Verzaubert

Sonntag, 8. September 1619
Die Glocken der Erlöserkirche läuteten die Mittagsstunde ein, als Jack durchs Verrätertor trat. Seine Ermittlungen im Kirchhof und in Bedlam hatten doch länger gedauert und er war das letzte Stück gerannt. Aber obwohl er pünktlich am Brückenhaus ankam, waren die anderen noch nicht eingetroffen. Er hielt neben dem Bau am Straßenrand an und sah sich um. Da es ein günstiger Standort war, um sich vor dem Jahrmarkt zu treffen, war er nicht der Einzige, der sich hier verabredet hatte. Von seinem Platz aus konnte er gleichzeitig die endlose Prozession der Menschen sehen, die von der Brücke her an ihm vorüberzogen. Alle, ob jung oder alt, hatten das gleiche Ziel. Am südlichen Ende der Straße war der Jahrmarktsrummel bereits voll im Gange. Jetzt vermischten sich Fidelmusik und Trommelschläge, die von dort herüberwehten, mit dem Läuten der Kirchenglocken. Es war Punkt zwölf.
Nur wenige Schritte entfernt stand ein Mann in Seidenhose und knallroten Strümpfen. Er blickte immer wieder ungeduldig auf seine Taschenuhr, die er an einer Kette um den Hals trug. Die Uhr war zweifellos wertvoll, und Jack überlegte, wie er sie dem Mann am besten entwenden könnte. Gerade als er sich für einen Rempeltrick entschieden hatte, spürte er, wie ihn jemand von hinten am Arm packte. Er griff automatisch nach seiner ledernen Umhängetasche und drehte sich blitzschnell um. Doch es war kein Dieb.
»Wir haben beim Bären gewartet. Da ist weniger los als hier.« Eliza stand hinter ihm und deutete mit dem Finger die Straße entlang. Tatsächlich konnte er an der Ecke neben dem Wirtshaus Maggie sehen, die ihm aufgeregt zuwinkte. Tommy stand wie üblich mit ernstem Gesicht neben ihr.
»Komm schon! Wir haben ’ne Spur gefunden.« Eliza hatte Jacks Hand ergriffen.
»Spur? Was für eine Spur? Von was sprichst du?«, fragte er, während Eliza ihn die Straße entlangzerrte.
»Bist du auf den Kopf gefallen? Eine Spur zu Ned natürlich.«
»Was? Ihr wisst, wo Ned ist?«
»Na, nicht genau, aber wir haben mit ’nem Jungen gesprochen, der weiß, was mit den geklauten Kindern passiert ist.«
Jack starrte Eliza fassungslos an. »Ein Junge, der weiß, was mit den geklauten Kindern passiert ist?« Er traute seinen Ohren nicht.
Inzwischen waren sie bei Maggie und Tommy angekommen. Unwillkürlich sah sich Jack nach einem anderen Jungen um, doch außer Maggie und Tommy stand niemand an der Straßenecke.
»Mit wem habt ihr gesprochen?« Jack musste diesen Jungen unbedingt treffen.
»Er heißt Kit«, erklärte Maggie mit vor Aufregung geröteten Wangen, »und ist der Anführer der Hafenbande.«
»Maggie ist in ihn verknallt«, verkündete Eliza.
»Bin ich nicht«, widersprach das ältere Mädchen heftig.
»Aber du hast’s mir doch gesagt.«
»Unsinn. Sei still!« Sie warf Eliza einen bösen Blick zu. »Einer von Kits Kumpeln ist auch verschwunden. Und da hab ich an dich gedacht. Kit hat da so ’ne Idee, was passiert sein könnte.«
»Kit?« Jack hatte von dem Jungen gehört, kannte ihn jedoch nicht persönlich. »Wo kann ich ihn treffen?«
»Ich weiß, wo er ist. Ich hab mich mit ihm verabredet. Komm mit.« Mit einer Hand machte sie eine Geste, dass er ihr folgen sollte, mit der anderen griff sie nach Tommys Hand.
Gleich darauf bogen die vier Kinder in die Straße hinter dem Wirtshaus ein. Der Turm der Erlöserkirche, der die umstehenden Häuser überragte, warf einen dunklen Schatten auf die Straße, doch Jack war hoffnungsvoll. Vielleicht wusste dieser Kit tatsächlich mehr und würde ihn auf der Suche nach seinem Bruder weiterbringen.
»Kit wartet an der Fährstelle auf uns«, erklärte Maggie und bog an der nächsten Ecke in die schmale Gasse ein, die zum Fluss hinabführte.
Auch hier unten ging es geschäftig zu. Wer das Gedränge auf der Brücke vermeiden wollte, nahm sich ein Boot, um schneller ans andere Ufer überzusetzen. Jack mied den Fluss so gut wie möglich. Er konnte das unheilvolle dunkle Wasser nicht ausstehen, auch wenn es an dieser Stelle eigentlich harmlos war, den Fluss zu überqueren. Als kleiner Junge hatte er es sogar geliebt, im Fährboot seines Vaters auf den Fluss hinaus zu fahren. Doch eines Tages war sein Vater nicht mehr von der Arbeit zurückgekehrt. Sein Boot war unter der Brücke, wo die Strömung als lebensgefährlich galt, verunglückt. Der Vater war ertrunken.
»Dort ist er«, unterbrach Maggie seine Gedanken. Sie winkte freudig und rannte los.
Am Rande des Piers lehnte ein älterer Junge lässig gegen ein großes Holzfass. Auf seinen verfilzten, braunen Haaren trug er eine Stoffmütze. Neben ihm, auf dem Deckel des Fasses, lag ein Haufen Austern. Ein Messer in der Hand, brach er gerade eine der Schalen auf und schlürfte die Auster genussvoll aus. Danach warf er die Schalen in hohem Bogen ins Wasser. Maggie blickte ihn strahlend an, dann deutete sie auf Jack.
»Das ist er. Sein Bruder ist vor mehr als ’nem Monat verschwunden.«
Der Junge verbeugte sich galant vor Jack.
»Tag. Mehr als ’nen Monat sagst du.« Er pfiff durch die Zähne. »Das ist ja ewig her. Will Cooke ist erst seit zwei Wochen weg.« Er schob die Spitze seines Messers erneut in eine der Austern, öffnete sie fachmännisch und reichte sie Maggie. »Bedient euch.« Mit der Hand wies er auf die Austern. Doch bis auf Maggie lehnten alle dankend ab.
»Wir haben die ganze Stadt nach ihm abgeklappert«, fuhr Kit fort, »doch er ist wie vom Erdboden verschluckt.«
»Ich dachte, du hast ’ne handfeste Spur oder ’ne Idee, was mit ihm geschehen ist.« Jack war enttäuscht.
»Hab ich auch. Sei nicht so ungeduldig. Alles der Reihe nach«, tadelte ihn Kit, bevor er die nächste Auster schlürfte und die Schalen wieder in den Fluss warf. »Maggie hat mir erzählt, dass man deinen Bruder zuletzt auf dem Kirchhof von St. Pauls gesehen hat. Stimmt das?«
Jack nickte.
»Ich sag’s ja«, er blickte Maggie triumphierend an. »Das ist unsere Spur. Möchte wetten, er wurde zur gleichen Adresse wie Will geschickt.« Dann wandte er sich wieder an Jack. »Willst du wirklich keine Austern? Sie sind köstlich.«
Jack wurde hellhörig. Hingen die beiden Fälle vielleicht doch zusammen?
»Wo hat man denn deinen Freund zuletzt gesehen?«, fragte er neugierig.
»Auf dem Kirchhof natürlich. Bei den Buchhändlern.«
»Heiliges Kanonenrohr! Ich war erst heute früh dort, um einen der Typen auszuquetschen, aber sein Laden war dicht. Ich geh morgen wieder hin und knöpf ihn mir vor.«
»Den Weg kannst du dir sparen. Ich hab mich dort bereits umgehört und weiß, wohin sie die Kinder schicken.«
»Wohin sie die Kinder schicken?«
»Genau, das ist die Lösung des Rätsels. Will hat öfters für die Buchhändler Botengänge erledigt. Briefe überbracht und manchmal sogar Bücher geliefert.«
»Aber denken die nicht, dass er sich mit den Büchern davonmacht?«
»Nein. Sie kannten Will und haben ihm getraut.«
»Und weiter?« Jack konnte es kaum erwarten zu erfahren, was der Junge herausgefunden hatte.
»Na, jedenfalls hat er auch vor zwei Wochen ’nen Botengang erledigt. Angeblich sollte er ’nem Kunden Bescheid geben, dass ’n Buch angekommen war. Allerdings kehrte er von diesem verflixten Botengang nie mehr zurück und niemand hat ihn seitdem gesehen.«
Wer weiß, vielleicht hatte einer der Buchhändler Ned auch gefragt, ob er einen Botengang für ihn erledigen könnte. Selbst wenn der Mann unter dem Zeichen des schwarzen Schwans Kinder nicht leiden konnte, war es durchaus denkbar, dass einer der anderen Buchhändler den Jungen erkannt und gemeint hatte, dass er zuverlässig sei. Immerhin hatte Ned sich oft genug Bücher angeschaut, ohne sie zu stehlen.
»Und du weißt tatsächlich, wohin sie Will Cooke und die anderen Kinder geschickt haben?«
Kit nickte triumphierend. »Ich hab sogar die genaue Adresse.« Er schlürfte die letzte seiner Austern und leckte sich anschließend die Finger.
»Bist du hin?«
»Na klar. Und stell dir vor, was ich herausgefunden habe: In dem Haus wohnt ein Zauberer.«
»Ein Zauberer?« Jack traute seinen Ohren nicht. »Du willst mich wohl veräppeln.« Langsam reichte es ihm wirklich. Am Morgen die verrückte Frau in Bedlam, die überzeugt gewesen war, dass in London Geister herumzogen, die unschuldige Kinder klauten, und jetzt der Junge hier, der von einem Zauberer sprach.
»Nein, Ehrenwort«, erklärte dieser feierlich, die Hand auf dem Herzen. »So wahr ich hier stehe. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Glaub mir, dort gehen seltsame Dinge vor sich. Außerdem hat die Bäckerstochter von gegenüber bestätigt, dass dort ’n Zauberer wohnt. Ich hab ihr anfangs auch nicht geglaubt. Aber dann bin ich nachts heimlich über die Mauer und hab mich umgesehen. Ich sag euch, was ich dort durchs Fenster gesehen hab, war echt unheimlich.«
Tommy, der Neue, der mit blassem Gesicht bisher nur stumm gelauscht hatte, griff nach Jacks Hand und die kleine Eliza drängte sich dicht an seine andere Seite.
»Es war stockfinster, aber das Fenster war offen und ich konnte den Zauberer hören. Verstand jedoch kein Wort, was er da vor sich hin brabbelte. Auf jeden Fall begann plötzlich so ein rundes Ding vor ihm zu glühen, und dann leuchtete auf einmal der ganze Raum grün und blau. Mannomann! Ihr habt ja keine Ahnung, mit was der Typ seine Bude vollgestopft hat. Da hing nicht nur ’n riesiges Monster mit messerscharfen Zähnen an der Decke, sondern aus der Ecke glotzte mich auch noch ’n klappriges Skelett an. Und auf dem Tisch in der Mitte konnte ich ’nen Käfig sehen. Da drin bewegte sich was.«
»Was war es?« Eliza drückte Jacks Hand. Er konnte spüren, dass sie vor Erregung zitterte. »Waren es die verschwundenen Kinder?«
»Nein. Dazu war der Käfig viel zu klein, aber es wimmelte darin von Ratten. Ich hab sie gerade noch gesehen, bevor das Licht ausging. Danach war es stockdunkel. Nur das Piepsen der Viecher hörte man noch.«
»Und die Kinder?«
»Keine Ahnung, die hab ich nicht gesehen. Allerdings bin ich überzeugt, dass er sie in sein Haus lockt, um sie für seine Experimente zu benutzen. Wetten, dass er sie irgendwo dort versteckt hat.«
»Er hat sie in Ratten verzaubert«, flüsterte Eliza.
»Keine Ahnung. Aber man kann nie wissen.«
»Bist du zur Wache gegangen?«, fragte Jack.
Kit schüttelte den Kopf. »Denkst du vielleicht, ich will in der Klapsmühle landen?«
Vielleicht war Kit tatsächlich reif fürs Irrenhaus. Er konnte doch nicht im Ernst glauben, dass ein Zauberer die verschwundenen Kinder geschnappt hatte. Allerdings wusste Jack, dass viele Menschen an Hexen und Zauberer glaubten. Auf Zauberei stand die Todesstrafe, und erst im vergangenen Herbst hatte man eine Frau als Hexe angeklagt und am Galgenplatz vor den Stadtmauern erhängt.
»Bist du ins Haus rein?«, fragte er Kit.
»Bin doch nicht bekloppt.«
»Und wo ist das Haus?«
Kit deutete mit dem Finger ans andere Ufer. »Es ist eines der Häuser direkt am Fluss, kurz vor Bridewell, genau gegenüber von ’nem Zuckerbäcker.«
Jack blickte über den Fluss. In der Ferne ragte der flache Kirchturm von St. Pauls in den Himmel. Davor, am Ufer, reihten sich Häuser dicht nebeneinander. Die Fenster flimmerten im gleißenden Licht der Mittagssonne. Kit war über die Mauer geklettert. Das konnte er auch. Und wenn er erst einmal über der Mauer war, fand er sicherlich einen Weg ins Haus.
»An deiner Stelle würde ich da lieber nicht rein«, warnte ihn Kit, fast so als hätte er seine Gedanken gelesen. »Viel zu gefährlich.«
Doch Jack hatte sich längst entschlossen. Er würde alles riskieren, um seinen Bruder zu finden.
»Wir gehen jetzt besser zurück zum Jahrmarkt«, erinnerte Maggie die anderen an die Arbeit. »Wenn wir heute Abend nichts nach Hause bringen, wird Moll sauer.«
Kit wischte sich die Hände an der Hose ab und schob seine Mütze auf den langen Haaren zurecht. »Wenn’s in Ordnung ist, komm ich mit euch mit.«
Er verbeugte sich vor Maggie und bot ihr wie ein feiner Herr den Arm. Sie kicherte verlegen, hakte sich jedoch trotzdem ein und spazierte mit ihm die Gasse entlang Richtung Hauptstraße. Eliza und Tommy folgten dem Pärchen. Jack schaute nochmals auf den Fluss. Die Brücke, unter der sein Vater ertrunken war, spiegelte sich im Wasser. Er schuldete es seinen verstorbenen Eltern, dass er nach Ned suchte, selbst wenn er dazu bei einem vermeintlichen Hexenmeister einbrechen musste. Trotzdem hoffte er, dass Kit vor Maggie nur geprotzt hatte und Elizas Theorie mit den verzauberten Kindern nicht stimmte.
»Kommst du nicht mit?«, riss ihn Elizas helle Stimme aus seinen Gedanken. Sie war zurückgekommen, um ihn zu holen. Die Kleine packte ihn fürsorglich an der Hand und zerrte ihn die Gasse entlang.
Als sie die anderen einholten, erklärte Kit Maggie gerade, wie man seiner Meinung nach am besten die Leute auf dem Jahrmarkt bestahl. Maggie war überzeugt, dass es am einfachsten sei, die Zuschauer vor den Buden zu bestehlen, da man mit seiner Beute leicht abhauen konnte. Kit dagegen meinte, es sei viel besser, in die Schaubuden zu einer der Vorführungen zu gehen. Der kleine Tommy, der neben den beiden herlief, schwieg wie immer.
»Aber du musst zahlen, um in die Buden reinzukommen«, wandte Maggie ein.
»Na und«, erwiderte Kit. »Das ist doch ’ne Anlage, die sich lohnt. Die Zuschauer glotzen nur zur Bühne hoch. Alles andere interessiert sie nicht. Außerdem sind die Schuppen so schlecht beleuchtet, dass sie ’nen Dieb gar nicht sehen können. Ich sag’s euch. Da gibt’s einiges zu holen. Der olle Eintrittspreis kann einem da wirklich egal sein. Du sparst sogar noch Geld, wenn du dich zwischen den Vorstellungen unter den Bänken versteckst. Da kannst du gleich mehrere zum Preis von einer sehen. Gestern war ich den ganzen Nachmittag im gleichen Schuppen und bin abends mit vollen Taschen nach Hause gegangen.«
Inzwischen waren sie auf dem Jahrmarkt angelangt. Jack würde mit Tommy losziehen, um den Neuen weiter in der Kunst des Diebstahls zu unterweisen. Gerade wollten sie sich verabschieden, als Maggie auf eine Bude vor ihnen am Straßenrand deutete.
»Dort zeigen sie einen Menschenfresser.« Sie schauderte. »Da würde ich nicht mal für einen Sack voll Gold reingehen.«
Auf einem erhöhten Podium vor einer der Buden stand ein kleiner, dicker Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war. Gerade pries er lautstark die nächste Vorstellung an.
»Ein Menschenfresser?«, erwiderte Kit kühn. »Na und. Hat jemand Lust, mit mir zu kommen?«
Eliza und Tommy schüttelten einträchtig ihre Köpfe. Auch Maggie hob abwehrend die Hand.
»Ich komm mit«, erwiderte Jack kurz entschlossen. Eigentlich war ihm das auch nicht besonders geheuer, doch er wollte keinesfalls vor dem anderen Jungen als Feigling dastehen. Er zog einen Penny hervor und stellte sich an der Kasse an. »Worauf wartest du noch?«, forderte er Kit auf.
»Und was ist mit Tommy?«, fragte Maggie. »Ich dachte, du kümmerst dich um den.« Doch Jack hörte sie nicht. Einen Augenblick später traten die beiden Jungen durch den Eingang in die Schaubude.