1. Lena
16. Februar 2011
Lena ist erst drei Jahre alt, als bei ihr eine
verblüffende Parabegabung ans Licht kommt. Und das ist erst der
Anfang rätselhafter Geschehnisse ...
Marcus führt seine Tochter an der Hand von ihrem großen Haus1 auf Great Barrier Island zum Strand hinunter. Es ist ein warmer Februartag, so wolkenfrei, wie man ihn hier, auf der Auckland vorgelagerten, kaum erschlossenen Insel, selten erlebt. Vom Wintergarten des Hauses kommend, gehen sie am Whirlpool vorbei, dessen Ausfluss neben dem natürlichen Wasserfall einen zweiten, kleineren bildet. Dort, wo sich die beiden treffen, reißt sich Lena wie immer von Marcus‘ Hand los. Hier ist ihre Lieblingsstelle, wo sie je nach Laune kälteres oder wärmeres Wasser auf sich prasseln lassen kann, abhängig davon, wo sie sich hinstellt. Marcus lächelt: Es ist heute warm genug und Lena hat Leinenschuhe an, mit denen sie ins Wasser gehen kann.
Diese
Stelle wird auch von den anderen Bewohnern und Gästen des Hauses
geliebt und war anfangs gar nicht so geplant. Aber als man den
Überlauf für den Whirlpool baute, lag es auf der Hand, ihn zum
Wasserfall zu leiten. Als sich alle mehr warmes Wasser wünschten
als nur das, was aus einem Überlauf kam, wurde beschlossen, dauernd
warmes Wasser nachfließen zu lassen: Quellwasser, aufgeheizt über
Sonnenkollektoren. So hatte man einen chlorfreien und durch das
stete Frischwasser immer sauberen Whirlpool.
»Komm, Lena, gehen wir weiter, wir wollten doch ein paar Felsenaustern pflücken und essen«, ruft Marcus seiner Tochter zu. Vorsichtig gehen sie das letzte Stück des steileren Felsenwegs hinunter, bis sie den Sandstrand erreichen. Hier wenden sie sich den Felsen auf der nördlichen Seite der Bucht zu. Dort sind mehrere Höhlen und an den außen liegenden Felsen finden sich Felsenaustern (Rockoysters) und nicht weit entfernt die von Marcus geliebten grünlippigen Miesmuscheln. Marcus trennt die Felsenaustern mit einem Schweizermesser vom Felsen, presst aus einer Zitrone - von einem der eigenen Bäume2 - ein paar Tropfen auf die Auster: Lena und er schlürfen dann die kleinen, aber delikaten Meerestiere aus der Schale. Als Lena genug hat, gehen sie noch ein Stück weiter und füllen einen mitgebrachten Kübel bis zum Rand mit großen grünlippigen Miesmuscheln. Lena hilft mit, sie freut sich auf die Fischsuppe, die ihr Papa heute oder morgen kochen wird: mit den Muscheln, mit Stücken von Fischen und Langusten und einer bunten Gemüse-Mischung.
1 Eine Vorstellung von Haus und Strand gibt das Bild im Anhang.
2 Das Klima in Auckland und auf den vorgelagerten Inseln ist feucht, aber subtropisch. Temperaturen unter null sind hier unbekannt, so dass Zitrusfrüchte recht gut gedeihen, obwohl sie nur in geschützten Lagen voll ausreifen. (Seite 9)
Sie gehen zurück zum Sandstrand; Lena setzt sich in eine Vertiefung.
»Bitte, Papa, grab mich wieder ein.«
Lena kichert, als Marcus lachend beginnt, ihre Füße mit Sand zuzuschütten. Er ist glücklich: endlich ein freier Sonntag, an dem er ganz für seine Familie Zeit hat. Er weiß, dass seine Frau Maria mit dem sechsjährigen Sohn noch einige Hausaufgaben durcharbeitet und sie dann mit einem Mittagsimbiss kommen werden. Es wird ein schöner Nachmittag werden! Lena genießt es, einmal ihren Papa ganz für sich zu haben. Auf einmal legt sie fragend ihren Kopf ein bisschen schräg:
»Papa, warum strahlen eigentlich so wenige Leute?«
Marcus durchzuckt es: Was meint Lena wohl? Ist es, was er denkt und nicht glauben kann?
»Lena, wer strahlt denn und wer nicht?«
Lena scheint ihre Bemerkung schon wieder vergessen zu haben, abgelenkt durch eine Möwe, die dicht vorbeifliegt. Erst als ihr Vater noch einmal fragt, schaut sie ihn verwundert an:
»Du,
Mama, Stephan ... ihr strahlt, aber die anderen Menschen, die ich
kenne, wie Mama-Oma und Mama-Opa, meine Lehrer Inge und Rolf, aber
auch der Gärtner und seine Frau: Die strahlen alle
nicht.«
Marcus ist fasziniert. Seit ihrer Geburt haben Maria und er Lena beobachtet, ob Lena auch wie sie beide und ihr Sohn über Para-Fähigkeiten verfügt, und konnten bisher keine feststellen. Und nun ist anscheinend auch Lena parapsychisch veranlagt, mit einer Fähigkeit, die Marcus schon einmal fast das Leben gekostet hätte: Klaus Baumgartner, seinerzeit Mitarbeiter der PPU3 hatte durch seine »Späher«-Fähigkeiten Marcus als begabten Telekineten erkannt und ihn, ohne dies zu wollen, damit so gefährdet, dass Marcus sich nur durch viele Tricks retten konnte. Lena scheint eine »Späherin« zu sein, d. h., sie merkt, ob jemand Para-Begabungen besitzt oder nicht! Marcus kann das noch gar nicht richtig verdauen.
3 Die PPU ist die Para-Psychologische Unit (Abteilung) der EU in Brüssel, siehe »Xperten - 1: Der Telekinet« [3 Literaturverzeichnis].
»Lena, kennst du noch jemanden, der strahlt?«
Lena will mehr Sand auf ihre Füße haben, antwortet aber dann doch auf die Frage:
»Barry strahlt stark.«
Marcus kann es kaum fassen: Barry, der die kleine Reiseagentur in Auckland betreibt, soll para-begabt sein? Er versucht mehr aus Lena herauszubringen, aber sie interessiert sich nicht mehr für das Thema, und als Maria und Stephan mit dem Picknickkorb kommen, ist sie endgültig abgelenkt.
Maria merkt, dass Marcus erregt ist. Aber erst nach dem Essen, als Stephan Lena unterhält, indem er Fische durch seine Para-Fähigkeiten4 dazu bringt, dass sie zu Lena schwimmen und sich von ihr streicheln lassen, kann Marcus erzählen, was er gerade erfahren hat. Maria ist weniger überrascht, als Marcus erwartet hat:
»Mir ist schon lange aufgefallen, dass Lena jeden Menschen, den sie das erste Mal sieht, sehr genau anschaut und fast immer enttäuscht wegblickt. Als wir aber das erste Mal bei Barry waren, da war sie ganz fasziniert.«
Wieder einmal wird es Marcus bewusst, dass Maria besser beobachtet als er, ohne dass das mit ihrer Fähigkeit des »Telesehens«5 zusammenhängt.
»Es würde mich nach Lenas Reaktion nicht wundern, wenn Barry eine starke Para-Begabung hat«, meint Maria, »aber ich bin nicht sicher. Ich habe immer gewartet, ob dir nicht auch etwas auffällt, aber deine starken telekinetischen Fähigkeiten scheinen bei dir sehr zu dominieren und vieles andere ‚zuzudecken‘. Weißt du, ich hab mir schon oft gedacht ob nicht Para-Begabungen dazu führen, dass man in anderen Bereichen weniger gut ist.«
4 Stephan ist »Animalaktivator«, d. h., er kann Tieren Befehle erteilen, ohne dass er mit ihnen redet. Er kann in eigentümlicher Weise auch um Ecken sehen und kann seine »subjektive Zeit« beeinflussen, d. h., er kann, wenn er das will, z. B. sehr viel schneller denken und agieren als andere Menschen. Weil er das immer wieder ausgenützt hat, ist er, obwohl er erst vor sechs Jahren geboren wurde, in Wahrheit medizinisch und intellektuell acht Jahre alt und verblüfft Familie und andere Personen immer wieder damit, dass er (naturgemäß) so denkt und handelt wie einer, der älter ist als sechs Jahre. Seine LehrerInnen bezeichnen ihn immer wieder als entweder »besonders begabt« oder als »altklug«.
5 Maria kann mit ihren Augen normal sehen, aber auch auf Wunsch wie mit einem Fernrohr oder wie mit einem Mikroskop. Vor allem kann sie durch feste Objekte hindurchsehen, durch Wände, Felsen, Menschen usw.
Diese Idee überrascht Marcus: »Wo siehst du Schwächen bei uns?«
Maria antwortet nach kurzem Überlegen: »Es geht Stephan mindestens in einem Punkt so wie mir. Obwohl wir medizinisch ausgesprochen gut hören - du erinnerst dich, dass ich uns beide testen ließ -, vertrauen wir so auf unsere spezielle Sehbegabung, dass wir oft beim Zuhören unaufmerksam sind. Wenn Stephan oder ich etwas über das HENCI6 hören, dann geht das manchmal ganz an uns vorbei. Umgekehrt verwendest du deine telekinetischen Fähigkeiten so oft, dass du mit deinen Händen und Fingern deutlich ungeschickter geworden bist.«
Marcus denkt verblüfft nach: »Ja, du hast wirklich Recht, aber mir ist das bisher nie aufgefallen!«
»Was, glaubst du, bedeutet die Begabung Lenas für uns?«, fragt Maria.
Marcus überlegt nur kurz: »Erstens müssen wir feststellen, ob sie wirklich eine Späherin ist ... aber da bin ich mir jetzt fast sicher. Zweitens, wir werden durch ihre Fähigkeit wohl weitere Para-Begabte finden. Und drittens wird uns das vielleicht helfen, ein Stückchen weiterzukommen bei der Frage, warum gerade bestimmte Menschen Para-Fähigkeiten haben. Ich werde jedenfalls morgen beginnen, Barry zu beobachten bzw. beobachten zu lassen. Wir müssen herausfinden, was er kann, ob er ein verlässlicher und angenehmer Partner ist, und ihn gegebenenfalls einladen mit uns zusammenzuarbeiten. Vielleicht gelingt es uns doch noch, eine substanzielle Gruppe von Para-Begabungen zusammenzubekommen. Wir wären dann sicherer und könnten gemeinsam auch mehr erreichen. Und indem wir die einzelnen Lebensgeschichten verfolgen, finden wir vielleicht doch einen Grund, warum von so vielen Menschen nur so wenige deutlich para-begabt sind.«
6 Das HENCI (»Hinc Et Nunc Communication Interface«) ist eine Weiterentwicklung der Kombination Handy, Computer und Netzzugang. Durch den individualisierten und mit den Methoden der künstlichen Intelligenz gefilterten Zugriff auf Informationen im NINT (»New Internet«) sind Radio und telefonische Auskunftsdienste seit Jahren obsolet.
Maria nickt nachdenklich. Ja, sie haben schon viel darüber diskutiert, dass es schön wäre, eine größere Gruppe von Para-Begabungen zusammenzuführen. Sie wären dann besser in der Lage, bei kritischen Situationen helfend einzugreifen, als ihnen dies in der Vergangenheit möglich war. Und sie könnten sich besser verteidigen, würden sie einmal auf Grund ihrer Begabungen verfolgt. Andererseits scheinen sich alle Menschen mit besonderen Begabungen möglichst bedeckt zu halten, aus Angst, dass sonst ihr Leben oder zumindest Lebensstil gefährdet ist.7 Wie würde es gelingen, solche durchaus verständlichen Urängste zu beseitigen, ja würde es gelingen, ehemalige »Gegner« aus der PPU zu finden und für sich zu gewinnen? Marcus kommt ihr ungerechtfertigt optimistisch vor, aber sie weiß, dass es nur dann eine Lösung geben kann, wenn jemand daran glaubt. Also erhebt sie keine Einwände.
Der Nachmittag verspricht einer jener zu werden, die man nur in Neuseeland so erleben kann und nie mehr vergisst. Die Bucht mit dem feinen Sand, umgeben von Felsklippen, die dort, wo das Meerwasser nicht oft hinkommt, dicht mit Moos, Farnen und Büschen bewachsen sind, ist so schön wie jede Südseeszene. Die um das Jahresende rot blühenden Pohukaka Bäume auf dem hellen Strand vor blauem Himmel sind Maria schon immer als ein Weihnachtsgeschenk Neuseelands an alle dort lebenden Menschen vorgekommen. Sie kennt kaum einen überwältigenderen Anblick. Und heute mit Marcus, den sie noch immer liebt, der sehr jugendlich aussieht und der (eitel!) nicht gerne daran erinnert wird, dass er bald 30 wird, die beiden hübschen und ungewöhnlichen Kinder, die so harmonisch miteinander auskommen, im Hintergrund das Haus und Grundstück, das sie so lieben ... Sie muss doch einfach glücklich sein. So ist es auch irgendwie und doch entkommt sie heute wieder nicht manchem Schatten: Kann das immer so bleiben? Wird man sie nicht als Para-Begabte entdecken und verfolgen wie seinerzeit in Europa? Ja, zugegeben, damals hatten sie mit der Gründung ihrer Schule für Para-Psychologie wohl sehr offensiv auf sich aufmerksam gemacht. Aber taten sie das denn jetzt mit ihrem Bergungs- und Rettungsunternehmen »SR-Inc.«8 in Auckland nicht auch, weil sie bei den schwierigsten Einsätzen immer wieder erfolgreicher waren, als es möglich schien? Aber waren sie nicht moralisch verpflichtet, ihre Fähigkeiten irgendwie auch anderen Menschen zur Verfügung zu stellen? Wo war da die Grenze zwischen Selbsterhaltungstrieb und menschlicher Hilfsbereitschaft?
7 Sie hatten das schon früher erlebt: Alle Mitglieder der PPU verschwanden für Maria und Marcus unauffindbar, nachdem die Jagd der PPU nach Marcus und Maria erfolglos gewesen war und die Mitarbeiter der PPU dabei lernen mussten, dass man in Brüssel bereit war auch zu töten, wenn es galt, Para-Begabte zu willfährigen Mitarbeitern zu machen. Irgendwann war sogar Klaus Baumgartner, der Chef der PPU, ihr ehemaliger Gegner, der sich allmählich fast zu einem Freund gewandelt hatte, wie vom Erdboden verschwunden.
Und konnten sie eigentlich ihrem Personal trauen: dem Lehrerehepaar Inge und Rolf aus Österreich oder dem Ehepaar Varma und Zaidah, die als Hilfspersonal das große Haus mit den vielen Zimmern, die zurzeit noch kaum benutzten Nebengebäude (Wohnungen für zukünftige Para-Begabte) und den Garten betreuten? Freilich, sie und eine große Gruppe von Mitarbeitern in der Firma SR-Inc. waren beim »großen Unfall«9 vor zirka drei Jahren, knapp vor Lenas Geburt, von ihr und Marcus durch ihre Para-Fähigkeiten gerettet worden, hatten damals geschworen, niemandem von den Fähigkeiten von Marcus und ihr zu erzählen.
Auch haben sie vor diesen Fähigkeiten einen gesunden Respekt. Zudem werden sie sehr gut entlohnt und niemand weiß im Detail, welche Fähigkeiten Marcus, Maria, Stephan oder gar Lena haben. Auch Robert, der Chef ihres SR-Inc.-Unternehmens, gehört zu derselben Gruppe. Er verdient mehr, als er je erwarten konnte. Auch er weiß durch seine Rettung, dass Marcus und Maria über spezielle »Techniken« verfügen, die sie bei Einsätzen offenbar immer wieder benutzen. Würden die Loyalität dieser Mitwisser, die Dankbarkeit für ihre Rettung, die gute Bezahlung und die Furcht vor den geheimnisvollen Kräften auf Dauer genügen, dass alle (auch wenn sie einmal über den Durst getrunken haben) wirklich verschwiegen bleiben würden? Marcus scheint davon überzeugt. Aber gerade die Mitarbeiter, die sich vor der Öffentlichkeit verborgen mit der Erforschung von Para-Phänomenen beschäftigten, würden deren Entdeckungen nicht vielleicht auch die Einstellung zu Para-Begabten ändern?
8 SR-Inc. steht für »Salvage and Rescue Inc.«. Diese Ges.m.b.H. war zunächst auf Rettungseinsätze spezialisiert. Die firmeneigene Computerabteilung hat aber inzwischen den HENCI so erfolgreich zu einem © e-Helper, fallweise mit »Kommunikationsbrille« (siehe Kapitel 9 und Anhang) ausgebaut, dass dieser für den großen finanziellen Erfolg der Firma verantwortlich ist.
9 Die zeitliche Lücke zwischen der Geburt Stephans und der heutigen Zeit (sechs Jahre später), die den »großen Unfall« beinhaltet, wird im Roman »XPERTEN - 1.5: Die Para-Jünger« geschlossen werden.
Sie genießt trotzdem die Sonne auf ihrem Rücken ... und Marcus vor allem den schönen Rücken. Er scheint (wieder einmal) nicht zu merken, dass Maria nicht nur glücklich, sondern auch nachdenklich ist. Er streift liebevoll über ihr Haar. Und fast hätte sie leicht verärgert seine Hand festgehalten.
»Ach Marcus«, denkt sie, »du bist ein Schatz, aber warum kannst du dich so wenig in mich hineinversetzen, merkst oft nicht, wie es mir zu Mute ist?«
All das wird unterbrochen durch hastige Schritte von oben: Inge und Rolf rennen vom Haus, am Wasserfall vorbei, in Richtung Strand. Das ist ungewöhnlich, denn Marcus und Maria schätzen ihre Privatsphäre trotz aller Freundschaft mit den Mitarbeitern im Haus, und dieser Teil des Strandes ist für alle Mitarbeiter tabu, außer auf ausdrückliche Aufforderung.
Das Rätsel währt nicht lange: »Robert von SR-Inc. hat angerufen. In Auckland ist durch eine Gasexplosion ein großes Haus eingestürzt und man denkt, ihr solltet unbedingt kommen und helfen.«
Maria und Marcus springen - mit einem innerlichen Seufzer - sofort auf. Marcus bemerkt so nebenbei, dass die hübsche Inge nur ein dünnes Hemdchen anhat, Rolf nur eine Hose und die beiden offenbar nicht nur vom Heruntereilen erhitzt sind. Maria registriert dies auch, aber zudem, dass Marcus trotz der Situation Inge recht interessiert ansieht. Und als sie sich selbst analysiert und merkt, dass sie recht aufmerksam Rolfs kantiges und interessantes Gesicht mit seinen funkelnden Augen, seine breiten Schultern, die kräftigen Arme und die haarlos rasierte Brust registriert, muss sie unwillkürlich an das anstehende verflixte »siebente Jahr« denken und einen Moment lang blitzt Unruhe in ihr auf. Doch nun geht es wieder einmal um einen Einsatz zur Rettung von Menschenleben.
»Das Flugzeug, das euch nach Auckland bringt, wird in wenigen Minuten beim Haus landen«, ergänzt Rolf. Also hat man über sie schon mehr oder minder verfügt, stellt Marcus fest. Sie umarmen die Kinder. Inge und Rolf wissen, dass sie nun die Betreuung übernehmen werden, und es gibt kaum Proteste seitens der Kinder. Als Maria und Marcus zum schon gelandeten Moller 600 - diesem düsengetriebenen Wunderding, einer Kreuzung aus Hubschrauber und Auto10 - eilen, schaut Stephan seinen Eltern sehnsüchtig nach. Wann würde er seine Para-Fähigkeiten das erste Mal einsetzen und seine Eltern beeindrucken können? Er kann nicht ahnen, dass dies nur zu bald notwendig sein wird ...
Eine halbe Stunde später sitzen Maria und Marcus in ihrem Spezialpanzerfahrzeug in der Harbourstreet von Auckland. Sie nähern sich, in ständigem Telefonkontakt mit den Rettungsmannschaften, der Hausruine. Ihr Fahrzeug ist inzwischen sogar außerhalb Aucklands durch das Fernsehen als eine mächtige »Rettungszentrale« bekannt. Vereinzelt wird sogar Applaus hörbar, als sie näher kommen. Viele Hoffnungen liegen wieder einmal auf ihnen und machen sie, das ist Marcus und Maria klar, sehr sichtbar. Zu sichtbar? Natürlich haben sie schon x-mal Berichterstatter in ihr Fahrzeug gelassen und ihnen die vielen elektronischen Geräte erklärt (von denen einige nur zur Verwirrung der Öffentlichkeit angebracht sind!). Was sie wirklich dann im Fahrzeug tun, weiß keiner, hoffen Maria und Marcus.
Und doch sind sie wieder zu naiv. Sobald bekannt geworden ist, dass SR-Inc. zur Unfallstelle kommen wird, kam von Wellington aus der Befehl, zwei Personen der »Maria und Marcus Supervisory Group« abzustellen, den Vorfall genau zu beobachten und zu protokollieren. Marcus und Maria haben keine Ahnung, dass Ken und Dick, Mitarbeiter des Geheimdienstes, mehr sind als neugierige Zuschauer oder besorgte Angehörige.
Als Maria und Marcus bei den Ruinen des mehrstöckigen eingestürzten Hauses ankommen, aktivieren sie ihre Sonare, Radare, Infrarotgeräte und andere bildgebende Verfahren, um später auf diese zurückgreifen und Einsatzprioritäten bekannt geben zu können. Dann verriegeln sie ihr Fahrzeug hermetisch, um »ungestört« zu arbeiten. Das wird inzwischen zum Glück als ihre »Trademark« akzeptiert. Ihre Arbeit beginnt: Maria kann mit ihren Augen durch alle Hindernisse hindurchsehen, wobei allerdings ganz dunkle Räume Probleme bieten; Marcus kann durch seine telekinetischen Pseudoarme durch fast jedes Material greifen. Indem sie sich umarmen, können sie, wie sie vor Jahren entdeckt haben, ihre Fähigkeiten kombinieren. Doch ist dies nur in Einzelfällen sinnvoll, einen ersten Überblick erhalten sie leichter getrennt. Sie beginnen wie immer mit einer oberflächlichen Untersuchung. Der Keller ist so dunkel, dass Maria nichts ausnehmen kann. Sie übernimmt daher sofort das Erdgeschoß.
10 Zur Zeit der Drucklegung gibt es einen Moller400, dessen Weiterentwicklung von großer Bedeutung für den Verkehr am Boden und in der Luft sein kann, siehe www.moller.com.
Marcus erforscht mit seinen Pseudohänden den Keller. In einem der Räume stößt er auf etwas, das sich wie ein menschlicher Körper anfühlt. Marcus sticht mit einer Pseudohand in den Oberschenkel, während er andere Pseudohände locker auf dem Körper liegen hat, um eine Reaktion zu erspüren. Es erfolgt keine. Dieser Mensch ist tot oder in tiefster Ohmacht, weiß Marcus aus Erfahrung. Er trägt die Position in den inzwischen vorhandenen Plan des Gebäudes ein und schaut Maria fragend an.
»Ja, im Erdgeschoß sind zwei Personen eingeschlossen. Die eine ist ein Mann; er befindet sich in einem Raum, der recht solide ist, genug Luft hat, nur gibt es keinen Ausgang. Er ist nicht in unmittelbarer Gefahr und kann später vom Räumkommando ohne uns befreit werden. Aber eine zweite Person ist verschüttet, ihre Arme sind verschüttet und sie hat kaum Atemluft. Da solltest du eingreifen.«
Maria und Marcus umarmen sich. Marcus sieht dadurch die verschüttete Frau. Durch ein winziges Loch kommt etwas Licht herein, sonst hätte Maria nichts bemerkt. Marcus könnte hier ganz leicht helfen, indem er das Loch mit Telekinese vergrößert und die Frau mit Telekinese heraushebt. Aber wenn er das tut, wäre das ein Wunder und seine Begabung würde entdeckt werden. Er muss zu seinem Leidwesen sehr viel komplexer vorgehen. Er setzt alle seine Kraft ein, dass sich der Raum mit der verschütteten Frau in Bewegung setzt (zum Entsetzen der Frau, die nun mit dem endgültigen Einsturz rechnet), und sorgt dafür, dass sie einerseits von Mörtel- und Steinmassen befreit wird, ihre Arme frei beweglich werden und sich das Licht- bzw. Atemloch so stark vergrößert, dass sie nun eigentlich durchklettern kann, jedenfalls aber keine Angst vor Bewegungslosigkeit oder Ersticken mehr haben muss. So durchkämmen Maria und Marcus das Gebäude und geben schließlich den Rettungsmannschaften genaue Hinweise, wo sie Menschen »vermuten« oder mit ihren Geräten ausgemacht haben, und wie man sie bergen kann.
Ihre Arbeit ist damit für heute beendet. SR-Inc. hat wieder Unglaubliches geleistet, wie auch Ken und Dick vom Geheimdienst in ihren Protokollen festhalten werden.
Trotz des Erfolges haben Maria und Marcus gemischte Gefühle. Sie haben zwar vermutlich zehn Menschen das Leben gerettet oder deren Rettung stark erleichtert; sie waren aber so verdächtig erfolgreich, dass man ihren speziellen Fähigkeiten vielleicht dadurch auf die Spur kommen kann. Und sie hätten schon häufig mehr Menschen oder diesmal die Menschen leichter retten können, wenn sie nicht ihre wahren Fähigkeiten hätten verbergen müssen. Soll das so weitergehen?
Maria meint nachdenklich: »Es wäre toll, wenn es eine Möglichkeit gäbe, dass wir vielen Menschen einfach ein Medikament geben könnten, sodass sie sich an nichts in der unmittelbaren Vergangenheit erinnern können. Dann könnten wir viel mehr helfen, als wir es tun.«
»Ja, das wäre toll. Wir sollten mit solchen Forschungen beginnen«, antwortet Marcus, »denn wir wollen doch nach wie vor nicht, dass man auf unsere wahren Fähigkeiten kommt. Oder sollen wir das wagen?«
»Nein, Marcus, du weißt wie ich, dass
das nicht geht. Wir hätten dann die ganze Welt gegen uns, wie du
das schon einmal erlebt hast.«11
Mit ihrem Moller600, einem der wenigen in Neuseeland - nur für Notfälle und mit vielen Auflagen zugelassen -, fliegen sie zu ihrem Haus auf Great Barrier Island zurück. Das Fluggerät ist nicht unumstritten: Durch senkrechten Start und Landung, seine Beweglichkeit und seinen geringen Treibstoffverbrauch kann das Flugzeug tief aber leider unangenehm laut über sonst unberührte Gegenden und Grundstücke fliegen und überall starten und landen. Dies ist der Grund, der die weitere Einführung des Moller seit seinem Anfang12 verhindert. Man hat mit Recht Angst, dass jede Privatsphäre, jedes Gefühl in einer freien, wilden Natur sein zu können, verloren ginge, wenn Moller von allen Menschen ohne Einschränkungen verwendet werden könnten. Auch Marcus, der das Trekking in abgelegenen Gegenden von Neuseeland liebt, würde sich nicht freuen, beim Lagerfeuer nach mehreren anstrengenden Wandertagen plötzlich einen Moller neben sich landen zu sehen.
11 Siehe »Xperten - 1: Der Telekinet« [3] und www.iicm.edu/Xperten.
Der Flug in der frühen Abendstimmung vom Hafen von Auckland zu ihrem Haus ist ein Erlebnis. In geringer Höhe überqueren sie die Rangitoto Insel, jene Vulkaninsel, die erst im letzten Jahrtausend aus dem Meer auftauchte und eines der Wahrzeichen von Auckland geworden ist, weitere kleine Inseln im Hauraki Golf folgen, bis sie das größere und mehr besiedelte Waiheke überfliegen. Dann geht es eine längere Zeit übers Meer, bis die Küste von Great Barrier ungefähr bei Whangaparapara erreicht wird. Von hier überqueren sie unberührte Wälder mit herrlichen Bächen, Teichen und Lichtungen, während die Schatten länger und länger werden.
Trotz des langen Sommertages dämmert es bereits, als Maria und Marcus landen. Die Kinder kommen ihnen im Pyjama entgegen und erzählen vom sonnigen Nachmittag und ihren Erlebnissen.
»Wir sind auf riesigen Fischen geritten«, plappert Lena stolz. Stephan schaut sie strafend an. Er hat ihr ausdrücklich gesagt, dass sie dies nicht verraten darf. Stephan weiß, dass sein Vater es nicht gerne hat, wenn er seine Kräfte über Tiere einsetzt, während andere Menschen, wie heute Inge und Rolf, dabei sind. Natürlich wissen die beiden von den »Animalaktivator-Fähigkeiten« Stephans, aber Marcus will verhindern, dass sie das genaue Ausmaß kennen. Diese Unterscheidungen versteht Stephan noch nicht genau, geschweige denn Lena.
Trotz ihres Hungers müssen Marcus und Maria zunächst noch eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen, bevor sie sich über das späte Abendessen stürzen können: Zaidah hat einen milden Curry gekocht, der ohnehin immer besser wird, je länger er warten muss, wie sie behauptet.
Nach dem Essen gehen Maria und Marcus noch in den Whirlpool beim Wasserfall und dann erhitzt hinunter zum Bootssteg am Meer. Marcus taucht seine Hand ins Wasser und zieht sie erstaunt zurück: Das Wasser leuchtet!
12 Der erste Moller, ein mit vier verstellbaren Triebwerken ausgerüstetes viersitziges Fluggerät, kann auf der kleinsten ebenen Fläche starten und landen, bewegt sich aber in der Luft durch Schrägstellung der Triebwerke mit mehreren hundert Stundenkilometern und verbraucht nur so viel Treibstoff wie ein Auto für dieselbe Strecke! Das erste Modell wurde schon 1993 vom berühmten neuseeländischen Flugzeugveteran Gordon Vette testgeflogen. Gordon Vette verlor seinen Job als Chefpilot der Air New Zealand, weil er nicht bereit war, die Ermittlungen nach dem Erebus Unfall 1979 in der Antarktis einzustellen [1]. Seite 17
»Maria, wir haben heute ein Meeresleuchten!« Bevor sich Maria von der Überraschung erholen kann, springt Marcus kopfüber, nackt wie er ist, ins Meer. Die Wassertropfen sprühen wie Funken, seine Haut hat einen eng anliegenden Panzer aus bläulichem Licht, jede Bewegung erzeugt eine Schockwelle unwirklichen Leuchtens. Maria hat das Meerleuchten erst einmal von der Segeljacht aus erlebt und konnte es damals kaum fassen, heute geht es ihr nicht anders. Dieses Phänomen, das für Neuseeländer selten, aber vertraut ist, kommt in europanahen Meeren nie vor. So hält man es als Europäer für ein Märchen, bis man es selbst einmal erlebt. Die trockene Beschreibung in der Brockhaus Enzyklopädie: »Meeresleuchten, durch Biolumineszenz verschiedener Meerestiere bzw. -pflanzen hervorgerufene nächtliche Leuchterscheinungen, besonders im Bereich tropischer Meere«, wird dem ungewöhnlichen Phänomen in keiner Weise gerecht.
Jede noch so kleine Bewegung im Meer bewirkt ein schönes und gleichzeitig unheimliches, großflächiges Leuchten. Das Meer ist plötzlich eine Mischung von Wasser und bläulichem Licht, in jedem noch so kleinen Tropfen scheint die Macht eines Glühwürmchens zu stecken. Maria gleitet auch ins Wasser. Es fühlt sich kühl an wie immer, aber ein Schimmer verfolgt ihren Körper, jede Bewegung ihrer Beine und Arme. Marcus klettert auf den Bootssteg zurück, er will Maria sehen, seine schöne, lichtumfasste, schlanke, sich elegant bewegende Maria. Maria kennt diesen Blick. Sie weiß, dass Marcus jetzt nur aus Voyeurismus und Begierde besteht. Sie genießt seine bewundernden Blicke, schwimmt wie eine Nixe im Lichtermeer des subtropischen Meeresleuchtens. Marcus streckt die Arme hinunter zum Wasser. Maria schwimmt in sie hinein und Marcus hebt Maria, unterstützt mit seiner telekinetischen Kraft, aus dem Wasser auf den Steg. Er legt sie, die sich nicht wehrt, mit seinen unsichtbaren telekinetischen Pseudohänden auf den Rücken, eine weiche Pseudohand als Unterlage, damit sie nicht auf hartem Holz liegt für das, was nun geschehen wird.
Maria flüstert leise: »Ja, Marcus, du darfst mich fesseln.«
Da ist keine Schnur, kein Band, keine Handschelle weit und breit, aber Marcus braucht sie auch nicht. Mit je einer seiner telekinetischen Pseudohände hält er die Arme von Maria fest; als er ihr mit zwei weiteren die Beine gegen ihren Willen weit spreizt, stöhnt sie überrascht auf. Da beginnt Marcus sie wild zu küssen. Maria liebt diese Küsse. Was wäre Begierde ohne Küsse, denkt sie halb bewusst. Dann legt sich Marcus auf Maria und versinkt in ihr. Sie bewegt sich langsam und rhythmisch mit Marcus. Erst als die Bewegungen heftiger werden, öffnet sie die Augen und sieht das geliebte und nun erregte Gesicht von Marcus über ihr.
»Maria«, stammelt Marcus, »es ist so schön bei dir.« Beide klammern sich aneinander, als wäre es das erste Mal.
Als Marcus dann ruhig auf Maria liegt und sie leicht liebkost, schaut Maria glücklich auf ihn und das Kreuz des Südens am Sternenhimmel über ihm. Und gerade in diesem Moment sieht sie am Himmel eine Sternschnuppe verglühen. Das verstärkt - ganz irrational, wie sie weiß - ihre Hoffnung, dass die liebevolle Beziehung zwischen Marcus und ihr noch lange so bleiben wird.
»Wahrscheinlich war ich die Einzige, die diese Sternschnuppe verglühen sah«, überlegt sie.
Langsam richtet sich Marcus auf und eröffnet der verblüfften Maria: »Ich habe die Reflexion einer Sternschnuppe in deinen Augen gesehen. Bleib noch ein bisschen hier, ich bin gleich wieder da.«
Er holt von der Terrasse einen Gisborne Chardonnay13 und bringt ihn mit zwei Gläsern sowie zwei Decken auf den Bootsteg. Er wickelt die eine Decke liebevoll um Maria, hängt sich die andere um die Schultern, schenkt der nun sitzenden Maria und sich selbst ein Glas ein. Lange bleiben sie so aneinander gelehnt mit einem unausgesprochenen Wunsch. Und dieser wird ihnen erfüllt: In der klaren Sternennacht sind weitere Meteoriten keine Seltenheit. Und als sie ein und denselben beide verglühen sehen, umarmen sie sich mit dem Gefühl: Es war ein guter Tag.
Erst am Weg zum Haus wird ihnen wieder bewusst, was sie durch den Einsatz in Auckland, durch das Meeresleuchten und das, was es auslöste, verdrängt haben. Sie haben heute erfahren, dass ihre Tochter Lena eine Späherin ist und dass der Inhaber des Reisebüros, das sie stets mit ihren Buchungen beauftragen, gleichfalls eine starke, ihnen noch unbekannte Para-Begabung besitzt. Was das wohl für neue Komplikationen bringen wird? Die ersten Nebelschleier, die aufziehen und beginnen die Sterne am Himmel zu verdecken, entsprechen den Vorahnungen, die sich über das Glücksgefühl von Maria und Marcus legen ...
13 Gisborne Chardonnay: In der Nähe der neuseeländischen Stadt Gisborne gibt es (wie an mehreren anderen Stellen der Nordinsel) herrliche Weine!