EPILOG
Da Libor keine Kinder hat, werden wir Kaddisch für ihn sprechen, darin sind sich Hephzibah und Finkler einig. Als Goi ist es Treslove nicht erlaubt, das jüdische Totengebet aufzusagen, also wurde er aus ihren Beratungen ausgeschlossen.
»Ich habe für Synagogen nicht viel übrig«, sagt Hephzibah. »Mir ist dieses Theater zuwider, für wen man Kaddisch sagen darf und für wen nicht, wo und wann man sich hinsetzt, ganz zu schweigen von dem, was einer Frau erlaubt ist und wie sich das von Synagoge zu Synagoge unterscheidet. Unsere Religion macht es einem nicht gerade leicht. Also bete ich daheim.«
Und das tut sie.
Für die Toten und die Toten für sie.
Um Libor weint sie sich die Augen aus.
Um Julian – denn aus ihrem Herzen kann sie Julian nicht verbannen – weint sie bittere Tränen, die aus einem ihr unbekannten Winkel ihres Innersten hervorquellen. Sie hat auch früher schon um Männer geweint, die sie einmal geliebt hat. Bei denen schmerzte sie die Endgültigkeit der Trennung. Mit Julian ist das anders: War er je so fest mit ihr zusammen, dass sie sich jetzt von ihm getrennt fühlen kann? War sie für ihn nur ein Experiment? War er für sie nur ein Experiment?
Samuel Finkler hat es nicht ganz so leicht, dafür erlebt er die Trauer vielleicht unmittelbarer. Er muss zur nächsten Synagoge gehen und das Gebet aufsagen, das er zuerst von den Lippen seines Vaters hörte. Auf Hebräisch, dieser uralten Sprache, stimmt er die Klage für die Toten an: »Jisgadal wejiskadasch … erhoben und geheiligt werde sein großer Name.« Das sagt er dreimal am Tag. Falls es sich bei dem Verschiedenen nicht um Vater oder Mutter handelt, endet die Pflicht, Kaddisch zu sprechen, nach dreißig Tagen, ansonsten erst nach elf Monaten. Doch Finkler hört nach dreißig Tagen nicht auf. Niemand kann ihn dazu zwingen. Er weiß nicht einmal, ob er nach elf Monaten damit aufhören wird, auch wenn er versteht, was dafür spricht: Die Seelen der unbetrauerten Toten sollen endlich ins Paradies eingehen dürfen. Er glaubt allerdings nicht, dass es seine Gebete sind, die sie hindern, den Weg zu finden.
Das Schöne am Kaddisch besteht für ihn darin, dass es so unspezifisch ist. Er kann um so viele Tote gleichzeitig trauern, wie er nur möchte.
Tyler, endlich, er weiß nicht, warum. Er denkt, Libor hat es irgendwie möglich gemacht. Hat etwas freigesetzt.
Tyler, die er als Ehemann enttäuschte, Libor, den er als Freund enttäuschte.
Jisgadal wejiskadasch … So allumfassend, dass er ums ganze jüdische Volk trauern könnte.
Nicht, dass er sich auf Juden beschränkte. Selbst Treslove bekommt etwas ab, einen scheelen Trauerblick, dabei ist er lebendig und wohlauf – so wohlauf er nur sein kann – und arbeitet vermutlich wieder als Doppelgänger.
Samuel Finkler nimmt sich Hephzibah zum Vorbild, mit der er in häufigem Kontakt steht. Ihr Gefühl von Unvollständigkeit, nicht beendet zu haben, was vielleicht nie begonnen wurde, wird zu seinem Gefühl. Treslove hat er eigentlich auch nicht richtig gekannt. Und das scheint ihm gleichfalls ein Grund zur Klage zu sein.
Finklers Trauer kennt keine Grenzen.