DREIZEHN
1
Wenn die Scham morgens unerträglich schien und Treslove der armen Hephzibah seinen Anblick nicht länger zumuten wollte, zog er den Mantel an, verließ die Wohnung und ging durch den Park zu Libors Haus. Er nannte es immer noch Libors Haus; daran war nichts merkwürdig. Schließlich rechnete er nicht damit, ihn am Fenster zu sehen. Doch irgendwas war von Libor dort verblieben, ganz wie er fürchtete, dass auch etwas von seiner Scham noch auf Hephzibahs Terrasse haftete, obwohl er selbst bereits gegangen war.
Um diese Zeit hatten Jogger, Hundeausführer und Gänse den Regent’s Park mit Beschlag belegt. Das Federvieh wechselte sich ab. Am frühen Morgen gehörte der Park den Gänsen, die aufs Trockene watschelten und mit dem Schnabel nach allem pickten, was ihnen zustand. Später waren die Reiher dran, danach die Schwäne, dann die Enten. Es wäre gut, dachte Treslove, wenn die Menschen sich ähnlich verhielten, nie um Land kämpften, einfach Tageszeiten vergaben. Muslime am Morgen, Gojim am Nachmittag, Juden am Abend. Oder irgendeine andere Ordnung. Wer welche Zeit bekam war egal, Hauptsache, alle bekamen ihren Teil.
Der Park war Londons größter Außenbereich zum Denken, größer sogar als Hampstead, wo sich zu viele Denker im selben Denkraum drängelten. An manchen Vormittagen meinte Treslove, der einzige Mensch im ganzen Park zu sein, der nachdachte – einfach nur nachdachte, nicht dachte, während er joggte, oder dachte, während er den Hund ausführte, sondern jemand, der nichts anderes tat als denken. An dem einen Parkende ließ er seine Gedanken frei und sammelte sie am anderen wieder ein, wurden sie doch von den ansonsten unbeschäftigten Bäumen weitergeleitet, so wie Telegrafenmasten die menschliche Stimme übertrugen. Die gleichen Gedanken, die er in den Park gebracht hatte, erwarteten ihn, wenn er ihn wieder verließ.
Es war kein absichtsvolles Denken, bloß simples Denken. Wieder aufleben. Denken bedeutete für ihn, im Kopf zu existieren.
Und was brachten ihm diese Vormittage freien, ungehinderten Denkens?
Nichts.
Zero.
Gornischt.
Als er Hephzibah kennenlernte, hatte er davon geträumt, wie sie zusammen zu diesem See gingen, sich für eine halbe Stunde auf eine Bank setzten, den Reihern zusahen, über Juden und die Natur sprachen – wieso gab es so wenig Naturbeschreibungen in der Bibel, wieso wurde selbst das Paradies in Sachen Vegetation etc. so ungenau beschrieben – und darauf warteten, dass sich Libor zu ihnen gesellte. Wenn Hephzibah dann nach allerlei Abschiedsküssen ins Museum ging, würden Libor und Treslove Arm in Arm dahinschlendern wie zwei ältliche K.-u.-K.-Herren und sich Anekdoten auf Jiddisch erzählen, das Treslove längst auf wundersame Weise fließend beherrschte. Später würden sie sich wieder auf eine Bank an den See setzen, und Libor würde erklären, warum Juden so gut darin waren, in Städten zu leben. Treslove hatte sein ganzes Leben in dieser Metropole verbracht, verkörperte sie aber längst nicht im gleichen Maße wie Libor. Was die Gänse für den Regent’s Park waren, war Libor für die angrenzenden Straßen. Dabei war er nicht mal in London geboren und sprach die Hälfte aller englischen Worte falsch aus. Treslove wollte diese Fähigkeit nicht nur erklärt bekommen, er wollte, dass ihm gesagt wurde, wie er sie sich aneignen konnte.
Wenn dies ein müßiger Traum war, dann nur, weil die Umstände ihn dazu machten. Hephzibah hatte viel zu tun, Treslove war vergesslich, das Wetter meist ungünstig, und Libor wollte nicht, konnte nicht und verschwand schließlich aus Tresloves Leben wie ein zu wenig beachtetes Gespenst. Dabei hatte sich Treslove so danach gesehnt. Für ihn versinnbildlichte der Traum eine Lebensart. Nicht den Pfad zu einer neuen Lebensweise, auch wenn er sich als anderer Mensch daraus hervorgehen sah, sondern das neue Leben selbst. Ein Leben, das eben daraus bestand – aus Spaziergängen mit Hephzibah und Libor in ihrem Quasi-Eden, und sei es in Sachen Natur noch so unbestimmt, an jedem Arm einen Juden und in der Mitte auch einer, jedenfalls so gut wie.
Nun, die Symmetrie war durchbrochen. Eigentlich aber war es nur Tresloves Traum gewesen, niemand sonst hatte sich dafür erwärmt.
Doch Treslove suchte nach einem Weg hinaus – oder hinein. Libor hatte seinen Weg gewählt. Und Hephzibah war glücklich gewesen, bis Treslove auftauchte und sie ins Unglück idealisierte.
Und so war nun jeder Spaziergang im Park ein Spaziergang im Gedenken an das neue Leben, das nie begonnen hatte. Wer ihn beobachtete – aber wer hätte ihn beobachten sollen? Hundeausführer achten nur auf das, was sich am Ende ihrer Leine befindet, Jogger nur auf ihren Herzrhythmus –, hätte ihn für einen Mann in Trauer gehalten.
Allerdings konnte niemand wissen, wie sehr und um wie viele er trauerte.
Er hätte im Nachhinein nicht sagen können, was ihn an diesem besonderen Tag veranlasste, zum Park zurückzukehren, nachdem er den Pilgergang zu Libors Wohnung bereits absolviert hatte – was diesen Tag von allen anderen unterschied. Er war seiner üblichen Route gefolgt, hatte dem Juckreiz der Erinnerung nachgegeben, den Park durch die Libors Wohnung nächstgelegene Pforte verlassen, einfach dagestanden und eine halbe Stunde hinaufgestarrt, die Fenster zu Libors Zimmern ausgemacht und daran gedacht, was er in diesen Zimmern gesehen oder getan hatte: Malkie, wie sie Schubert spielte, zahllose gesellige Dinnerpartys, Libors wuchtige Möbel, seine mit Initialen versehenen Pantoffeln, Libor und Finkler, die wegen Isrrrae die Klingen kreuzten, Hephzibah, der er hier zum ersten Mal begegnet war – »Nennen Sie mich Juno, wenn es Ihnen leichter fällt«. Er verband nichts als glückliche Erinnerungen mit Libors Wohnung, auch wenn er dort manche Träne vergossen hatte und nur einige Hundert Meter davon entfernt überfallen worden war, was er nun aber auch für eine glückliche Erinnerung hielt, hatte ihn dieser Überfall doch mehr oder weniger direkt zu Hephzibah geführt.
Normalerweise ging er dann forschen Schrittes am Gebäude der BBC vorbei, diesem Rattenloch, an das er keine einzige frohe Erinnerung hatte, verweilte ein wenig vor dem Schaufenster von J.P. Guivier, sog den Zigarrenrauch ein, der noch im Mauerwerk dieser Straße hing, in der sein Vater ein Geschäft gehabt hatte, machte eine Kaffeepause, schwelgte ein wenig in Melancholie, verdammt, warum auch nicht? – er hatte zu viel Zeit, das war sein Problem, wartete schon zu lang darauf, dass etwas geschah –, und fuhr dann mit einem Taxi nach Hause. Heute aber war das Wetter so freundlich wie seit Wochen nicht mehr, große Wolkenpilze schwankten über den Himmel, und er brauchte doppelt so lang wie gewöhnlich, weshalb er beschloss, ein Sühnemahl in jener Salt-Beef-Bar einzunehmen, in der er Libors Ohren beleidigt hatte, um dann noch einmal in den Park zu gehen und gemächlich den Weg zurückzuschlendern, den er gekommen war. Am Nachmittag war er müde und schlief zu seiner eigenen Überraschung auf einer Parkbank ein, ganz wie ein alter Penner. Er wachte auf mit steifem Nacken, Kinn auf der Brust. Er hatte diesmal einen Umweg durch einen verwilderten Teil des Parks gewählt und sich Zeit dabei gelassen. Eigentlich gefiel es ihm dort nicht besonders. Es kam ihm nicht wie London vor, jedenfalls nicht wie das richtige London, und es roch irgendwie nach Ärger, auch wenn er höchstens mal eine Schar brasilianischer Jungs sah, die mit polnischen Jungs in Dreißiger-Mannschaften Fußball spielten und ziemlichen Lärm machten.
Und Lärm hatte ihn wohl auch geweckt. Eine Meute Schulkinder jeder Hautfarbe und jeden Geschlechts rief etwas, das er nicht verstand, kein wahlloses Gekreische, sondern irgendwas, das stetig wiederholt wurde und allein deshalb wie Hohn und Spott klang. Nur konnte er nicht sehen, wen sie verspotteten.
Mit ihm hatte das nichts zu tun. Obwohl er wusste, dass es heutzutage kein Erwachsener mehr wagen durfte, eine Meute Schulkinder zu verscheuchen, egal, was sie für Unsinn anstellten, da durchaus die Möglichkeit bestand, dass eines der Kinder mit einer Machete bewaffnet war, erhob er sich von der Bank, als müsste er dringend etwas erledigen – was wusste er schon von dringenden Erledigungen? –, und näherte sich der Gruppe.
Ein großer Fehler, dachte er, noch während er ihn beging.
2
Mitten im Kreis der Schulkinder stand ein etwa fünfzehnjähriger, recht hübscher Junge, mit spanischen, portugiesischen Zügen und blauschwarzen Schläfenlocken, in schwarzem Anzug, Gebetsfransen lugten unterm Hemd hervor, auf dem Kopf ein Kinderfilzhut – nein, kein Kinderfilzhut, dieser Junge hatte nichts Kindliches an sich, der Filzhut eines kleinen Mannes, denn das war er –, ein kleiner sephardischer Jude. Bis auf das Alter ein in jeder Hinsicht heiliger Mann.
Abscheu packte Treslove.
Wie er vermutlich auch die Kinder gepackt hatte. »Es ist ein Jude« lautete der Ruf, mit dem sie ihn verspotteten.
»Es ist ein Jude!«, riefen sie. »Ein Jude!«
Als hätten sie etwas entdeckt. Schaut mal, was da ist, schaut mal, was wir gefunden haben, außerhalb seines natürlichen Lebensraums.
Es.
Die Schulkinder sahen nicht aus, als wären sie zu einem Lynchmord fähig. Nicht gerade von einer guten Schule, fand Treslove, aber auch nicht unbedingt von einer schlechten. Die Jungen schienen unbewaffnet zu sein, die Mädchen wirkten nicht allzu vulgär. Ihre Bösartigkeit hielt sich in Grenzen. Sie würden den Jungen nicht umbringen, würden ihn nur ein wenig angehen, so wie man etwas Fremdes anstupst, das die Flut an den Strand gespült hat. »Es ist ein Jude!«
Der heilige Mann, sah man vom Alter ab – der heilige Junge –, war bekümmert, zeigte aber keine Angst. Er schien ebenfalls zu wissen, dass man ihn nicht umbringen würde. Doch was er auch dachte, dies durfte nicht weitergehen. Treslove blickte sich um, da er nicht wusste, was er tun sollte. Sein Blick fiel auf eine Frau in seinem Alter, die ihren Hund ausführte. Das darf so nicht weitergehen, sagte ihr Blick. Treslove nickte.
»He da, was ist denn hier los?«, rief die Frau mit dem Hund.
»He da«, rief Treslove.
Die Schulkinder schätzten die Lage ab. Vielleicht gab der Hund den Ausschlag. Vielleicht wollten sie auch nur einen Ausweg gezeigt bekommen.
»Wir machen bloß Spaß«, rief eines der Kinder.
»Husch, husch, weg mit euch!«, schrie die Frau, und ihr Hund kläffte. Es war nur ein Terrier mit einer grinsenden, vornehmen Bertie-Wooster-Miene, aber ein Hund ist ein Hund.
»Selber husch, husch«, rief eines der Mädchen.
»Blöde Fotze«, brüllte ein Junge, wich aber zurück.
»He da!«, rief Treslove erneut.
»Wir meinen’s doch nur nett«, sagte ein Mädchen, und aus ihrem Mund klang es, als hätten die beiden erwachsenen Wichtigtuer gerade dafür gesorgt, dass dieser Jude einen Haufen neuer Freunde verlor.
Die Gruppe löste sich auf, wich zurück, nicht auf einmal, eher wie eine Flut, die sich langsam von diesem fremdländischen Ding zurückzog, das sie da ans Ufer gespült hatte. Sich selbst überlassen, ging dieses fremdländische Ding seiner Wege und dankte weder Treslove noch der Frau, auch nicht ihrem Hund. Verstößt bestimmt gegen seine Religion, dachte Treslove. Einen flüchtigen Moment lang traf ihn ein Blick aus schönen kohlschwarzen Augen. Der Junge war nicht verärgert. Treslove hätte nicht einmal sagen können, ob er Angst empfunden hatte. Das bin ich gewohnt, las er in diesem altklugen Gesicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte Treslove.
Der Junge zuckte mit den Achseln, eine fast schon überhebliche Geste. So ist es eben, besagte das Achselzucken, reg dich nicht auf. Vielleicht noch eine Prise Stolz, etwas Unnahbarkeit, das Gefühl, Gottes Schutz zu unterstehen. Er findet mich unrein, dachte Treslove.
Treslove sah die Frau an und rollte mit den Augen. Sie tat es ihm gleich. Versteh einer diese Kids.
Er setzte sich wieder auf die Bank, auf der er sein Nickerchen gehalten hatte. Er merkte, wie er zitterte.
Er bekam ihren höhnischen Spott nicht aus dem Kopf: »Es ist ein Jude!«
Dabei kämpfte er gegen eigene höhnische Gedanken an. Warum sich dann so anziehen? Warum sich ihnen so zeigen? Und warum konntest du dich nicht bei uns bedanken? Warum hast du mich angesehen, als wäre ich für dich auch nur ein Es?
Eines der Mädchen war nicht mit den übrigen Schulkindern davongelaufen. Die Kleine trödelte, schaute sich um. Treslove fürchtete, sie könnte ihn anmachen wollen, ihm vielleicht gegen Taschengeld ihre Dienste anbieten. Wie er da zitternd auf der Bank hockte, sah er bestimmt wie leichte Beute aus.
Ohne ihn anzuschauen, bückte sie sich, um ihre Schuhe auszuziehen. Im selben Moment erkannte er sie. Sie war das Mädchen, das er wiederholt in seinen Träumen gesehen hatte – damals, ehe er Hephzibah kennenlernte –, jenes Schulmädchen im Faltenrock, mit weißer Bluse, blauem Pullover und kunstvoll geknotetem Schlips, das – ob scheu oder beherzt, hatte er nicht sagen können – mitten im Laufen stehen blieb, um sich die störenden Schuhe auszuziehen. Ein Schulmädchen in Eile, nur wusste er nie, ob ihm die Eile galt oder nicht.
»Warum ziehst du die Schuhe aus?«, fragte er.
Sie musterte ihn, als sei selbst für jeden Schwachkopf offensichtlich, warum sie sich die Schuhe auszog: um sich ihn von der Sohle zu kratzen.
»Freak!«, sagte sie, zog ihm eine Fratze und rannte über den Rasen davon.
Es ist ein Freak.
Also nichts Persönliches. Es ist ein Freak, es ist ein Jude. Nur jemand, der anders war als sie selbst.
Lohnt nicht, dafür zu sterben.
Oder galt das Gegenteil: Lohnt nicht, dafür zu leben?
3
Am frühen Abend kehrte er in die Wohnung zurück. Er hatte noch einen Drink gebraucht.
Nur gut, dass keine fragile Schickse mit wässerigem Ophelia-Flair in die Bar gekommen war. Gut möglich, dass er sie in den Park geschleppt hätte, um sich mit ihr zu ertränken.
In der Wohnung war es seltsam still. Keine Hephzibah. Er ging sie suchen. Keine Hephzibah in der Küche, keine Hephzibah, die sich im Wohnzimmer vor dem Fernseher ausgebreitet hatte und sich wunderte, wo er blieb, keine Hephzibah im Schlafzimmer, die ihn im orientalischen Morgenmantel mit einer Rose zwischen den Zähnen erwartete, keine Hephzibah im Bad. Ihr Parfüm aber konnte er riechen. Eine Schranktür stand offen, Schuhe lagen auf dem Boden verstreut. Sie war ausgegangen.
Und dann, als träfe ihn ein Stein an der Stirn, fiel es ihm wieder ein. Heute war die Museumsnacht. Der Auftakt, die große Eröffnung, wie sie sich den Abend beharrlich zu nennen geweigert hatte. Herrgott noch mal! Um halb sechs sollten sie da sein, um Viertel nach sechs öffneten sich die Tore für die Gäste. »Früh«, hatte Hephzibahs Anweisung gelautet. Früh und kurz. Rein, raus, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich. Selbst die unauffälligen Einladungen waren möglichst spät verschickt worden. Dabei liebten die Juden Einladungen, wie Treslove längst festgestellt hatte. Sie waren totemistisch, unweigerlich mit Goldbuchstaben in Frakturschrift beschrieben, auf dicken, großen Karten geprägt, in der Wortwahl überschwänglich, und sie wurden Monate im Voraus versandt. Komm zur Party! Denk schon mal über ein Geschenk nach! Über deine Garderobe! Fang an, ein paar Pfunde abzunehmen! Hephzibah achtete darauf, dass ihre kleinen, hauchdünnen Einladungen im Schneckentempo in die Welt hinausgeschickt wurden.
Er hatte ihr nicht versprochen, nicht zu spät zu kommen. Das brauchte er nicht. Er kam nie zu spät. Er verließ die Wohnung nur selten. Und Verabredungen vergaß er nicht.
Warum also war er zu spät dran? Und warum hatte er diese Verabredung vergessen?
Er wusste, was Hephzibah sagen würde. Sie würde sagen, er hatte sie vergessen, weil er sie vergessen wollte. Den Grund dafür würde er schon selbst herausfinden müssen. Vielleicht liebte er Hephzibah nicht mehr. Oder er war irrsinnig eifersüchtig auf seinen Freund. Oder er hatte begonnen, sich zuinnerst gegen das Museum zu wenden.
Sie hatte ihm keine Nachricht hinterlassen. Das allein verriet Treslove, wie wütend und verletzt sie war. Er hatte sich wortlos von ihr entfernt, sie tat es ebenso.
Er fragte sich, ob zwischen ihnen alles aus sein würde. Wenn, dann war Libor schuld. Es gibt Ereignisse, die machen es einem unmöglich, hinter sie zurückzukehren. Dorthin, wo man einmal gewesen war. Nach Libor, der sie zusammengebracht hatte, nichts. Gut möglich, dass dies seiner Absicht entsprach. Was ich zusammenfügte, will ich auch wieder trennen. Treslove verstand Libors Denkweise. Sein älterer Freund hatte herausgefunden, dass er ein Kriecher war, ein Hurenbock, ein Prahlhans. Er hatte Finklers Nest beschmutzt und würde nun qua Hephzibah auch Libors Nest beschmutzen. Was wollte er von ihnen, dieser Kuckucks-Goi? An ihrer Tragödie nuckeln, weil sein eigenes Leben eine Farce war? Geh heim, Julian. Kehr dahin zurück, wo du hergekommen bist. Lass uns in Frieden.
Er saß auf dem Bettrand, sein Kopf dröhnte, er stimmte dem Urteil zu. Sein Leben war eine Farce gewesen, einfach lächerlich, in jeder Hinsicht. Und ja, es stimmte, er hatte versucht, sich anderer Leute Grandeur und Tragik zu erschleichen, da ihm selbst dergleichen fehlte. Er hatte es nicht böswillig gemeint, nicht respektlos, ganz im Gegenteil. Diebstahl war es trotzdem gewesen.
»Es ist ein Jude!«, hatten die Schulkinder gegrölt, und Treslove hatte es persönlich genommen. Ein Lanzenstich in die eigene Seite. Nur was hatte das mit ihm zu tun, sah er einmal von seiner Pflicht ab, diesen kleinen mamsern eins hinter die Löffel zu geben? Warum war er von der Parkbank fortgetaumelt und hatte einen Drink gebraucht? Um welchen Schmerz zu lindern?
Zeit also für einen weiteren Abschied. Warum nicht? In Abschieden war er schon immer gut gewesen. Kam es da auf einen mehr oder weniger an?
Er sah sein Leben in verschiedene Richtungen auseinanderdriften. Es war, als wäre er betrunken. Betrunken sein war wie betrunken sein. Vielleicht taumelte er zur Tür hinaus und ward nie mehr gesehen. Vielleicht packte er seine Koffer und zog zurück in die Hampsteader Wohnung, die nicht in Hampstead lag. Vielleicht zog er sich rasch um und hastete zum Museum. »Tut mir leid, Darling, komm ich noch rechtzeitig für ein letztes, koscheres Kanapee?«
Ihn überkam einer jener Anfälle grundlos guter Laune, für die unentschlossene Menschen so empfänglich sind. Die ganze Welt lag vor ihm ausgebreitet; er brauchte nur zu wählen. Zur Tür hinauszutaumeln und auf immer zu verschwinden, gefiel ihm am besten. Das hatte etwas Ehrenvolles, aber auch was Wildes, Hephzibah seine Abwesenheit und sich die Freiheit zu schenken. Also los, dachte er. Brechen wir auf. Er hätte in die Luft geboxt, wäre er jemand, der in die Luft boxte.
Doch der Anblick von Hephzibahs verstreut herumliegenden Schuhen rührte ihn. Er liebte diese Frau. Sie hatte ihn mit dem Universum in Gleichklang gebracht. Und auch wenn sie ihm vielleicht nicht vergab, schuldete er ihr, schuldete er sich selbst, ihnen beiden eine zweite Chance. Rasch duschte er, zog einen schwarzen Anzug an und rannte nach draußen.
Die Dunkelheit war wie ein Schock. Er schaute auf die Uhr. Viertel vor neun! Wie konnte das passieren? Er war doch kurz nach sieben aus dem Park zurückgekehrt. Wo war die Zeit geblieben? War er auf dem Bett eingeschlafen, irgendwann zwischen der Vorstellung, einfach davonzulaufen, und dem Anblick ihrer Schuhe, die ihn daran erinnerten, wie sehr er sie liebte? Anscheinend. Eine andere Erklärung gab es nicht. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er eingeschlafen und wusste nichts davon. Er hatte sich nicht mehr im Griff. Die Dinge passierten einfach. Er war nicht mehr Herr seines eigenen Lebens, lebte nicht einmal mehr sein eigenes Leben.
Es war bloß ein zehnminütiger Spaziergang, doch der strotzte nur so von Gefahren. Laternenpfosten drängten sich ihm wieder in den Weg. Er sah sich mit Bäumen und Briefkästen kollidieren. Auf der Straße herrschte zu viel Verkehr, alle fuhren zu schnell. Busse krochen die Anhöhe hinauf. Hinter ihnen zogen Autos auf die Überholspur, obwohl ihre Fahrer bestenfalls eine Ahnung davon haben konnten, dass die Gegenseite frei war. Jeder Knochen im Leib schmerzte ihm bei dem Gedanken an den zu erwartenden Zusammenprall.
Er bemühte sich, die arabischen Graffiti an den Wänden des alten Aufnahmestudios der Beatles zu übersehen.
Gegen neun Uhr kam er zum Museum. Im Gebäude brannte Licht, und eine kleine Gruppe hatte sich davor versammelt, etwa ein Dutzend Menschen. »Versammelt« ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Versammlungen deuten eine Absicht an, und Treslove war sich nicht sicher, ob diese Menschen einen Grund hatten, sich hier aufzuhalten. Halb rechnete er damit, irgendwelche Plakate zu sehen: »Tod allen Juden«; Karikaturen von Vielfraßjuden, die Babys verschlangen; Davidsterne, die in Hakenkreuze übergingen. Solche Bilder schockierten längst nicht mehr. Man fand sie selbst in den angesehensten Publikationen, sogar auf deren Titelseiten. Seit Wochen quollen die Straßen über mit Demonstranten vom Trafalgar Square und der israelischen Botschaft, menschlichen Schrapnellen eines ohrenbetäubenden Sperrfeuers der Wut, weshalb es Treslove keineswegs überrascht hätte, wenn sie sich hier in der Hoffnung blicken ließen, die Aufmerksamkeit von einem der wichtigeren Gäste zu erregen, einem Botschafter oder Parlamentsabgeordneten, einem der Honoratioren der Gesellschaft. »Schluss mit dem Massaker. Ein Ende dem Gemetzel. Tötet die Itzigs.« Doch alles wirkte ruhig und geordnet. Soweit er sehen konnte, war nicht einmal einer der ASCHandjiddn gekommen, um zerknirscht seine Unsolidarität mit dem eigenen Volk zu zeigen.
Finkler? War Finkler drinnen oder draußen? Finkler, versteckt in der kleinen Menge, den rechten Zeitpunkt abwartend? Oder Finkler im Gebäude, Hephzibahs Ersatzmann, da ihr Freund sie versetzt hatte?
Es war ein Finkler-Ereignis. Sam hatte weit mehr angestammte Rechte, dabei zu sein, als Treslove. Jedenfalls war er nicht draußen. Das da mussten Raucher sein, entschied Treslove. Oder Leute, die frische Luft schnappen wollten.
Er ging um die Gruppe herum zum Eingang, an dem zwei Männer des Sicherheitsdienstes seine Einladung sehen wollten. Er hatte keine. Es gebe, erklärte er, auch gar keinen Grund, warum er eine bräuchte. Er sei kein Gast. Er sei quasi der Gastgeber.
Einlass nur mit Einladung, wurde ihm geantwortet. Keine Einladung, keine Party. Er wies darauf hin, dass dies keine Party sei, sondern ein Empfang. Sehen Sie! – Woher sollte er wissen, dass es ein Empfang und keine Party war, wäre er nur ein Fremder, der Zoff suchte? Er konnte aufzählen, was in jedem Raum zu sehen war. Machen Sie schon, stellen Sie mich auf die Probe! Hephzibah Weizenbaum, die Direktorin des Museums, sei seine Lebensgefährtin. Vielleicht könnte ihr jemand sagen, dass er eingetroffen sei …?
Sie schüttelten den Kopf. Er fragte sich, ob Hephzibah veranlasst hatte, dass er nicht eingelassen wurde, aber vielleicht hatten die Männer auch nur seine Alkoholfahne gerochen.
»Lasst gut sein, Jungs«, sagte er und wollte sich an ihnen vorbeidrängen, durchaus nicht gewaltsam, eher wie jemand, der mit ironischem Lächeln durchschlüpfte. Der größere der beiden Kerle packte ihn am Arm.
»He!«, rief Treslove. »Das ist ein tätlicher Angriff!«
Er dreht sich um, da er hofft, ein mitfühlendes Gesicht zu entdecken. Vielleicht jemanden, der ihn kennt und dafür bürgen kann, dass er die Wahrheit sagt. Doch blickt er nur in die wilde Miene des angegrauten, kämpferischen Juden mit Palästinensertuch, der sein Motorrad stets im Vorhof jener Synagoge parkt, die Treslove von Hephzibahs Dachterrasse sehen kann. Ach, denkt er. Ach! Jetzt versteht er. Diese Leute sind also doch keine Raucher, keine Empfangsgäste, die mal Luft schnappen wollen. Sie halten stumme Mahnwache. Eine Frau reckt das vergrößerte Foto einer arabischen Familie in die Höhe, Vater, Mutter, ein Baby. Neben ihr hält ein Mann eine Kerze in der Hand. Vielleicht sind sie selbst Araber, aber das gilt nicht für alle. Der angegraute Biker mit Palästinensertuch zum Beispiel, der ist kein Araber.
»Also was soll das hier?«, fragt Treslove.
Sie ignorieren ihn. Keiner will Ärger. Der Mann vom Sicherheitsdienst, der Treslove am Arm gepackt hat, spricht ihn erneut an. »Ich muss Sie bitten weiterzugehen, Sir«, sagt er.
»Sind Sie Jude?«, fragt Treslove.
»Wie bitte?«, antwortet der Mann von der Security.
»Ich habe Ihnen nur höflich eine Frage gestellt«, sagt Treslove. »Denn wenn Sie Jude sind, möchte ich doch gern wissen, warum Sie diese Demonstration zulassen. Das hier ist schließlich keine Botschaft. Und wenn Sie kein Jude sind, will ich wissen, was Sie hier überhaupt zu suchen haben.«
»Das ist keine Demonstration«, sagt der Mann mit der Kerze. »Wir sind einfach bloß hier.«
»Einfach bloß hier? Das sehe ich«, erwidert Treslove. »Aber warum sind Sie einfach bloß hier? Dies ist ein jüdisches Museum, ein Ort zum Studieren und Reflektieren, jedenfalls nicht das verfluchte Westjordanland. Wir sind hier nicht im Krieg.«
Jemand hält ihn fest. Wer, weiß er nicht genau. Womöglich halten ihn zwei Leute fest. Vielleicht die Sicherheitsleute, vielleicht auch nicht. Treslove weiß, wo dies enden wird. Er hat keine Angst. Der sephardische Junge hatte keine Angst; er wird auch keine Angst haben. Er sieht das müde, altkluge Gesicht vor sich. »Es ist ein Jude!« So ist das eben. Er sieht, wie das Schulmädchen sich die Schnürsenkel bindet. »Freak!«
Er schlägt um sich. Ihm ist egal, wen er trifft. Oder wer ihn trifft. Wenn schon, dann wäre ihm der Verräter im Palästinensertuch recht. Wenn nicht, dann nicht. Doch drängt es ihn nicht, auf Araber einzuschlagen. Er hört Geschrei. Es wäre ihm recht, wenn man ihn an die Mauer presste und sagte: »Du Jud!« Welch heldenhafter Tod, als Jude zu sterben. Wenn man schon für etwas sterben muss, dann dafür, dass man Jude ist. »Du Jud«, und ein Messer an die Kehle. Das nennt man einen wahrhaften Tod, nicht diesen Mist, den Treslove sein Leben lang veranstaltet hat.
Etwas drückt sich in seine Rippen, aber es ist kein Messer. Eine Faust. Er boxt zurück. Jetzt kämpfen sie, Treslove und er weiß nicht wie viele. Treslove hört ein lautes Poltern, aber vielleicht ist es auch nur sein Herz. Er stolpert, verliert den Halt auf unebenem Grund. Dann fällt er der Länge nach hin. Scheinwerfer blenden ihn. Plötzlich tut seine Schulter weh. Er schließt die Augen.
Als er sie wieder aufschlägt, beugt sich der Jude mit dem PLO-Tuch über ihn. »Alles in Ordnung?«, fragt er.
Diese Behutsamkeit überrascht Treslove. Er hätte erwartet, dass der Mann Funken sprüht wie sein Motorrad.
»Wissen Sie, wo Sie sind?« Er klingt fast wie ein Arzt. Sollte er das sein, dieser Irre, überlegt Treslove – ein eminenter jüdischer Arzt mit Palästinensertuch?
Er starrt zu ihm auf und fragt sich, ob er in ihm den Glotzer von Hephzibahs Terrasse wiedererkennt. Da dies Hephzibahs Abend ist, sollte die Verbindung nicht schwer herzustellen sein.
Doch falls der Biker ihn erkennt, lässt er es sich nicht anmerken. »Wissen Sie, wie Sie heißen?«, fragt er immer noch besorgt.
»Brad Pitt«, erwidert Treslove. »Und Sie sind …?«
»Sydney.« Die Stimme klingt kultiviert, besänftigend. Geduldig. Der Mann nimmt das Tuch ab und legt es Treslove unter den Kopf. »Sie haben Glück, dass er so gute Bremsen hatte«, sagt er.
»Wer?«, fragt Treslove, hört aber keine Antwort.
Statt Sydney dankbar zu sein, der sich aus wer weiß welch krankhaftem Motiv menschlicher Selbstverleugnung ins Tuch der Feinde seines Volkes hüllt, wünscht sich Treslove, die Bremsen wäre nicht so gut gewesen.
Statt Treslove und der Frau mit dem Hund dankbar zu sein, hatte sich der sephardische Jude aus ähnlichen Gründen gewünscht, dass man ihn seinen Peinigern überlassen hätte?
Ist schon was Komisches, diese Undankbarkeit, denkt Treslove und schließt erneut die Augen. Es war ein langer Tag.
Die Verletzungen sind nicht schlimm, doch behält man ihn über Nacht im Krankenhaus. Zur Sicherheit. Hephzibah besucht ihn, aber er schläft. »Wecken Sie ihn nicht auf«, sagt sie.
Sie meint, er wisse, dass sie bei ihm ist, wolle sie aber nicht sehen. Sie gehört jetzt zu all dem, dessen er überdrüssig ist. Wie Libor will er etwas hinter sich lassen. Sie irrt sich, aber das ist unwichtig. Worin sie heute irrt, mag sie morgen recht haben.