4. Die Para-Forschung



Ende Februar 2011

Die Para-Begabung von Barry bleibt zunächst ungeklärt. Marcus lässt ihn weiter beobachten und beschließt, falls sich nichts Neues ergibt, ihn bei Gelegenheit nochmals direkt zu fragen.

Marcus verbringt wieder etwas mehr Zeit in seiner SR-Inc. Obwohl diese immer wieder zu Einsätzen gerufen wird und erfolgreich tätig ist, vermeiden es Maria und Marcus bei Einsätzen selbst mitzumachen, außer sie können wirklich entscheidend helfen. Der Chef von SR, ihr Freund Robert, verständigt sie in solchen Fällen.

Seit Jahren geht es Marcus in der Forschungsabteilung der Firma um einige der wesentlichsten Fragen der Parapsychologie:


Problemkreis 1: Warum sind manche Menschen para-begabt, aber die Mehrheit der Menschen ist es offenbar nicht? Ist diese Begabung genetisch bedingt oder wird sie durch Erziehungs- und Umgebungseinflüsse ausgelöst oder durch eine Kombination dieser beiden Komponenten? Wenn eine solche Begabung genetisch bedingt ist, kann man dann durch Genmanipulation eines Tages Menschen mit den verschiedensten Para-Begabungen ausrüsten? Ferner, wenn es an den Genen liegt, sind dann die Para-Begabten oder die übrigen Menschen jene mit »fehlerhaften« oder »fehlenden« Genen?


Problemkreis 2: Wie kann man obige Fragen und ähnliche anpacken? Durch möglichst genaue Untersuchungen von Para-Begabungen mit dem Ziel, Übereinstimmungen festzustellen? Dann wäre es wichtig, möglichst viele Para-Begabungen als Ausgangsbasis zur Verfügung zu haben. Alle Para-Begabungen der seinerzeitigen PPU in Brüssel sind untergetaucht und konnten bisher nicht wieder gefunden werden. Die jüngst entdeckte Späher-Fähigkeit von Lena eröffnet da neue Chancen; sie hat ja auch Barry entdeckt. Nur zeigt andererseits gerade dieser Fall, wie sehr sich Para-Begabte fürchten, als solche erkannt zu werden!


Problemkreis 3: Wie kann man Para-Begabungen auch ohne Späher auffinden? Am ehesten wohl mit statistischen Methoden und Methoden aus dem Wissensmanagement und »Data Mining« [5], [6], indem man Ereignisse, die einzeln auftretend nicht beachtet werden, in Verbindung bringt und daraus ein Muster ableitet. Große Informationsquellen wie das Internet bieten sich dabei als Fundgruben an. Marcus hat zum Beispiel durchaus berechtigt Angst, dass eine systematische Analyse von Medienberichten aus Neuseeland über Rettungseinsätze die SR-Inc. erfolgreich als verdächtig identifizieren könnte.


Problemkreis 4: Warum kann man nicht (das müsste doch gehen!) Para-Begabungen erkennbar bzw. sichtbar machen? Wieso gibt es Menschen wie Lena (oder den seinerzeitigen Chef der PPU Baumgartner), die Para-Begabungen erkennen können, und keine technischen Methoden, die das auch leisten? Marcus zum Beispiel als Telekinet verfügt über Pseudohände, die an sich durchsichtig/unsichtbar sind, die er aber durch das Eintauchen in eine farbige Flüssigkeit insofern sichtbar machen kann, als dann durch seine Pseudohände Hohlräume im Wasser entstehen. Wieso sprechen keine technischen Geräte auf diese »Pseudohände« oder auf andere Para-Begabungen an?


Problemkreis 5: Warum setzen Para-Begabungen physikalische Grundgesetze (teilweise) außer Kraft? Marcus hat zu Testzwecken auf einer Waage stehend mit Telekinese schwere Objekte gehoben, ohne dass die Waage dadurch ausschlug. Wenn es zwischen Geist und Materie oder menschlichem Geist und tierischem Hirn (wie bei Stephans Fähigkeit als Animalaktivator) eine Verbindung gibt, wieso ist diese nicht messbar, nicht nachweisbar? Im Gegensatz zur Gravitationskraft (die messbar ist, aber nicht unterbrechbar) ist seine T-Kraft zwar nicht messbar, aber durch Blei und andere Substanzen unterbrechbar. Für die Para-Sicht von Maria gilt diese Unterbrechbarkeit aber genau so wenig wie für jene von Stephan, soweit man dies heute weiß. Allgemeiner ergibt sich daraus ein noch größerer und wichtigerer Problemkreis:


Problemkreis 6: Welche Para-Fähigkeiten kann man unterbrechen oder gegen welche kann man sich schützen? Kann man Menschen mit Para-Fähigkeiten (wie?) daran hindern diese auszuüben? Wären Para-Begabte nicht für die Gesellschaft sehr viel leichter akzeptierbar, wenn es gegen die Begabungen zumindest einen teilweisen Schutz gäbe? Und was ist, wenn es starke Begabungen gibt, die von Menschen böswillig gegen andere Menschen eingesetzt werden? Wie würde man dann vorgehen?


Problemkreis 7: Wie viele Para-Begabungen und welche gibt es eigentlich jetzt auf der Welt? Waren es früher mehr oder weniger? Hat es vielleicht Zeiten gegeben, wo man Para-Begabte als halbe Gottheiten verehrte oder, umgekehrt, sie verfolgte? Wäre es hier nicht wichtig, die gesamte Geschichtsschreibung daraufhin zu untersuchen? Sind »Wunder«, wie sie in den meisten Religionen beschrieben werden, vielleicht gute Ansatzpunkte für solche Forschungen? Waren alle Hexen missverstandene oder verleumdete Personen oder waren es zum Teil Para-Begabte?


Problemkreis 8: Wie integriert man Para-Begabte in die Gesellschaft so, dass die Para-Begabten damit gut leben können, die Gesellschaft von ihnen profitiert, aber die Gesellschaft keine Angst vor ihnen haben muss? Noch scheint es ja notwendig zu sein, Para-Begabungen versteckt zu halten, weil sich sonst die Gesellschaft (wohl begreiflich) sofort gefährdet vorkommt und dagegen reagiert. Solange das so ist, wäre es nicht sinnvoll Methoden zu entwickeln, die ein teilweises Vergessen bewirken könnten? Wenn die SR-Inc. zum Beispiel Menschen durch den Einsatz von Para-Fähigkeiten rettet, dann tut sie das mit äußerster Sorgfalt, damit eingesetzte Para-Fähigkeiten nicht erkannt werden. Dadurch werden aber Rettungen oft erschwert, ja sogar unmöglich. Wäre es nicht sinnvoll, immer alle Fähigkeiten einzusetzen, aber dann dafür zu sorgen, dass sich die Geretteten nicht mehr an Details erinnern können?


Problemkreis 9: Welche Para-Fähigkeiten sind denkbar? Das Spektrum ist fürwahr unüberschaubar: Da sind so oft abgehandelte Para-Begabungen wie Telepathie (aber davon gibt es sehr viele Varianten, siehe [7]) oder Telekinese (wobei neben der Variante der T-Kraft wie bei Marcus viele andere denkbare Versionen existieren, wie etwa bei Justo1 von der ehemaligen PPU), da gibt es die Para-Seh-Begabungen wie bei Maria oder Stephan, die Emotiopathen (wie Sandra Hill von der selben PPU, nun verschollen), Emotioaktivatoren (wie Jan de Keep von der PPU) oder Animalaktivatoren (wie Stephan), Späher wie Klaus Baumgartner oder offenbar die dreijährige Lena, aber auch die in Science Fiction oder Fantasy Literatur beschriebenen Begabungen von Teleportation, Zündern, Elektronik-Wanderern usw. (wie etwa in den Perry-Rhodan-Romanen [8]), die Figuren wie Superman, Spiderman, Superwoman, Batman und viele mehr aus den Comics, die vielen »Mutanten« aus Büchern und Filmen, Menschen mit unglaublichen Fähigkeiten aus den Legenden und Sagen (von Siegfried - unverletzlich bis auf die durch das Lindenblatt nicht im Drachenblut gehärtete Stelle), die Unsichtbarkeit, die man schon in der Legende von König Laurins Mantel findet und die Wells in seinem Roman [11] so überzeugend beschreibt, aber auch die immer wieder erwähnte Hellseherei, Fähigkeiten, die noch weniger in der Literatur behandelt wurden wie Verkleinerung bzw. Vergrößerung von Objekten oder Menschen, Beeinflussung der subjektiven oder objektiven Zeit bis hin zu den Grenzbereichen von Selbstkontrolle über zum Beispiel autogenes Training oder Fremdkontrolle wie Hypnose.


Marcus weiß, dass eine Auflistung solcher (potenzieller) Fähigkeiten sinnlos ist, da beliebig weitere denkbar sind. Nur in einem Punkt hat Marcus eine feste Meinung: Es mag ja Para-Fähigkeiten geben, die es erlauben, in die Vergangenheit zu sehen. Begabungen, die es erlauben würden in die Vergangenheit zu wirken, wie in [9] beschrieben, führen aber zu unüberwindlichen Paradoxa (wenn man nicht an die Existenz von unendlich vielen parallelen Universen glauben mag, was Marcus wenig behagt). An Para-Fähigkeiten, die es erlauben, in die Zukunft zu sehen, will Marcus schlichtweg nicht glauben. Eine so begabte Person würde ja nicht nur die Lottozahlen der nächsten Ziehung wissen oder den Verlauf der Aktienkurse, eine solche Begabung würde auch den freien Willen der Menschen einschränken, da ja gewisse Ereignisse mit Sicherheit eintreffen würden. Daran will Marcus als philosophischer »Konstruktivist« einfach nicht glauben.

Problemkreis 10: Gibt es Para-Begabungen, die sich durch Technik simulieren lassen?

1Die anfängliche Rolle von Justo als schwacher Telekinet wird in »XPERTEN - 1: Der Telekinet« [3] beschrieben. Seite 57


Marcus konzentriert die Arbeit seiner Forschungsgruppe auf den Problemkreis 1 (warum sind gewisse Personen para-begabt, andere nicht) und mit weniger Energie auf die Problemkreise 3 (Erkennen von Para-Begabungen durch systematische Computeranalyse anscheinend trivialer, aber seltsamer Vorfälle), 8 (Integration von Para-Begabten in die Gesellschaft) und 10 (technische Simulation von Para-Begabungen). Den letzten Problemkreis überträgt er einer Unterabteilung der Informatikforschungsgruppe. Marcus wird es später bereuen, dass er den Problemkreis 6 (Wie schützt man sich gegen Para-Begabungen?) nicht genügend ernst genommen hat ...

Marcus geht das letzte Treffen mit Aroha nicht aus dem Kopf. Wie immer hat er sich mit dieser Frau sehr gut verstanden. Sie entstammt einer »gemischten« Ehe (Maori mit »Pakeha2«), sie ist einerseits Wissenschafterin und hat andererseits, wie er, an sich selbst erlebt, dass es Dinge gibt, die jenseits normaler Wissenschaft liegen, wie das Tal mit den verschiedenen Gesichtern, das nur durch den »Mindcaller« [10] zugänglich wird.

Da die Forschungen insgesamt für Marcus‘ Ungeduld zu wenige Ergebnisse erbringen, lädt er nach Absprache mit Maria Aroha (nicht zum ersten Mal!) zu einem Besuch auf Great Barrier ein. Maria und Marcus wollen feststellen, ob sie Aroha nicht in ihr »Geheimnis« (die Para-Begabungen) einweihen sollen und Aroha ihnen nicht bei der »Analyse« von Barry behilflich sein will. Zur freudigen Überraschung sagt Aroha dieses Mal (das erste Mal!) zu und verspricht am nächsten Wochenende zu kommen.


Marcus holt sie an einem wolkenverhangenen Tag von der Fähre ab. Sie fahren durch die ärmliche Hafensiedlung, die Marcus inzwischen sehr liebt, die aber Neuankömmlinge oft mit einer Mischung von Verachtung und Mitleid erleben. Aroha ist auch da anders. Sie sagt, sie fühle sich hier sofort wohl und zu Hause. Marcus ist fast gerührt. Er macht einen kleinen Umweg zu einer Holzhütte, wo seit über 60 Jahren eine Frau wohnt, die zu den ersten Siedlern auf Great Barrier Island gehört und sich jahrzehntelang von Schafzucht, ein paar Hühnern, einem Gemüsegarten und den Schätzen des Meeres ernährt hat. Die inzwischen 85-jährige Frau lehnt an der Veranda, als Marcus und Aroha die letzten 50 Meter zu Fuß zu der kleinen Hütte hinaufgehen. »Dürfen wir dich besuchen, Henriette?«, ruft Marcus, als er sie sieht. Sie nickt gnädig. »Komm nur, Marcus, außer du wagst es nicht mir zu erklären wieso du mit einer fremden Frau kommst und nicht mit Maria.« Marcus lächelt innerlich. Wie unpassend/passend ist der Name Henriette für diese alte Frau, die einerseits noch immer so rüstig ist und andererseits eine Weisheit ausstrahlt, der viele sich nicht entziehen können. Sie betreten die Hütte. Es gibt keine große Begrüßung, man schüttelt sich die Hand, schaut sich in die Augen und setzt sich einfach irgendwo hin, nachdem man Strickzeug oder einen Teller mit Katzenfutter weggeschoben hat. Der nächtliche Regen hat eine deutliche Abkühlung mit sich gebracht, doch hier in der Hütte (ohne Strom, ohne Wasser) brennt ein Holzfeuer im Herd, gibt Wärme und Behaglichkeit. Alles ist Ruhe. Marcus beobachtet Aroha, wie diese Henriette ansieht, eine Person, mit der man nicht dauernd reden muss, die aber Aroha anstrahlt, als hätte sie ein verlorene Tochter gefunden. Nach fast wortlosen langen Minuten bietet die alte Frau Tee an, stark gesüßt mit einem Schuss Schnaps, der Marcus mit Wehmut an den »Jagatee« Österreichs erinnert.

2 Pakeha ist das Maori-Wort für »Europäer«.

Henriette versteht alles, als könnte sie Gedanken lesen. »Marcus, du brauchst nicht deiner fernen Heimat nachtrauern. Du und Maria gehört inzwischen zu uns auf der Insel, das weißt du, und Aroha, die du heute mitbebracht hast, wird ein Teil von euch werden, sie versteht mich und euch und sie trägt mit Ehrfurcht und Stolz etwas Altes und Würdiges.« Marcus ist wie immer von Henriette beeindruckt, Aroha ist verblüfft: Woher weiß diese alte Frau von ihrem »Mindcaller«, von dem Bruchstück einer alten Schnitzerei, das sie fast immer um den Hals, aber meist versteckt (wie heute) unter ihrem Pulli trägt?

Es wird wenig gesprochen in der Hütte. Aber es ist auch nicht notwendig. Die drei Personen sind in einem eigentümlichen Einklang. Und Marcus hat fast ein schlechtes Gewissen, als er sich vornimmt, Lena hierher zu bringen um festzustellen, ob Henriette »strahlt«.

Aroha und Marcus gehen nach einer undefinierbaren Zeit. Henriette lächelt Marcus zum Abschied fast vorwurfsvoll an: »Marcus, du bist immer hier willkommen, das weißt du. Aber komme oft genug. Du bist zu ehrgeizig und du weißt und willst zu viel. Aroha, du bist eine neue Freundin für mich. Komm bald wieder.«

Aroha und Marcus fahren nachdenklich zu seinem Grundstück. Maria wartet auf sie und auch sie hat feine Antennen ausgefahren. Hier ist eine Freundin, Aroha, die sie sofort ins Herz schließt, die Marcus sehr gerne hat und bei der sie, Maria, trotzdem sicher ist, dass dies nie ein Problem werden wird.


Beim Mittagessen kommen Stephan und Lena zu ihnen. Als Lena Aroha trifft, reagiert sie heftig. Sie begrüßt sie überschwänglich und wirkt dann später unsicher. Marcus fragt sich, ob eine gewisse Analogie mit dem Verhalten von Lena Barry gegenüber besteht. Er macht mit Lena einen Spaziergang und versucht, aus Lena etwas herauszuholen. Fast widerwillig erzählt sie schließlich, dass ETWAS an Aroha »strahlt«, aber nicht sie selbst, sondern ein Ding, das sie um den Hals trägt!

Marcus ist erstaunt, dass wie Henriette auch Lena den »Mindcaller« spürt. Hat dies etwas mit der latenten Para-Begabung Lenas zu tun, von der bei den Tests berichtet wurde?

Ohne dass sie an diesem Tag viel unternehmen, verstehen sich alle gut. Irgendwann sitzen sie im Whirlpool, das einzige »Kleidungsstück«, das irgendjemand trägt, ist der »Mindcaller«, den Aroha auch jetzt nicht ablegt. Maria erkundigt sich nach der Bedeutung dieses Stückes. Nach kurzem Zögern und nachdem sie Marcus ansieht, der nur nickt, erzählt Aroha die ungewöhnliche Geschichte des Mindcallers [10], in einer etwas gekürzten Form. Sie betont, dass sie nur einen Teil der ursprünglichen Skulptur besitzt und (nach Aussage ihrer Großmutter) der Mann, den sie einmal treffen und der für sie sehr wichtig werden wird, den fehlenden Teil besitzt. Es ist Maria klar, dass dies ein großer Vertrauensbeweis ist, denn sie weiß von Marcus, dass Aroha sonst nie davon erzählt. Vorsichtig fragen Maria und Marcus, was der Mindcaller eigentlich bewirkt. Aroha antwortet etwas unsicher: »Bei Personen, die auf ihn ansprechen, stellt er manchmal eine Art telepathische Verbindung mit anderen Personen her - zumindest tut er das zwischen mir und meiner Großmutter. Und manchmal erzeugt er bei mir und auch den Menschen, mit denen ich gerade beisammen bin und mit denen ich mich gut verstehe, das Empfinden, in der Vergangenheit, ja vielleicht sogar an einer anderen Stelle zu sein und dass dann diese Umgebung durchwandert, angesehen, erforscht werden kann.«

»Eine Art Zeitreise?«, fragt Marcus überrascht.

»Nein«, antwortet Aroha, »ich glaube mehr eine Suggestion für mich und meine Partner, die aber hundert Prozent real wirkt. So, als hätte der Mindcaller vielleicht die Gegend in der Zeit, die er zeigt, einmal erlebt und gespeichert und gibt sie jetzt wieder. Das Ungewöhnliche ist, dass es sehr spontan geschieht, ich kann nicht kontrollieren, wann der Mindcaller aktiv wird.«

Maria meint nachdenklich: »Vielleicht liegt das daran, dass die zweite Hälfte fehlt?« Ahora blickt erstaunt: Daran hat sie noch nie gedacht.

Sie sprechen viel über den Mindcaller, aber auch über andere ungewöhnliche und parapsychologische Phänomene, offen wie sonst nie. Maria und Marcus erwähnen, dass alle in der Familie gewisse ungewöhnliche Fähigkeiten haben, ohne aber Details zu erläutern. Aroha hört gespannt und aufmerksam zu, stellt manchmal Verständnisfragen, aber versucht nicht mehr zu erfahren, als ihr freiwillig gesagt wird. Sie weiß, sie wird noch öfter bei dieser Gruppe sein und sie wird allmählich immer mehr eingeweiht werden. Sie ist interessiert, aber nicht neugierig und weiß von sich aus, wie zurückhaltend man bei solchen Dingen anderen Menschen gegenüber ist, ja sein muss. Als sie sich abtrocknet, bittet Lena, den Mindcaller in die Hand nehmen zu dürfen. Aroha hebt die Kette mit dem Anhänger über ihren Kopf. Ihre festen Brustspitzen schauen dabei besonders verführerisch aus, denken Maria und Marcus fast gleichzeitig und lächeln sich an. Aroha hängt die Kette Lena um. Lenas Gesichtsausdruck ändert sich auf einmal unerwartet: Das junge Gesicht wird plötzlich ernst, faltig, und einen Augenblick lang sieht es aus wie das einer ganz alten Frau. Aroha ergreift mit Entsetzen die Kette, ist aber so aufgeregt, dass sie ihr entgleitet und auf den steinigen Boden fällt. Lena schaut ohne Kette augenblicklich aus wie immer.

»Lena, hast du etwas besonderes bemerkt, als du die Kette umhattest?«, fragt Maria besorgt.

»Mama, dieser Anhänger ist etwas Komisches: Ich habe plötzlich eine alte Frau gesehen und sie fragte mich nach ihrer Enkelin.«

Aroha schaut mit Verwunderung auf Lena: »Du hast meine Großmutter gesehen, ja du bist einen Augenblick lang meine Großmutter geworden. Das Gesicht, das ihr alle kurz gesehen habt«, wendet sie sich zu den anderen, »war das Gesicht meiner Großmutter.« Aroha hebt den »Mindcaller« auf. Da bemerkt sie, dass ein kleines Stückchen abgesplittert ist.

Sie zeigt die Bruchstelle Marcus: »Ich würde gerne das kleine Stückchen finden«, meint Aroha. Sie suchen sehr sorgfältig, finden aber nichts. Aroha meint schließlich, es habe sich am »Gefühl« des Mindcallers nichts geändert, also sei das winzige Stückchen nicht so wichtig.

Während sie sich nach einem kurzen kalten Sprung ins Meer und dann nach einer heißen Dusche zum Wiederaufwärmen im Wintergarten auf einen Kaffee zusammensetzen, verschwindet Stephan. Einige Minuten später kommt er mit dem verschwundenen Bruchstück des »Mindcallers« zurück.

»Wo war das? Wie hast du das gefunden? Wir haben doch alles genau abgesucht.«

»Es ist an einer Stelle gelegen, wo kein normaler Mensch es hätte finden können«, meint Stephan ein bisschen stolz.

Auf den fragenden Blick von Aroha erklärt Marcus: »Ja, Stephan hat sehr, sehr ungewöhnliche Augen.« Marcus erklärt nicht mehr, schaut aber Stephan so an, dass dieser weiß, er dürfte mehr sagen. Aber auch er hält sein Geheimnis zurück, dass er um Gegenstände herumsehen kann und seine Augen (wie bei seiner Mutter) eine Art Zoom-Funktion besitzen, die von »Weitwinkel« bis zum extremen »Tele« reicht.

Stephan will das Stückchen Stein Aroha zurückgeben. Da mischt sich Marcus ein.

»Aroha, kann ich das kleine Stückchen haben? Ich möchte es gerne von unserer Forschungsgruppe untersuchen lassen.«

Aroha zögert: Darf man ein solches fast »heiliges« Stück aus den alten Zeiten mit modernen Methoden untersuchen oder wird man damit etwas zerstören? Sie lauscht tief in sich hinein, aber hört keine Warnung. Sie stimmt zu.


Als sie sich am Abend trennen, ist klar, dass Aroha zu ihnen gehört. »Aroha, du weißt, du bist ab jetzt hier Hausgast, als wärest du meine Schwester«, sagt Maria, »du kannst jederzeit hierher kommen, hier wohnen, gleichgültig, ob wir hier sind oder nicht. Und du wirst immer gerne gesehen sein.«

Aroha bedankt sich gerührt und verabschiedet sich liebevoll. Es ist seltsam: Auch sie weiß, dass sie heute neue Freunde gefunden hat, dass ihre intuitive Bindung zu Marcus immer richtig war, seit heute noch tiefer und deutlicher ist und für die ganze Familie gilt.

Maria und Marcus diskutieren am Abend noch lange, warum sie Aroha so frei, so ohne Zurückhaltung behandelt haben. Aber sie wissen, es war nicht falsch. Sie denken auch über die Bemerkungen von Lena nach: dass Aroha ohne Mindcaller nur ganz schwach strahlt, der »Mindcaller«, wenn Aroha ihn trägt, aber sehr intensiv. Als er jedoch am Boden lag, »strahlte« er nicht. Es ist klar, dass hier eine eigentümliche Symbiose zwischen dem Anhänger und Aroha besteht und dies wohl auch bei manchen anderen Menschen gilt, wie die Reaktion Lenas zeigte, als sie ihn kurz umhatte. Marcus ist sehr gespannt, ob seine Forschungsabteilung in der SR-Inc. etwas Besonderes bei dem Bruchstück des »Mindcallers« entdecken wird.


Der Zufall will es, dass drei Tage später zwei ungewöhnliche Berichte gleichzeitig bei Marcus einlangen: Der erste betrifft den »Mindcaller«, der zweite Barry.

Der Mindcaller ist in seiner Grundsubstanz ein Halbedelstein3, der in vulkanischen Gegenden meist aus großer Tiefe stammt. Er ist mit großer Sicherheit bei einem der zahlreichen Vulkanausbrüche, die es in Neuseeland immer gegeben hat und noch immer gibt, an die Oberfläche gelangt und wurde schon vor tausenden Jahren (also vor der Maoribesiedlung Neuseelands) zu einem Anhänger verarbeitet. Das Unerwartete ist die chemische Analyse. Der »Mindcaller« enthält nämlich einen hohen Anteil der seltenen Verbindung Silatraviat. Es handelt sich dabei um ein wenig erforschtes Salz der Silatravinsäure.

Marcus liest den mit Fachausdrücken gespickten Bericht weiter: Die Silbe »Sila« gibt Fachleuten den Hinweis, dass im Travin Kohlenstoff-Atome durch Silizium-Atome ersetzt sind. Das Silatraviat ist eine Abart der Silatrane, aber auch mit Travertinen verwandt. Bei den Silatranen handelt es sich um eine unsystematische Bezeichnung für Derivate des 2,8,9-Trioxa-5-aza-1-silabicyclo[3,3,3] undecans, die eine große Breite toxischer Eigenschaften in Abhängigkeit vom Substituten am Silizium besitzen. Aryl-Derivate (R1 = Aryl) besitzen eine LD50 von 0,1-10 mg.kg-1 und sind doppelt so giftig wie Strychnin oder Blausäure. 4-Chlorphenyl-Silatran wird als Rattengift, das nicht giftige Ethoxy-Silatran als Haarwuchsmittel verwendet. Silatrane können aus Trialkoxysilanen und Triethanolamin hergestellt werden. Die genauen Eigenschaften vieler Abarten sind bis heute nicht erforscht. Travertin (manchmal auch Kalktuff genannt) wird meist aus kalten Quellen ausgeschieden und bei Füchtbauer als »Sinterkalk« bezeichnet. Synonym wird oft die Bezeichnung Travertin gebraucht: Dieser entsteht jedoch in warmen Quellen, Seen, Teichen und Sümpfen aus vulkanisch aufgeheizten Grundwasser-Zuflüssen.

3 Er ist ein Obsidion (Feuerkiesel) mit einigen»Verunreinigungen«.

Es folgen ausführliche Literaturangaben - [12], [13] - und ein allgemein verständlicher Teil, dessen wesentliche Aussage ist: Silatraviat ist selten und bisher kaum erforscht; es ist zu vermuten, dass es bei Menschen ungewöhnliche Wirkungen auslösen kann; es tritt nur dort auf, wo es durch Vulkanausbrüche oder heiße Quellen aus großer Tiefe an die Erdoberfläche gelangt; es ist von organischen Lebewesen schwer abbaubar; es wird von manchen Lebewesen nicht aufgenommen und sofort wieder ausgeschieden, andere reichern es immer mehr in sich an.

Der Bericht schließt mit der trockenen Frage, ob weitere Forschungen erwünscht sind ...


Marcus legt den Bericht Maria vor. Sie schauen sich lange an. »Wir denken beide dasselbe«, sagt schließlich Maria. »Das Silatraviat mag vielleicht wirklich etwas mit den ungewöhnlichen Fähigkeiten des Mindcallers zu tun haben, vielleicht sogar mit anderen (unseren?) Para-Fähigkeiten. Hier sollte unbedingt weiter geforscht werden.«

Marcus nickt. Er gibt ohne zu zögern telefonisch den Auftrag, die Silatraviatforschung intensiv fortzusetzen. Dabei sind fünf Schwerpunkte zu setzen: (1) Wo auf der Welt tritt Silatraviat auf? (2) Welche Tiere oder Pflanzen reichern in sich Silatraviat an? (3) Kann man Silatraviat synthetisch herstellen? (4) Welche Wirkungen hat Silatraviat auf Menschen? (5) Gibt es im Zusammenhang mit Silatraviat irgendwelche außergewöhnlichen Berichte in der Geschichte oder Volkskunde?

Maria und Marcus haben das Gefühl, dass die Silatraviatforschung vielleicht erstmals einen kleinen Durchbruch in der Erforschung ungewöhnlicher Phänomene bringen könnte. Sie schätzen jedoch die Chance, dass sich wirklich etwas Wesentliches ergibt, als so gering ein, dass sie unter dem Eindruck anderer Ereignisse diesen Aspekt fast wieder vergessen.

Ein solch anderer Aspekt ist der Bericht, den sie über Barry vor sich liegen haben. In seinem Leben scheint sich in der letzten Zeit wenig geändert zu haben. Aber die Recherchen über seine Vergangenheit bringen eine große Überraschung.

Barry wurde in Rotorua, dem berühmten Ort der Geysire auf der Nordinsel, im »Yellowstone Neuseelands«, als Sohn einer einfachen Familie geboren und wuchs dort auf. Sein erster Beruf war Bademeister in dieser Touristenstadt. Dies erklärt seinen noch immer durchtrainierten, schönen Körper (Marcus ist fast eifersüchtig, als dies Maria mit einiger Begeisterung bestätigt) und seine umfangreichen Erfahrungen mit jungen Frauen, wie es in dem Bericht vorsichtig heißt.

Es erklärt aber nicht, wie sich Barry vor zirka zehn Jahren über Nacht zu einem Superdetektiv entwickelte und durch die Lösung des größten Bankraubs der Geschichte Neuseelands zum Multimillionär wurde. Der Bericht über diesen Zwischenfall ist lückenhaft. Offenbar konnte der Bankraub zunächst nicht gelöst werden, obwohl die Nummern der großen Banknoten und Details vieler der Wertgegenstände bekannt waren, d. h., dass sie zu erkennen waren, sobald sie auftauchten. Sie tauchten aber so lange nicht auf, bis die Versicherungsgesellschaften eine riesige Summe für die Lösung des Falls aussetzten. Tatsächlich gab es die eine oder andere Gruppe, hauptsächlich im Rauschgifthandel, der man den Überfall zutraute und auch »den langen Atem«, mit der Veräußerung der Beute zuzuwarten. Wie es allerdings Barry gelang, nicht nur die richtige Gruppe zu finden, sie zu infiltrieren und einige der Beweisstücke der Polizei zu übergeben, die dann bei einer Großrazzia die gesamte Beute sicherstellen und alle Drahtzieher ergreifen konnte, ist nicht nachvollziehbar. Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Name Barry in keinem offiziellen Dokument aufscheint, der Erfolg nur der Tüchtigkeit der Polizei zugeschrieben und die ausgesetzte Belohung in der offiziellen Version karitativen Zwecken zugeführt wurde. Barry hatte offensichtlich dieses Arrangement mit der Polizei ausgehandelt, um vor etwaigen Vergeltungsmaßnahmen sicher zu sein.

Er eröffnete dann ein bescheidenes Reisebüro in Auckland und führt jetzt dort ein an sich bescheidenes Leben. Nur ab und zu verlässt er mit einem sichtlich von offiziellen Stellen gefälschten Pass das Land unter anderem Namen. Und bei diesen Reisen ist er dann finanziell immer mehr als nur sehr großzügig.

Der Bericht enthält noch einige andere Details, aber es sind eher unwichtige Ausschmückungen, die erklären, dass es sehr schwierig war, an die Informationen heranzukommen. Offenbar dient dieser Teil dazu, die riesige Summe, die für den Bericht verrechnet wird, zu rechtfertigen. Der hohe Preis kommt jedoch durch die hohen Bestechungssummen zustande, die notwendig waren, um an die wichtigen Details überhaupt heranzukommen. Zunächst war nur die offizielle Variante der Lösung des Falls zugänglich, erst allmählich wurde klar, dass auch noch eine externe Person involviert war. Und dass diese mit Barry ident war, konnte erst spät und schwer verifiziert werden.

Für Maria und Marcus ist vieles in dem Bericht stimmig. Sie verstehen jetzt das durchaus weltmännische Auftreten Barrys, das mit dem Besitz eines kleinen Aucklander Reisebüros nicht zusammenpasst. Es ist auch klar, dass von Barry (und seinem Doppelgänger?) spezielle Para-Fähigkeiten zur Lösung des Bankraubs eingesetzt wurden und er schon aus diesem Grund über seine Para-Begabungen, was immer sie auch sein mögen, nicht sprechen will.

Marcus ist aber nun siegessicher: »Ich konfrontiere Barry morgen mit unserem Wissen. Er wird uns dann die Wahrheit sagen müssen, sonst riskiert er, dass wir seine Vergangenheit verraten.«

Als Marcus am nächsten Tag dem wie immer freundlichen Barry mitteilt, dass er von dessen offenbar starken Para-Begabungen Kenntnis hat und Barry diese vor zehn Jahren einsetzte, um den großen Banküberfall zu klären, wird Barry blass.

»Keine Angst, Barry«, sagt Marcus, »dies bleibt unser Geheimnis. Wir sind eine Gruppe von Menschen mit ungewöhnlichen Begabungen und wollen diese Gruppe nur vergrößern, um uns gegen eine sonst nicht immer freundliche Umwelt abzusichern. Verrate uns deine spezielle Fähigkeiten, wir werden dir dann auch vieles streng Vertrauliche mitteilen. Lass uns dann zusammenarbeiten, dort, wo es für beide Seiten nützlich ist.«

Barry erfängt sich allmählich vom ersten Schock: »Ja, ich glaube, du meinst es ehrlich. Und ich habe mir auch schon oft überlegt, ob ich nicht versuchen sollte, andere Sonder-Begabte zu finden. Gib mir bis morgen Früh Zeit zum Nachdenken. Ich verspreche dir in die Hand, dass ich morgen um 10 Uhr vormittag hier sein werde, und dann reden wir weiter.«

Marcus glaubt nach einigen weiteren Überredungsversuchen, dass er Barrys Vorschlag annehmen kann.

»Ich bin einverstanden. Aber du musst Wort halten und morgen um 10 Uhr hier sein.« Barry verspricht dies noch einmal ausdrücklich. Als sich Marcus verabschiedet, entgeht ihm das leichte Lächeln Barrys.

Doch Marcus fühlt sich einigermaßen sicher. Er ordnet für die Nacht eine besonders intensive Überwachung Barrys an, falls dieser (wovor?) fliehen will.

Maria ist unruhig. »Wird er morgen wirklich da sein?«, fragt sie.

»Er wird sein Versprechen halten, denke ich«, glaubt Marcus.

»Ja, da wirst du Recht haben. Aber vielleicht genügt das nicht«, lächelt Maria.

»Wie meinst du das?«, fragt Marcus erstaunt.

»Nun, warten wir ab. Ich bin so neugierig wie du, was morgen geschehen wird.«