7. Zusammentreffen in Neuseeland



April 2011

Maria und Marcus haben sich gegenseitig viel zu erzählen. Nicht nur, was sich ganz allgemein getan hat, sondern vor allem, dass die Para-Forschungsgruppe durch das Durchkämmen vieler alter Berichte auf einige interessante Zusammenhänge zu stoßen scheint. Einiges Material, das Marcus aus der Österreichischen Nationalbibliothek mitgebracht hat, sollte da auch helfen. Er ist neugierig darauf, ob die Forschungen seines Teams seinen Verdacht, dass es schon in antiken Zeiten sehr aktive Para-Begabungen gegeben hat, bestätigen werden.

Er berichtet von Sandra, die zu ihnen stoßen wird. Maria ist begeistert:

»Es wäre schön, wenn wir dadurch vielleicht auch noch andere Mitarbeiter der ehemaligen PPU finden und für uns gewinnen könnten.«

Marcus erzählt, wie Sandra ihn mit Hilfe der Para-Spürerin Monika gefunden hat, und verschweigt nicht, dass er mit Monika während seiner Zeit in den USA, knapp bevor er sich in Maria verliebte, eine Affäre hatte.

»Du musst mir nicht alle deine Sünden beichten, Marcus. Du hast mir ja nie viel von deinen anderen Freundinnen erzählt. Warum tust du es jetzt bei Monika?«

Sie schaut ihn fragend an und gibt sich selbst die Antwort: »Du findest sie noch immer interessant, ist es das?«

Marcus nickt: »Ja, irgendwie schon. Und ich fürchte, Monika hängt auch noch ein bisschen an mir. Aber, Maria, glaube mir, ich weiß, wohin ich gehöre. Ich verspreche dir, dass ich dir nicht mit Monika untreu sein werde und es nicht war. Aber ich musste reinen Tisch machen, damit du nicht was Falsches denkst, wenn du zum Beispiel von dem Ausflug auf den Hochobir hörst.« Marcus erzählt ihr davon, nur die Szene am Gipfel erwähnt er nicht. Er ist aber froh, dass sich daraus nicht mehr entwickelt hatte. Maria vertraut Marcus, aber sie ahnt auch, dass es vielleicht durch Monika zu manchen Spannungen kommen könnte.

»Na, gespannt bin ich ja nun auf Monika fast so wie auf das Wiedersehen mit Sandra.«

Marcus und Maria nehmen Lena mit, als sie Sandra und Monika vom Flughafen abholen. Sie sind sehr neugierig, ob Lena die beiden Neuankömmlinge als »Menschen, die strahlen« einstufen wird. Erschöpft vom langen Flug, aber froh, diesen hinter sich zu haben, freuen sich Sandra und Monika über den freundlichen Empfang. Die Reaktion von Lena zeigt sofort, dass beide (also auch Monika) starke Para-Begabungen besitzen.

»Auckland werdet ihr noch genug kennen lernen, jetzt geht es direkt zu eurem neuen Zuhause«, erklärt Marcus, während sie zu jenem Teil des Flughafens gehen, der für Privatflugzeuge reserviert ist und wo der Moller600 wartet. Für Sandra und Monika ist der Flug in diesem ungewöhnlichen Fahrzeug ein Vorgeschmack auf die einzigartige Infrastruktur, die Maria und Marcus auf Great Barrier Island aufgebaut haben. Sie verlieben sich sofort in die Gebäude, die Lage, den Wasserfall, der fast bis zum Strand mit dem Landesteg für kleine Boote reicht, und die Höhlen, durch die man auch zum Strand und der großen Motorsegeljacht kommen kann.

Die »Integration« der beiden in die Familie klappt vom ersten Tag an. Aber Maria ist froh, dass Marcus bezüglich Monika so offen gewesen ist. Denn es ist nicht zu übersehen, dass es zwischen Marcus und Monika knistert, obwohl sich beide sehr zurückhalten. Ein Minimum an Verständnis kann Maria dafür sogar aufbringen. Monika ist charmant, ihr Deutsch ist so perfekt wie ihr Englisch, und wenn sie mit den anderen nackt in den Whirlpool steigt, ist es objektiv gesehen ein sehr erfreulicher Anblick.

Als sie am nächsten Tag das erste Mal, nun alle ausgeruht, gemeinsam im Wintergarten genüsslich frühstücken, freuen sich Maria und Marcus, dass ihre Gruppe jetzt doch schon auf immerhin sechs Para-Begabungen, die vermutlich permanent auf Great Barier Island leben werden, angewachsen ist. Auch Aroha kommt an diesem Vormittag. Während Marcus schon sehr darauf wartet, wieder in seine Firma SR-Inc. zu kommen und Maria diverse Einkäufe zu erledigen hat, hat sich Aroha angeboten, Sandra und Monika etwas von Auckland zu zeigen.


Die ersten drei Tage vergehen für Sandra und Monika, als wären sie Touristen, und so war es auch geplant. Sie sollen Great Barrier Island und Auckland mit Umgebung ja ein wenig kennen lernen.

Am dritten Tag sitzen Maria, Marcus, Monika und Sandra zusammen, um Pläne für die Zukunft zu machen. Sandra wird zwei Hauptaufgaben haben: Sie wird bei SR-Inc. mitarbeiten und sie wird bei »Sondereinsätzen« dabei sein, bei denen das Erkennen von Gefühlen hilfreich sein kann. Nachdem sie schon das Hauspersonal auf Great Barrier Island »untersucht« und als verlässlich beurteilt hat, wird auch ihre erste Aufgabe bei SR-Inc. sein, alle Mitarbeiter durch ihre Para-Begabung zu durchleuchten, wie weit sie SR-Inc. gegenüber loyal sind. Besonders wichtig ist das bei den »Eingeweihten«, also jenen, die etwas von den Para-Begabungen wissen, insbesondere den Mitarbeitern der Forschungsabteilung, die notwendigerweise voll informiert sind. Bevor aber irgendjemand erfahren darf, dass auch Sandra und Monika Para-Begabungen sind und in diverse Experimente eingebunden werden können, wollen sie sichergehen, dass sie sich auf die Verschwiegenheit der Mitarbeiter verlassen können.


Monikas Rolle ist zunächst weniger klar. Sie soll vorerst möglichst viele Mitarbeiter und Personen, die aus anderen Gründen wichtig sind, kennen lernen, damit sie diese gegebenenfalls bei Bedarf durch ihre Para-Ortung auffinden kann.

Schon der erste Tag von Monika und Sandra bringt diese Planung einigermaßen durcheinander. Als Sandra nämlich mit einigen Mitarbeitern von SR-Inc. in einen Food-Court auf ein rasches Mittagessen geht, bemerkt sie am Nebentisch einen Mann, der die SR-Mitarbeiter und sie mehrmals ansieht. Sie konzentriert sich auf seine Gefühle und spürt zu ihrer Überraschung, dass dieser Mann offenbar den Auftrag hat, SR-Inc. zu überwachen. Sandra ist auf Dick, einen Mitarbeiter der »Maria und Marcus Supervisory Group«, die die neuseeländische PM eingesetzt hat, gestoßen!

Sie berichtet sofort Marcus davon. Dieser ist sehr besorgt: Verdächtigt sie jemand außerhalb der SR-Inc. ungewöhnliche oder gar Para-Projekte durchzuführen? Oder ist es »Industriespionage?

»Sandra, kannst du dich an den Mann heranmachen und durch geschickte Fragen und seine Reaktionen feststellen, für wen er arbeitet? Monika hat mir ja erzählt, wie du mit ganz wenigen Fragen aus den Reaktionen meines Vaters alles über meinen Aufenthaltsort in Wien herausgefunden hast.«

Sandra lächelt: »Das Problem ist nur, wie ich an den Mann herankomme und ob er mir irgendwelche Frage beantworten wird, nachdem er ja weiß, dass ich zu SR-Inc. gehöre. Wir müssen uns da etwas überlegen.«

Beim Gespräch während des Abendessens ist es Monika, die eine Lösung findet: »Sandra, du beschreibst mir den Mann genau. Ich gehe dann auch essen, aber nicht mit euch. Wenn der Mann wieder dort ist, dann werde ich mit ihm flirten, bis er sich sehr für mich interessiert. Das werde ich schon schaffen.« Niemand am Tisch zweifelt daran. Monika erklärt ihren Plan weiter: »Ich setze mich dann mit ihm in das Kaffee bei der Firma, wo die vielen Nischen sind. Du setzt dich in die letzte, ich versuche mich in die davor zu setzen, somit sieht der Mann dich nicht. Ich stelle ihm einige Fragen, die müssen wir noch besprechen, und du versuchst seine Gefühlsreaktionen festzustellen.«

Alle sind gespannt auf den nächsten Tag. Ja, der Mann kommt wieder in den Food-Court. Monika benimmt sich so aufreizend, dass Dick sie sogar von sich aus anspricht. Er ist hoch erfreut, dass Monika sogar bereit ist, noch auf einen Kaffee mit ihm zu gehen. Als Monika dann noch ihre Hand auf seine legt und sich so vorbeugt, dass Dick tief in den Ausschnitt sehen kann, ist er bereit, jede Frage zu beantworten. Sandra in der Nachbarnische wird dabei von einem Bewunderungsgefühl des Mannes für Monika überschwemmt.

»Diese Männer«, denkt Sandra verächtlich. Da beginnt Monika mit ihren Fragen.

»Du scheinst ein netter Kerl zu sein. Ich heiße übrigens Monika.« (Freude und Hoffnungsgefühle.)

»Ich bin Dick. Kommst du oft in diese Gegend? (Er heißt wirklich Dick.) Ich arbeite seit kurzem im Lager der großen Buchhandlung auf der Queenstreet. Arbeitest du auch in der Nähe?«

»Ja, ich bin bei der ASB Bank angestellt.« (Lüge!) Das ist sicher interessanter, als in irgendeinem langweiligen Job für eine Regierungsabteilung zu arbeiten.« (Er arbeitet für die Regierung!  Sandra hustet, das war für diesen Fall so vereinbart.)

»Übrigens«, setzt Monika fort, »kommst du öfter nach Wellington?«

»Nein, eigentlich fast nie.« (Er lügt! Er ist regelmäßig in Wellington.)

»Schade. Die Buchhandlung macht eine Präsentation in Wellington, da fahre ich hin und hätte nichts gegen einen ortskundigen Führer gehabt. Übrigens, bei der Präsentation wird auch die PM dabei sein. Ich habe sie noch nie gesehen, hast du sie schon einmal aus der Nähe gesehen?«

»Nein, leider, die Arbeit die ich mache interessiert die PM sicher nicht.« (Eine mehrfache Lüge: Er kennt die PM gut und seine Arbeit interessiert die PM.) Sandra hustet noch einmal, sie wissen genug. Es war Maria, die vorschlug, diese »Schiene« Richtung PM vorzusehen. Seit dem Flug mit ihr im Hubschrauber war sie nie den Verdacht losgeworden, dass die PM mehr über SR-Inc. weiß oder wissen will, als wünschenswert ist.

»Schade, dass du dich nicht in Wellington auskennst. Aber wir treffen uns ja vielleicht wieder einmal im Food-Court? Kommst du dort öfter hin?«

»Ja, ab und zu.« (Wieder dieser fast hormondurchtränkte Gefühlsstoß von Dick, brrr!)

»Dick, ich muss jetzt los«, Monika gibt Dick noch ein Küsschen auf die Wange, er riecht ihr Parfüm, sieht ein Stück ihres Busens und überschwemmt Sandra mit einer unerträglichen Gefühlswelle.

Wenig später sitzen »die Vier«, wie sie sich jetzt schon selber nennen (Maria, Marcus, Monika und Sandra), bei Marcus im Büro. Sandra berichtet. Maria ist beeindruckt.

»Was seid ihr für ein tolles Team! Einfach unbezahlbar.«

»Ja«, sagt Marcus, »ein Glücksfall, dass wir euch gefunden haben. Und du, Maria, hast ein unglaubliches Gespür gehabt, dass die PM da irgendwie verwickelt ist.«

Sandra registriert aus seinen Gefühlen, dass er Maria nicht nur für ihr Feingefühl bewundert, sondern dies auch öffentlich sagen wollte. Je mehr sie lernt, Gefühle zu interpretieren, umso mehr wird sie fast zur Gedankenleserin, merkt sie.

»Wir sollten herausfinden, was die PM über SR-Inc. weiß und ob sie irgendeine Ahnung von Para-Fähigkeiten hat«, meint Maria.

»Wird nicht schwer sein«, sagt Sandra, »Marcus, du schickst deinen Geschäftführer Robert zur nächsten Pressekonferenz der PM. Er stellt ein paar Fragen und ich analysiere, was die PM dazu denkt.«

Sandra freut sich, als sie die Bewunderung spürt, die Marcus für ihren Vorschlag hat. Dieser kann schon drei Tage später realisiert werden.

Als Gruppe fliegen sie an einem Abend nach Wellington. Robert stellt bei der Industrie- und Wissenschaftsenquete am nächsten Vormittag einige Fragen, wie die Regierung vorhat, Wissenschaft besser zu fördern und ob es nicht auch sinnvoll wäre, ungewöhnliche Phänomene wie UFOs oder Parapsychologie zu untersuchen. Als Sandra und Robert anschließend zu Maria, Marcus und Monika stoßen, die neugierig gewartet haben, ist Sandra so erschöpft und schweißüberströmt, dass Maria ganz besorgt ist.

»Was ist los, Sandra. Bist du krank?« Sandra winkt ab.

»Nein, ich habe nur etwas getan, was ich noch nie vorher versucht habe: Ich habe mich abwechselnd immer wieder auf die verschiedenen Regierungsmitglieder und Mitarbeiter konzentriert. Das war sehr anstrengend, aber auch aufschlussreich. Ich konnte es selbst nicht glauben.«

Alle warten gespannt: »Die PM weiß, dass Maria und Marcus para-begabt sind. Sie weiß, dass SR-Inc. nur eine Tarnung ist. Aber sie ist die Einzige, die dies weiß. Weder ihre Kollegen noch ihre engsten Mitarbeiter haben eine Ahnung davon, ja haben sich gewundert, dass du, Robert, dich mit Fragen nach Para-Begabungen lächerlich gemacht hast. Und die Gruppe, die SR-Inc. überwacht (es muss neben Dick mindestens noch eine Person sein), weiß auch nichts von Para-Begabungen.«

Marcus benötigt Zeit, um das zu verdauen. Er schaltet unbewusst auf höhere Individualgeschwindigkeit und präsentiert dann den anderen das Ergebnis. Alle wundern sich, wie Marcus das so schnell analysiert hat, nur Maria kennt den Grund, nur sie weiß, dass er und ihr Sohn Stephan ihre Individualgeschwindigkeiten beeinflussen können. Sandra errät aus den Gefühlen von Maria und den vielen ganz blitzartig auf sie vorher niederprasselnden Gefühlsschwankungen von Marcus, dass dieser noch Para-Begabungen hat, die nicht alle kennen. Sie ist bedrückt durch diese Erkenntnis: Warum können sie nicht wenigstens untereinander mit offenen Karten spielen? Sie wird Marcus darauf ansprechen müssen.

Auch die Begeisterung von Marcus über ihre Leistungen kann sie nicht ganz beruhigen:

»Sandra, du könntest die beste Detektivin der Welt sein. Du bist toll.« Marcus fasst die wesentlichen Fakten zusammen: Die PM weiß von den Para-Fähigkeiten ihrer Gruppe, lässt sie gewähren, wohl weil sie bisher immer »positiv« tätig waren, vielleicht auch, weil sie zumindest die Option haben will, irgendwann auf diese Fähigkeiten zurückzugreifen. Die Gruppe wird aber laufend kontrolliert. Das heißt, so traurig das ist, man ist hier eigentlich wieder fast in der Situation der PPU in Europa, nur dass die Zügel etwas lockerer geführt werden.

»Wir müssen noch stärker werden«, schließt Marcus, »wenn es uns doch gelänge, wenigstens Barry wieder zu finden und für uns zu gewinnen.«

Der Name Barry fällt in dieser Runde das erste Mal. Monika und Sandra horchen auf.

»Welchen Barry meinst du? Wir haben einen netten neuseeländischen Barry im Senatorclub in Frankfurt am Flug von Los Angeles nach Wien kennen gelernt.« Marcus und Maria beschreiben, wie Barry aussieht.

»Das ist er«, sind Sandra und Monika sicher.

»Wisst ihr, wie wir ihn finden können? Wo er hinwollte?«

Zögernd meint Monika: »Ich glaube, er sagte, er wollte eine Freundin ... ja, so war es, Hannelore heißt sie, in Baden-Baden auf ein paar Tage oder länger besuchen.«

Marcus rechnet nach: Das war vor zirka zwei Monaten. Die Chance, dass er noch in Baden-Baden sein würde, ist sehr klein. Aber vielleicht könnte man Hannelore finden und sie würde vielleicht wissen, wo sich Barry aufhält.

»Monika, kannst du Barry orten?«

Monika ist unsicher: »So genau kenne ich ihn nicht. Er hatte aber was Besonderes. Lasst mich konzentrieren.« Monika beginnt in eine Art Trance zu versinken.

Schließlich sagt sie: »Barry lebt. Er ist nicht mehr in Europa, so weit weg ist er nicht. Er ist aber mehr als 5.000 km entfernt, das ist so eine Grenze, die ich ziemlich genau erkennen kann. - Warum ist Barry so wichtig, was ist seine Begabung?«

»So genau wissen wir das leider nicht«, sagt Marcus, »aber er hat eine Art Para-Doppelgänger, der auftauchen und verschwinden kann. Er hat damit einiges erreicht, wir hatten ihn fast ,gestellt‘, da ist er mit Tricks durch diesen Doppelgänger, die wir noch immer nicht verstehen, auf einmal verschwunden.«

Marcus denkt nach und Sandra weiß, was er vorschlagen wird, bevor er redet: »Barry ist etwas ganz Außergewöhnliches. Könntet ihr beide, du - Monika - durch dein Para-Orten und du - Sandra - durch dein Para-Gefühllesen versuchen ihn zu finden und zu uns zu bringen?«

Sandra reagiert eher unwillig: »Wie sollen wir das anstellen? Und wenn wir ihn finden? Er ist schließlich von dir davongelaufen, warum sollte er jetzt zurückkommen?«

»Ich stelle mir das so vor«, antwortet Marcus ruhig, »Hannelore ist in Baden-Baden - eine schöne Stadt, zirka 200 km südlich von Frankfurt übrigens, wird euch gefallen. Ihr könntet sie vor allem durch Sandra doch aufspüren. Monika weiß dann auch immer, wie weit Barry ungefähr entfernt ist. Durch Hannelore kommt ihr auf seinen jetzigen Aufenthaltsort, wenn er nicht ohnehin noch bei Hannelore ist.«

»Nein, ist er nicht«, sagt Sandra mit Bestimmtheit, »er ist ein Frauenverführer durch und durch, er hat, wen auch immer, nach zwei Monaten schon wieder satt.«

Marcus lässt sich nicht beirren. »Also, ich glaube die Chance ist hoch, dass ihr Barry finden könnt. Und dann traue ich dir, Monika, zu, dass du ihn verführen kannst, mit dir nach Auckland zu kommen.«

Jetzt reagiert Monika so heftig wie vorher Sandra: »Marcus, du behandelst mich noch immer, wie du die Mädchen in Las Vegas behandelt hast. Die taten nach deinen Wünschen, was immer du wolltest, weil du genug Geld hattest. Du bist überhaupt total unfair, du weißt alles über die Begabungen um dich, von mir, von Sandra usw. Ich aber weiß von deinen Begabungen fast nichts, außer dass du was Besonderes mit deinen Gedanken kannst. Mich zu überzeugen gehört nicht dazu!«

Marcus fühlt sich auf einmal müde und verzweifelt. Ja, Monika hat in vieler Hinsicht Recht. Vielleicht sieht er sie noch immer falsch, behandelt sie nicht richtig; aber die Frage mit der offenen Besprechung von Para-Begabungen ist so komplex, dass er nicht weiß, ob man das machen soll. Wenn alle wüssten, dass Sandra ihre Gefühle erspüren kann? Wenn sie wüssten, dass Maria in jedes Zimmer, durch jede Wand hindurchsehen kann? Wenn sie wüssten, was er alles mit seiner T-Kraft kann ... Könnte man da noch zusammenleben? Wenn es jetzt bei vier erwachsenen Para-Begabten schon die ersten Auseinandersetzungen gibt, ist dann der Traum einer großen Para-Community nicht wirklich nur ein Traum?

Marcus entschuldigt sich bei Monika und Sandra, erklärt mit hörbarer Unsicherheit in seiner Stimme, dass die vollständige Offenlegung aller Para-Fähigkeiten nicht ohne Probleme abgehen wird. Aber er nimmt zur Kenntnis, dass man sich das sehr genau überlegen muss und dass sie alle darüber weiter möglichst emotionslos diskutieren sollten.

»Und, Monika, ich bin nicht mehr derselbe Marcus, den du kennen gelernt hast. Ich hoffe, einiges dazugelernt zu haben. Ich will auch nicht der große Anführer in einer Gruppe von außergewöhnlich begabten Menschen sein, sondern nur der, der verzweifelt versucht, für alle Para-Begabten eine Heimat zu schaffen und eine Hilfe für alle anderen Menschen zu sein.«

Es tut Monika Leid, dass sie so aggressiv war, und sie sagt es. Aber es ist Sandra, die die Müdigkeit, die Verzweiflung, aber auch die Ehrlichkeit in Marcus Worten gefühlt hat, die die Situation endgültig rettet:

»Wir haben sicher noch viel zu besprechen in den Jahren, die wir zusammen sein werden. Aber jetzt haben wir einmal eine Aufgabe, Monika. Wir müssen Barry zu uns bringen. Bist du dabei?«

Monika nickt. »Die Jagd auf Barry kann beginnen«, lacht sie.

Während des Rückflugs des SR-Inc.-Teams sitzt Sandra neben Monika und sagt ihr: »Weißt du, dass Robert von dir ganz hingerissen ist und alles geben würde, mit dir ins Bett zu gehen?« Monika ist recht überrascht. Der vierzigjährige Robert gilt als guter Ehemann und hat sie bisher immer nur korrekt behandelt. Aber Monika überlegt, dass sie schon fast auf sexuellen Notstand plädieren könnte. Als sie in Auckland ankommen, sagt sie ganz nebenbei zu Robert.

»Ich habe beschlossen heute in der Stadt zu bleiben. Willst du mit mir noch ins Casino und dann ins Bett?« Robert ist verwirrt, aber er lässt sich nicht lange bitten. Monika nimmt sich ein Einzelzimmer im Casinohotel, erlaubt Robert zuzuschauen, wie sie sich für das Casino herrichtet. Er selbst ist wegen der Enquete recht elegant gekleidet. Im Casino wird Monika wieder die freche Monika wie vor mehreren Jahren. Robert ist verzaubert.

Er ist im Begriff, sich in Monika zu verlieben. Und Monika hat ihren alten Jagdinstinkt entdeckt. Sie mag den netten und ruhigen Robert und ist erstaunt, wie angenehm seine Hand auf ihren Schultern ist, wie gut sich sein Mund anfühlt, als sie später auf ihrem Zimmer sind. Zuletzt wissen sie selbst nicht so recht, was über sie gekommen ist. Aber sie umarmen sich noch einmal liebevoll, als Monika fast gegen ihre Gefühle Robert nach Hause schickt und sagt:

»Deine Familie wartet«, und fügt noch etwas hinzu, das viel später große Auswirkungen haben wird. »Nur für deinen Chef, für Marcus, würde ich noch mehr, viel mehr, tun als für dich, Robert.« Dieser fährt, noch immer verwirrt, nach Hause. Wie ist das alles geschehen, hat er geträumt? Und der letzte Halbsatz geht ihm nicht aus dem Kopf. Es ist das erste Mal, dass er Marcus nicht bewundert, sondern Ressentiments gegen ihn spürt.

Am nächsten Tag benimmt sich Monika, als wäre nichts geschehen. Sie und Sandra stürzen sich in Reisevorbereitungen und fliegen am Tag darauf nach Frankfurt, ohne dass Robert auch nur ein einziges Mal hätte alleine mit Monika reden können.

»Vielleicht ist es auch besser so«, denkt er, »ich sollte gestern als einmalige Laune von Monika verstehen und den Vorfall vergessen.« Das Problem ist: Er kann und wird alles vergessen, aber den letzten Halbsatz von Monika nicht.


Barry hat die Zeit mit Hannelore genossen. Wohnte er anfangs in Baden-Baden im Romantik-Hotel »Kleiner Prinz«, das nach dem Roman von Saint-Exupéry dekoriert ist, sah er nach zwei Nächten keinen Grund mehr, nicht in die Prachtvilla von Hannelores Eltern am Rande von Baden-Baden zu übersiedeln. Dort standen stets mehr als ein Dutzend Zimmer für Gäste bereit. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, man traf immer wieder neue, interessante Menschen und konnte sich völlig frei im Haus bewegen. Nur der Gong am Abend rief alle immer für ein fürstliches Mahl zusammen. Hannelore war eine entzückende Entdeckung, die er als deutsche Touristin in Rio völlig unterschätzt hatte. Nachdem er am ersten Abend im Elternhaus einen »Gute-Nacht-Kuss« in seinem Zimmer eingefordert hatte und sie dann auch tatsächlich zu ihm hereingehuscht war, hatte sich aus anfänglichem harmlosem Kuscheln eine wachsende Vertrautheit entwickelt. Und als sie das erste Mal »wirklich« miteinander schliefen, war es so natürlich und einfach, dass es sie beide überwältigte. Dass es Para-Barry war, der mit Hannelore schlief, wusste sie natürlich nicht, doch war diese hygienische Vorsichtsmaßnahme inzwischen für Barry fast eine Selbstverständlichkeit geworden.

Hannelore ritt wie eine Göttin, war im Kupfersaal des Casinos so zu Hause wie auf einer intimen Nachtwanderung zu zweit mit Fackeln zum Hutzenbacher See, ein Erlebnis, das Barry im doch sehr erschlossenen Schwarzwald nicht erwartet hatte. Als sie gegen Mitternacht beim See ankamen, tauchten sie ohne zu zögern in das moorige Wasser, das sich wärmer als die Luft draußen anfühlte, schlüpften dann, noch feucht, zusammen in den Schlafsack und erzählten sich zwischen vielen Umarmungen und was ihnen sonst einfiel aus ihren Leben. Die Nacht war kurz, denn als der Himmel hell wurde, weckte Hannelore Barry gegen seinen Willen auf. Sie sorgte mit Kaffee aus einer Thermosflasche und ihrem Körper, dass er schnell hellwach wurde. Dann lagen sie nebeneinander und beobachteten zwischen weichen Küssen die verblassenden Sterne und den Morgenwind in den Bäumen, der plötzlich die Vögeln aufzuwecken schien. Sie waren schon lange in die Ortschaft hinunter unterwegs, als sie die ersten Menschen trafen. Sie lösten Verwunderung aus, als sie als Nicht-Hausgäste zum Frühstück im Schloss Eberstein einkehrten. Hannelore schlug Barry beim Schachspiel und beim Tennis. Sie war eine gutmütige, aber überlegene Bridgepartnerin. Sie tanzte zu gut für Barry, dass er fast Komplexe bekam. Sie zeigte ihm das Schloss in Karlsruhe, die Residenz in Rastatt, das Kloster in Maulbronn, das Barry aus Hermann Hesses Romanen kannte, aber sie fuhren auch weiter, etwa nach Zürich, wo sie in der kühlen Limnat schwammen (nur bei dieser Sportart war Barry eindeutig besser als Hannelore). Sie und ihre Eltern freuten sich, als er sie auf ein großes Essen im berühmten »Erbprinzen« in Ettlingen ausführte.

Aus geplanten einigen Tagen wurden Wochen. Hätte Hannelore nicht ihr Medizinstudium in Heidelberg fortsetzen müssen, dann wären sie wohl noch länger zusammengeblieben. Unter tausenden Studenten kam sich Barry aber auf einmal entbehrlich vor und wurde rastlos. So trennen sie sich, beide bestürzt, wie sie zusammengewachsen waren und wie leicht jetzt, im Heidelberger Trubel, doch der Abschied fällt. Barry lädt bei seinem Abflug nach Brasilia Hannelore halbherzig ein, ihn doch bald zu besuchen.

Para-Barry benötigt einige Tage, bis er sich wieder auf die samtige Haut Gabrielas und die nicht enden wollende Energie Ginas eingestellt hat.


Nach der Ankunft in Frankfurt fahren Sandra und Monika mit dem Mietauto nach Baden-Baden und mieten sich im »Hotel Therme« ein. Wenn sie schon in einer Stadt mit einem Bad aus der Römerzeit sind, dann wollen sie dieses auch ausprobieren!

Die nächsten beiden Tage sind frustrierend. Monika hat sofort festgestellt, dass Barry nicht mehr in der Stadt und auch nicht mehr in Europa ist. Sie müssen also eine »Hannelore« finden, die Barry kennt. Das Telefonbuch enthält so viele Hannelores, dass sie nach einigen Dutzend Versuchen aufgeben. So kommen sie nicht weiter. Wenn Barry hier eine Freundin besucht hat, dann wird er ihr doch manchmal Blumen geschenkt oder sie ausgeführt haben? Also beginnen sie in Blumengeschäften nach einem »jungen Mann namens Barry, der Blumen für eine Hannelore, die hier wohnt«, gekauft hat, zu fragen. Sie haben keinen Erfolg. Als auch die ersten zwanzig Restaurants nichts ergeben, stellen sie die Suche ein.

»Das ist ein Unsinn, was wir machen. Außer dass du beweisen konntest, dass Barry nicht hier ist, können wir unsere Begabungen gar nicht einsetzen. Was wir hier machen, kann Marcus durch eine Detektivbüro besser erledigen lassen«, meint Sandra. »Wenn uns bis morgen nichts Neues einfällt, dann rufen wir Marcus an. Er kann das hier entweder professionell machen oder wir sollten deine Begabung ausnützen und so lange in der Welt herumfliegen, bis du weißt, dass wir in Barrys Nähe sind.«

Sie feiern diesen Entschluss, indem sie zunächst ins Römerbad gehen. Das ist eher enttäuschend, zu reguliert kommt ihnen alles vor. Wie viel schöner sind doch die heißen Quellen auf Great Barrier Island! Aber das Wasser hat eine sehr erfrischende Wirkung. Warum sie besonders positiv auf das Wasser ansprechen wird ihnen erst Wochen später klar ...

Anschließend leisten sie sich ein Essen im »Erbprinzen« in Ettlingen, von dem sie als tollstes Speiselokal in der Umgebung gehört haben. Es ist tatsächlich sehr gut, die Bedienung ausnehmend freundlich. Als der Kellner sich einmal unverbindlich erkundigt, wo sie herkommen, und Monika »Neuseeland« antwortet, registriert Sandra ein Gefühl der Überraschung bei dem Kellner.

»Kennen Sie Neuseeland?«

»Nein«, antwortet dieser, »aber wir haben natürlich sehr selten Gäste aus Neuseeland. Insofern ist es schon ein Zufall, dass erst vor ungefähr einer Woche auch jemand von dort hier war.«

»Können Sie sich an den Namen erinnern?«

»Nein, nicht wirklich, aber er war wohl der Freund von Hannelore Durbach; sie und die Eltern haben ihn Barry oder so ähnlich genannt.«

»Die Durbachs wohnen in Baden-Baden?«

»Ja, seit Generationen. Sie kennen doch vielleicht die große Villa in der Kurve, wo die Straße beginnt zur Schwarzwald-Hochstraße hinaufzuführen?« Die beiden kennen die Villa nicht, aber das ist ja auch gleichgültig. Morgen werden sie gleich dorthin fahren! Beide sind total erstaunt: Eben hatten sie die Suche aufgegeben und jetzt erscheint auf einmal alles ganz einfach.

Es wird auch einfach. Über Hannelores Eltern erfahren sie deren Adresse, sie finden Hannelore problemlos in Heidelberg und diese gibt ihnen die Adresse von Barry in Brasilia mit herzlichen Grüßen an ihn. Bald darauf sitzen Sandra und Monika im Flugzeug.

Nachdem sie sich ausgeschlafen haben, lassen sie sich auf gut Glück zu seiner Wohnung bringen. Er öffnet. Sein Mädchen, Gabriela, verschwindet neugierig in ihrem Zimmer. Barry ist verwundert, Monika und Sandra zu sehen. Zwar erinnert er sich vage an sie vom Frankfurter Flughafen, doch hatten sie ja dort nicht einmal Adressen ausgetauscht, meint er sich zu erinnern.

»Nein, wir hatten deine Adresse nicht, und es war gar nicht so einfach, dich zu finden«, erklärt Monika, »Aber immerhin wussten wir, dass du eine Hannelore in Baden-Baden besuchen wolltest. Drum zuerst einmal, herzliche Grüße von ihr, du sollst sie einmal in Heidelberg besuchen, lässt sie ausrichten. Aber der wirkliche Grund ist ein anderer: Marcus aus Auckland schickt uns zu dir und bittet dich zurückzukommen.«

Barry, völlig überrascht, bittet sie, sich zu setzen. Er bittet Gabriela Kaffee zu bringen. Sandra spürt Barrys Gefühle: Neben der zu erwartenden Verblüffung ist eine große Portion Neugier dabei und ein wenig Ablehnung.

Sandra übernimmt das Gespräch: »Barry, du weißt, dass Marcus und seine Familie alle Para-Begabungen haben. Du hast auch eine. Wir beide auch, und wir wohnen inzwischen auf Great Barrier Island. Du wolltest dich nicht mit der Gruppe von Marcus zusammentun, sondern unabhängig leben, du genießt deine Eroberungen in der Frauenwelt und hast genug Geld, dass du nicht arbeiten musst. Aber es muss dir auch so gehen wie mir und wohl auch Monika: Denkst du nicht manchmal, dass du deine Gabe verschwendest, mit der du Menschen helfen könntest und es ja sicher auch getan hast? Glaubst du nicht, dass das viel zählt? Oder die Tatsache, über die Probleme, die wir alle mit unseren Para-Begabungen haben, mit anderen offen reden zu können. Ich kenne deine Probleme nicht, aber du hast sicher welche.«

Sandra spürt, wie sie ihn mit ihren Worten packt. »Willst du dich das ganze Leben verstecken oder dich mit Gleichgesinnten zusammentun, dabei gut, befriedigt und sicher leben und wissen, dass du auch für andere was Gutes tust?«

»Marcus (oder mein Schicksal?) hat mich also eingeholt«, denkt Barry. Er weiß, dass Sandra in vielen Punkten Recht hat. Wieso weiß sie von Problemen, die er haben soll, die er sich selbst noch nie eingestanden hat?

»Was ist deine Para-Begabung, Sandra?«

»Ich kann zwar keine Gedanken lesen, aber ich kann Gefühle lesen. Ich weiß zum Beispiel jetzt, dass dich das, was ich gesagt habe, sehr getroffen hat. Du hast es dir, seit du von Auckland weg bist, schon oft selber überlegt, richtig? Aber am meisten getroffen hat dich, dass ich von Problemen gesprochen habe, die du auch hast. Es fühlt sich so an, als hättest du dich mit diesen noch sehr wenig beschäftigt. Von mir war das ein Schuss ins Blaue, aber ich weiß inzwischen, dass wir Para-Begabte alle Probleme haben. Einige haben wir gemeinsam: die Angst, entdeckt zu werden; das Abwägen, was für andere bzw. was für uns gut ist; die Frage, wie sehr wir andere Menschen unterstützen oder ausnutzen dürfen; unverständliche Eigenschaften unserer Para-Phänomene, denen nur eine größere Forschungsgruppe, wie sie Marcus in Auckland aufbaut, auf den Grund gehen kann. Aber dann gibt es auch bei jeder Para-Begabung spezifische Probleme. Du wirst uns deine schon einmal erzählen, du gehörst zu uns und wirst früher oder später zu uns kommen. Aber damit du siehst, was ich meine, lass dir von meinem Hauptproblem erzählen. Ich kann - wie gesagt - Gefühle lesen. Klingt doch toll, oder? Ist es auch. Aber dadurch merke ich jede Lüge, ich merke, was ein Mann über mich denkt, wenn ich beginne ihn gern zu haben, wenn wir uns küssen usw. Weißt du, wie schlimm das ist? Weißt du, wie gut es tut, darüber reden zu können, gemeinsam überlegen zu können, was man vielleicht dagegen machen kann? Dass man Forscher darauf ansetzen kann, die nach Lösungen suchen?«

Sie spürt, dass Barry sehr aufgewühlt ist.

»Barry, du brauchst dich nicht jetzt zu entscheiden. Zeig uns in den nächsten Tagen ein bisschen von dieser Stadt und der Umgebung, wenn du Lust hast. Und dann komm mit uns oder nicht. Du bist bei uns nicht gefangen, freilich wirst du auch nie mehr ganz entkommen können.«

Barry ist verwirrt: »Wie meinst du das?«

»Du hast das Pech, dass dich Monika kennen gelernt hat. Und sie ist Para-Orterin, sie kann immer feststellen, wie weit du ungefähr von ihr entfernt bist.«

Während Sandra dies sagt, fällt ihr das erste Mal auf, dass Barry nur dann wieder unauffindbar verschwinden kann, wenn er Monika mitnimmt oder sie tötet!

Barry sitzt lange ruhig.

»Sandra, machen wir es, wie du gesagt hast. Gebt mir drei Tage und ich zeige euch auch ein paar Sachen. Dann sehen wir weiter.«

Das Zusammensein mit Barry und Monika ist ein großes Erlebnis für Sandra. Sie fühlt dieses unglaubliche Verlangen in Barry, Frauen zu verführen, aber sich nicht zu binden. Und sie erlebt staunend, dass er Monika anders empfindet, mit einer wachsenden tiefen Zuneigung, ohne jenen Jagdinstinkt, den sie bei anderen Frauen bei ihm merkt. Sandra fühlt auch, dass Monika Barry anders sieht als andere Männer. Bald beschließt Sandra, dass sie als Dritte mehr als überflüssig ist.

»Ich muss Freunde in Rio besuchen«, gibt sie vor. »Ich rufe euch in zwei Tagen an, um zu erfahren, wie es weitergeht.«

Das Telefongespräch in zwei Tagen ist kurz.

»Monika und ich haben beschlossen, dass wir beide nach Auckland kommen. Wir haben schon die Flugverbindungen herausgesucht. Wir kommen morgen nach Rio, dann fliegen wir gleich weiter. Schau, dass du auf denselben Flug kommst«, sagt Barry noch, bevor er auflegt. Sandra hat dieses starke »wir« von Barry nicht erwartet.

Während sie Marcus telefonisch mitteilt, wann sie ankommen und dass Barry dabei sein wird, verabschiedet sich Barry von Gina. Dabei gibt es keine Tränen; Gina hat immer gewusst, dass Barry Brasilia einmal wieder verlassen wird. Sie wird sich um Wohnung, Auto und alles kümmern - und er soll doch wieder einmal nach Brasilien kommen. Anders ist es bei Gabriela; mit feuchten Augen gibt sie Barry eine fest verschnürte Schachtel:

»Mach sie erst bei deinen Freunden in Neuseeland auf, ihr werdet den Inhalt vielleicht brauchen. Du weißt, wo du mich finden kannst, wenn du mich oder meine Eltern je brauchst. Du kennst unsere kleine Plantage in Cristalina.«

Barry ist gerührt, obwohl er das »Oder wenn du etwas von meinen Eltern brauchst« nicht versteht. Er gibt ihr ein Kuvert mit einem größeren Scheck und revanchiert sich.

»Erst aufmachen, wenn du bei deinen Eltern bist. Aber das darf ich dir noch selbst umhängen.« Er nimmt eine Goldkette, an der ein kreisrundes Kunstwerk hängt: ein Abbild von Gabrielas Gesicht, das mit Edelsteinen besetzt ist.

»Ich habe zwei davon machen lassen«, sagt er, »eines bleibt bei mir.« Dann streift er ihr leicht und liebevoll die Kette über, umarmt und küsst sie noch einmal leidenschaftlich, während Monika neidlos zusieht.

»Viel Glück, euch beiden«, sagt Gabriela, »und ladet mich zu eurer Hochzeit ein!«

Verdutzt schweigen Barry und Monika.

»Wird geschehen«, sagt schließlich Barry sehr nachdenklich, »Gabriela, du ahnst offenbar manchmal mehr als die Betroffenen.« Monika starrt Gabriela ungläubig an.

Sandra trifft Barry und Monika in Rio vor dem gemeinsamen Abflug. Beide schauen ruhig und glücklich aus. Fast befehlend stellen sie sich vor Sandra hin:

»Sag uns, wie es uns geht.«

Sandra lächelt, taucht in die Gefühlswelt von Monika und Barry ein. Dann schaut sie beide an: »Ihr seid okay. Was mit euch passiert ist, verstehe ich nicht. Ihr seid fast wie andere Menschen. Ich verstehe nicht, wo der jagende Barry und die flirtende Monika hinverschwunden sind. Ich wünsche euch, dass es so bleibt.«

»Jede Para-Begabung hat auch ihre Probleme«, lächelt Barry, »und du, Sandra, hast nun das Problem, dass du uns warnen musst, wenn sich unsere Gefühle ändern.« Sandra versteht, dass das fast ernst gemeint ist.

Die drei werden nach ihrer Ankunft in Auckland gleich auf Great Barrier Island geflogen. Nach einem kurzen Begrüßungsdrink ziehen sie sich zurück, sie müssen sich zunächst einmal ausschlafen.

Am nächsten Tag setzen sich die erwachsenen Para-Begabten zusammen. Marcus sagt, wie sehr er sich freut, dass Barry zurückgekommen ist. Dieser winkt ab.

»Lasst mich einmal erzählen und erklären. Ja, ich bin zurück und werde in Zukunft, wo es sinnvoll ist, mit euch arbeiten. Monika und ich werden aber nicht hier, sondern wie Aroha in Auckland wohnen, zumindest für den Anfang. Ich glaube, dass ich als ‚Neuer im Club‘ erklären sollte, was meine Para-Begabung ist. Über eure weiß ich ja ein wenig Bescheid und ich werde sicher allmählich mehr erfahren. Marcus, du hast immer vermutet, dass ich eine Art Doppelgänger mit speziellen Eigenschaften habe. Das stimmt fast, aber nicht ganz. Es ist vielmehr so, dass ich in eine Art Trance verfallen kann und dann eine Projektion von mir, wo ich will, materialisieren lassen kann. Ich sehe, höre, rieche, fühle dann durch diese Projektion und kann sie jederzeit wieder auflösen. Dann wache ich sozusagen wieder auf. Ich kann die Projektion auch den Ort wechseln lassen; in Wirklichkeit löse ich die Projektion dabei auf, wache ganz kurz auf und schicke die Projektion woanders hin. Die Projektion hat Einschränkungen: Ich kann sie nicht über mehr als zirka 300 km entstehen lassen und bei über 10 km wird die Projektion weniger massiv. Das sieht man zwar nicht, aber sie ist dann zum Beispiel leichter, als ich es bin. Den Ort, wo die Projektion - ich nenne sie übrigens Para-Barry -, erscheint, muss ich genau kennen und ich muss hoffen, dass dort gerade keine Menschen sind, sonst erschrecke ich die sehr. Es gibt noch eine Einschränkung: Ich kann weder beim Entstehen der Projektion noch beim Auflösen mehr als die Kleidung und wenige ganz kleine Gegenstände mitnehmen. Dies scheint sich allerdings beeinflussen zu lassen, ich komme da später noch darauf zurück.«

Barry macht eine kurze Pause, bevor er weiterspricht: »Das Ungewöhnlichste an der Projektion ist, dass ich zwar jeden Schmerz fühle, der dem Para-Barry zugefügt wird, aber mein eigentlicher Körper wird dadurch nicht verletzt. Das heißt, man kann den Para-Barry eine Hand abschlagen und das tut höllisch weh, aber wenn ich den Para-Barry zurückhole, dann habe ich die Hand intakt, ja, ich kann einen neuen Para-Barry, der wieder vollständig ist, irgendwo hinsenden. Der Para-Barry ist damit eigentlich unverletzbar und auch gegen Krankheiten immun. Er kann sich zum Beispiel einen Schnupfen oder auch Aids holen, aber wenn ich den Para-Barry zurückhole, bin ich nicht angesteckt, und ein neu ausgesandter Para-Barry ist ebenfalls gesund. Das und einige andere Phänomene verstehe ich eigentlich nicht. Wenn ich kleine Stückchen beim Zurückholen der Projektion mitnehmen kann, wieso kommen dann nicht auch Viren zurück? Die beste Erklärung ist, dass nur das zurückkommt, von dem ich will, dass es zurückkommt! Vielleicht sollte ich auch in einem Punkt ganz offen sein: Ich habe, bis ich Monika kennen gelernt habe, ein fast krankhaftes Bedürfnis gehabt, immer wieder verschiedenste Frauen zu lieben. Ich war also, wie ihr ohnehin alle wisst, ein sehr erfolgreicher Weiberheld. Um aber weder mich noch die Partner irgendwie gesundheitlich zu gefährden, hat immer ein Para-Barry geliebt. Nur mit Monika ist das jetzt anders«, lächelt Barry Monika an, »aber das mit dem Para-Barry war oft auch recht kompliziert. So, das wäre es fürs Erste. Gibt es Fragen?«

»Kann man Barry und Para-Barry auseinander kennen?«, will Marcus wissen. »So weit ich weiß, nicht. Vielleicht können es deine Forscher. Lasst euch alles einmal vorführen.«

Barry versinkt in seinem Sessel in eine tiefe Trance. Da steht ein Para-Barry plötzlich am Fenster und sagt: »Jetzt seht ihr mich als einen Para-Barry. Ich kann noch immer Marcus die Hand schütteln, ich bin (weil ich nicht zu weit weg materialisiert habe) genauso schwer wie der wirkliche Barry, durch dessen Gehirn ich in Wirklichkeit spreche. Ich kann den wirklichen Barry auch angreifen (er tut es) und ich fühle, dass er anormal heiß ist. Warum der Barry in Trance immer 40 Grad hat, weiß ich nicht. Und was passieren würde, wenn der Körper in Trance verletzt wird, weiß ich auch nicht, möchte ich auch nicht probieren. Wie lange der Barry in Trance liegen kann, weiß ich genauso wenig. Barry ist aber nach dem Aufwachen oft sehr durstig und hungrig, umso mehr, je länger er in Trance war. Para-Barry kann essen und trinken (er trinkt einen Schluck Wein), er kann sich sogar betrinken. Aber wenn er von Barry aufgelöst wird, ist Barry selbst nicht betrunken und das Essen ist auch weg. Ihr staunt? Kann ich verstehen. Ich habe auch gestaunt. Es gibt weitere eigentümliche Phänomene, eines zeige ich euch noch.«

Er nimmt ein Messer und ritzt sich einen Schnitt über den ganzen Oberarm, mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Das genügt«, sagt der Para-Barry. Er verschwindet und Barry »wacht auf«. Er zeigt seinen Oberarm: Kein Ritzer ist zu sehen!

»Fantastisch«, murmeln alle. Maria sagt:

»Ich glaube, wir verstehen jetzt vieles. Als du uns das erste Mal besuchtest, war das Para-Barry. Und weil Great Barrier Island mehr als 10 km von Auckland entfernt ist, warst du nicht so schwer wie normal, bist darum nicht im Sumpf eingesunken und konntest spurlos aus deinem zerschmetterten Auto entkommen.« Barry nickt.

»Und du als Barry hast Para-Fähigkeiten, die Lena als junge Späherin fühlen kann, aber Para-Barry hat sie nicht, drum war Lena mehrmals total verwirrt. Ah, und darum hast du an manchen Tagen keinen Damenbesuch im Reisebüro gehabt (da war der richtige Barry dort) und an anderen Tagen als Para-Barry Damenbesuch ...«

»Also bitte, alle Details musst du Monika nicht erzählen«, protestiert Barry.

Marcus mischt sich ein: »Eines verstehe ich trotzdem nicht, wie du das beim Verschwinden aus Auckland gemacht hast. Bei unserem letzten Gespräch im Reisebüro, da war das wohl Para-Barry, sonst hätte er nicht verschwinden können.« Barry nickt erneut.

»Aber wir haben ja die Wohnung mit dem echten Barry auch andauernd bewacht. Da gingst du hinein, aber dann war die Wohnung auch leer!«

Barry lacht: »Na ja, es ist doch ganz einfach. Ich habe am Vortag am Flughafen ein Zimmer gemietet und das Schild »Nicht stören« an die von innen verriegelte Tür gehängt. Dann bin ich als Para-Barry in meine Wohnung gegangen, habe mich dann aber entmaterialisiert. Ihr habt also immer eine schon leere Wohnung überwacht. Dann habe ich als normaler Barry im Hotel geschlafen. Und nun kommt der trickreiche Teil: Der Flug aus Auckland, natürlich unter falschem Namen, sollte um 9.55 Uhr abheben. Ich checkte ein, erste Klasse, gab vor, dass es mir nicht gut ginge und materialisierte als Para-Barry im Büro, knapp, bevor du kamst. Das Heikle war nur, dass mich das Flugpersonal nicht beim Starten zwingen würde können, aufrecht zu sitzen (den Sitzgurt hatte ich angelegt), weil ich als »Barry in Trance« (das ist eine große Schwäche meiner Begabung) leider gar nichts merke, also unansprechbar bin. Während wir beide, du, Marcus, und ich, redeten, war das Flugzeug schon mit mir (in Trance) gestartet. Aber darum hatte der Para-Barry im Reisebüro es so eilig, weil schnell die kritische Grenze von 300 km erreicht worden wären.«

»Genial«, kommentiert Marcus.

»Willkommen im Club! Natürlich wird akzeptiert, dass ihr lieber in Auckland allein wohnen wollt. Wir werden uns regelmäßig treffen. Machen wir jetzt kein großes Theater, aber bitte: Ab jetzt gehören wir zusammen, bis einer aussteigen will. Bis dahin helfen wir uns gegenseitig und versuchen, gemeinsam das weitere Vorgehen zu besprechen. Was soll erforscht werden? Wo wollen wir eingreifen? Wie finden wir weitere Mitglieder? Wie können wir der Menschheit helfen? Wie können wir erreichen, dass wir oder unsere Kinder uns einmal »outen« können? An welche Gesetze/Spielregeln halten wir uns? usw. Dafür treffen wir uns regelmäßig. Sind alle damit einverstanden?« Alle nicken.

Sandra ist in einem Punkt noch neugierig. »Barry, als wir in Brasilia sprachen, da wurde klar, dass du auch ein Problem mit deiner Begabung hast. Du hast davon aber nichts erzählt. Was ist das Problem?«

Barry zögert kurz. »Ich empfinde als Para-Barry ganz normal, bin aber unverletzbar, gegen Infektionen gefeit, kann jederzeit verschwinden, den Ort wechseln usw. Das heißt, die große Versuchung für mich besteht darin, überhaupt nur mehr als Para-Barry zu agieren, nur ab und zu als richtiger Barry schnell etwas zu trinken und zu essen und zurück in die Projektion des Para-Barrys zu verschwinden. Das Problem dabei ist aber, dass mein Körper muskel- und kräftemäßig verfällt. Nach Tagen mehr oder minder als Para-Barry bin ich so schwach wie Patienten in Spitälern, die sich nicht bewegen können. Hier muss ich einen Kompromiss schließen und wie der am besten aussieht, weiß ich einfach noch nicht.« Sandra und die anderen sind überrascht: Was doch alles an neuen Problemen durch Para-Fähigkeiten entstehen kann!

Da fällt Barry noch etwas ein. »Mein Mädchen in Brasilia hat mir zum Abschied eine Schachtel gegeben und gesagt, ich darf sie erst mit euch zusammen aufmachen. Ich glaube, ich weiß, was drinnen ist, aber lasst uns schauen.«

Er schnürt die Schachtel auf. Drinnen liegen mehrere Quarzkristalle.

»Was ist das?«, fragt Marcus erstaunt.

Barry hält einen hoch: »Seht ihr, da drinnen sind gerade schwarze Fäden, das ist Kohlenstoff, der sich eigentlich durch Hitze und Druck in Diamantenstaub hätte verwandeln sollen. Und dann gibt es da noch gebogene Fäden und Flecken an der Oberfläche. Diese bestehen angeblich aus einer eigentümlichen Verbindung, Silatraviat.« Sandra bemerkt die plötzliche Aufregung von Marcus.

»Ich habe den Eindruck, dass diese Kristalle unsere Para-Fähigkeiten erhöhen«, fügt Barry hinzu. Marcus nimmt einen Kristall in die Hand. Er konzentriert sich auf einen Punkt der Insel, den er mit seinen T-Kräften bisher nie hatte erreichen können. Heute geht es problemlos: Er hat den Stein, den er dort mit seiner Pseudohand ergreifen wollte, fest in dieser! Dann lässt er den Kristall aus und sofort wird sein Kontakt mit dem Stein unterbrochen.

»Ich denke, du hast Recht, Barry. Wir werden das genau untersuchen müssen. Auf jeden Fall haben wir jetzt viele Gründe zu feiern.« Die Para-Community in Neuseeland beginnt Gestalt anzunehmen.