Neunzehntes Kapitel
Laura lag noch lange wach. Sie hörte auf jedes Geräusch, dass durch die Fenster zu ihr in die Kammer drang. Fünf Mal war sie schon aufgestanden, weil sie geglaubt hatte, Angelos Schritte auf dem Kopfsteinpflaster zu hören. Doch jedes Mal war es umsonst gewesen.
Nun wälzte sie sich seit geraumer Zeit von einer Seite auf die andere, aber ihre Gedanken wollten einfach nicht zur Ruhe kommen.
Es war so viel passiert. Laura ahnte, dass es zwischen all den Geschehnissen einen Zusammenhang geben musste, doch welcher das sein könnte, entzog sich ihrer Vorstellung.
Orazio war vergiftet worden. Aber von wem? Der Junge hatte doch gewiss keine Feinde gehabt. Also musste der Anschlag jemand anderem gegolten haben. Dass Beatrice die Mandelmilch vergiftet hatte, wusste Laura noch nicht.
Angelo und Circe ... Ja, sie konnte verstehen, dass Angelo nach solch einem Erlebnis den Kopf verloren und sich in Circes Arme geflüchtet hatte. Was sie aber nicht verstand, war, dass ihre Lehrerin sie verraten hatte. Oder hatte Circe etwa vor, ihren Platz an Angelos Seite einzunehmen?
Und zum Schluss noch das Gespräch mit dem Bettler. Laura konnte sich keinen Reim darauf machen, doch sie ahnte mit der Intuition der Liebenden: Irgendetwas ging hier vor, und das war keineswegs angenehm.
Soll ich Angelo da Matranga bitten, Circe wegzuschicken?, überlegte sie. Aber vielleicht hatte sie ihn bereits in ihren Fängen? Laura hatte viel von ihr gelernt, auch die Kunst der Liebe und die Kunst, einen Mann zu bezirzen und vor allem zu halten. Doch wie viel wusste Circe noch, von dem Laura keine Ahnung hatte?
Dass die ehemalige Kurtisane Kinder hatte, war für Laura nicht neu gewesen. Die meisten Kurtisanen hatten Kinder, die von Ammen oder in Klöstern groß gezogen wurden. Doch der Bettler hatte angedeutet, dass das Leben von Circes Kindern in Gefahr sei. Auch der Name Angelo da Matranga war gefallen. Was sollte sie nur tun?
Laura überlegte hin und her, doch ihr fiel nichts ein.
Als sie am nächsten Morgen gemeinsam mit Circe ihr Frühstück einnahm, wusste Laura noch immer nicht, was zu tun wäre. Wenn sie geglaubt hatte, Circe da Volterra werde ihr mit einem schlechten Gewissen begegnen, so hatte sie sich gründlich getäuscht.
Die Lehrerin begrüßte sie, als wäre nichts geschehen. Ja, sie ging nicht einmal auf den schweren Schicksalsschlag ein, der den Visconte ereilt hatte. Stattdessen plauderte sie mit Laura, als wären sie die besten Freundinnen, gab ihr Ratschläge zur Haarpflege und erkundigte sich freundlich nach Angelinos Wohlergehen. Aber genau das war es, was Lauras Misstrauen noch verstärkte.
Am liebsten hätte sie die Lehrerin zur Rede gestellt, doch eine innere Stimme hielt sie davon ab.
Scheinbar ruhig und ausgeglichen ging sie auf die Plaudereien ein und gab durch nichts zu erkennen, dass sie mehr wusste, als Circe da Volterra ahnte.
Gleich nach dem Frühstück aber gab sie Angelino in die Obhut der Amme und machte sich auf, um Angelo zu suchen. Wo immer er auch war, Laura war entschlossen, dem Mann, den sie liebte, in dieser Zeit zur Seite zu stehen.
»Wohin gehst du, Laura?«, fragte Circe, die sich sonst nicht im Geringsten darum kümmerte, wie ihre Schülerin außerhalb der Unterrichtsstunden den Tag verbrachte.
»Oh, ich werde nach Angelo sehen«, erwiderte Laura offen. »Ihr selbst habt mir beigebracht, die Männer am meisten zu lieben, wenn sie es am wenigsten verdient haben, weil sie es dann am allermeisten brauchen. Ich bin eine gute Schülerin, Circe da Volterra, und beherzige alles, was Ihr mir beigebracht habt.«
Sie sah der Lehrerin bei diesen Worten fest in die Augen, und es war ihr, als bemerke sie ein leichtes Flackern darin. Doch schon blickten Circes Augen wieder so unergründlich wie immer.
»Dann wünsche ich einen schönen Tag«, versetzte die Altere. »Ich hoffe nur, du vergisst nicht, dass wir uns heute Abend damit beschäftigen wollten, deine Stimme ein wenig zu üben. Seit Angelinos Geburt haben wir nicht mehr daran gearbeitet.«
»Ich werde pünktlich sein«, versprach Laura und machte sich auf den Weg.
Sie traf Angelo da Matranga in der kleinen Kapelle seiner Familie an. Sie befand sich unter dem Dach der großen Kathedrale Sienas, die mit ihrer schwarzweißen Marmorverkleidung zu den prächtigsten Gebäuden in der ganzen Toskana zählte.
Er kniete auf einem rotsamtenen Kissen, hatte die Hände gefaltet und blickte auf das Bildnis der Muttergottes.
Laura erschrak, als sie ihn sah. Der einst so stattliche Mann mit den breiten Schultern schien über Nacht in sich zusammengefallen zu sein. Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht, der Blick flackerte unruhig hin und her, die Lippen waren spröde und rau.
Leise betrat sie die kleine Seitenkapelle und kniete sich neben ihn. Sie bekreuzigte sich, sprach leise den Rosenkranz vor sich hin, dann wandte sie sich an Angelo.
»Komm, ich bringe dich nach Hause«, sagte sie schlicht und reichte ihm die Hand, die er dankbar ergriff. Wie einen Blinden führte sie ihn durch die Gassen bis zu seinem Palazzo.
In seinem Gemach ließ er sich matt auf das Bett sinken.
»Bist du mir böse?«, fragte er und hielt ihre Hand so fest, als wäre sie der einzige Rettungsanker vor dem drohenden Schiffbruch.
»Liebste, bist du mir böse?«
Laura schüttelte den Kopf. »Nein, Angelo. Alles, was gestern war, sei dir verziehen. Falls du aber meiner Liebe überdrüssig sein solltest, so ist jetzt der Augenblick, es mir zu sagen.«
Er fuhr hoch, streckte auch die andere Hand nach ihr aus und zog sie an seine Brust. »Ich weiß nicht, was gestern in mich gefahren ist. Ich habe keine Erklärung. Nur eines weiß ich ganz genau, Laura. Ich liebe dich. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, liebe ich dich. Es gab seither keine Stunde, in der ich nicht an dich gedacht habe. Doch als du gestern nicht da warst, überkam mich die Verzweiflung und Einsamkeit in solchem Maße, dass ich bei Circe da Volterra Trost suchte. Bitte, verzeih mir, ich verspreche dir, dass so etwas nie wieder vorkommt.«
»Ich habe dir verziehen. Du warst nicht Herr deiner Sinne. Und nach dem, was dir gestern widerfahren ist, erscheint mir das nur allzu verständlich. Auch habe ich mich in der letzten Zeit nicht ausreichend um dich gekümmert, habe vergessen, dass unsere Liebe die Essenz des Lebens ist. Du warst es, der mir diese Wichtigkeit wieder ins Bewusstsein gerufen hat. Doch nun wollen wir nicht länger darüber sprechen.«
Sie bot ihm ihren Mund zum Kuss, und obgleich sich das Leben so sehr verändert hatte, seit sie sich kennen gelernt hatten, war dieser Kuss so voller Zärtlichkeit wie der erste.
Dann sah er sie an mit einem Blick voller Liebe und einem leisen Schimmer der Hoffnung.
»Ich möchte noch ein Kind mit dir, Laura. Bitte, schenke mir einen weiteren Sohn.«
Laura aber schüttelte den Kopf. »Kein anderer kann Orazio ersetzen. Aber auch ich hätte gern ein zweites Kind von dir. Doch jetzt ist nicht der richtige Augenblick. Kinder, Angelo, sollten mit einem Lachen gezeugt werden, damit sie ein glückliches, fröhliches Leben haben. Uns aber ist jetzt nicht zum Lachen.«
»Du hast Recht«, sagte er und schmiegte sich fest an sie. »Doch ich brauche die Wärme deines Körpers, brauche deine Nähe mehr als jemals zuvor.«
Sie hielten sich umschlungen, pressten ihre Leiber aneinander, fühlten sich ein wenig getröstet und geborgen. Und so umschlungen, Lauras Kopf an seiner Brust, ihr Bein über seinem Schenkel, lagen sie beieinander, hegten die leise Hoffnung, dass das Leben vielleicht doch noch irgendwo eine kleine Freude für sie bereithielt, und ahnten nicht, dass sie noch nicht bis in das tiefe Tal des Leides gelangt waren.
Sie mussten eingeschlafen sein, denn als Sidonia mit der Glocke zum späten Mittagsmahl läutete, schraken sie beide hoch.
Obwohl sie in den letzten Tagen nicht gerade üppig gespeist hatten, fehlte es ihnen an Appetit. Angelo da Matranga seufzte ein um das andere Mal.
»Orazio wird am Nachmittag zur letzten Ruhe in der Familiengruft geleitet«, sagte Angelo da Matranga. »Wenn ich dich auch nicht bitten kann, währenddessen an meiner Seite zu sein, so bitte ich dich doch, wenigstens im Hauptschiff der Kathedrale zu sitzen.«
Laura nickte. »Es schickt sich nicht, dass die Kurtisane den Geliebten an das Grab der Familie begleitet, aber ich werde in der Kathedrale sein. Der Leichenschmaus wird danach in deinem Palazzo abgehalten werden, und auch dabei wäre meine Anwesenheit nur störend. Ich werde also nach Hause gehen. Morgen aber, Angelo, das verspreche ich dir, komme ich wieder. Gleich nach dem Aufstehen bin ich da.«
Obgleich Laura mit keinem Wort gelogen hatte, sprach sie doch nicht die ganze Wahrheit. Sie wollte nach Hause. Irgendeine Stimme in ihr rief ihr zu, dass es nicht gut wäre, länger als nötig von Angelino und ihrem Zuhause getrennt zu sein.
Pünktlich zur verabredeten Stunde fand sie sich bei Circe da Volterra ein. Diese saß bereits am Spinett und spielte ein wenig darauf, während Angelino in seiner Wiege fröhlich vor sich hin plapperte.
»Bist du bereit?«, fragte Circe nach dem Abendgruß. »Können wir beginnen?«
Laura nickte. Sie nahm die Notenblätter, die sie inzwischen sehr gut lesen konnte, und begann zu singen. Ihre Stimme war tatsächlich ein wenig eingerostet, doch Laura war sicher, dass sie dieses Problem mit oder auch ohne Circes Hilfe in den Griff bekommen würde.
Ihre Lehrerin war unerbittlich. Immer wieder ließ sie Laura ein bestimmtes Lied singen. Zuerst dachte sich Laura nichts dabei, doch dann achtete sie genauer auf den Text, der da lautete:
ES geht ein dunkle Wolk’ herein.
Mich dünkt, es wird ein Regen sein,
ein Regen aus den Wolken,
wohl in das grüne Gras.
Und scheins tdu, liebe Sonn’, nit bald,
so weset alls im grünen Wald,
und all die müden Blumen,
die haben schnellen Tod.
Es geht ein dunkle Wolk’ herein,
es soll und muss geschieden sein.
Ade, Feindlieb, dein Scheiden
macht mir das Herz so schwer.
»Was soll das?«, fragte sie und ließ das Notenblatt sinken. »Warum lasst Ihr mich einen solchen Text singen?«
»Warum nicht?«, fragte Circe da Volterra zurück. »Es ist ein Volkslied aus Deutschland, doch die Botschaft ist auch in Italien bekannt.«
»Die Botschaft, ja. Genau deshalb frage ich Euch, warum Ihr mich dieses Lied singen lasst.«
»Weshalb störst du dich so daran? Bei den Passionsspielen hast du sogar vom Tod am Kreuz gesungen, ohne dass du darüber auch nur ein Wort verloren hättest.«
Laura sah Circe da Volterra prüfend an. Wieder hatte sie den Eindruck, dass der Blick der Lehrerin leicht flackerte. Überhaupt wirkte sie zwar so souverän und unnahbar wie immer, aber irgendetwas war in ihrer Haltung, das Laura fremd war. Der Rücken war zwar kerzengerade wie immer, doch heute wirkte er seltsam steif.
Die beiden Frauen sahen sich an. Keine von beiden gestattete es sich, den Blick als Erste abzuwenden. Eine ganze Minute verging so, schließlich brach Laura das Schweigen.
»Ich finde es nicht angemessen, zum jetzigen Zeitpunkt ein solches Lied zu singen. Wir haben genug Abschiede um uns herum. Und keiner davon ist von einer Art, die man besingen sollte.«
»Es gibt jeden Tag Abschiede. Niemand weiß, wie viele jedem von uns noch bevorstehen.«
Circes Antwort klang rätselhaft, und Laura horchte auf.
»Warum habt Ihr mich gestern verraten?«, fragte sie schließlich und hörte auf, wie die Katze um den heißen Brei herumzuschleichen.
»Warum habt Ihr gestern mit dem Mann geschlafen, den ich liebe?«
Circe zuckte mit den Schultern. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, das die Augen jedoch nicht erreichte. »Du solltest mir dafür danken, Laura. Ich habe für die kurze Zeit deiner Abwesenheit deine Pflichten übernommen, bevor es jemand anderes tun konnte. Angelo da Matranga brauchte Trost. Und es ist bekannt, dass der größte Trost in der Liebe besteht. Tod und Leben liegen dichter beieinander als alle anderen Dinge dieser Welt. Wusstest du, dass viele Männer mit aufgerichteter Männlichkeit sterben? Wusstest du, dass jede Entbindung, die doch Leben schenkt, ein Vorbote des Todes ist? Was also ist verwunderlich daran, dass deinen Liebsten nach allem, was vorgefallen war, das Bedürfnis packt, den Tod mit der Liebe zu besiegen? Du warst nicht da, meine Liebe, obwohl ich dir versucht habe beizubringen, dass eine Kurtisane immer für ihren Gönner da sein muss. Immer, hörst du?«
Laura war von diesem Redeschwall ganz benommen, doch sie war klug und lange genug Circes Schülerin, um ihr zu widersprechen.
»Ich bin sicher, dass Euer gestriges Zusammensein nichts mit Liebe zu tun hatte, Circe. Trost hättet Ihr ihm auf andere Weise spenden können. Ihr seid meine Lehrerin, doch nicht meine Stellvertreterin in Angelegenheiten des Herzens. Wenn Ihr Euch also mit Angelo eingelassen habt, so bin ich sicher, dass Ihr damit ganz eigene Pläne verfolgt habt.«
Laura hatte erwartet, dass Circe auf ihren Vorwurf schweigen oder ihn abstreiten würde, doch sie hatte sich getäuscht.
»Natürlich habe ich eigennützig gehandelt, meine Liebe. Was glaubst du denn? Schließlich bin ich viele Jahre lang Kurtisane gewesen. Was wäre denn geschehen, hätte ich mich nicht seiner angenommen? Er wäre eine allzu leichte Beute für jedes Frauenzimmer geworden. Bei mir kannst du sicher sein, dass ich nur ›ausge-holfen‹ habe. Jede andere aber hätte den Mann für sich behalten wollen. Der Verstand des Mannes wird von seinen Lenden aus regiert. Schnell hätte er in dieser Lage in die Fänge einer anderen geraten können. Wir aber brauchen ihn, Laura. Wir leben von ihm. Was ich also getan habe, das habe ich für uns getan. Für dich, für Angelino und für mich.«
Ihre Worte klangen überzeugend, und trotzdem glaubte Laura ihr nicht. Sie beschloss, die ganze Geschichte scheinbar auf sich beruhen, aber Augen und Ohren weit offen zu lassen.
»Ihr meint also«, sagte sie lächelnd, »ich müsste Euch dankbar sein, nicht wahr? Gut, hiermit danke ich Euch also. Für die Zukunft wäre es mir jedoch lieber, diese Art von Aufgaben allein übernehmen zu können.«
Circe neigte leicht den Kopf und legte eine gewisse Freundlichkeit in ihre Miene. »Ich habe nicht vor, mich in dieser Hinsicht noch weiter zu engagieren. Wollte ich dies, würde ich mir wohl einen eigenen Gönner suchen.«
Von draußen schlug die Turmuhr auf der nahen Piazza die neunte Stunde.
Laura gähnte verhalten und sah nach Angelino, der tief und fest in seiner Wiege schlief.
»Für mich ist es Zeit, ins Bett zu gehen«, sagte sie. »Ich habe Angelo versprochen, gleich nach dem Frühstück zu ihm zu kommen. Dafür muss ich ausgeruht sein; er braucht mich jetzt mehr als sonst.«
Circe sammelte die Notenblätter zusammen und verschloss das Spinett.
»Ja, ich werde auch schlafen gehen. Die letzten beiden Tagen waren doch recht anstrengend.«
Laura lag schon im Bett, als sie plötzlich Geräusche im Haus hörte. Eine Tür klappte, dann huschten leise Schritte die Treppe hinunter. Circe da Volterra! Nur sie hatte ihre Gemächer auf demselben Stockwerk wie Laura. Also konnte nur sie es sein, die sich hier in der Dunkelheit zu schaffen machte.
Schnell huschte Laura ans Fenster, öffnete leise einen der hölzernen Läden und spähte durch die gelb getönten Butzenscheiben. Viel sah sie nicht, doch die Gestalt, die aus der Haustür kam, sah sie deutlich – und erschrak bis in ihr Innerstes. Nein, das war nicht Circe da Volterra. Der Mensch, der sich nun im Schatten der Hauswände eilig in Richtung Campo bewegte, war kein anderer als Orazio da Matranga!
In Lauras Kopf überschlugen sich die Gedanken. Doch sie hatte keine Zeit, um lange zu überlegen. Schnell warf sie sich ihren großen, weiten Umhang über, schlüpfte in die weichen Ziegenlederstiefel und eilte der Gestalt hinterher.
Auch sie hielt sich dicht an den Hauswänden. Orazio hatte einigen Vorsprung, doch er blieb immer wieder stehen, sah sich um und lauschte in die Stille der Nacht, sodass Laura hin und her eilte, sich zwischen Mauernischen kauerte oder hinter den wenigen Bäumen versteckte, die ihren Weg begleiteten.
Orazio hatte jetzt den Campo erreicht. Er blieb stehen und ließ den Blick über den muschelförmigen Platz vom Rathaus bis hin zum Palazzo der da Matrangas schweifen.
Laura verharrte in einer Nische zwischen zwei Häusern und ließ ihn keinen Herzschlag lang aus den Augen.
Endlich ging er weiter, bog jedoch gleich wieder vom Campo aus in eine Gasse. Laura folgte – und wäre um ein Haar entdeckt worden, denn Orazio hielt sich am Anfang der Gasse hinter einer Bratküche versteckt. In letzter Sekunde gelang es Laura, in einen Seitengang, der die Gassen untereinander verband, zu schlüpfen.
Warum und worauf wartet Orazio?, fragte sie sich, doch gleich darauf erhielt sie die Antwort.
Zwei Nachtwächter machten die Runde. Sie liefen nebeneinander her, die Schwerter gut sichtbar am Gurt hängend, trugen Fackeln in der Hand und riefen dabei laut: »Liebe Leute, lasst Euch sagen, unsere Uhr hat zehn geschlagen. Danket Gott für diesen Tag und für den, der kommen mag.«
Die Nachtwächter schwenkten die Fackeln, leuchteten in jeden Winkel, und Laura hatte große Mühe, sich versteckt zu halten. Sie verbarg sich hinter mehreren großen Fässern, die ein Küfer auf die Straße gerollt hatte.
Orazio aber duckte sich hinter der Bratküche und machte sich so klein, dass der Schein der Fackel ihn nur am Rande streifte.
Als die Schritte der Nachtwächter verklungen waren, atmete Laura auf und lugte hinter den Fässern hervor nach Orazio, der gerade sein Versteck verließ und sich in Richtung Campo aufmachte.
Laura folgte ihm. »Also doch!«, murmelte sie wenig später. »Habe ich es mir doch gleich gedacht.«
Orazio verschwand nämlich just in diesem Augenblick im Dienstboteneingang des Palazzo da Matranga.
Auf leisen Sohlen, aber auf den Schutz der Hauswände verzichtend, eilte Laura über den Platz. Es wunderte sie nicht, dass sie die Dienstbotentür offen fand. Oft genug hatte sie bei den eigenen Mägden schon erlebt, dass diese sich zur Nachtzeit heimlich am Ufer des Flusses mit ihren Liebsten zu einem verschwiegenen Schäferstündchen trafen. Da es immer nur einen einzigen Schlüssel für die Dienstbotentüren gab, war es einfacher, die Türen gleich offen zu lassen.
Laura wartete einige Atemzüge lang. Ihr Herz schlug aufgeregt und so heftig gegen ihre Rippenbögen, als wollte es aus ihr herausbrechen. Sie hatte Angst. Jetzt, da sie still stand, merkte sie, dass ihre Knie zitterten. Und jetzt kamen auch die Fragen: Wenn Orazio tot war, wer war dann die Gestalt? Und weiter: Wenn Orazio nicht tot war, warum diese grauenvolle Posse?
Laura ahnte mehr, als es zu wissen, dass Angelo da Matranga in Gefahr war.
Leise öffnete sie die Tür und lauschte in die Dunkelheit des Palazzos. Sie musste sich sehr anstrengen, um die leisen Schritte zu hören, die die große Freitreppe hinauf in das erste Geschoss stiegen. Dort aber, das wusste sie seit der Feier zu den Passionsspielen, befanden sich die Räumlichkeiten des Visconte.
Schnell huschte Laura hinterher. Am Fuß der Freitreppe zog sie die Stiefel aus und eilte auf nackten Füßen zu den Gemächern Angelo da Matrangas.
Schon aus einiger Entfernung sah sie, dass die Tür zu seinem Schlafgemach nur angelehnt war. Zuckende Schatten fielen durch den Spalt und malten blutrote Muster auf den Gang.
Laura hielt den Atem an. Langsam schlich sie näher. Doch was sie im Gemach ihres Liebsten sah, verschlug ihr die Sprache. Sie musste in die Knie sinken, um nicht ohnmächtig zu Boden zu fallen. Ihr Herz raste, die Kehle war wie zugeschnürt. Laura spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Eisige Schauer rieselten ihr über den Rücken. Sie hatte die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, ihr Mund stand offen, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Wie erstarrt kniete sie im Gang und spähte, vom Grauen geschüttelt, durch den Spalt.
Drinnen brannte eine Öllampe, die jemand mit einem roten Seidentuch abgedeckt hatte. Orazio – oder die Gestalt, der Laura gefolgt war – stand mit ausgebreiteten Armen vor dem Bett des Visconte, jedoch so, dass Laura ihn zwar von vorn sehen, sein Gesicht aber nicht erkennen konnte, da es von der riesigen Kapuze bedeckt war. Trotzdem war kein Zweifel möglich: Der Umhang, an den Rändern mit bunten Fellen verbrämt, gehörte eindeutig Orazio.
Er stand dicht vor der Öllampe, sodass sein Schatten mit den ausgebreiteten Armen wie ein schwarzes, Unheil bringendes Kreuz an der Wand stand.
Angelo saß kerzengerade aufgerichtet im Bett und hatte – genau wie Laura – die Augen vor Entsetzen und den Mund zum Schrei aufgerissen.
»Wer ... wer bist du?«, stammelte er schließlich heiser.
»Du weißt, wer ich bin«, antwortete Orazio. Seine Stimme klang heiser und so dumpf, als käme sie aus einem tiefen Kellerloch. »Ich bin der Geist deines Sohnes.«
»Was ... was willst du von mir?«
»Warnen will ich dich. Orazio ist tot, aber er ist verdammt wie alle Ermordeten. Nicht seine Mutter hat ihn ermordet, sondern du!« Er stieß das letzte Wort anklagend hervor und zeigte gleichzeitig mit dem Finger auf Angelo, der zurückschrak.
»Ich ... ich habe ihn nicht getötet!«
»Du hast nicht Hand an ihn gelegt, das ist wahr, doch sein Tod geht zu deinen Lasten.«
»Nein! Nein!«, schrie Angelo verzweifelt, schüttelte den Kopf und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Ich habe meinen eigenen Sohn nicht umgebracht. Niemals habe ich so etwas getan. Um keinen Preis der Welt!« Grauen schüttelte ihn.
Auch Laura, die noch immer auf dem Boden kniete und jeden Moment damit rechnete, dass ihr die Sinne schwanden, überkam das Grauen. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen, um den Schrei zu ersticken, der sich aus ihrer Kehle lösen wollte. Vor Angst zitterte sie am ganzen Körper. Sie wollte aufstehen, zu Angelo, ihrem Liebsten, laufen, ihn beschützen, doch die Beine versagten ihr den Dienst.
»Und doch bist du schuld an seinem Tod!« Orazios Geist hatte wieder die Arme ausgebreitet und schwenkte sie so dicht vor Angelos Nase hin und her, dass dieser zurückzuckte.
»Wieso? Warum sprichst du mich schuldig?«, fragte Angelo mit der kläglichsten aller Stimmen.
Laura sah, dass ihm der Schweiß ausgebrochen war. Obwohl in seinem Gemach nur das diffuse rote Licht brannte, konnte sie die feinen Tröpfchen auf seiner Stirn erkennen. Sein Atem ging in hastigen Stößen, und Angelo hatte eine Hand auf sein Herz gepresst, als hätte er dort Schmerzen.
»Ich habe Orazio nicht getötet«, jammerte er. »Warum glaubst du mir nicht?«
»Ich sagte schon, du hast keine Hand an ihn gelegt, doch die Ursache seines Todes bist du. Du allein. Und kein Gericht der Welt wird dich von dieser Schuld freisprechen.«
»Jetzt sag mir doch, um Gottes willen, was du hier willst und weshalb du mich beschuldigst.«
Angelo war dazu übergegangen zu flehen. Seine Stimme hörte sich beinahe schrill an, und dennoch wurde das Gespräch so leise geführt, dass die Dienstboten im Haus nicht erwachten.
»Schuld bist du, weil du den Weg der Tugend verlassen hast«, erklärte der Geist Orazios und wedelte mit den Armen. Dann beugte er sich ganz nah zu Angelo. Der wich entsetzt zurück, und Laura war es, als könne sie sehen, wie ein Schauer der Angst durch seinen Körper lief.
»Schuld bist du, weil du dein dir angetrautes Weib verraten hast. Dein Verrat war es, der zu Orazios Tod geführt hat. Hättest du der Dirne Laura widerstanden, so wäre er noch am Leben.«
Angelos Atem war in schweres Keuchen übergegangen. »Ich liebe Laura«, stieß er hervor. »Meine Liebe zu ihr hat nichts mit Orazio zu tun.«
»Gibst du zu, dass dein Sohn noch leben würde, gäbe es dieses Weib in deinem Leben nicht?«
»Ja«, jammerte Angelo. »Ja, das stimmt. Gäbe es Laura nicht, so wäre Orazio möglicherweise noch am Leben. Doch sie ist nicht schuld an seinem Tod. Sie ist rein und ohne jede Arglist. Beatrice hat ihn umgebracht. Sie hat die Milch vergiftet, die für Laura bestimmt war und die Orazio aus Versehen getrunken hat.«
»Siehst du«, sprach der Geist. »Ohne Laura hätte es keine vergiftete Milch gegeben, die deinem Sohn den Tod brachte.«
Als Laura das hörte, schwanden ihr die Sinne. Für einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen, dann flimmerten bunte Kreise, und ihr war, als presse sich eine große schwere Faust in ihren Magen. Bittere Galle stieg in ihr hoch. Sie brauchte alle Kraft, um nicht zu schreien, sich nicht zu erbrechen, nicht vor Entsetzen zu fliehen. Sie zitterte am ganzen Körper und musste sich auf die Faust beißen, damit das Klappern ihrer Zähne nicht gehört wurde.
»Was willst du von mir?«, hörte sie Angelo da Matranga fragen.
»Trenn dich von ihr! Verstoß Laura! Sie wird sonst noch mehr Unheil über dich bringen.«
»Nein, nein, alles, nur das nicht. Laura ist alles, was ich noch habe. Ich brauche sie so nötig wie die Luft zum Atmen.«
»Verstoße sie und das Kind. Sie ist die Göttin der Dunkelheit.«
»Nein!«
»Einmal hast du einen Schritt in die richtige Richtung getan. Gestern, als du dich mit Circe einließest. Jage Laura dorthin, wo sie hergekommen ist. Jage sie zum Teufel. Wenn du unbedingt eine Frau brauchst, so nimm Circe. Sie ist die Einzige, die dir helfen kann.«
»Nein, nein, nein, nein!«, flehte Angelo da Matranga.
Der Geist stellte sich groß, schwarz und drohend neben dem Bett des Visconte auf und sagte: »Überlege dir gut, was du tust, Angelo da Matranga. Ich werde wieder kommen.«
Dann beugte er sich noch einmal über den am ganzen Leib Zitternden und sagte: »Sprich mit niemandem über das, was in dieser Nacht geschehen ist. Die Mächte der Dunkelheit mögen es nicht, wenn bei Licht über sie gesprochen wird. Hüte deine Zunge und befolge meinen Rat. Alles andere führt ins Verderben.«
Als Laura merkte, dass der Geist Orazios sich zum Gehen wandte, kroch sie rasch hinter eine riesige Truhe, die im Gang stand und in der die Fackeln aufbewahrt wurden. Keinen Augenblick zu früh, denn schon verließ der Geist das Gemach und eilte den Gang entlang. Als seine Schritte auf der Freitreppe verklungen waren, atmete Laura zwei Mal tief durch.
»Madonna«, betete sie leise. »Mutter des Lichts und der Liebe, Madonna steh mir bei. Schenke mir Kraft und Vernunft, um die Mächte des Bösen zu besiegen.«
Dann stand sie auf, eilte mit zitternden Knien und klopfendem Herzen dem Geist Orazios hinterher. An der großen Freitreppe wartete sie einen Augenblick und lauschte in die Stille. Bis hierher konnte sie das verzweifelte Schluchzen des Visconte hören. Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu diesem Mann, der jetzt sicher nichts mehr brauchte als Trost, und ihrem Willen, hinter das Geheimnis des Geistes zu kommen, lief sie schließlich eilig die Treppe hinunter, vergaß sogar, in ihre Stiefelchen zu schlüpfen und huschte mit bloßen Füßen über den dunklen Platz der friedlich und still im Herzen von Siena lag.