderungen gestellt wird, die sich widersprechen?«
»Er – er könnte sich einfach weigern. Wie du vorher sagtest, brennt eine Art Sicherung durch. Er weigert sich, auf diesem Gebiet zu funktionieren.«
»Nun, bei mir war das nicht der Fall. Ich habe die Schwelle überschritten. Was sonst?«
»Er könnte sich der Täuschung hingeben, daß er bereits eine der Forderungen erfüllt hat.«
Ich nickte glücklich. »Ich habe sie nicht umgebracht. Ich beschloß, daß ich es tun müßte. Ich stand auf, zog mich an – und dann weiß ich nur noch, daß ich ganz verwirrt draußen umherwanderte. Ich holte mein Geld – und jetzt weiß ich, daß ich mit meiner Superempathie jedes Preisausschreiben gewinnen kann – und suchte einen Gehirnwäscher auf. Ich fand einen guten.«
»Danke«, sagte er verwirrt. Er sah mich mit seltsamen Augen an. »Und was ist jetzt anders, nachdem du es weißt? Was willst du tun?«
»Nach Hause gehen«, sagte ich glücklich. »Den Superorganismus wieder ins Leben rufen, ihn heimlich üben, aber so, daß wir Miß Kew dabei nicht unglücklich machen. Wir werden so lange bei ihr bleiben, solange es ihr angenehm ist. Und wir werden ihr Freude machen. Sie wird so glücklich sein, wie sie es in ihren kühnsten Träumen nicht gehofft hat. Das arme, hungrige Herz unter den steifen Spitzen verdient es.«
»Und sie kann euren – Gestaltorganismus nicht töten?«
»Nicht die Spur. Jetzt nicht mehr.«
»Woher weißt du, daß er nicht schon jetzt tot ist?«
»Wie?« wiederholte ich. »Wie weiß Ihr Kopf, daß Ihr Arm funktioniert?«
Er befeuchtete seine Lippen. »Du gehst jetzt nach Hause, um eine ältliche Jungfer glücklich zu machen. Und danach?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Danach?« Ich verzog das Gesicht zu einer spöttischen Miene. »Hat der Pekingmensch den Homo sapiens angesehen, als er zum erstenmal aufrecht ging, und gefragt: ›Was wird er danach machen?‹ Wir werden leben, das ist alles – wie ein Mensch, wie ein Baum, wie alle anderen Lebewesen. Wir werden essen und wachsen und experimentieren und uns vermehren. Wir werden uns verteidigen.« Ich streckte die Hände aus. »Wir werden das tun, was die Natur uns vorschreibt.«
»Aber was könnt ihr tun?«
»Was kann ein Elektromotor tun? Das hängt davon ab, wo man ihn einsetzt.«
Stern war sehr blaß. »Aber ihr seid der einzige solche Organismus …«
»Wirklich? Ich weiß es nicht. Ich glaube es nicht. Ich habe Ihnen von den Teilen erzählt, die es schon seit langem gibt – von den Telepathen, den Poltergeistern. Ihnen fehlte die Organisation. Sie hatten keine Köpfe, die sich der zerfließenden Körper annahmen. Lone war einer, ich bin der nächste. Es muß noch mehr geben. Das werden wir herausfinden, wenn wir reif sind.«
»Ihr – ihr seid noch nicht reif?«
»Du liebe Güte – nein!« lachte ich. »Wir sind noch im Kindesalter. Wir entsprechen in etwa einem dreijährigen Kind. Da haben Sie es wieder, aber diesmal sage ich es ohne Scheu: Baby ist drei.« Ich sah meine Hände an. »Baby ist drei.« Ich hatte es noch einmal gesagt, weil es mir so angenehm leicht über die Lippen kam. »Und wenn dieses besondere Gruppenbaby fünf ist, hat es vielleicht Lust, Feuerwehrmann zu werden. Mit acht will es Cowboy oder FBI-Mann sein. Und wenn es erwachsen ist, wird es vielleicht eine Stadt bauen oder Präsident werden wollen.«
»O Gott!« sagte er. »O Gott!«
Ich sah auf ihn herab. »Sie haben Angst«, sagte ich. »Sie fürchten sich vor Homo gestalt.«
Er machte den Versuch und lächelte. »Das ist eine Bastardterminologie.«
»Wir sind Bastarde«, sagte ich. Ich gab ihm ein Zeichen. »Setzen Sie sich dort drüben hin.«
Er durchquerte den stillen Raum und setzte sich an den Schreibtisch. Ich beugte mich über ihn, und er schlief mit offenen Augen ein. Ich stand auf und sah mich im Raum um. Dann nahm ich die Thermosflasche, füllte sie und stellte sie auf den Schreibtisch. Ich strich die Ecke des Teppichs glatt und legte ein sauberes Handtuch auf die Couch. Dann öffnete ich die Schreibtischschublade und sah mir das Tonband an.
Es war, als hätte ich nur die Hand ausgestreckt, und schon war Beanie da. Sie stand mit großen Augen neben dem Schreibtisch.
»Sieh her«, erklärte ich ihr. »Paß gut auf. Du mußt dieses Band löschen. Frag Baby, wie du es machen sollst.«
Sie blinzelte mir zu und schüttelte sich ein wenig, und dann beugte sie sich über das Tonband. Sie war da – und weg – und wieder da. Im Handumdrehen. Sie ging an mir vorbei, drehte an zwei Knöpfen und bewegte einen Zeiger, bis es zweimal klickte. Das Band lief mit einem summenden Geräusch zurück.
»Schon gut«, sagte ich. »Verschwinde.«
Sie verschwand.
Ich zog meine Jacke an und ging zur Tür. Stern saß immer noch am Schreibtisch und starrte vor sich hin.
»Ein guter Gehirnwäscher«, murmelte ich vor mich hin. Ich fühlte mich sehr wohl.
Draußen wartete ich, dann drehte ich mich um und ging noch einmal hinein.
Stern sah mich an. »Setz dich dort drüben hin, Sonny.«
»He«, sagte ich. »Entschuldigung, Sir. Ich habe das falsche Büro erwischt.«
»Schon gut«, sagte er.
Ich ging hinaus und schloß die Tür. Den ganzen Weg bis zu dem Laden, in dem ich Miß Kew ein paar Blumen kaufte, grinste ich vor mich hin. Ich überlegte, wie er sich den verlorenen Nachmittag und die gewonnenen tausend Dollar erklären würde.