Im Zauberhaus

Vignette

Dienstag, 10. September 1619

Der Junge kam nicht mehr aus dem Haus. Sie warteten und warteten. Es war fast so, als hätte ihn das unheimliche Gebäude verschluckt. Was hatten sie dort mit ihm angestellt? Welche Experimente führte der Zauberer durch, für die er Kinder brauchte? Auch wenn Jack nur noch wenig Lust verspürte, selbst ins Haus des Zauberers zu gehen, konnte er das nun keinen Augenblick länger aufschieben. Er musste herausfinden, was in dem düsteren Bau vor sich ging. Gerade als er die Straße überqueren wollte, um die Mauer genauer in Augenschein zu nehmen, klopfte ein weiterer Besucher an, den die Dienstmagd eintreten ließ.

»Ich mag das Haus nicht«, quengelte Tommy neben ihm. »Ich will weg hier.« Er hatte sein Mandeltörtchen längst verzehrt und kaute stattdessen nervös an seinen Fingernägeln.

»Nun hör mir mal gut zu.« Jack musterte den Kleinen gereizt. »In dem Haus wohnt ’n Mann, der Kinder klaut. Mein kleiner Bruder ist vermutlich in dem Bau. Ich muss ihn da rausholen. Also reiß dich gefälligst zusammen.«

»Aber wenn er dich auch in ’ne Ratte verwandelt?«

Verflucht noch mal! Wieso hatte Moll den Neuen ihm und nicht einem anderen der Bande zugeteilt. Jack hatte wirklich Wichtigeres zu tun, als Kindermädchen zu spielen. Er kramte in seinem Beutel, um ihm mehr Geld zu geben. »Hol dir noch was vom Bäcker.«

»Aber ich hab keinen Hunger mehr. Ich will heimgehen.« Tommy war den Tränen nahe. »Bitte, geh da nicht rein.«

»Nun mach dir mal deswegen nicht gleich in die Hose.« Tommy tat ihm zwar leid, doch er konnte sich nicht länger aufhalten lassen. »Ich komm so schnell wie möglich wieder raus. Ehrenwort!«

Auf der anderen Straßenseite öffnete sich die Haustür. Doch es war nur der dicke Mann von zuvor. Er setzte seinen Hut auf und schritt eilig in Richtung Brücke. Der Junge vom Jahrmarkt blieb verschwunden.

»Rühr dich nicht von der Stelle«, wies Jack Tommy noch an. Danach ließ er ihn neben der Bäckerei stehen.

In der schmalen Gasse, die zwischen den Gebäuden von der geschäftigen Straße zum Fluss hinabführte, war viel weniger Betrieb. Nur am Ufer stand ein Mann, der gerade nach einem Fährmann rief. Der Wind wirbelte einige Blätter auf. Sonst war nichts zu sehen. Jack blickte zurück zur Straße. Von dort würde jeder sehen können, was in der Gasse vor sich ging, aber er hoffte, dass die Leute anderweitig beschäftigt waren. Vor der Auslage des Zuckerbäckers standen zwei Frauen, deren Röcke sich im Wind wie Segel bauschten. Unbehelligt vom stürmischen Wetter, schwatzten sie angeregt. Andere Passanten eilten die Hauptstraße entlang, niemand nahm von dem Jungen neben der Mauer Notiz. Nur Tommy beobachtete ihn besorgt von der anderen Straßenseite aus, während er an seinen Fingernägeln kaute. Jack rüttelte an der kleinen Pforte, aber wie er schon vermutet hatte, war sie verschlossen. Die Mauer dagegen würde er tatsächlich mühelos hinaufklettern können, denn der alte, lose Mörtel bot ideale Stufen für Füße und Hände. Die beiden Frauen waren immer noch ins Gespräch vertieft. Jetzt oder nie! Jack begann flink das alte Gemäuer hochzuklettern, packte einen Ast, schwang sich über die Mauer und landete kurz darauf auf dem weichen Gras neben dem Apfelbaum.

Der Garten war leer. Neben der steinernen Sonnenuhr in der Mitte hatte jemand einen Korb abgestellt, halb voll mit Fallobst. Auf der anderen Seite, hinter einem Brunnen, der mit einem Holzdeckel abgedeckt war, lag eine ordentliche Reihe von Gemüsebeeten. Alles sah friedlich aus, bis auf die Fassade des Gebäudes, die mit ihren vergitterten Fenstern zum Garten hin ebenso bedrohlich aussah wie auf der Straßenseite. Hier einzusteigen war unmöglich, allerdings führten mehrere Steinstufen zu einer Tür hoch, die nur angelehnt war. Genau in dem Augenblick, als Jack darauf zugehen wollte, schwang sie auf und eine Frau mit Haube und Schürze trat in den Garten. Er erkannte die rundliche Dienstmagd, die den Jungen eingelassen hatte. Jetzt ging sie fröhlich summend, einen Korb am Arm, auf den Küchengarten zu. Den Eindringling hinter dem Stamm des Apfelbaums bemerkte sie nicht. Solange sie hier im Garten war, hatte Jack dennoch nicht die geringste Chance, ungesehen ins Haus des Zauberers zu gelangen, denn der Pfad zur Tür lag direkt in ihrem Blickfeld.

Gemächlich fing die Frau an, Erbsenschoten zu pflücken, die sich im Gemüsebeet um ein Spalier aus Weidenruten wanden. Hin und wieder öffnete sie eine der Schoten und steckte sich die Erbsen eine nach der anderen genussvoll in den Mund. Nachdem sie genug Erbsen gepflückt hatte, begann sie Radieschen aus der Erde zu ziehen und in ihren Korb zu legen. In der Zwischenzeit stand Jack dicht an den Baumstamm gedrängt und wartete. Von der anderen Seite der Mauer drangen die Geräusche der Stadt nur gedämpft in den Garten. Die Stimmen der Schiffer, klappernde Wagenräder, Pferdehufe wie aus weiter Ferne. Selbst der Wind, der immer noch durch die Gassen pfiff, schien vor der hohen Mauer haltzumachen. Nur die Blätter der obersten Obstbaumäste rauschten. Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubendes Kreischen die scheinbare Idylle. Eine Elster kam direkt auf den Apfelbaum zugeschossen und ließ sich im Geäst nieder. Die Frau blickte von ihrer Arbeit auf, der Elster hinterher, doch Jack, der mit klopfendem Herzen hinter dem Stamm kauerte, entdeckte sie immer noch nicht. Der Vogel zeterte weiter im Baum, bevor er über die Mauer davonflog. Gleich darauf hörte man ein lautes Klopfen. Es kam von einer zweiten Pforte an der Flussseite des Gartens. Jack vermutete, dass dahinter die Anlegestelle für Boote lag.

»Joan! Bist du im Garten?«

»Ja«, rief die Frau, wischte sich die erdigen Finger an der Schürze ab und ging auf die Pforte zu.

Von seinem Versteck aus konnte Jack sehen, dass der Ausgang tatsächlich zu einer privaten Anlegestelle führte. Ein Ruderboot schaukelte dort in der Strömung auf und ab. Der Bootsmann war ausgestiegen. In seiner Hand hielt er zwei geschlachtete Kaninchen an den Hinterläufen.

»Für ’n Kochtopf von Sir Christopher.«

»Danke, Ben«, meinte die Frau. »Er ist noch gar nicht zurück, hat sich verspätet.« Sie holte ein paar Münzen aus der Rocktasche und reichte sie dem Mann.

»Na, je länger du die Tiere abhängen lässt, umso besser schmecken sie. Hat Jim die Ratten geliefert?«

»Schon heute früh.« Sie verzog ihr Gesicht vor Ekel. »Da dran werde ich mich nie gewöhnen.«

»Allmächtiger! Lebendige Ratten!« Auch der Mann schüttelte ungläubig den Kopf, während er die Münzen in einen Beutel steckte. »Ich werde auch nicht schlau draus. Für was braucht er die nur? Jeder gottgläubige Mensch sieht die Biester doch lieber tot.«

»Dem Himmel sei Dank hab ich ansonsten nichts damit zu tun«, meinte die Frau. »Master Milton kümmert sich drum. Er braucht das Ungeziefer für seine Experimente. Wie geht’s Anne? Ist das Kind nicht bald fällig?«

Die beiden fingen an, über alles Mögliche zu plaudern. Jack sah seine Chance. Er rannte quer durch den Garten auf die offene Haustür zu und schlüpfte ins Haus. Er war in der Waschküche gelandet. Über dem Herd stand ein riesiger Kupferkessel. Vermutlich wurde hier auch das Geschirr gespült, denn in einem Steinbecken stapelten sich schmutzige Schüsseln. Der einzige Weg aus dem Raum schien der schmale Durchgang neben einem Regal voller Flaschen zu sein. Dort roch es nach frisch gebackenem Brot, und wie Jack vermutet hatte, führte er direkt in die Küche. Auf einem großen Tisch lagen auf einem Holzrost mehrere Laibe Brot zum Abkühlen. Er war hungrig und hätte gern etwas gegessen, doch dazu war keine Zeit. Stattdessen musste er schleunigst nach Ned und den anderen vermissten Kindern suchen, bevor die Dienstmagd aus dem Garten zurückkam und ihn auf frischer Tat ertappte. Er sah sich vorsichtig um. Möglicherweise gab es hier noch anderes Personal, ganz abgesehen davon, dass er nicht dem Zauberer in die Hände laufen wollte. Aber die Küche war leer.

Von der Küche führte ein weiterer Durchgang auf einen langen Korridor mit unzähligen Türen. Es war so still. Nur die Fenster klirrten leise im Wind. Die mit weißen Leintüchern verhüllten Möbel im Gang verliehen dem Haus eine gespenstische Stimmung. Am anderen Ende des Flurs führte eine schmale Wendeltreppe nach oben, dahinter zweigte ein weiterer Gang ab. Auch wenn es aussichtslos schien, würde Jack einfach systematisch jede Tür öffnen und das Korridorlabyrinth absuchen. Der erste Raum war leer, im zweiten stand ein Bett, im dritten eine Truhe und ein Tisch mit Stühlen, ein anderer Raum war von oben bis unten mit Büchern vollgestopft.

So leise wie möglich schlich er weiter den Korridor entlang, als ihn ein Geräusch, das vom Gang hinter der Wendeltreppe kam, aufhorchen ließ. Auf dem Steinboden waren deutlich Schritte zu hören. Hastig blickte er sich um, aber die verhängten Möbel waren zu weit weg, um sich dahinter zu verstecken. Die Schritte kamen stetig näher. Es blieb nur eine Möglichkeit. Jack öffnete die nächste Tür auf der linken Seite und schlüpfte in das Zimmer. Fast hätte er laut aufgeschrien.

Von der Decke, an einem Balken, hing ein Monster, das seine riesigen, scharfen Zähne bleckte und ihn bestialisch anstarrte. Es glich einem Drachen mit gestutzten Flügeln. Erst nach einem Augenblick merkte er, dass das Tier nur ausgestopft war. Daneben baumelte ein langes spiralförmiges Horn, das sicher einst einem Einhorn gehört hatte. Auch der riesige Kieferknochen daneben stammte bestimmt von einem Fabelwesen. In der Ecke, an einem Ständer aufgehängt, baumelte ein Skelett, das ihn aus leeren Augenhöhlen fixierte. Jack war im Labor des Zauberers gelandet. Alles sah genauso aus, wie Kit es beschrieben hatte. Vor dem Fenster stehend, hatte der Junge der Hafenbande beobachtet, wie der Zauberer hier einen Stein zum Glühen brachte. Die Ratten waren allerdings nirgendwo zu sehen. Langsam stahl sich Jack an den Regalbrettern vorbei, die die Wände des Raums säumten.

Ordentlich in Schaukästen eingeräumt, gab es dort Vogeleier, Muscheln, Schnecken, Perlen, Korallen, riesige Zähne, getrocknete Pflanzen und Steine. Wie in einer Apotheke standen darüber unzählige Glasgefäße mit farbigen Pulvern, Kräutern, getrockneten Wurzeln und Fläschchen mit Flüssigkeiten. Auf einem Ständer, neben einer ausgestopften Eule, lag eine durchsichtige Kristallkugel. Jack hatte auf dem Jahrmarkt eine Zigeunerin gesehen, die in einer ähnlichen Glaskugel die Zukunft ihrer Kunden gelesen hatte.

An der Wand gegenüber, zwischen den beiden Fenstern, reihten sich weitere Glasgefäße, in denen tote Schlangen und Frösche schwammen. Aus einer Holzvitrine daneben starrte ihm Orlandos Ebenbild entgegen. Das Grausige war, dass es sich nur um einen Affenkopf handelte. Dort, wo Molls Affe einen Körper mit Armen, Beinen und einen Schwanz hatte, hatte der ausgestopfte Affe einen Fischlaib. Ob hier ein Zauberspruch schiefgegangen war oder ob der Zauberer absichtlich eine so scheußliche Kreatur geschaffen hatte?

Schaudernd trat Jack einen Schritt zurück, als es hinter ihm laut klapperte. Er war gegen den Tisch in der Mitte des Raums gestoßen und hatte dabei eines der bauchigen Glasgefäße umgestoßen. Es begann langsam auf die Kante zuzurollen. Im letzten Augenblick, bevor es auf dem Boden in Tausende von Scherben zerbersten konnte, fing Jack es auf. Puh, das hätte leicht ins Auge gehen können. Er lauschte. Auf dem Korridor hatten sich die Schritte entfernt. Doch plötzlich hielten sie an. Und näherten sich dann langsam wieder, um direkt vor der Tür zum Labor zum Stehen zu kommen.

Im nächsten Augenblick schwang die Tür auf. Sie quietschte leicht in den Angeln. Der Luftzug ließ den Drachen an der Decke sacht hin und her schwingen. Jack duckte sich gerade noch rechtzeitig unter den Tisch. Im Türrahmen stand ein Mann, der sich im Raum umsah.

»Jetzt sehe ich schon Gespenster«, murmelte er kopfschüttelnd. »Muss wohl der Wind gewesen sein.« Dann schloss er die Tür wieder hinter sich.

Jack atmete erleichtert auf. Das war gerade noch mal gut gegangen. War es möglich, dass der Mann tatsächlich ein Zauberer war? Irgendwie hatte er sich immer einen alten Mann mit weißen Haaren vorgestellt, keinen jungen mit ordentlich gestutztem Bart. Er musste sich sputen und schnell weiter nach den verschwunden Kindern suchen. Hier im Labor waren sie jedenfalls nicht. Jack wartete, bis die Schritte verklangen, dann trat er wieder auf den Gang hinaus. Er musste auf der Hut sein, doch er würde so lange weiter nach seinem Bruder suchen, bis er ihn gefunden hatte oder sich zumindest sicher war, dass er nicht in diesem Haus war. Doch sosehr sich Jack auch bemühte, er konnte die Kinder nicht aufstöbern. Und als er sich endlich entschloss, das Gebäude unverrichteter Dinge zu verlassen, bemerkte er obendrein, dass er sich in dem Ganggewirr hoffnungslos verlaufen hatte. Er blieb kurz stehen, um sich zu orientieren, als er ein leises Rufen, gefolgt von Klopfen, vernahm. Ob das doch die Kinder waren? Hastig eilte er in die Richtung, aus der die Stimme kam, bis er zu einer Tür gelangte, gegen die jemand wütend mit den Fäusten schlug.

»Lasst mich sofort raus hier!« Es war nicht die Stimme seines Bruders, sondern die des Jungen vom Jahrmarkt. Der Schlüssel steckte noch im Schloss und Jack brauchte ihn nur umzudrehen. Wachsam blickte er sich nach beiden Seiten um. Die Luft war rein.

Kaum hatte er die Tür geöffnet, stürzte der Junge wütend wie ein wildes Tier auf ihn zu, hielt jedoch im letzten Augenblick inne.

»Du?« Er schaute Jack an, als sei er ein Gespenst. »Was machst du denn im Haus von Sir Christopher?«

»Ich suche nach meinem Bruder«, erklärte Jack kurz. »Weißt du, wo der Mann die anderen geklauten Kinder eingelocht hat?«

»Andere Kinder? Keine Ahnung.« Der Junge spähte den Gang entlang. »Los komm! Wir müssen so schnell wie möglich raus hier, bevor uns dieser Schuft entdeckt.«

»Der Zauberer?«

»Zauberer? Ich kenne keinen Zauberer. Nein, Sir Christophers Assistent, Master Milton. Dieser Fiesling glaubt fest, dass ich den Salamander irgendwo versteckt hab. Den Salamander, den du mir gestohlen hast.« Er warf Jack einen vorwurfsvollen Blick zu. »Jetzt will der Mann mich meinem Onkel ausliefern.« Der Junge eilte bereits den Gang entlang, doch an der nächsten Ecke blieb er nochmals stehen und blickte zurück zu Jack. »Kommst du nicht mit?«

Jack zögerte einen Augenblick. Aber da es ohnehin zwecklos war, hier weiter nach Ned zu suchen, folgte er dem Jungen, der zielsicher durch die Gänge schritt. Nur einmal hielt er an, weil er nicht mehr weiterwusste.

»Hier lang«, meinte er kurz darauf, und wenig später waren sie in einer großen Halle angekommen, von der breite Treppen ins obere Stockwerk führten. Der Junge sah sich kurz um, dann rannte er auf die große Eichentür zu und schob den Riegel beiseite.

Bevor Jack ihm auf die Straße hinaus folgte, blickte er noch einmal zurück. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete, aber er konnte niemanden sehen. Das Gemälde an der Wand war ihm dennoch unheimlich. Der Blick des schwarz gekleideten Mannes mit der Halskrause, der dort abgebildet war, durchbohrte ihn regelrecht mit seinen Augen. Schaudernd schlüpfte er durch die Tür, dem Jungen hinterher. Draußen angekommen, atmete er tief durch. Er war enttäuscht, dass er seinen Bruder nicht gefunden hatte, doch gleichzeitig erleichtert, dem schauerlichen Haus entronnen zu sein. Für heute konnte er nichts mehr tun und wollte nur noch mit Tommy nach Hause gehen. Er sehnte sich plötzlich sehr nach seinen Freunden und der Geborgenheit von Molls Dachboden. Doch wo war Tommy? Auf der anderen Straßenseite war die Bäckersfrau gerade dabei, den Verkaufstisch aufzuräumen. Tommy war nirgends zu sehen.