Einundzwanzigstes Kapitel
Einige Wochen waren vergangen. Laura hatte sich so gut es ging von Circe da Volterra fern gehalten, doch hatte sie sie sehr genau beobachtet.
Sie wusste, dass ihre Lehrerin beinahe jeden Tag im Palazzo Angelo da Matrangas verkehrte. Und sie ahnte, was sie mit ihren Besuchen bezweckte: Lauras Vertreibung aus Siena.
Sie, Circe da Volterra, wollte sich an Lauras Stelle setzen. Die Frage aber, auf die Laura noch immer keine Antwort wusste, lautete: Aus welchem Grunde? Und wer steckte dahinter?
Angelos Zustand hatte sich nicht merklich verbessert. Wenn man es genau betrachtete und den Visconte mit dem Mann verglich, der er noch vor wenigen Monaten gewesen war, so fiel das Ergebnis erschreckend aus.
»Sein Haar ist ganz weiß geworden«, hatte eine Magd einer anderen beim Wäschewaschen zugeflüstert. Laura, die etwas abseits stand und die Seifenlauge ansetzte, hatte es jedoch gehört.
»Ja, und die Falten in seinem Gesicht sind so zahlreich wie am Kragen des Papstes«, wusste die nächste zu berichten.
»Blass ist er im Gesicht, beinahe weiß. Die Lippen sind schmaler geworden, das Kinn kantiger. Abgenommen hat er, als hätte er eine Fastenkur hinter sich.«
»Nun, ich denke, da ist etwas dran. Hat der Bischof nicht oft genug von der Kanzel gepredigt, dass man das Böse am besten mit Fastenkuren und Geißelungen los wird? Das Gerücht, der Bürgermeister glaube an Dämonen und Geister, geht schon lange in der Stadt um.«
»Nun, wer glaubt nicht daran? Jeder gute Christenmensch ist schon einmal vom Teufel und seinen Gehilfen heimgesucht worden. Und du kannst nicht abstreiten, dass der Visconte derzeit eine wahre Pechsträhne hat.«
»Aber ist es nicht ein Zeichen für die Besessenheit von einem bösen Geist, wenn man in wenigen Wochen um Jahre altert? Selbst an Körpergröße hat da Matranga eingebüßt. Sein Gang ist schwer und müde. Man sagt, er kümmere sich kaum noch um die Geschicke der Stadt. Stunde um Stunde verbringe er in der Kathedrale am Grab seines Sohnes Orazio. Aber aufwecken kann er ihn nimmermehr.«
Die Mägde stießen sich an, sahen zu Laura, die das Treiben aus den Augenwinkeln beobachtete. Dann sagte die eine: »Er scheint sich von unserer Herrin abgewendet zu haben und kommt nur noch selten hierher. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht eines Tages unsere Anstellung verlieren. Noch erhalten wir unseren Lohn, aber was wird sein, wenn er sie endgültig verstößt?«
»Keine Sorge«, erwiderte die andere. »Circe da Volte rra kümmert sich um ihn. Außerdem hängt er an seinem Sohn. Verstößt er die Signorina Laura, so haben wir immer noch Signora da Volterra. Sie wird weiterhin hier leben und Mägde brauchen, die sich um den Haushalt kümmern.«
»Da hast du Recht.«
»Wollt ihr wohl eure Aufmerksamkeit auf die Wäsche richten? Es geht nicht an, dass unter eurem Geschwätz die Arbeit leidet.«
Laura schalt die Mägde sehr selten, doch inzwischen war sie an einem Punkt angelangt, an dem auch ihre Nerven blank lagen.
Die Mägde hatten Recht. Erst ein einziges Mal war Angelo da Matranga in dieser Woche zu Laura gekommen. Ein flüchtiger, in die Luft gehauchter Kuss, ein Glas Wein, dann war er schon wieder weg gewesen. Seit Orazios Tod hatten sie kein einziges Mal beieinander gelegen. Angelo hatte seine Askese mit der Trauer begründet, doch Laura wusste, dass dies nicht die Wahrheit war. Er hatte Angst vor ihr.
Und Laura hatte sich in ihrer Traurigkeit und Verzweiflung immer mehr zurückgezogen. Doch jetzt straffte sie den Rücken und reckte das Kinn. Ich muss einmal wieder hier rauskommen, beschloss sie. Ich muss hören, was in der Stadt, an den Brunnen und auf dem Markt geredet wird. Vielleicht erhalte ich den einen oder anderen Hinweis.
Sie verließ die Waschküche und sagte der Köchin Bescheid, dass die notwendigen Einkäufe heute von ihr selbst erledigt werden würden. Dann nahm sie den großen Weidenkorb und machte sich auf den Weg zum Markt.
Sie war noch nicht lange gegangen, da sah sie Marissa Barbetta vor sich auf dem Weg. Laura beschleunigte ihren Schritt, bis sie mit der Geliebten und zwischenzeitlichen Verlobten Damiani Sticcis auf gleicher Höhe war.
»Gott zum Gruße«, sagte Laura und nickte freundlich. Doch Marissa sah sie aus großen Augen an und wich ein Stück zurück.
»Wie geht es Euch? Ist alles in Ordnung?«, wunderte sich Laura.
»Es ist alles zum Besten«, stammelte Marissa Barbetta und wich noch ein Stück weiter zurück. »Ich habe erst gestern eine große Wachskerze für die Mutter Gottes gespendet. Der Herr weiß, dass ich wahrlich nicht üppig lebe, aber ich gebe gewiss, was ich kann.«
»Warum erzählt Ihr mir das, Marissa?«, fragte Laura noch immer verwundert. Doch die zukünftige Signora Sticci sah sie nur mit flackerndem, ängstlichem Blick an und sprach weiter, als hätte sie Lauras Fragen nicht verstanden. »Gott ist mein Zeuge, dass ich noch nie im Leben einem Menschen etwas Böses getan habe«, plapperte sie weiter. Ihr Gesicht war blass geworden, und die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. »Immer war ich barmherzig und mildtätig. Ich werde auch für Euch beten, Signorina Laura, dessen könnt Ihr gewiss sein. Wir sind alle froh, dass Ihr eine so gute Lehrerin wie Circe da Volterra an Eurer Seite habt. Ich habe nie schlecht von Euch gedacht, Laura. Und ich habe nie schlecht von Euch gesprochen. Das könnt Ihr mir gern glauben. Gott ist mein Zeuge. Er ist mein Hirte und mein Licht in der Dunkelheit...«
»Marissa Barbetta!«, sagte Laura laut und energisch. »Was, um Gottes willen, redet Ihr denn da? Ist Euch nicht wohl? Braucht Ihr Hilfe?«
Laura ging einen Schritt auf die Frau zu und wollte nach ihrem Arm fassen, doch Marissa wich bis an die Hauswand zurück, blickte wie ein Tier in der Falle und presste beide Hände auf ihren Busen.
Laura blieb stehen und nahm die Hände herunter. »Fürchtet Ihr Euch etwa vor mir?«, fragte sie ungläubig.
Marissa Barbetta nickte. »Aber ich habe keinem Menschen je etwas Böses getan.«
»Das glaube ich Euch gern. Doch sagt mir, warum Ihr Euch vor mir fürchtet. Auch ich habe noch nie jemandem etwas Böses getan.«
»Ich ... ich ... ich muss weg«, stammelte Marissa Barbetta und sah sich gehetzt um. Die Magd, die sie begleitet hatte, stand in einiger Entfernung und betrachtete die Vorgänge mit ungläubigem Staunen.
»Mein Verlobter erwartet mich sicher schon«.
Marissa stieß sich von der Hauswand ab und rannte mit gerafften Röcken die Gasse hinunter.
Laura sah ihr kopfschüttelnd hinterher. Doch dann befand sie, dass Marissa Barbetta wohl wegen der bevorstehenden Hochzeit mit Damiani Sticci etwas aus dem Gleichgewicht geraten war, und setzte ihren Weg zum Markt fort.
Sie schlenderte zwischen den Ständen umher und betrachtete neugierig die Auslagen. Gewöhnlich herrschte hier ein reges Gedränge. Mägde schubsten einander, Händlergehilfen schleppten Körbe und Stiegen herbei und schafften sich mit lauten Rufen Platz. Herrenlose Hunde und ein paar Ratten huschten zwischen den Beinen der Besucher umher, Fässer wurden gerollt, es wurde gerufen, angepriesen, gefeilscht, gelacht und gezetert.
Heute jedoch konnte Laura ihren Weg ohne Rempeleien fortsetzen. Ja, es schien ihr sogar, als wichen die Leute ihr aus. Eine Magd grüßte schüchtern und bekreuzigte sich gleich danach. Blieb Laura an einem Stand etwas länger stehen, so gingen die anderen Schaulustigen rasch weiter.
Schließlich war sie an dem Stand einer Olivenhändlerin angelangt. Verschiedene Kannen mit Öl standen auf der Auslage, eingelegte Oliven, mit Knoblauch oder Mandeln gefüllt, schwammen in Fässern.
»Gebt mir ein wenig von der besten Sorte Eures Öls zum Kosten«, bat Laura die Händlerin.
»Nehmt Euch. Nehmt die ganze Kanne. Dort, die ganz links ist es. Das beste Öl, das ich habe. Nehmt die Kanne, probiert zu Hause, so viel Ihr wollt, und geht weiter.«
Laura schüttelte verwundert den Kopf. Sie sah die Olivenhändlerin an, in deren Augen ebenfalls Furcht flackerte. »Warum wollt Ihr mir nicht ein wenig von dem Öl auf ein Stück Brot träufeln, damit ich es kosten kann? Vielleicht schmeckt es mir nicht. Was soll ich da mit der ganzen Kanne?«
»Nun, wenn es Euch nicht mundet, so schüttet es weg. Ich schenke Euch die Kanne. Nehmt sie und geht.«
Allmählich wurde es Laura zu viel. »Was ist hier los?«, fragte sie streng und sah der Händlerin dabei fest in die Augen. »Warum fürchtet Ihr Euch vor mir?«
Die Olivenhändlerin schüttelte hilflos den Kopf. Dann senkte sie den Blick und sagte leise: »Ich weiß, dass die Leute viel reden, wenn der Tag lang ist. Und ich weiß auch, dass die Hälfte davon ihrer Einbildungskraft entspringt. Ihr wart immer gut und freundlich, Signorina Laura. Doch wenn Ihr noch länger hier bei mir steht, so werde ich heute nichts verkaufen können. Bitte, geht weiter. Ich brauche das Geld, um Brot und Butter für meine Kinder kaufen zu können.«
»Wollt Ihr damit sagen, dass ich Euch die Kunden vertreibe?«, fragte Laura.
Die Olivenhändlerin nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Es muss nicht stimmen, was die Leute sagen. Aber viele glauben, was sie hören. Geht weiter, Signorina Laura, und nehmt Euch, was Euer Herz begehrt.«
Verwundert verließ Laura den Stand und ging langsam weiter. Jetzt bemerkte sie auch, dass die Menschen ihr aus dem Weg gingen. Eine alte Frau, die mit ein paar Eiern und einem dürren Huhn am Rand des Marktplatzes auf dem Boden saß, streckte ihr ein Kreuz entgegen. Eine andere schrie auf, als Laura im Vorübergehen ihren Ärmel streifte.
Kinder wurden von ihren Müttern fest an die Hand genommen, Lebensmittel, die sie geprüft hatte, verschwanden im Abfall. Ja, sogar die kleinen Beutelschneider und Taschendiebe hielten sich von ihr fern.
Inzwischen war sie am Ende des Marktes angelangt. Vor dem Eingang einer Kirche hatte ein Ablasshändler sich niedergelassen. Im Allgemeinen hielten die Sieneser ihr Geld zusammen und steckten eine Spende nur an den Sonn- und Feiertagen in den Klingelbeutel der Kirche. Doch heute drängte sich eine große Schar um den Ablasshändler. Es schien, als wäre ganz Siena damit beschäftigt, sich von seinen Sünden zu befreien. Als hätten alle Angst.
Laura ging näher. Als die Menschen sie bemerkten, bildeten sie eine Gasse, sodass Laura unbehelligt bis zu dem Händler vordringen konnte. Jetzt wollte sie es wissen.
»Verkauft mir einen Ablasszettel«, rief sie laut.
Der Händler sah sie an. Auch in seinen Augen erkannte Laura Furcht, doch die Gier und die Aussicht auf das beste Geschäft seines Lebens gewannen die Oberhand über den Fluchtinstinkt des Ablasshändlers.
»Wie viele Zettel braucht Ihr, Signorina? Der Papst lässt in Rom den Petersdom bauen. Jedes einzelne Geldstück kommt der Kirche zugute, helft Ihr doch, dem Herrn das größte und schönste Haus auf Erden zu bauen. Ihr könnt Euch von allen Sünden der Welt frei kaufen. Für ein gelogenes Wort zahlt Ihr einen Florin. Habt Ihr geflucht, so seid Ihr für zwei Florin dieser Sünde ledig. Diebstahl kostet fünf Florin, Gotteslästerung das Doppelte. Habt Ihr einen falschen Eid gesprochen, so erlangt Ihr für zwanzig Florin Vergebung, widernatürliche Unzucht und Kindstötung verzeiht der Herr für fünfzig Florin. Habt Ihr aber gemordet, so kostet Euch das zweihundert Florin.«
Beim letzten Satz stöhnte die Menge leise auf. Die Männer und Frauen drängten sich dicht aneinander. Sie hielten Abstand von Laura, doch gleichzeitig waren sie darauf versessen, sich nichts von dem entgehen zu lassen, was sich gerade hier vor ihren Augen abspielte. Laura sah denen, die vorn standen, nacheinander in die Augen. Sie erkannte die Sensationsgier, roch den Schweiß aus Angst, leisem Grauen und Faszination, sah hinter den Stirnen bereits die Worte, die sie bei nächster Gelegenheit der Nachbarin oder Gevatterin zum Besten geben würden.
Ein lüsternes, geiferndes Tier mit unzähligen Mündern, Augen, Armen und Beinen umstand Laura. Sie bekam Angst. Jetzt, im Angesicht der vielen Leute, in deren Augen sie Verachtung und Hass las, bekam sie Angst.
»Nein«, rief sie, schüttelte den Kopf und machte sogar mit den Händen abwehrende Bewegungen. »Nein, ich kaufe nichts. Ich habe keine Sünde begangen, die ich Gott nicht schon zu Gehör gebracht habe.«
»Lügnerin!« Das erste Wort flog wie ein Pfeil durch die Menschenmenge.
»Mörderin!«
»Bestie!«
»Du hast Orazio umgebracht!«
»Hure!«
»Todesengel!«
»Geliebte des Satans!«
»Geh zum Teufel!«
Von allen Seiten prasselten die Beschimpfungen auf Laura nieder. Sie sah sich um, breitete die Arme aus, rief: »Was habt Ihr nur? Was werft Ihr mir vor?«
Doch niemand hörte sie. Die Rufe wurden immer lauter, noch mehr Menschen kamen gelaufen, drängten sich in die Menge und stimmten ein in den Chor der Beschimpfungen.
Die Worte flogen Laura wie Steine um die Ohren. Sie stand mutterseelenallein in dem Kreis, den die Menschen um sie herum gebildet hatten, und zitterte vor Angst. Ihre Augen suchten in der Menge nach einem freundlichen Blick, doch vergebens. Hass, ohnmächtige Wut, Angst und Verachtung las sie, sonst nichts. Rasch hielt sie sich die Ohren zu, presste beide Hände fest dagegen, sodass aus den vielen Stimmen ein einziger murmelnder, keuchender Laut entstand. Sie sah aufgerissene Münder, Speichel, der von den Lippen troff, rote Zungen, die sie an leckende, alles verzehrende Flammen erinnerten.
»Nein!«, flüsterte sie. »Nein! Bitte nicht! Madonna, ich bitte dich, hilf mir!«
Doch die Madonna schien anderweitig beschäftigt. Schon flog die erste Tomate, traf Laura gegen die Brust und hinterließ einen hässlichen Fleck auf ihrem Kleid. Ein faules Ei zerbrach auf ihrem Kopf und sie spürte die zähe, stinkende Flüssigkeit über ihre Stirn laufen.
Eine Frau spuckte sie an, traf sie am Arm, eine andere warf mit Pferdemist nach ihr.
Die Menge schien außer Rand und Band zu sein. Laura nahm die Hände von den Ohren, versuchte mit den Armen, ihr Gesicht und die Brüste zu schützen, doch von allen Seiten prasselten jetzt verfaulte Lebensmittel auf sie ein.
Ein Kohlrabi traf sie an der Schläfe, sodass sie vor Schmerz leise aufstöhnte und ins Schwanken geriet.
»Nein«, schrie sie so laut sie konnte. »Nein! Hört auf! Ich habe Euch doch nichts getan!«
»Mörderin!«
»Hure!«
»Drecksstück!«, erscholl es von allen Seiten.
Laura ging in die Knie, duckte sich und schützte mit den Armen ihren Kopf. Sie sah unzählige Menschenbeine, die aufgeregt hin und her zappelten.
»Tötet sie!«, schrie plötzlich eine Frau. »Sie ist eine Hexe! Bindet sie und errichtet den Scheiterhaufen. Brennen soll sie und mit ihr alle Bosheit, die sie über die Stadt und über seine Bewohner gebracht hat.«
»Nein!«, schrie Laura gellend und in höchster Not, doch niemand schien ihr helfen zu wollen.
Schon spürte sie, dass jemand an ihrem Haar zog. Hände zerrten an ihren Armen und Kleidern, sie verlor das Gleichgewicht und wurde zu Boden gestoßen, Stiefelspitzen tanzten vor ihren Augen.
Gleich würden sie sie packen und schlagen. Gleich würden sie ihr Gewalt antun.
»Madonna, steh mir bei!«, flüsterte Laura. »Madonna, lass nicht zu, dass sie meinem Kind die Mutter nehmen.«
Sie sah, wie jemand mit den Füßen ihren Weidenkorb zertrampelte. Immer näher rückte die Menge, das große, gewaltige, stinkende Tier, das sie zu verschlingen drohte.
»Nein!«, schrie sie noch einmal, so laut sie nur konnte, dann schloss sie die Augen und wartete auf den ersten Schlag, den ersten Tritt.
»Schluss jetzt!«, hörte sie plötzlich eine bekannte Stimme rufen. »Seid ihr von Sinnen?«
Die Stimme dröhnte so laut, dass die Menge leiser wurde und schließlich verstummte.
»Weg mit euch! Schert euch nach Hause!«
Schläge von Knüppeln waren zu hören. Laura spürte, dass die Schritte sich entfernten, die Menge zurückwich. Doch sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen, und krümmte sich stattdessen noch mehr auf dem Boden zusammen.
Dann spürte sie, wie eine Hand vorsichtig über ihr Haar strich. »Laura, es ist vorbei. Komm, ich helfe dir hoch!«
Es war Mimmo, der so ruhig und leise, so sanft und freundlich auf sie einredete. Laura öffnete die Augen und weinte vor Erleichterung, als sie das vertraute Gesicht ihres Schwagers vor sich sah.
Er lächelte sie an, doch in seinen Augen las sie große Besorgnis. Er hielt ihr seine Hand hin: »Komm, steh jetzt auf, Laura. Es ist vorbei. Ich bringe dich ins Rathaus.«
Mühsam und noch ganz benommen von der Angst und dem Schrecken, rappelte sich Laura hoch. Mehrere Bedienstete des Questore waren noch immer damit beschäftigt, die Menge auseinander zu treiben.
Neben ihr aber stand der Bischof Filieri und betrachtete sie mit besorgter Miene.
»Kommt, Kind, ich bringe Euch ins Rathaus. Dort seid Ihr erst einmal sicher.«
Mit schwankenden Schritten und von Mimmo und dem Bischof gestützt, gelangte Laura ins Rathaus.
Mimmo brachte ihr einen Becher Wasser, während sie im großen Saal, der um diese Zeit einsam und verlassen lag, ihre Kleidung notdürftig in Ordnung brachte. Erschöpft sank sie auf einem Lehnstuhl nieder.
Laura brauchte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatte. Dann erst fragte sie, die Tränen nur mit Mühe zurückhaltend: »Was ist geschehen? Warum hassen mich die Menschen plötzlich so? Ich habe doch nichts getan! Was ist nur los?«
Der Bischof seufzte und setzte sich neben sie. Er nahm ihre Hand und tätschelte sie väterlich.
»Angelo da Matranga ist krank. Heute Morgen ist er nicht ins Rathaus gekommen. Es heißt, er liegt danieder, unfähig aufzustehen, unfähig sogar, sich nur zu bewegen.«
»Wie? Was ist mit ihm? Ich muss auf der Stelle in den Palazzo«, rief Laura. Sie hatte vollkommen vergessen, dass sie eben erst der grausamen Menge entkommen war. Sie sprang auf und wollte in Richtung Tür laufen, doch der Bischof hielt sie am Arm zurück.
»Bleibt, Laura. Ich habe mit Euch zu reden. Ihr könnt im Augenblick nicht einfach draußen umherlaufen. Es ist zu gefährlich für Euch.«
»Was ist denn nur los? Madonna, was ist geschehen?«
»Setzt Euch und hört mich an«, befahl der Bischof. Er hielt Laura an der Hand und drückte sie auf den Stuhl zurück. »Wie gesagt, der Bürgermeister liegt krank danieder. In der Stadt geht das Gerücht, Ihr hättet ihn vergiftet. Auch Orazios Tod wird Euch nun zugeschrieben. Man sagt, Ihr hättet Ihn getötet, um für Euren eigenen Sohn Angelino das Erbe der da Matrangas zu sichern.«
Laura schüttelte fassungslos den Kopf und sah mit großen Augen von Mimmo zum Bischof und wieder zurück. »Wie bitte?«, war alles, was sie sagen konnte.
Der Bischof nickte. »Ja, so reden die Leute, die es einfach nicht besser wissen. Die Leute, die ihren Verstand nicht im Kopf haben. Unglücklicherweise sind sie in der Überzahl.«
»Ich liebe Angelo. Niemals würde ich seinen Sohn töten können.«
»Ich weiß, dass Ihr es nicht gewesen seid, Laura. Aber die Leute glauben es, und so seid Ihr derzeit in großer Gefahr. Es heißt auch, dass Ihr Angelo da Matranga vergiften wollt, weil er Euch verstoßen und sich Eurer Lehrerin Circe da Volterra zugewandt hat. Ich habe keine Ahnung, was dies alles zu bedeuten hat. Aber ich befürchte, wir müssen schnell dahinter kommen, ehe ein großes Unglück geschieht.«
»Wer hat dieses Gerücht gestreut?«, fragte Laura, die sich nur langsam wieder fasste.
Der Bischof zuckte mit den Schultern. »Ihr wisst doch, wie so etwas geht. Lässt jemand am einen Ende der Stadt einen Furz, so spricht man am anderen Ende von einem Donnerhall der Hölle. Wenn Ihr nach der Quelle solcher Gerüchte sucht, so müsst Ihr Euch fragen, wer einen Vorteil davon hat.«
Lauras Augen füllten sich mit Tränen. »Wer ist denn so niederträchtig?«, fragte sie hilflos, obwohl sie die Antwort bereits ahnte. Sie schwieg eine Weile. »Was soll ich jetzt tun?«, fragte sie schließlich.
Der Bischof tätschelte ihr die Hand. »Macht Euch keine Sorgen. Ich werde Euch in das Haus der Witwe Baldini bringen. Sie ist eine kluge Frau, die weiß, dass Ihr weder mit Orazios Tod noch mit der Krankheit des Visconte etwas zu schaffen habt.«
»Und Angelo? Wer kümmert sich um ihn?«
»Nun«, erwiderte der Bischof, und seine Stimme bekam wieder diesen besorgten Klang. »Im Augenblick ist Circe da Volterra bei ihm.«
»Nein!«, schrie Laura, riss sich los und wollte wieder zur Tür laufen. Diesmal war es Mimmo, der sie zurückhielt und sie wieder auf ihren Platz brachte.
»Eure Reaktion überrascht mich«, sagte der Bischof und sah sie aufmerksam an. »Ich dachte, Eure Lehrerin genießt Euer vollstes Vertrauen. Oder ist doch etwas dran an den Gerüchten, die besagen, Angelo da Matranga wolle sie an Eure Stelle setzen?«
»Ich weiß es nicht, Bischof«, erwiderte Laura matt und vor Mutlosigkeit plötzlich wie gelähmt. »Ich weiß es wirklich nicht. Doch ich gäbe alles, um herauszufinden, was in dieser Stadt und im Palazzo des Visconte vor sich geht.«
»Erst einmal braucht Ihr Ruhe. Kommt, ich bringe Euch jetzt zur Witwe Baldini.«
Doch Laura war erst zum Gehen bereit, als Mimmo ihr versichert hatte, den kleinen Angelino auf der Stelle von zu Hause zu holen und ebenfalls in das Haus der Witwe Baldini zu bringen.