Erstes Kapitel

Die Turmuhr des Torre del Mangia auf der Piazza del Campo in Siena schlug die achte Stunde. In den Häusern, die den muschelförmigen Platz umstanden, den schönsten Platz Italiens, wenn nicht gar der Welt, verloschen allmählich die Lichter in den Kontoren und Faktoreien, in den Werkstätten und Läden, während in den Wohnzimmern die ersten Kerzen aufflackerten.

Nur aus dem großen Saal des Palazzo Pubblico, des Rathauses, drangen schmale Lichtstreifen zwischen den geschlossenen Holzläden hervor.

Zwei Nachtwächter, die mit brennenden Fackeln ihre Runde drehten, blieben stehen und sahen neugierig hinauf.

»Man erzählt sich«, sagte der eine, »dass der Visconte Angelo da Matranga in diesem Jahr eine ganz besondere Aufführung zu Ostern plant. Seit Allerheiligen üben die Künstler schon, doch da Matranga ist noch immer nicht zufrieden.«

»Bis Ostern sind es noch acht Wochen.« Der andere winkte beruhigend ab. »Der Visconte hat es bis jetzt in jedem Jahr geschafft, ganz Siena mit seiner Aufführung zu überraschen, und ich bin sicher, er wird uns auch in diesem Jahr nicht enttäuschen.«

Die beiden Männer verharrten noch einen Augenblick und lauschten, doch die Fenster des Palazzo Pubblico waren so fest geschlossen, dass sie nicht einen einzigen Laut hören konnten. Die Männer zuckten mit den Schultern und schickten sich an, die Stadt in die Nacht zu begleiten, doch im großen Rathaussaal herrschte noch reges Treiben.

Der Saal war weniger als zu einem Viertel gefüllt. In den Logen saßen ein paar Leute, Mitglieder des Rates, und sanken mit jeder halben Stunde tiefer in die granatroten Polster der Stühle. Zwei schliefen mit offenen Augen, einer hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und schnarchte leise.

Im Saal herrschte diffuses Dämmerlicht. Nur jede zweite Fackel brannte an den Wänden, der große schwere Leuchter hing mit erloschenen Kerzen von der Decke. Lange Schatten lagen unbewegt über dem Saal. Vorn stand eine Gruppe von Frauen und Männern. Sie wisperten, summten und tuschelten wie ein Bienenschwarm. Hin und wieder stieg eine Kaskade glockenhellen Gelächters hinauf zum bemalten Deckenfries des Saales, der ebenfalls im Halbdunkel lag.

Die Tür ging auf, und der Windzug bewegte die Schatten, sodass der gemalte Löwe des Frieses plötzlich lebendig und zum Sprung bereit wirkte, ein tödliches Funkeln in den Augen.

Der Saaldiener schwenkte ein Glöckchen, die Männer in den Logen erwachten, beugten sich vor, die Arme auf das Geländer gestützt.

Die Gruppe vorn im Saal löste sich auf, formierte sich neu, bis auf der einen Seite die Männer standen und auf der anderen die Frauen.

Musiker stimmten ihre Instrumente. Eine Laute wurde gezupft, am Spinett eine Taste angeschlagen, die Mohrenpauke geklopft, die Schalmei an den Mund gehoben, in die Flöten geblasen. Ein Tamburin schwang klirrend und klingelnd. Wie Nebel stiegen die Töne auf, ein dunkler Nebel aus krächzenden, klopfenden und quietschenden Lauten, der sich bald lichtete und zur Melodie wurde.

Angelo da Matranga schritt herein, hob den Taktstock und betrachtete jedes einzelne Mitglied seines Chores aus den schwarzen Augen, die von buschigen Brauen beschirmt waren. Der Chor zeigte konzentrierte Gesichter. Hier und da räusperte noch jemand die Stimme frei, dann hob Angelo da Matranga den Taktstock. Die wenigen Zuhörer in den Logen beugten sich ein wenig weiter nach vorn, als die Musik einsetzte. Die Altistinnen nahmen den Ton auf und führten die Melodie zu den Sopranistinnen, welche sie in die höchste Höhe trieben und wieder hinab, bis sie von den Baritonen aufgefangen und an die Tenöre weitergereicht wurde.

»Halt! Aufhören!«

Angelo da Matranga ließ den Taktstock sinken und runzelte die Stirn. »Euer Gesang klingt wie ein Ritter, der in voller Rüstung vom Gaul stürzt. Und die Musiker sind auch nicht besser. Noch einmal von vorn.«

Ein leises, gemeinschaftliches Seufzen aus nahezu vierzig Kehlen füllte den Raum, dann hob der Gesang erneut an. Diesmal war der Visconte zufrieden. Er schloss die Augen, schwelgte in den Klängen, wiegte die Schultern hin und her. Sein voller Mund hatte sich zu einem Lächeln verzogen.

Eine Sopranistin trat vor, blickte zum Maestro und setzte zu einem Solo an. Die ersten Töne klangen durch den Saal, da riss Angelo da Matranga erschrocken die Augen auf. Sein Gesicht war so verzerrt, als stünde er alle Qualen der Hölle aus.

»Was ist das?«

Die Frage war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Plötzlich war alles still im Saal. Nur die Fackeln knisterten leise, in der Loge knarrte ein Lehnstuhl.

»Was ist das?«, wiederholte der Visconte. Er hatte die linke Hand hinter das Ohr gelegt, sein Gesicht zeigte noch immer Entsetzen.

Aus den Reihen der Männer löste sich eine vierschrötige Gestalt mit der Figur eines Jahrmarktgauklers.

»Die Sopranistin liegt im Krankenbett. Es geht ihr nicht gut. Wir haben schon eine Messe lesen lassen, damit sie am Leben bleibt. Ersatz haben wir keinen. Gianna war die Einzige, die den Mut hatte, heute diesen Part zu singen.«

Der Visconte nickte. Dann nahm er die Hand vom Ohr und zwang sich ein Lächeln ab. »Danke, Gianna. Ihr habt es wohl so gut gemacht, wie Ihr konntet.«

»Ja, das habe ich, Visconte Angelo.«

Der Bürgermeister von Siena trat einen Schritt zurück und betrachtete jede einzelne Sängerin seines Chores.

Der Geruch der zahlreichen verschiedenen Duftwässer, Haaröle, Seifen und Schminkpasten, vermischt mit dem Schweiß der Leiber, machte ihn ein wenig benommen.

Es war heiß im Saal, stickig und schwül. Am liebsten hätte Angelo da Matranga die Fenster aufgerissen, doch das ging nicht.

Er sah Hilfe suchend zu den dunkelroten Samtvorhängen, die das Muster der gepolsterten Lehnstühle aufnahmen, und seufzte.

»Es ist heiß«, sagte er und zerrte ein wenig am Kragen seines Wamses.

»Wer von Euch etwas ablegen kann, der soll es tun. Wer schwitzt, kann nicht gut singen.«

Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da wurden Wämser geöffnet, Schultertücher abgelegt, Mieder gelockert. Wieder stieg ein Duft nach heißen Leibern in Angelo da Matrangas Nase, sodass ihm beinahe schwindelig wurde. Es war unerträglich stickig hier. Die Luft war so schwül wie am Abend nach einem langen Sommertag, wenn die Gewitterwolken über den Hügeln der Toskana aufzogen.

Am liebsten hätte er sein Wams ganz und gar abgelegt, sich in einen der Lehnstühle gesetzt, die Beine weit von sich gestreckt, den Kopf nach hinten gebeugt.

Er liebte diesen Geruch, der entstand, wenn viele Frauen beieinander waren. Dieser typische Duft der Frauen, eine Mischung aus Rosen- und Pfirsichkernöl, Lavendelseife und Birkenwasser, gemischt mit flüchtigen Küchengerüchen und dem typisch weiblichen Aroma nach Milch und Honig. Der Geruch und die unbeschreibliche Stickigkeit im Saal machten ihn träge.

Angelo da Matranga nahm ein Tüchlein und wischte sich damit über den Nacken, senkte den Kopf dabei und machte ein paar Grimassen, um die Trägheit abzuschütteln.

Dann richtete er sich auf und sagte: »In acht Wochen findet unser großes Passionsspiel auf dem Campo statt. Nicht nur aus der Stadt werden Besucher kommen, nein, aus der ganzen Republik. Vertreter aus Lucca, San Gimignano, Montepulciano und sogar aus Florenz werden erwartet. Wir brauchen bis dahin einen Sopran, der so rein und hell klingt wie der Gesang eines Engels. Was tun wir?«

Die Choristen standen da und zuckten ratlos mit den Schultern. Wieder wogte das Tuscheln, Wispern und Summen wie eine Welle durch den Saal. Doch niemand hatte einen Vorschlag, und schon bald brach das Stimmengewirr ab und Stille kehrte ein. Eine Stille, die lauter dröhnte als Kanonendonner. Die Passionsspiele waren in Gefahr! Für Siena gab es nichts Schlimmeres. Ein Osterfest ohne die opulenten Aufführungen wäre wie ein Himmel ohne Sterne. Schlimmer noch als ein Krieg. Ratlosigkeit machte sich breit. Die Solosopranistin würde niemals bis zum Osterfest wieder singen können. Sie musste froh sein, wenn sie mit dem Leben davonkam. Die Sänger sahen die Sängerinnen an, schüttelten leicht den Kopf. Nein, es gab keine Frau im ganzen Chor, die in der Lage war, die Solistin zu ersetzen. Doch eine Aufführung ohne Solosopran war ebenfalls undenkbar. Nicht nur die Sieneser warteten darauf, sondern die ganze Republik. Die örtlichen Passionsspiele waren eine der wenigen Gelegenheiten, der großen Rivalin Florenz Paroli zu bieten. Es ging nicht nur um das Solo, es ging um den Stolz einer Stadt, einer ganzen Region. Ein nationales Unglück war es für die Republik Siena, dass die Solistin elend im Krankenbett lag. Acht Wochen bis Ostern. Nur noch acht Wochen! Woher sollte man so schnell eine neue Sängerin bekommen? Und noch dazu eine mit einer engelsgleichen Stimme? Nein, die Passionsspiele waren verdorben, die Republik Siena von einer Katastrophe bedroht.

»Weiß denn niemand einen Rat?«, fragte der Visconte. Seine Stimme klang so betrübt, dass die Chormitglieder die Köpfe hängen ließen und die Musiker die Instrumente absetzten. Aus der allgemeinen Ratlosigkeit wurde langsam Verzweiflung.

Ein Räuspern durchbrach die Stille. Angelo da Matranga wandte den Kopf. Es war der Saaldiener, der auf einer Wandbank neben der zweiflügeligen Tür hockte und nichts anderes zu tun hatte, als die Fackeln am Brennen zu halten.

»Ja?«, fragte der Visconte.

»Nichts, Herr. Verzeiht, Herr. Mir kam flüchtig ein Gedanke, doch er ist es nicht wert, ausgesprochen zu werden.«

»Sag, was du gedacht hast, Saaldiener. Wir sind in Not. Ganz Siena ist in Not. Wir brauchen jeden Gedanken, jeden Einfall. Du bist doch ein echter Sohn der Sieneser Republik?

»Jawohl, Herr, das bin ich. Ein Sieneser von echtem Schrot und Korn. In Stücke würde ich mich hauen lassen für meine Heimat.«

»Gut. Dann stelle hier deinen Mut unter Beweis und sprich aus, was du gedacht hast. Wenn dein Einfall nichts taugt, so haben wir nichts verloren. Ist er aber gut, so hast du womöglich geholfen, das Ansehen der Stadt zu retten.«

Der Saaldiener blickte schamhaft zu Boden, kratzte mit seinem Stiefel über das polierte Holz, stammelte dann: »Nun, ich dachte... aber nein, es ist dumm ...Vielleicht möchten der Visconte einmal... nein, ich bitte um Vergebung.«

»Sprich dich aus. Ich höre dir gern zu.«

Der Saaldiener sah mit gehetzten Blicken durch den Saal. Sein Mund stand einen Spalt offen, und er leckte sich mit der Zunge immer wieder aufgeregt über die Lippen. Vor so vielen Leuten zu sprechen brachte ihn in die größte Verlegenheit.

Der Visconte bemerkte die Qual des Mannes. Er verließ seinen Platz vor dem Chor und trat zu dem Saaldiener. Dann setzte er sich neben ihm auf die Bank und wartete geduldig.

Auch die anderen standen ruhig da und sahen den Mann freundlich an. Nur eine Frau war hervorgetreten.

»Los doch, Mimmo«, rief sie, aber der Visconte gebot der Frau Schweigen.

Langsam hob der Diener den Kopf. »Meine Frau gehört auch zu Eurem Chor«, sagte er schließlich. »Gianna heißt sie, sie hat vorhin gesungen. Vor kurzem haben wir ihre jüngere Schwester zu uns nehmen müssen. Laura. Sie kommt aus der Maremma, weiß so gut wie nichts vom Leben in der Stadt. Eine Gastwirtstochter war sie. Ist sie noch. Kann nicht lesen und schreiben.«

Im Saal wurde es unruhig. »Komm auf den Punkt, Mimmo«, rief einer dem Saaldiener zu.

»Auf den Punkt, ja, also. Laura, meine kleine Schwägerin, sie hat eine Stimme wie ein Engel. Selbst die Vögel verstummen, wenn sie singt.«

Wieder ließ Mimmo den Kopf schamvoll sinken. Doch der Visconte legte ihm einen Arm um die Schulter.

»Wie alt ist sie, deine kleine Schwägerin?«, fragte er.

»Siebzehn wird sie im nächsten Monat.«

»Und du meinst, sie hätte vielleicht Spaß daran, in unserem Chor mitzusingen?«

Mimmo sah hoch und suchte mit den Blicken nach seiner Frau. Auch der Visconte sah zu Gianna.

»Oh, Lust wird sie haben, keine Frage. Sie tut den ganzen Tag nichts anderes als singen. Aber sie kommt vom Land.«

»Was meint ihr damit?«

Gianna zuckte mit den Achseln, Mimmo schaute wieder auf den Boden.

»Sie ist, wie soll ich sagen, sie ist halt ein Kind von einfachen Leuten. Schankwirt war mein Vater, die Mutter hat ihm in der Wirtsstube geholfen. Laura ist vollkommen ungebildet, kennt sich auch mit den Manieren am Hof und den Sitten in der Stadt nicht aus.«

Der Visconte lächelte. »Habt keine Sorgen, ihr guten Leute. Wenn sie singen kann, ist alles gut. Den Rest kann sie lernen, wenn sie mag.« Er schlug Mimmo auf die Schulter. »Wo ist sie jetzt?«

Gianna antwortete: »Zu Hause. Wo sollte ein Mädchen in diesem Alter sonst sein? Ich habe ihr ein paar Leinentücher zum Sticken hingelegt. Sie achtet auf unsere beiden Kleinen. Das hoffe ich zumindest.«

»Hm.«

Der Visconte Angelo da Matranga überlegte. »Eure Kleinen schlafen sicher, nicht wahr?«

Gianna nickte. »Das will ich meinen.«

»Könnte Mimmo nicht rasch nach Hause laufen und Laura holen? Wir singen derweil die Chorlieder noch einmal durch. Ich möchte zu gern ihre Stimme noch heute hören.«

»Natürlich kann Mimmo sie holen«, sagte Gianna an Stelle ihres Mannes. »Wenn Ihr, Visconte, es wünscht, so wird sie in einer halben Stunde hier sein.«

Angelo da Matranga stand auf. »Gut. So soll sie kommen.«

Er nickte Mimmo zu, der aufgestanden war und noch einen prüfenden Blick auf die Fackeln warf, bevor er den Saal verließ.

Angelo da Matranga aber stellte sich zurück an seinen Platz vor den Chor, gab den Musikern ein Zeichen, hob den Taktstock, und der Gesang begann von neuem. Noch waren die Anspannung und die Angst nicht von den Sängern und Musikanten abgefallen, doch ein leiser Hoffnungsschimmer beflügelte ihre Stimmen.

Die Herren in der Loge hatten das Gespräch voller Neugier verfolgt.

Antonio Filieri, der Bischof von Siena, lehnte sich in den Lehnstuhl zurück und flüsterte Damiani Sticci, dem Ratsmitglied und Vorsitzenden der Kaufmannschaft, zu: »Ich bin sicher, der Visconte weiß nicht, was er tut. Eine ungeschliffene Bauerndirne singen zu lassen, das wäre ja so, als würden beim nächsten Palio keine Pferde, sondern Esel laufen.«

»Abwarten«, erwiderte Damiani Sticci. »Unter manchem Misthaufen wurde schon ein Schatz gefunden.«

Von draußen verkündeten die Glocken des Torre del Mangia die neunte Stunde. Sticci erhob sich, zog sein Wams glatt. »Ich muss gehen«, sagte er. »Dringende Geschäfte.«

Der Bischof grinste. »Um diese Zeit noch?«

Sticci erwiderte seinen Blick und sagte: »Ich bin sicher, auch Ihr, Bischof, werdet bald das Rathaus verlassen. Man sagt, die Witwe Baldini speist nie vor zehn Uhr zu Abend.«

»Haha, hoho!«, lachte der Bischof keckernd und stieß Sticci leicht mit dem Ellbogen in die Seite. »Ihr meint wohl auch, ein gutes Essen sei die Erotik der Bischöfe und Kirchendiener, was? Wenn Ihr Euch da mal nicht täuscht!«

Sticci wusste ganz genau, dass der Bischof nicht nur zum Essen zur Witwe Baldini ging, doch es war ihm wichtig gewesen, dem Bischof mitzuteilen, dass er um dessen Liaison wusste. Im letzten Herbst erst hatte der Bischof ausschließlich den Wein von den Gütern der Baldini für die Kirchen Sienas eingekauft. Nun, in diesem Jahr wollte Sticci wieder mit dabei sein. Schließlich war der Wein seiner Berge nicht weniger dünn und sauer als der gute Tropfen der Witwe Baldini.

Aber der Bischof war auch nicht auf den Kopf gefallen.

»Nun, Sticci, so richtet Marissa Barbetta meine besten Empfehlungen aus. Ihr Kleiner – ich sah ihn kürzlich in der Klosterschule – ist Euch wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Sticci knurrte ein wenig, doch dann verzog er den Mund zu einem amüsierten Lächeln. »Ihr seid ein kluger Hund, Bischof.«

Antonio Filieri winkte ab. »Man muss nicht sonderlich helle sein, um zu wissen, dass ein jeder, der es sich leisten mag, eine Kurtisane unterhält. Man kann eben nicht nur von Geld und Gold leben.«

»Ihr sagt es«, lachte Stic ci, schlug dem Bischof auf die Schulter, verbeugte sich und verließ die Loge.

Der Bischof räkelte sich noch ein wenig in seinem Lehnstuhl, doch der Gesang ging ihm mittlerweile auf die Nerven. Schon zum zehnten Mal hintereinander sang der Chor nun dasselbe Lied. Einschläfernd war es, aber zum Schlafen einfach zu laut. Dazu diese stickige Luft, die einen Mann immerzu auf andere Gedanken brachte! Bis hier hoch zu den Logen strömte der Geruch der Weiber und brachte ihn noch ganz um den Verstand. Mühsam, seltsam erregt und träge zugleich, stemmte der Bischof seinen massigen Leib aus den Polstern, klopfte mit den Fingerknöcheln kurz auf das Geländer, sodass Angelo da Matranga sich umwandte und ihm zunickte. Dann schlurfte er davon und war vollauf mit der Frage beschäftigt, ob er nun vor dem Essen oder danach ein Nickerchen in den weichen Armen der Witwe Baldini halten sollte.

Er hatte die Piazza del Campo noch nicht verlassen, da kam ihm Mimmo mit seiner Schwägerin entgegen. Als sie auf gleicher Höhe mit dem Bischof waren, grüßten beide artig.

Der Bischof aber blieb stehen, die Kinnlade fiel ihm herab, und er starrte den beiden verblüfft nach. Erst als sie sich in der Dunkelheit verloren, klappte er den Mund wieder zu. »Gottsdonner«, entfuhr es ihm. »Was für ein Weib!«

Plötzlich hatte er es eilig, zur Witwe Baldini zu kommen. Die vielen Weiber im Saal und nun noch dieses Gotteskind, das aussah wie die Venus von Botticelli, das war zu viel für einen Mann wie ihn. Sein Fleisch pochte schmerzhaft und verlangte dringend nach Erleichterung.

»Gottsdonner«, murmelte er noch zwei oder drei Mal vor sich hin, dann hatte er das Haus der Witwe Baldini erreicht, die sich noch Stunden später über die plötzlich erwachte Leidenschaft ihres Liebhabers nicht genug wundern konnte.

Mimmo und Laura aber betraten den Rathaussaal genau in dem Augenblick, als der Chor sein letztes Lied gesungen hatte.

Das Knarren der zweiflügeligen Holztür und das Flackern der Fackeln kündigte ihre Ankunft an.

Angelo da Matranga ließ den Taktstock sinken und sah zur Tür. Um ein Haar wäre es ihm gegangen wie dem Bischof. Er hatte Mühe, den Mund vor Staunen nicht sperrangelweit aufzureißen. Doch der Anblick des Mädchens überraschte ihn nicht nur, nein, er überwältigte ihn beinahe. Laura war groß, erreichte fast die Größe eines ausgewachsenen Mannes. Stolz wie eine Amazone stand sie da, nur die Augen hielt sie schüchtern zu Boden gesenkt. Ihr langes rotbraunes Haar reichte ihr bis zur Hüfte. Das Gesicht war oval. Die zarten Nasenflügel bebten wie bei einer nervösen Stute, die vollen Lippen zitterten leicht. Eine leise Röte hatte sich vom Gesicht über den Hals bis zum Busen ausgebreitet und ließ die Haut schimmern wie kostbarer rosa Marmor aus den Brüchen von Carrara. Um den Hals trug sie ein kleines billiges Silberkettchen, das sich auf ihrem üppigen Busen hob und senkte wie ein Segelschiff auf stürmischen Wogen.

Sie trug ein einfaches graues Kleid, das die Farbe ihrer Augen zum Leuchten gebracht hätte, wenn sie endlich einmal aufgeschaut hätte. Doch das tat sie nicht.

Sie wechselte lediglich vom Spielbein auf das Standbein, und für einen Augenblick zeichneten sich die festen, üppigen Schenkel unter dem Stoff des Kleides ab. Um die Taille trug sie einen Gürtel, der die Kurven der Hüften ohne es zu wollen ganz besonders betonte. Das Kleid schmiegte sich an die Rundungen wie die Hügel der Toskana an den tief hängenden Himmel eines Herbsttages.

»Guten Abend, Laura«, sagte Angelo da Matranga und bemerkte mit Erstaunen, dass seine Stimme erstaunlich heiser klang. Er räusperte sich.

Das Mädchen hob den Kopf und sah ihn an. Und in diesem Augenblick überkam den Visconte die ganze Schwere der stickigen Luft. Seine Knie wurden weich, die Gedanken zerfaserten in seinem Kopf. Die Kehle wurde ihm so eng, dass er meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Mit einer Hand riss er am Kragen seines Wamses.

»Komm ein Stück näher!«, krächzte er und streckte die Hand nach ihr aus.

Laura lächelte und zeigte dabei eine Reihe perlweißer Zähne. Zögernd und nach Gianna Ausschau haltend, trat sie einen Schritt nach vorn.

Wieder räusperte sich der Visconte, ohne dass seine Stimme die normale Tonlage wiederfand. Das Zittern seiner Knie hatte nun den ganzen Körper erfasst, die Hitze des Saales sein Blut erreicht. In seinem Kopf drehte sich alles; er ließ sich in einen Lehnstuhl fallen und fingerte nach seinem Tuch, um sich den Schweiß abzutupfen.

Laura stand vor ihm und betrachtete ihn mit Neugier und Scheu.

Ein drittes Mal räusperte sich der Visconte. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Blick von dem prachtvollen Mädchen zu lösen, das seinen Vorstellungen vom Urweib an sich gefährlich nahe kam. Er suchte Halt in den bekannten Gesichtern seiner Chorsänger, atmete einmal tief ein und aus, ohne dass sein Schwindel nachließ, und sagte dann: »Wir sind für heute fertig. Ich werde mit Laura allein üben. Sie ist, wie ihr seht, ein wenig schüchtern. Ich möchte sie nicht in Verlegenheit bringen, indem ich sie vor euch allen singen lasse.«

Die Männer und Frauen nickten. Auch sie hatten unverwandt auf diese Venus gestarrt, die Botticelli mit dem Pinsel nicht schöner hätte malen können. Die Männer schluckten und fuhren sich durch das Haar, die Frauen lächelten vage und zupften an ihren Kleidern, ohne dadurch dem Glanz des Mädchens auch nur um einen Deut näher zu kommen.

Der Visconte hatte sich inzwischen wieder ein wenig gefangen. »Ist dir das Recht, Laura?«, fragte er und erbat sich mit einem Blick auch von Mimmo die Erlaubnis.

»Ich werde warten, bis Ihr fertig seid«, kündigte der Saaldiener an, doch der Visconte schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig, Mimmo. Begleite deine Frau nach Hause. Ich werde dafür sorgen, dass Laura später sicher den Weg zu euch findet. Macht euch keine Sorgen.«

Dann sah er zu Laura, die noch immer kein Wort gesprochen hatte. Mit der Hand wies Angelo auf den Lehnstuhl neben sich und forderte das Mädchen damit auf, sich neben ihn zu setzen, während die anderen ihre Tücher und Umhänge nahmen und leise aus dem Saal verschwanden.

Auch die Musiker packten ihre Instrumente ein, und mit einem Mal bekam es der Visconte Angelo da Matranga regelrecht mit der Angst zu tun.

Brennendes Schicksal
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