Viertes Kapitel
Gleich darauf war da Matranga mit Laura allein. Sie stand nur wenige Schritte vom ihm entfernt; die Kapuze hatte sie abgezogen, und auf ihrem Haar glitzerten geschmolzene Schneeflocken.
Bei ihr sehen selbst diese Tropfen aus wie das kostbarste Diadem, dachte Angelo da Matranga trotz seiner Schmerzen.
Lauras Gesicht war von der Kälte rosig gefärbt. Noch immer hielt sie den Blick gesenkt.
»So schüchtern heute, Laura?«, fragte der Visconte.
Das Mädchen blickte jetzt auf, ihm direkt in die Augen, und es war, als führe ein Blitzschlag durch seinen Körper.
Er las in ihren Augen, dass sie gekränkt und noch immer wütend auf ihn war. Doch im Grunde glaubte er sich im Recht und fühlte sich von ihr schlecht behandelt.
»Nun, willst du heute wieder weglaufen, oder bist du diesmal bereit, mir zu Diensten zu sein?«, fragte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, fingerte er an der Geldkatze herum, die er am Gürtel trug, fischte ein Goldstück heraus und warf es auf den Tisch.
»Da, dein Lohn«, sagte er. »Du musst für mich nichts umsonst tun.«
»Das ist gut zu wissen«, erwiderte Laura, öffnete die Schließe ihres Umhangs und legte ihn vorsichtig, als wäre er ein Stück aus Zobel oder Hermelin, über einen der Stühle.
Dann krempelte sie die Ärmel ihres Kleides hoch, stemmte die Fäuste in die Hüften und sagte: »Ihr habt ein Leiden am Rücken, meinte mein Schwager. Ihr müsst aufstehen und Euch der Länge nach auf den großen Tisch hier legen, sonst kann ich Euch nicht helfen.«
Der Visconte schaute sie aufmerksam aus zusammengekniffenen Augen an, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht an ihm rächen wollte. Doch in ihren Augen las er nichts als Konzentration.
Er stützte die Arme auf die Lehnen des Stuhles und stemmte sich ächzend in die Höhe. Dann versuchte er, sich auf den Tisch zu legen, doch war es ihm peinlich bewusst, welche Figur er dabei abgab.
»Es wäre mir lieber, du drehtest dich um«, stöhnte er.
Laura nickte und tat, wie ihr geheißen, doch erwiderte sie: »Eure Scham nützt Euch nichts, und sie lindert auch nicht die Schmerzen. Ihr müsst schon das Wams und das Hemd ausziehen. Ohne den Rücken zu beschauen, kann ich nichts für Euch tun.«
Der Visconte, der sich daran erinnerte, dass auch der Knocheneinrenker stets den nackten Leib behandelte, schälte sich aus seinen Sachen. Er hatte große Schmerzen dabei, doch er unterdrückte tapfer und mit zusammengebissenen Zähnen jedes Stöhnen und jeden Aufschrei. Endlich lag er bäuchlings auf dem polierten Sitzungstisch und hätte sich am liebsten geschüttelt. Das kalte Holz ließ ihn frösteln, zudem war die Platte hart, und er wusste nicht, wohin mit seinem Kopf.
»Ich bin soweit. Ihr könnt Euch wieder umdrehen«, sagte er endlich und schloss ergeben die Augen. Fest rechnete er damit, mit harten Händen grob gepackt zu werden, ja, er konnte das Knirschen der Knochen schon jetzt hören und meinte zu spüren, wie das Mädchen an seinen Gliedern riss.
Alles in ihm verspannte sich in Erwartung des Schmerzes, doch wie überrascht war er, als er stattdessen ihre warmen, trockenen und weichen Hände auf seinem Rücken spürte.
Behutsam, als wäre er ein rohes Ei, glitten sie sanft links und rechts neben der Wirbelsäule auf und nieder, betasteten vorsichtig jeden Wirbel, doch so, dass er ihre Berührungen wie ein Streicheln empfand.
»Ihr seid verspannt, Visconte. Ich muss Eure Muskeln erst lockern, bevor ich Euch einrenken kann. Außerdem braucht Ihr viel Wärme in Eurer Nähe.«
In jeder Ecke des Sitzungszimmers hatte Mimmo am Morgen Kohlebecken aufgestellt, in denen noch immer Glut war, die aber lange nicht ausreichte, um den Raum mit Wärme zu füllen.
»Wartet. Bewegt Euch nicht. Ich hole die Becken näher heran«, sagte Laura.
Kurz darauf wurde ihm wirklich wärmer. Er hätte nie gedacht, dass eine Frau in der Lage wäre, die schweren heißen Ständer mit den Becken darauf zu bewegen, doch Laura schien Kräfte wie ein Mann zu haben.
Hinter ihm schien sie mit den verschiedensten Verrichtungen beschäftigt, doch war ihm mittlerweile so wohl, dass er voller Vertrauen die Augen schloss.
Er hörte sie mit einem Tongefäß hantieren, hörte den satten Klang einer schweren Flüssigkeit, die vergossen wurde.
Obwohl er auf die Berührung vorbereitet war, obwohl ihre Hände nur seinen Rücken streiften, spürte er ihre Finger an seinem ganzen Körper.
Ihre Hände, warm und geschmeidig durch ein wenig Olivenöl, berührten seine Haut mit der Zartheit und Beiläufigkeit eines Schmetterlingsflügelschlages.
Unmerklich zuckte Angelo da Matranga zusammen. Alle seine Sinne erwachten und waren bis zum Äußersten gespannt, während seine Muskeln von einer plötzlichen Schwäche – oder war es Hingabe? – befallen wurden.
Er schloss die Augen, spürte nicht mehr die Härte des Tisches, die Kälte des Raumes. Er hatte alles vergessen, war nichts als ein Körper, der nach Berührung lechzte.
Ihre Hände kneteten das Fleisch seiner linken Schulter und ohne dass sich der Visconte dessen bewusst wurde, schmiegte er diese Schulter in ihre warmen Hände, kauerte sich in ihre Wärme, in die diffuse Geborgenheit, und stellte sich unter ihren Schutz.
Die Jahre fielen von ihm ab. Der Bürgermeister der Stadt und Herrscher über die Republik Siena verjüngte sich – er wurde wieder zum Kind, zum kleinen Jungen, der nichts lieber wollte, als sich in den Röcken, im Duft und an der Haut seiner Mutter zu verkriechen.
Lauras Hände fuhren langsam an seiner Wirbelsäule hinab bis zu den Lenden. Ihre Berührungen löschten alles aus, was das Leben bis zu diesem Tag in seine Haut geschrieben hatte. Die Erinnerungen an die Liebkosungen anderer Frauen verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. Er wurde wieder jungfräulich, wurde wie eine Landschaft, die von frisch gefallenem Schnee bedeckt ist und darauf wartet, von den übermütigen Fußstapfen eines Gassenjungen gezeichnet zu werden. Ihre Hände glitten über seinen Leib, doch ihm war, als fassten sie nach seiner Seele, nach seinem innersten Kern.
Ohne es zu wollen, bog er den Rücken, bog ihn ihren Händen entgegen. Er konnte nicht genug bekommen von ihren Berührungen. Jede Partie seines Körpers, die nicht von ihr berührt wurde, verzehrte sich nach den fließenden, warmen Liebkosungen. Am liebsten wäre Angelo da Matranga dahingeschmolzen. Ein Nest wollte er sich bauen in ihren Händen, eine Bleibe für immer, geschützter und vertrauter als das eigene Zuhause.
Er stöhnte leise auf. Der Laut erinnerte an einen Verdurstenden, der nach langer Zeit der Entbehrung endlich einen Brunnen erreicht und mit hohler Hand das klare Wasser daraus schöpft.
Es war ein Aufschrei aus tiefstem Herzen, der alle Entbehrungen seines Lebens enthielt, und zugleich ein Schrei der Hoffnung, dass diese Zeit endlich vorüber war.
Er fühlte sich wie ein Kind, das in dunkler Nacht nach schlimmen Träumen den warmen Körper der Mutter und darin allen Trost der Welt findet.
Lauras Hände waren schön und grausam zugleich. Sie holten die Einsamkeit seines siebenunddreißigjährigen Lebens ans Licht, deckten seine rast- und erfolglose Suche nach Liebe und Nähe auf, sein Sehnen nach Zweisamkeit, nach Verbundenheit und tiefem Einverständnis, nach Zugehörigkeit und Trost. Die ganze Bedürftigkeit des Mannes lag ungeschützt vor ihr, ein zitterndes, aus tiefster Seele schreiendes Wesen, ihren Händen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Laura nahm die Hände von seinem Rücken, hielt sie in die Nähe des Kohlebeckens, um sie zu wärmen, sah dabei, wie er sich krümmte vor Verlassenheit. Schon war sie wieder bei ihm, tröstend und die Qual lindernd.
Langsam fasste sein Körper Vertrauen zu ihren Händen. War nicht länger überrascht und trostlos, sondern fand Gefallen an der eigenen Schutzlosigkeit.
Seine Muskeln zitterten ihren Händen entgegen, sein Fleisch begann zu brennen. Er nahm den Rhythmus ihrer Bewegungen auf, verfolgte sie, und schon bald befanden sie sich in einem Schwindel erregenden Tanz. Ihre Haut verschmolz mit seiner. Die Nerven ihrer Finger fanden ihre Fortsetzung in den Nerven seiner Haut, wurden eins. Längst hatte der Visconte den Schmerz im Rücken vergessen. Er hatte alles vergessen: seinen Namen, den Ort, die Zeit. Er war ein Mensch, der sich einem anderen Menschen auslieferte, er wagte zum ersten Mal in seinem Leben Vertrauen, war angerührt von diesen Händen bis in den hintersten Winkel seines Selbst, war Kind und Mann zugleich. Ein Gefühl von tiefem Frieden überfiel ihn. Er fühlte sich getröstet und geborgen, aufgehoben und angenommen.
Sein Leben, das erfuhr er mit allen Urinstinkten, ohne dass er den Grund hätte benennen können, wurde unter diesen Händen umgekehrt. Alles Schlechte, Falsche wurde weggewischt und die Saat für einen Neuanfang gelegt.
Ja, es war tatsächlich so: Hier, an diesem trüben Februarvormittag, wurde er, Visconte Angelo da Matranga, neu erschaffen. Nicht Eva war es, die einer Rippe Adams entsprang, nein, hier im Sitzungszimmer des Rathauses zu Siena entstand Adam unter den Fingerspitzen der Eva neu.
Ewig hätte er so daliegen können, sich ewig im süßen Schmerz und schmerzlicher Süße suhlen können.
Doch Lauras Hände strichen nun langsamer, fester über seinen Körper und hörten so plötzlich auf, wie sie begonnen hatten.
Angelo hatte Mühe, die Augen zu öffnen. Etwas hatte sich verändert. Grundlegend. Er war ein anderer als noch vor wenigen Stunden. Er sah sich um; auch das Zimmer erschien ihm anders als zuvor.
Langsam, ganz langsam, als könnte er weder seinen Muskeln noch seinen Gefühlen trauen, drehte er sich auf die Seite und sah Laura an.
Ihre Blicke trafen sich, und Angelo schien es, als schaue er auf den Grund ihrer Seele, während er ihr einen Einblick in die seine gewährte.
Er fühlte sich wohl unter diesem Blick. Erwartungsvoll wie ein Kind am Weihnachtsabend. Er nahm ihre Hand und betrachtete sie, als wäre sie ein Wunder. Noch immer konnte er nicht glauben, was diese Hand in ihm, mit ihm bewirkt hatte. Er starrte darauf, fassungslos darüber, dass man ihr die Zauberkraft nicht ansah. Dann führte er sie an seine Lippen und küsste jeden einzelnen Finger. Als er spürte, dass sie erschauerte, war er glücklich. Doch dann entzog sie ihm ihre Hand, sagte mit einer Stimme, die etwas schrill klang: »Ihr solltet Euch jetzt anziehen. Die Kälte darf nicht an Euren Rücken gelangen, sonst bekommt Ihr wieder Schmerzen.«
Er lächelte. Schmerzen? Er hatte vergessen, was das war. Weh war nur sein Herz, die Erinnerung an die jahrelange Einsamkeit schmerzte. Die eigene Bedürftigkeit, jetzt ans Licht gezerrt, schmerzte. Aber der Rücken?
»Du bist eine Zauberin«, sagte er. »Du vermagst mehr einzurenken als nur Knochen.«
Sie antwortete nicht, sondern nahm sein Hemd und reichte es ihm.
»Ihr solltet Euch anziehen«, wiederholte sie. Noch immer sah der Visconte sie an. Seine Blicke ruhten auf ihrem Gesicht, sodass sie verlegen wurde. Noch nie hatte sie jemand so angesehen. Ihr war, als betrachte er nicht nur ihre Züge, sondern sehe sie so, wie sie war. So, wie sie wirklich war. Sie fühlte sich erkannt, und das verunsicherte sie, denn sie wusste doch selbst noch nicht, wer sie sein mochte.
Angelo spürte ihre Verlegenheit. Er nahm ihr das Hemd aus der Hand, zog es über, griff nach dem Wams, zog auch dieses an. Plötzlich wussten sie nicht, was sie sagen sollten. Jetzt waren sie beide wie Kinder vor einer frisch gefallenen Schneelandschaft. Der erste Schritt entschied über alles Weitere. Ein falsches Wort konnte alles zerstören, ein richtiges ein neuer Anfang sein.
Der Visconte räusperte sich. Schließlich entschied er sich zu einer Tat größten Mutes: Er suchte nicht länger nach Worten, sondern sprach aus, wie ihm zu Mute war: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, begann er. Unsicher blickte er sie an, erkannte die Erwartung in ihren Augen. Da nahm er ihr Gesicht in beide Hände, schloss die Augen und atmete tief, ganz tief, ihren Duft ein, der ihm schon fast vertraut, aber gleichwohl süß und verlockend erschien. Als seine Lippen die ihren leicht berührten, wunderte er sich über die Weichheit und Wärme, wunderte sich über den Geschmack, der ihm so vertraut war, als kenne er ihn schon immer, und zugleich so neu und fremdartig wie eine exotische Frucht aus dem Garten Eden.
Er fühlte sich dieser jungen Frau so nah, dass er darüber erschrak. Noch nie war er einem anderen Menschen so nah gekommen. Er wollte den Augenblick fest halten, ihn bannen, auf dass er niemals ende.
Er schwelgte in ihrem Duft, badete in ihrem Geschmack, fand Trost in ihrer Sanftheit und Geborgenheit in ihrer Wärme.
»Madonna«, murmelte er, die Lippen noch immer leicht auf ihren, ihr Gesicht in seinen Händen.
Das Knarren der Tür war wie ein Guss aus Kübeln mit Eiswasser. Sie zuckten zusammen, prallten auseinander, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt.
»Oh, ich bitte um Vergebung«, hörten sie die Stimme des Bischofs Filieri, der Anstalten machte, gleich wieder zu verschwinden.
»Ihr stört nicht«, sagte Angelo da Matranga rasch. »Kommt herein und berichtet, was Ihr wolltet.«
Um die Lippen des Geistlichen spielte ein Lächeln, das verständnisvoll und neidisch zugleich war. Er setzte sich, sah voller Verlangen auf Laura.
»Sie hat mich eingerenkt«, erklärte der Visconte. »Der Knocheneinrenker ist selbst krank. Laura hat in solchen Dingen Erfahrung.«
»Nicht nur in solchen, scheint mir«, erwiderte der Bischof und leckte sich die Lippen. »Sagt, Visconte, was muss man tun, um sich den Rücken so zu verrenken, dass Lauras Hilfe vonnöten ist?«
Angelo da Matranga überhörte die Worte. »Was wollt Ihr?«, fragte er erneut. Er hatte sich wieder so weit gefasst, dass er in gewohnter Manier um den großen Sitzungstisch schritt und auf dem Stuhl des Bürgermeisters Platz nahm.
Laura aber stand befangen am selben Ort und wusste nicht, was sie tun sollte.
Sie fühlte sich unbehaglich. Also nahm sie ihren Umhang, warf ihn über und sagte: »Es war mir eine Freude, Euch zu Diensten sein zu können.«
Ihre Stimme klang so beherrscht und kühl, so fremd und unbeteiligt, dass Angelo da Matranga sie wie eine Ohrfeige empfand. Hatte er sich getäuscht gerade eben? Hatte nur er die Nähe zwischen ihnen gespürt? War er hereingefallen auf die Liebkosungen dieser Mädchenhände? Hatte er sich bloß etwas eingebildet? Ein Rausch der Gefühle, gültig nur für den Augenblick der Dauer? Er war verwirrt, und in seiner Verwirrung griff er auf die altbewährte Manier zurück, in der Männer seines Standes Mädchen ihres Standes behandelten: Er nickte und wies auf das Goldstück, das am Rande der Tischplatte und in Lauras Höhe lag.
»Ich danke Euch«, erwiderte er und versuchte dabei seiner Stimme dieselbe Kühle und Distanziertheit zu verleihen. »Ihr habt mich geheilt.« Er lachte ein wenig und wandte sich an den Bischof. »Sie hat nicht nur Gold in der Kehle, nein, auch in den Händen hat sie davon mehr als der reichste Goldschmied der Toskana.«
Der Bischof lachte wissend und betrachtete sie ungeniert, sodass sie sich schämte und errötete.
»Nimm deinen Lohn, du hast ihn dir verdient«, sprach der Visconte und wagte es nicht, ihr dabei in die Augen zu sehen.
Doch Laura warf den Kopf in den Nacken. Aus ihren blauen Augen schössen Blitze. Selbst in ihrem langen Haar schienen Flammen aufzulodern.
»Man kann nicht alles für Geld kaufen«, erwiderte sie schnippisch und über die Maßen hoheitsvoll. »Wollte ich an Euch verdienen, so stellte ich es anders an.«
Sie sah ihm in die Augen, hielt seinen Blick umklammert, dann spuckte sie auf den Golddukaten, drehte sich um und rauschte hinaus.
Der Bischof lachte. »Hahaha!«, schrie er und schlug sich auf die Schenkel. »Sie hat alle Gaben eines sizilianischen Fischweibs! Herrlich! Ein köstliches Mädchen!« Er brüllte und prustete, verschluckte sich, Tränen traten ihm in die Augen. Er presste die Hände auf den Bauch und krümmte sich unter seinem hässlichen Gelächter. »Hahaha«, schrie er und ließ die Tränen laufen. »Hohoho«, kreischte er und schlug sich noch einmal auf die Schenkel. »Ein Prachtweib mit der Figur einer Venus und dem Maul einer Straßendirne! Ein Misthaufen, auf dem zufällig eine Rose gelandet ist! Haha! Hahaha!«
Angelo da Matranga aber stand da, die Miene versteinert, die Augen plötzlich leer. Eine ungeheure Wut auf diesen feisten Bischof befiel ihn. Am liebsten hätte er ihm das Lachen aus dem Gesicht geschlagen. Der Unmut brannte in ihm, besetzte alle Gedanken.
»Haltet doch endlich das Maul«, schnauzte er schließlich, und das Lachen des Bischofs erstarb.
»Was?«, fragte der Kirchenmann verdutzt. »Was habt Ihr eben gesagt?«
Der klirrende Ton der Bischofsstimme ließ den Bürgermeister wieder zu sich kommen.
»Verzeiht«, brummte er. »Der Umgang mit solchen Menschen verdirbt wohl den besten Charakter.«
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, schämte er sich. Ihre Hände hatten ihm das Schönste angetan, das ihm je widerfahren war. Und nur wenige Minuten später verriet er sie. Ach, was war er doch für ein unsäglicher Kerl!! Er war der Misthaufen und sie die Rose darauf. Er stank zum Himmel, während sie lieblich duftete! Aber was waren das für Gedanken? Wie kam er, der Bürgermeister von Siena, dazu, sich selbst einen Misthaufen zu schimpfen? Was hatte diese junge Frau nur mit ihm angestellt? Die ganze Welt stand auf dem Kopf. Gestern hatte er noch genau gewusst, wer er war, was er zu tun und zu lassen hatte. Und heute wusste er nichts mehr. Gar nichts. Ja, er bekam beinahe Angst vor sich selbst. Die Welt erschien ihm plötzlich so schwierig und unübersichtlich, so ungeheuer groß und verwirrend, dass er sich am liebsten im Bett versteckt hätte. Der Visconte Angelo da Matranga schwankte gefährlich zwischen den beiden Seelen in seiner Brust. Ja, er war zerrissen. Dieses Weib hatte ihn aus der alten Welt geholt und ihm das Paradies gezeigt. Doch dann war sie gegangen, hatte ihn vor dem Tor zum Garten Eden allein gelassen. Nein, sie war nicht die Eva aus dem Paradies. Eine Schlange war sie, ja, und er saß vor ihr wie das Kaninchen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Angelo da Matranga blickte auf seine Hände, die ihm merkwürdig fremd vorkamen. Wie Vögel mit gebrochenen Schwingen irrten, sie über den Tisch, auf der Suche nach etwas, woran sie sich festhalten konnten. Doch da war nichts. Schließlich hakte der Visconte die Daumen in seinen Gürtel, um die Hände irgendwo unterzubringen, und wippte von den Fußspitzen auf die Fersen und wieder zurück.
Der Bischof war im Grunde ein gutmütiger Mann. Er hasste Streit. Mit erhobenen Augenbrauen beobachtete er das seltsame Verhalten des Bürgermeisters.
»Ja, so ein Frauenzimmer kann einem Mann schon gehörig zu schaffen machen«, sagte er und verzieh dem Visconte die rohen Worte. »Aber ihretwegen bin ich eigentlich da. Ich habe sie zu Hause nicht angetroffen«, fuhr er fort. »Auch in der Kirche war sie nicht. Gianna, ihre Schwester, sagte mir, dass ich Laura im Rathaus finde. Also kam ich hierher und wollte ihr das Angebot machen, genau, wie wir es heute Morgen in der Sitzung beschlossen hatten.«
Der Visconte schüttelte sich ein wenig. Er war vom Paradies direkt hinab in die Hölle des Alltags gefallen und fand sich nicht mehr zurecht.
»Was haben wir beschlossen?«, fragte er töricht.
Jetzt schüttelte der Bischof den Kopf. »Ihr selbst schicktet mich zu ihr, um sie zu überreden, bei den Passionsspielen zu singen. Ihr sagtet, sie sei für Geld zu haben.« Er brach ab, wies auf den Dukaten, den Laura bespuckt hatte, und fuhr fort: »Allerdings weiß ich nicht, ob Eure Einschätzung treffend ist. Mir scheint, sie macht sich nichts aus Geld und Gold.«
Der Visconte wusste gar nichts mehr. Nur eines war ihm klar: Er vermisste sie. Sie war kaum eine Minute von ihm getrennt, und schon empfand er ihre Abwesenheit als qualvoll. Was hatte dieses Weib nur mit ihm gemacht?
Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen. »Ich glaube, ich weiß überhaupt nichts mehr«, murmelte er leise vor sich hin.
Der Bischof betrachtete ihn ein wenig misstrauisch, dann sah er auf die Sanduhr, die auf einem Bord an der Wand stand, und verkündete: »Es ist Mittagszeit. Ich werde ins Gasthaus gehen und meinen Hunger stillen. Was ist, Visconte, habt Ihr nicht Lust, mitzukommen? Ein gutes Essen und ein köstlicher Tropfen Chianti tun Leib und Seele gut. Ihr werdet sehen, nach dem Mahl seid Ihr ein neuer Mensch.«
Angelo da Matranga schüttelte den Kopf. Er hatte keinen Hunger, keinen Durst. Er verspürte nichts als Sehnsucht nach Laura und die Angst, er könne sie verloren haben.
»Nein, Bischof, ich habe noch zu tun. Geht Ihr allein und trinkt einen Becher Wein auf mein Wohl. Ich glaube, ich gehe nach Hause und lege mich ins Bett. Es geht mir nicht gut. Weiß der Himmel, was mir fehlt.«
Der Bischof hätte ihm wohl sagen können, was ihm fehlte, doch er schwieg. Ihn selbst brachte das Weib ebenso aus der Fassung. Sogar wenn er die Witwe Baldini beschlief, musste er an diese Laura und ihren herrlichen Leib denken. Doch er war nicht mehr der Jüngste, ging schon auf die Fünfzig zu. Er hatte gelernt, dass man Schönheit nicht besitzen, sondern nur bewundern konnte. Zumal in seinem Alter. Der Bürgermeister dagegen war in mancher Hinsicht noch wenig erfahren. Soviel der Bischof wusste, hatte auch er schon reichlich Frauen in seinem Bett gehabt. Aber von der Liebe wusste er wohl nichts. Der Bischof dagegen wusste darüber so viel, dass ihm klar war, hier nicht helfen zu können. Er zuckte also mit den Achseln, wickelte sich einen Schal, den ihm die Witwe Baldini gestrickt hatte, um den Hals und verabschiedete sich: »Arrivederci, Visconte. Ich wünsche Euch gute Besserung.«
Der Bürgermeister antwortete nicht. Er nickte lediglich mit dem Kopf, aber auf dermaßen trübselige Art, dass der Bischof die Flucht ergriff und ihn allein ließ.