Sechsundzwanzigstes Kapitel
Die Straßen lagen in völliger Dunkelheit, als Circe da Volterra durch die stille Stadt hastete.
Von nirgendwo war ein Geräusch zu hören. Selbst aus den Tavernen drang kein Lärm, doch Circe da Volterra bemerkte nichts davon.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Gleich würde sie die Stadt Siena ihrem Untergang preisgeben. Doch sie wollte nicht daran denken. Mit aller Kraft versuchte sie, sich das Bild ihrer Kinder vor Augen zu holen. Silvio und Giovanna. Sie hatte die beiden seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Ihr Herz zog sich vor Sehnsucht nach ihnen zusammen.
Circe war sich darüber im Klaren, dass sie im Begriff stand, Hochverrat zu begehen. Sie wusste, dass sie damit den Menschen, die sie in Siena lieb gewonnen hatte, Schaden zufügen würde. Und doch blieb ihr keine andere Wahl.
Ich habe nicht nur meinen Körper verkauft, nein, nun auch meine Seele. Gott wird mich dafür strafen. Und ich werde diese Strafe annehmen, denn ich habe sie verdient.
In einiger Entfernung hörte sie das Wiehern eines Pferdes. Sie hielt inne, doch sie lauschte nicht weiter nach dem Geräusch. Der Gedanke an die Schuld, die sie auf sich geladen hatte, verschloss ihr Augen und Ohren.
Ich bin verdammt, dachte sie, doch Gott weiß, dass ich keine andere Wahl hatte.
Sie hatte das Stadttor erreicht. Das Tor war von innen mit einem schweren Riegel verschlossen, der dazu diente, bei Gefahr entfernt zu werden. Jeder unrechtmäßige Gebrauch zog eine Strafe nach sich.
Die Sieneser sind vertrauensselig, dachte Circe. In jeder anderen Stadt wären die Tore bewacht und mit Schlössern versehen. Sind sie nicht selbst schuld an dem, was ihnen gleich widerfahren wird?
Nein, das sind sie nicht, lauteten ihre nächsten Gedanken. Es gibt in allen Städten ein Tor, das jederzeit geöffnet werden kann. Schließlich könnte ein schweres Feuer ausbrechen, und es wäre fatal, müsste dann erst ein Schlüssel gesucht werden.
Sie wusste, dass ihre Gedanken albern und ein wenig wirr waren, doch sie steckte in einer Lage, in der sie nicht mehr klar denken konnte. Silvio und Giovanna, diese beiden Namen bestimmten ihr Handeln. Allein das Leben ihrer Kinder zählte noch für Circe. Was mit ihr geschah, war ihr gleichgültig. Ohnehin würde sie nicht leben können mit der Schuld am Untergang Sienas und am Tod des Visconte Angelo da Matranga.
Sie würde ihre Kinder guten Leuten anvertrauen und ihnen das Geld geben, welches ihr heute vom Notar auf dem Landgut zugesichert worden war. Ja, wenn Silvio und Giovanna erst in Sicherheit waren und für sie gesorgt war, dann würde Circe sich ihrem Gott stellen. Und sie würde sich selbst richten. Ihr Leben bedeutete ihr nichts mehr. Seit dem Trentuno hatte sie keinen glücklichen, unbeschwerten oder gar sorgenfreien Tag verlebt. Sie war müde, so unendlich müde der Sorgen und des Kummers, der Demütigungen und Verstümmelungen ihres Körpers und ihrer Seele.
Nur das Stadttor musste sie noch öffnen, dann würde Alvaro del Gerez ihr die Kinder geben. Nur wenige Tage noch musste sie die unerträgliche Mühsal des Lebens ertragen. Bald schon durfte sie ausruhen. Für immer.
Mit der ganzen Kraft, die noch in ihr wohnte, stemmte sie sich gegen den schweren Eisenriegel, der mit leisem Quietschen nachgab.
Sie hörte die Männer auf der anderen Seite des Tores, konnte spüren, wie sie sich gegen die Tür drängten. Noch ein kleines Stück, ein winziges Stück nur, dann war der Riegel beiseite geschoben, und die Florentiner konnten Siena einnehmen.
Sie stöhnte, hielt inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann stemmte sie sich erneut gegen den Riegel.
Das Geräusch, als Eisen gegen Eisen schlug, gellte ihr in den Ohren, obwohl es nur ein verhaltener Laut war, der auf der anderen Seite schon nicht mehr zu hören gewesen sein konnte.
Sie sprang zur Seite, und gleich darauf wurde das Tor aufgedrückt und unzählige Reiter drängten, angeführt von Alvaro del Gerez, in die Stadt.
Doch was war das?
Plötzlich sahen sich die Florentiner einer ungeheuren Anzahl von Sienesern gegenüber. Handwerker führten Hämmer und Äxte bei sich, Bauern schwangen drohend ihre Mistgabeln, ein Stück weiter hinten sah man Kämpfer auf Pferden. Bajonette blitzten im Mondlicht.
»Für Siena!!«, erscholl ein Ruf, der von hunderten Kehlen aufgenommen und durch die ganze Stadt getragen wurde.
»Für Siena!«
Und jetzt gab es kein Halten mehr. Die vorderen Reihen stürzten nach vorn, vier Männer zogen Alvaro del Gerez, der mit seiner Lanze um sich schlug, vom Pferd. Andere Sieneser kämpften gegen vorwärts drängende Florentiner, aber die meisten, die noch außerhalb der Stadtmauern waren, ergriffen die Flucht.
Hufegetrappel schallte durch die Nacht, Rufe erklangen. »Weg hier, die Sieneser haben uns erwartet!« oder »Lauft, was das Zeug hält, wenn ihr am Leben bleiben wollt!«
Zwei Männer hatten Circe da Volterra erspäht, die leichenblass und am ganzen Körper zitternd an der Stadtmauer lehnte.
Als die Männer sie erreichten, streckte sie ihnen wortlos die Handgelenke entgegen, ließ sich die Arme binden und durch die Gassen zum Rathaus führen. Tränen strömten ihr dabei über die Wangen. Es waren Tränen der Scham und der Schuld.
Am Eingang des Rathauses stieß sie auf Laura.
Die beiden Frauen – Lehrerin und Schülerin – sahen sich an. »Verzeih mir, wenn du kannst, Laura«, flüsterte Circe da Volterra beinahe unhörbar.
Und Laura antwortete: »Gott schütze Euch, Circe da Volterra, Kurtisane Elektra aus Florenz.«
Dann wurde die Lehrerin ins Verlies geführt, in das schon wenig später auch Alvaro del Gerez einziehen sollte.
Laura aber lief, froh und traurig zugleich, die Treppenstufen hoch zum Zimmer des Bürgermeisters.
»Laura!«, rief Angelo und breitete die Arme aus. »Laura, es ist vorbei.«
Plötzlich ertönte Beifall. Laura drehte sich um und gewahrte den versammelten Rat von Siena.
Damiani Sticci stand auf und reichte ihr die Hand.
»Was Ihr, Signorina Laura, für Siena getan habt, ist mehr als nur einen Dank wert. Für Euren Mut und Eure Tapferkeit danken wir Euch allen von Herzen. Gleichzeitig darf ich Euch mitteilen, dass der Stadtrat und Rat der Republik Siena beschlossen hat, Euch in den Stand einer Gräfin zu erheben. Seid willkommen, Gräfin Laura, in diesem Haus, in dieser Stadt. Möge Gott dafür sorgen, dass Ihr uns noch lange erhalten bleibt.«
Laura wusste vor Überraschung nicht, was sie sagen sollte. Doch jetzt standen alle Männer des Rates nacheinander auf, schüttelten ihr die Hand und verließen anschließend den Rathaussaal. Bald war sie mit Angelo allein.
Er trat auf sie zu, nahm sie in den Arm und küsste sie mit einer Inbrunst, die sie nicht an ihm kannte.
»Laura«, fragte er dann und nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Gräfin Laura, möchtest du mich heiraten? Möchtest du an meiner Seite den Rest deines Lebens verbringen? Möchtest du als Viscontessa da Matranga mit unserem Sohn Angelino in meinen Palazzo einziehen und von nun an alles mit mir teilen?«
»Ja!«, sagte Laura, die ihr Glück kaum fassen konnte. Doch sie wussteganz genau, dass dies im Grunde das Einzige war, was sie schon immer wollte: Angelo da Matrangas Gefährtin sein in guten wie in schlechten Tagen.