EINS

1

Er hätte es kommen sehen müssen.

Sein Leben war ein Missgeschick in Serie, also hätte er damit rechnen müssen.

Er war jemand, der Dinge kommen sah. Keine vagen Ahnungen kurz vor oder nach dem Schlaf, sondern echte, drohende Gefahren in der taghellen Welt. Laternenpfähle und Bäume drängten sich ihm in den Weg, brachen ihm die Schienbeine. Fahrer verloren die Kontrolle über ihre Wagen, rasten auf den Bürgersteig und ließen von ihm nur einen Haufen kaputter Knochen und zerrissenen Gewebes übrig. Scharfe Gegenstände fielen von Gerüsten und bohrten sich in seinen Schädel.

Mit Frauen war es am schlimmsten. Kreuzte eine Frau, die Julian Treslove schön fand, seinen Weg, bekam dies nicht sein Körper, sondern sein Geist mit voller Wucht zu spüren. Sie raubte ihm die Ruhe.

Sicher, er kannte gar keine Ruhe, doch sie brachte ihn selbst um jede Ruhe, die er sich für die Zukunft erhofft haben mochte. Sie war die Zukunft.

Wer sehen kann, was kommt, der hat Probleme mit dem Zeitgefüge, mehr nicht. Tresloves Uhren gingen ausnahmslos falsch. Kaum sah er eine schöne Frau, sah er, was nach ihr kam – seinen Heiratsantrag, den sie annahm, das Heim, das sie sich gemeinsam einrichteten, die schweren, zugezogenen Brokatvorhänge, durch die purpurrotes Licht sickerte, wolkenweich aufgeschüttelte Betten, wohlriechenden Rauch, der aus dem Schornstein wehte –, und dann den Trümmerhaufen: reihenweise karmesinrote Dachziegel, Giebel und Gauben, sein Glück, seine Zukunft, all das brach bereits in jenem Augenblick krachend über ihm zusammen, in dem sie an ihm vorüberging.

Sie ließ ihn nicht wegen eines anderen sitzen, sagte auch nicht, sie könne ihn oder ihr gemeinsames Leben nicht mehr ertragen, sie schied dahin in einem perfektionierten Traum tragischer Liebe, trällerte ihm schwindsüchtig und augenwimpernfeucht ihr Lebwohl mit Liedfetzen aus beliebten italienischen Opern zu.

Von einem Kind keine Spur. Kinder verdarben die Geschichte.

Zwischen aufdringlichen Laternenpfosten und plötzlich herabfallendem Mauerwerk ertappte er sich gelegentlich dabei, wie er seine letzten Worte an sie probte – meist gleichfalls beliebten italienischen Opern entliehen –, als wäre die Zeit zusammengeschnurrt, sein Herz zersprungen, und so starb sie, noch ehe sie sich kennenlernten.

Diese Ahnung, dieser prophetische Anblick einer geliebten Frau, die in seinen Armen dahinschied, das fand Treslove einfach bezaubernd. Manchmal starb er in ihren Armen, aber schöner war’s, sie starb in seinen. Dann wusste er, dass er sie liebte: kein Heiratsantrag ohne eine Vorahnung ihres Dahinscheidens.

Soweit die lyrische Version seines Lebens. Im wirklichen Leben hatten ihm noch alle Frauen vorgeworfen, er unterdrücke ihre Kreativität – um ihn dann zu verlassen.

Im wirklichen Leben gab es sogar Kinder.

Doch gab es da noch etwas jenseits des wirklichen Lebens, das ihn lockte.

 

Auf einer Klassenfahrt nach Barcelona bezahlte er eine Zigeunerin dafür, ihm aus der Hand zu lesen.

»Ich sehe eine Frau«, sagte sie.

Aufgeregt fragte Treslove: »Ist sie schön?«

»Find ich nicht«, antwortete die Zigeunerin, »aber in deinen Augen … vielleicht. Und ich sehe Gefahr.«

Tresloves Aufregung wuchs. »Woher weiß ich, dass sie die Richtige ist?«

»Du wirst es wissen.«

»Hat sie einen Namen?«

»Namen kosten eigentlich extra«, sagte die Zigeunerin und bog seinen Daumen nach hinten. »Aber weil du so jung bist, mache ich für dich eine Ausnahme. Ich sehe eine Juno – kennst du eine Juno?«

Bei ihr klang es wie Huno, aber nur, wenn sie den Akzent nicht vergaß.

Treslove kniff ein Auge zu. Juno? Kannte er eine Juno? Kannte irgendwer eine Juno? Nein, schade, er jedenfalls nicht. Allerdings kannte er eine June.

»Nein, nein, keine June, markanter.« Es schien sie zu ärgern, dass er mit keinem ausgefalleneren Namen als June dienen konnte. »Judy … Julie … Judith. Kennst du eine Judith?«

Hudith.

Treslove schüttelte den Kopf. Aber ihm gefiel, wie es sich anhörte – Julian und Judith. Hulian und Hudith Treslove.

»Tja, jedenfalls wartet sie auf dich, diese Julie, Judith oder Juno … Ich glaube immer noch, es ist eine Juno.«

Treslove kniff nun auch das andere Auge zu. Juno, Juno …

»Wie lang wird sie warten?«, fragte er.

»So lang, wie du brauchst, sie zu finden.«

Treslove stellte sich vor, wie er die sieben Meere nach ihr absuchte. »Und was ist mit der Gefahr? Wieso ist sie gefährlich? «

Er sah, wie sie sich über ihn beugte, ihm ein Messer an die Kehle hielt – Addio mio bello, addio.

»Ich habe ja nicht gesagt, dass sie die Gefährliche ist, nur dass ich Gefahr sehe. Vielleicht bist du es auch, der ihr gefährlich wird. Oder ein anderer Mensch wird euch beiden gefährlich.«

»Sollte ich ihr also lieber aus dem Weg gehen?«, fragte Treslove.

Sie erschauerte, wie nur Wahrsager erschauern. »Du kannst ihr nicht aus dem Weg gehen.«

Die Zigeunerin war schön, zumindest in Tresloves Augen. Ausgezehrt, eine tragische Gestalt, mit goldenen Ohrreifen und dem leisen Hauch, wie er fand, eines West-Midlands-Akzents. Wäre der nicht gewesen wäre, hätte er sich in sie verliebt.

 

Sie konnte ihm nichts sagen, was er nicht bereits wusste. Irgendwer, irgendwas erwartete ihn.

Weit mehr als nur ein Missgeschick.

Er war für Katastrophen und Trauer wie geschaffen und doch immer woanders, wenn das Schicksal seinen Lauf nahm. Einmal stürzte ein Baum um und erschlug jemanden, der nur einen Schritt hinter ihm ging. Treslove hörte einen Schrei und fragte sich, ob er von ihm selbst kam. Er verpasste einen Amokläufer in der Londoner Untergrundbahn nur um einen einzigen Waggon. Er wurde nicht einmal von der Polizei verhört. Und ein Mädchen, das er mit der hoffnungslosen Sehnsucht eines Schuljungen liebte – die Tochter von Freunden seines Vaters, ein Engel mit einer Haut, so schön wie spätsommerliche Rosenblüten, und mit immerzu feucht glänzenden Augen –, starb vierzehnjährig an Leukämie, während sich Treslove in Barcelona die Zukunft vorhersagen ließ. Nicht einmal für ihre letzten Stunden oder zu ihrem Begräbnis rief ihn die Familie zurück. Man wollte ihm die Ferien nicht verderben, hieß es, dabei fürchtete man in Wahrheit, dass er die Fassung verlor. Wer Treslove kannte, überlegte es sich lieber zweimal, ihn an ein Totenbett zu bitten oder zu einer Beerdigung einzuladen.

Also hatte er noch sein ganzes Leben zu verlieren. Mit neunundvierzig Jahren war er in guter körperlicher Verfassung, hatte den letzten blauen Fleck gehabt, als er sich in Kinderjahren am Knie seiner Mutter stieß, und war auch noch nicht Witwer geworden. Soweit er wusste, war noch keine Frau gestorben, die er geliebt oder mit der er Sex gehabt hatte – allerdings hatten es nur wenige so lang mit ihm ausgehalten, dass ihr Sterben ein bewegendes Finale für etwas hätte sein können, das sich im Nachhinein eine große Affäre nennen ließe. Die unerfüllte Erwartung tragischer Ereignisse verlieh ihm jedenfalls ein ungewöhnlich jugendliches Äußeres, wie man es sonst eigentlich nur von Menschen kennt, die zum wahren Glauben zurückgefunden haben.

2

Es war ein warmer Spätsommerabend, hoch am Himmel ein launischer Mond, und Treslove war auf dem Heimweg von einem melancholischen Abendessen mit zwei langjährigen Freunden, der eine in seinem Alter, der andere deutlich älter, beide jedoch seit Kurzem verwitwet. Den Gefahren der Straße zum Trotz hatte er beschlossen, durch diese ihm vertraute Gegend Londons zu spazieren, um der Trauer des Abends noch ein wenig nachzuhängen, ehe er mit dem Taxi nach Hause fahren wollte.

Mit dem Taxi, nicht mit der U-Bahn, obwohl es von seinem Haus bis zur Station nur hundert Meter waren. Ein Mann wie Treslove, der sich so sehr vor dem fürchtete, was ihm über der Erde widerfahren könnte, würde sich wohl kaum unter die Erde wagen. Schon gar nicht nach jener Beinahe-Katastrophe mit dem Amokläufer.

»Wie unsagbar traurig«, murmelte er halblaut vor sich hin. Er meinte den Tod der Frauen seiner Freunde, aber auch den Tod der Frauen schlechthin. Und er dachte an die Männer, die allein zurückblieben, ihn selbst eingeschlossen. Es ist schrecklich, eine geliebte Frau zu verlieren, doch ist es mindestens ebenso schlimm, keine Frau zu haben, die man in die Arme nehmen und an sich drücken kann, ehe die Tragödie über einen hereinbricht …

»Was hat das Leben sonst für einen Sinn?«, fragte er sich, denn er war jemand, der nur schlecht allein zurechtkam.

Er ging an der BBC vorbei, einer Institution, für die er einst gearbeitet und idealistische Hoffnungen gehegt hatte, die er jetzt aber auf geradezu unvernünftige Weise hasste. Wäre sein Hass vernünftig gewesen, hätte er darauf geachtet, dass ihn sein Weg nicht mehr so oft an diesem Gebäude vorbeiführte. Kraftlos schimpfte er leise vor sich hin: »Kackhaufen.«

Ein Fluch aus Kindergartenzeiten.

Aber das war es ja, was er an der BBC hasste: Sie hatte ihn infantilisiert. »Tantchen« wurde der Sender liebevoll von der Nation genannt, nur sind Tantchen zweifelhafte Sympathiegestalten, unzuverlässig und gemein, da sie einem ihre Liebe bloß so lange vorgaukeln, wie sie selbst zu wenig davon abbekommen – und dann machen sie sich aus dem Staub. Treslove war davon überzeugt, dass die BBC ihre Zuhörer abhängig machte, sie in geistlose Unmündigkeit versetzte. Genau wie jene, die für sie arbeiteten. Nur war es für die Angestellten noch schlimmer – durch Eigendünkel und die Aussicht auf Beförderung gefesselt, für eine andere Lebensweise nicht mehr tauglich. Treslove bot dafür das beste Beispiel. Fürs Unglaubliche, nicht für die Beförderung.

Kräne standen rund um das Gebäude, hoch und unstet wie der Mond. Ein angemessenes Schicksal, dachte er: Wie am Anfang, so am Ende – ein BBC-Kran zermanscht mir das Gehirn. Dieser Kackhaufen. Er hörte seinen Schädel platzen, so wie in einem Katastrophenfilm die Erde aufreißt. Aber das Leben war ja ein Katastrophenfilm, in dem schöne Frauen starben, eine nach der anderen. Er ging schneller. Ein Baum tauchte vor ihm auf. Er wich ihm aus und wäre fast gegen ein umgestürztes Baustellenschild gelaufen. »Achtung.« Seine Schienbeine schmerzten bei dem Gedanken an den Zusammenprall. Heute Abend erbebte selbst seine Seele vor Besorgnis.

Es passiert nie, wenn man damit rechnet, sagte er sich. Es schlägt immer von unerwarteter Seite zu. Woraufhin sich ein dunkler Schatten aus einem Hauseingang löste und zu einem Angreifer wurde, der ihn am Nacken packte, sein Gesicht an ein Schaufenster presste, ihm sagte, er solle nicht schreien und sich nicht wehren, um ihm dann Uhr, Brieftasche, Füller und Handy abzunehmen.

Erst als er zu zittern auf hörte und sich in der Lage sah, seine Taschen abzutasten, und feststellte, dass sie leer waren, wusste er mit Gewissheit, dass das, was passiert war, tatsächlich passiert war.

Keine Brieftasche, kein Handy.

In seiner Jackentasche kein Füller.

An seinem Handgelenk keine Armbanduhr.

Und kein Kampfeswille, kein Selbsterhaltungstrieb, kein amour de soi oder wie immer man jenen Klebstoff nennt, der einen Menschen zusammenhält und ihn lehrt, im Hier und Jetzt zu leben.

Aber wann hatte er den je gehabt?

 

An der Universität war er ein Moduler gewesen, ein Stückwerker, der kein bestimmtes Fach studierte, sondern diverse Komponenten unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Disziplinen wie Legosteine zusammenfügte. Archäologie, Konkrete Poesie, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Theater- und Festivalmanagement, Vergleichende Religionswissenschaft, Bühnendesign, ein Seminar zur russischen Kurzgeschichte sowie Politik und Geschlechter politik. Am Ende seiner Studien – dabei war nie ganz klar, wann und ob er tatsächlich je fertig werden würde, da kein Mensch an der Universität mit Gewissheit sagen konnte, wie viele Module ein Ganzes ergaben – besaß Treslove einen so unspezifischen Universitätsabschluss, dass er damit nichts weiter anfangen konnte, als ein Praktikum bei der BBC anzunehmen. Und die BBC wusste ihrerseits mit Treslove nichts Besseres anzufangen, als ihn ins nächtliche Kulturprogramm von Radio Three abzuschieben.

Er kam sich vor wie ein verkümmerter Strauch in einem Regenwald voller Baumriesen. Um ihn herum stiegen seine Mitpraktikanten innerhalb weniger Wochen nach Arbeitsbeginn in verblüffende Höhen auf. Sie stiegen auf, weil es keine andere Richtung gab, in die man sich entwickeln konnte, falls man nicht Treslove hieß, der blieb, wo er war, da niemand wusste, dass es ihn gab. Sie wurden Programmchef, Direktor, Chefeinkäufer, senderübergreifender Geschäftsführer, gar Generaldirektor. Niemand kündigte, niemand wurde gefeuert. Die BBC stand loyaler zu ihren Leuten als manch eine Mafia-Familie. Folglich wusste jeder über jeden Bescheid – nur Treslove nicht, der niemanden kannte –, und jeder sprach dieselbe Sprache – nur Treslove nicht, dessen Gerede von Trauer und Verlust niemand verstand.

»Jetzt sei doch froh!«, sagten die Leute, wenn sie ihn in der Kantine trafen, dabei hätte er am liebsten geweint. Was für eine traurige Aufforderung: »Sei doch froh!« Damit räumte man nicht bloß ein, wie unwahrscheinlich es war, dass er jemals froh sein würde, man bekannte auch, dass es nur wenig Grund zum Frohsein gab, wenn Frohsein das Einzige war, worauf man sich freuen konnte.

Durch ein Schreiben mit offiziellem Briefkopf von jemandem aus der künstlerischen Leitung des Senders – der Name des Beschwerdeführers war ihm unbekannt – wurde ihm angeraten, während seiner Sendung weniger morbide Themen anzuschneiden und nicht so oft traurige Musik zu spielen. »Derartiges passt besser zu Radio Three«, schloss der Brief. Treslove schrieb zurück, seine Sendung laufe aber trotzdem auf Radio Three, erhielt aber keine Antwort.

Nachdem er länger als ein Dutzend Jahre in tiefster Nacht über die Flure des Rundfunkhauses gegeistert war, stets in dem Wissen, dass niemand seine Sendungen zur Kenntnis nahm – wer wollte sich auch schon um drei Uhr morgens anhören, wie lebende Dichter über tote Dichter redeten, wenn nicht vielleicht sogar umgekehrt –, kündigte er. »Fiele es irgendwem auf, wenn meine Sendungen nicht mehr liefen?«, fragte er in seinem Kündigungsschreiben. »Würde irgendwer meine Abwesenheit bemerken, wenn ich einfach nicht mehr käme?« Wieder erhielt er keine Antwort.

Auch Tantchen hörte nicht zu.

Er antwortete auf eine Zeitungsannonce und bewarb sich um den Posten des stellvertretenden Direktors eines neuen Kulturfestivals an der Südküste. »Neu« hieß: eine Schulbibliothek, in der es statt Büchern nur Computer gab, drei Gastredner und kein Publikum. Es erinnerte ihn an die BBC. Die leitende Direktorin formulierte seine Briefe in schlichteres Englisch um, im Gespräch mit ihm tat sie das auch. Zum Krach kam es, als sie über den Wortlaut für einen Prospekt stritten.

»Warum ›stimulierend‹, wenn man auch ›sexy‹ sagen kann?«, fragte sie ihn.

»Weil ein Kulturfestival nicht sexy ist.«

»Und weißt du auch warum? Weil du drauf bestehst, Worte wie ›stimulierend‹ zu benutzen.«

»Was ist daran schlecht?«

»Das ist so indirekt.«

»An ›stimulierend‹ ist nichts indirekt.«

»Allein schon, wie du es aussprichst.«

»Wollen wir es als Kompromiss dann mit ›ekstatisch‹ versuchen? «, fragte er ohne alle Ekstase.

»Willst du es als Kompromiss nicht mit einem neuen Job versuchen?«

Sie hatten miteinander geschlafen. Es gab sonst nichts zu tun. Sie paarten sich auf dem Boden der Sporthalle, als niemand zum Festival kam. Ihre Birkenstocks behielt sie an. Dass er sie liebte, merkte er erst, als sie ihn feuerte.

Sie hieß Julie, und auch das fiel ihm erst auf, als sie ihn feuerte.

Hulie.

Danach schlug er sich eine Karriere im Kulturbereich aus dem Kopf, um es mit einer Reihe unpassender Jobs und ebenso unpassender Beziehungen zu versuchen, verliebte sich, sobald er eine Stelle antrat, und entliebte sich – wurde vielmehr entliebt – , wann immer er etwas Neues begann. Er fuhr einen Umzugstransporter und verliebte sich in die erste Frau, deren Haus er leer räumte, fuhr mit einem Elektroauto Milch aus und verliebte sich in die Kassiererin, die ihm jeden Freitagabend den Lohn zahlte, arbeitete als Gehilfe eines italienischen Tischlers, der alte Schiebefenster in viktorianischen Häusern gegen neue austauschte und Julian Treslove in der Gunst der Kassiererin ersetzte, war Abteilungsleiter in einem berühmten Londoner Schuhgeschäft und verliebte sich in die Frau, die ein Stockwerk höher die Textilabteilung leitete, bis er schließlich eine halbwegs feste, wenn auch schlecht bezahlte Anstellung bei einer Theateragentur fand, die sich darauf spezialisiert hatte, Doppelgänger berühmter Leute auf Partys, Konferenzen und Firmentreffen zu schicken. Treslove glich keiner bestimmten Berühmtheit und war deshalb weniger aus Gründen der Ähnlichkeit als aus denen seiner Vielseitigkeit gefragt.

Und die Frau aus der Textilabteilung? Sie verließ ihn, als er das Double von niemand Bestimmtem wurde. »Ich mag es nicht, wenn ich nicht weiß, wer du angeblich bist«, sagte sie. »Das wirft auf uns beide kein gutes Licht.«

»Du darfst wählen«, sagte er.

»Ich will nicht wählen, ich will wissen. Ich sehne mich nach Gewissheit. Ich muss wissen, dass du mit mir durch dick und dünn gehst. Den ganzen Tag arbeite ich mit Flaum und Fusseln, wenn ich dann nach Hause komme, will ich was Festes. Ich brauche einen Felsen, kein Chamäleon.«

Sie hatte rotes Haar, entzündete Haut und ein so flammendes Temperament, dass Treslove sich stets davor gefürchtet hatte, ihr allzu nahezukommen.

»Ich bin ein Fels«, beteuerte er aus sicherer Distanz. »Ich werde bis zum Ende bei dir bleiben.«

»Wenigstens damit hast du recht«, sagte sie. »Dies ist nämlich das Ende. Ich verlasse dich.«

»Nur weil ich so gefragt bin?«

»Weil nichts in mir nach dir fragt.«

»Bitte, verlass mich nicht. Wenn ich bisher kein Fels für dich war, werde ich von nun an einer sein.«

»Wirst du nicht. Fels liegt dir nicht.«

»Kümmere ich mich denn nicht um dich, wenn du krank bist?«

»Tust du, du bist wunderbar, wenn ich krank bin. Nur wenn es mir gut geht, kann ich dich nicht gebrauchen.«

Er flehte sie an, nicht zu gehen. Setzte alles aufs Spiel, schlang die Arme um sie und weinte sich an ihrem Hals aus.

»Du bist mir ein Fels«, sagte sie.

Sie hieß June.

Gefragt sein ist relativ. Zumindest war er als Doppelgänger nicht so gefragt, dass es nicht viele unbeschäftigte Stunden gegeben hätte, in denen er darüber nachdenken konnte, was ihm widerfahren oder vielmehr nicht widerfahren war, über die Frauen und die Trauer, die er für sie empfand, seine Einsamkeit und diese Leere in ihm, für die ihm das richtige Wort fehlte. Seine Unvollständigkeit, seine Un-Zweisamkeit, sein Anfang, der auf ein Ende wartete. Oder war es sein Ende, das auf den Anfang, seine Geschichte, die auf ihren Plot wartete?

 

Der Überfall geschah exakt um halb zwölf Uhr nachts. Das wusste Treslove, weil er aus irgendeinem Grund kurz zuvor auf seine Uhr gesehen hatte. Vielleicht eine Ahnung, dass er nie wieder einen Blick darauf werfen würde. Wegen der hellen Straßenlampen und der Anzahl der beleuchteten Geschäfte – ein Friseur hatte noch geöffnet, ein Dim-Sum-Restaurant und ein Zeitungsladen wurden renoviert – hätte man glauben können, es sei erst Nachmittag. Die Straßen waren auch keineswegs verlassen. Mindestens ein Dutzend Leute hätten Treslove zu Hilfe kommen können, taten es aber nicht. Vielleicht verblüffte sie die Unverschämtheit des Angriffs – kaum hundert Meter von der Regent Street entfernt, fast in Fluchweite der BBC. Vielleicht glaubten sie auch, die beiden Beteiligten spielten nur oder hätten sich auf dem Heimweg vom Restaurant oder Theater in die Haare bekommen. Man hätte sie sogar – das war ja das Seltsame – für ein Paar halten können.

Und genau das fand Treslove so unerträglich bitter. Nicht die abrupte Unterbrechung seines wohligen Vorsichhinträumens mit ihm in der Rolle des Witwers. Nicht die schockierende Unvermitteltheit des Angriffs, eine Hand, die ihn im Nacken packte und so fest ans Schaufenster von Guiviers Geigengeschäft drückte, dass die Saiten der Instrumente hinter der bebenden Scheibe vibrierten, sofern denn die Musik, die er hörte, nicht das Geräusch seiner brechenden Nase war. Nicht einmal der Diebstahl von Uhr, Brieftasche, Füller und Handy, sosehr er an ersterer hing und so unangenehm der Verlust des zweiten, dritten und vierten Gegenstandes auch sein mochte. Nein, am meisten machte ihm zu schaffen, dass die Person, die ihn überfallen, ja, die ihm schreckliche Angst eingejagt hatte – dass diese Person, gegen die er sich nicht einmal ansatzweise gewehrt hatte … eine Frau war.

3

Bis zum Überfall war Tresloves Abend angenehm leidvoll, doch keineswegs deprimierend verlaufen. Auch wenn sie es bedauerlich fanden, im Grunde ohne Zweck und Ziel zu agieren, waren die drei Männer – zwei Witwer und Treslove, als Witwer ehrenhalber der Dritte im Bunde – gern zusammen, stritten über Wirtschaft und Weltgeschehen, erinnerten sich an Witze und Anekdoten aus der Vergangenheit und schafften es fast, sich einzureden, sie wären in eine Zeit zurückversetzt, in der sie noch keine Frauen zu verlieren hatten. Es war ein Traum, ein kurzer Traum, ihre Verliebtheit, die Kinder, die sie in die Welt setzten – Treslove hatte, soweit er wusste, unabsichtlich zwei gezeugt –, und die Abschiede, die sie so tief erschütterten. Niemand, den sie liebten, hatte sie verlassen, da sie noch niemanden liebten. Der Tod lag noch in der Zukunft.

Wem versuchten sie eigentlich etwas vorzumachen?

Libor Sevcik, in dessen zwischen Regent’s Park und dem Broadcasting House der BBC liegenden Wohnung sie sich getroffen hatten, setzte sich nach dem Essen ans Klavier und spielte Schuberts Impromptus Opus 90, das seine Frau Malkie so geliebt hatte. Treslove fürchtete, aus Trauer um seinen Freund auf der Stelle sterben zu müssen. Er wusste nicht, wie Libor Malkies Tod verkraftete. Vierzig Jahre waren sie verheiratet gewesen. Libor ging auf die neunzig zu. Was konnte es für ihn noch geben, das das Leben lohnte?

Vielleicht Malkies Musik. Nie hatte sich Libor ans Klavier gesetzt, als Malkie noch am Leben war – der Klavierstuhl war ihr heilig gewesen, er hätte sich ebenso wenig darauf gesetzt, wie er zu ihr ins Bad geplatzt wäre. Wie oft aber hatte er hinter ihr gestanden, während sie spielte, hatte sie anfangs sogar noch auf der Geige begleitet, stand später dann, auf ihr stilles Drängen hin (»Tempo, Libor, Tempo!«), ohne Geige hinter ihr und freute sich über ihr Können, über den Geruch ihrer Haare, Aloe und Weihrauch (alle Düfte Arabiens), ihren schön geschwungenen Hals. Ein Hals, so grazil, hatte er an dem Tag gesagt, an dem sie sich kennenlernten, wie der Hals eines Schwans. Sein Akzent hatte Malkie verstehen lassen, ihr Hals sei grazil wie ein schwants, was sie an ein jiddisches Wort erinnerte, das ihr Vater oft benutzt hatte und das Penis bedeutete. Fand Libor ihren Hals wirklich so grazil wie einen Penis?

Hätte sie nicht Libor geheiratet, wäre Malkie Hofmannsthal wohl eine erfolgreiche Konzertpianistin geworden. In einem Salon in Chelsea hatte Horowitz sie gehört und gelobt. Gerade so müssten die Stücke klingen, hatte er gesagt, als komponierte Schubert sie im Augenblick des Spiels – emotionale Improvisation mit einem kräftigen Unterton von Intellektualität. Malkies Familie bedauerte die Heirat aus vielerlei Gründen, man fand Libors Intellekt, seine Herkunft, seine journalistische Tätigkeit und seine Freunde unter Niveau. Das Bedauerlichste aber war, dass Malkie damit auf ihre musikalische Zukunft verzichtete.

»Warum heiratest du nicht Horowitz, wenn du schon wen heiraten musst?«, fragten ihre Eltern.

»Er ist doppelt so alt wie ich«, erklärte Malkie. »Da könntet ihr mich genauso gut fragen, warum ich nicht gleich Schubert selber heirate.«

»Wer behauptet denn, dass ein Ehemann nicht doppelt so alt sein darf wie seine Frau? Musiker leben ewig. Und wenn du ihn überlebst, na ja, dann …«

»Er bringt mich nicht zum Lachen«, sagte sie. »Libor schon.«

Sie hätte auch hinzufügen können, dass Horowitz bereits Toscaninis Tochter geheiratet hatte.

Und dass Schubert an Syphilis gestorben war.

Sie sollte ihre Entscheidung nie bereuen. Nicht, als sie Horowitz in der Carnegie Hall spielen hörte – ihre Eltern hatten die Reise nach Amerika bezahlt, damit sie Libor vergessen sollte, und sie hatten ihr eine Karte für die erste Reihe besorgt, damit Horowitz sie nicht übersehen konnte –, nicht, als Libor sich einen Namen als Journalist im Showbusiness machte und ohne sie nach Cannes, Monte Carlo und Hollywood fuhr, auch nicht, wenn er eine seiner tschechischen Depressionen bekam, nicht einmal, wenn Marlene Dietrich, die unfähig war, sich vorzustellen, dass anderswo auf der Welt die Uhrzeit anders sein könnte als bei ihr zu Hause, morgens um halb vier Uhr aus dem Chateau Marmont in ihrer Londoner Wohnung anrief, Libor »mein Darling« nannte und in den Telefonhörer schluchzte.

»In dir finde ich meine Erfüllung«, sagte Malkie zu Libor. Einem Gerücht zufolge hatte Marlene Dietrich ihm Ähnliches gestanden, doch entschied Libor sich trotzdem für Malkie, deren Hals grazil wie der eines schwants war.

»Du darfst nie aufhören zu spielen«, beschwor er sie und kaufte ihr auf einer Auktion in Südlondon einen Steinway mitsamt vergoldeten Kandelabern.

»Werde ich nicht«, sagte sie. »Ich spiele jeden Tag – aber nur, wenn du bei mir bist.«

Sobald er es sich leisten konnte, kaufte er ihr einen Bechstein-Konzertflügel mit Ebenholztasten. Sie wünschte sich einen Blüthner, aber er duldete nichts in der Wohnung, was hinter dem Eisernen Vorhang angefertigt worden war.

Als sie dann älter wurden, nahm sie ihm das Versprechen ab, dass er nicht vor ihr sterben würde, so unvorstellbar fand sie den Gedanken, auch nur eine Stunde ohne ihn zu leben – ein Versprechen, das er getreu hielt.

»Lach mich aus«, sagte er zu Treslove, »aber ich sank auf die Knie, um ihr dieses Versprechen zu geben, genau wie damals, als ich ihr meinen Antrag machte. Das ist auch der einzige Grund, warum ich noch lebe.«

Da es ihm die Sprache verschlagen hatte, kniete Treslove sich ebenfalls hin und küsste Libors Hand.

»Wir haben uns sogar überlegt, ob wir nicht gemeinsam vom Bitchy ’Ead springen sollten, wenn einer von uns unheilbar krank wird«, erzählte Libor, »aber Malkie meinte, ich sei zu leicht, also würde ich bestimmt nicht gleichzeitig mit ihr im Meer landen. Und ihr gefiel die Vorstellung nicht, im Wasser auf mich warten zu müssen.«

»Bitchy ’Ead?«, fragte Treslove verwundert. »Meinst du Beachy Head, den Kreidefelsen?«

»Sag ich doch. Einmal sind wir sogar hingefahren. Eine Art Mutprobe. Schöne Gegend übrigens. Großartig aufragende Felsen, schwebende Möwen und verwelkte Blumensträuße am Stacheldrahtzaun – einer sogar noch mit Preisschild dran. Es gibt dort eine Plakette mit einem Zitat aus einem Psalm, in dem es heißt, Gott sei größer als die brausenden Wasserwogen im Meer, außerdem sind da jede Menge kleiner, ins Gras gepflanzter Holzkreuze. Wahrscheinlich haben wir wegen der Holzkreuze unsere Meinung geändert.«

Treslove hatte keine Ahnung, wovon Libor sprach. Stacheldrahtzaun? War er mit Malkie zu einem Selbstmordversuch nach Treblinka gefahren?

Aber Möwen? … Und Kreuze? … Weiß der Teufel.

Malkie und Libor hatten sowieso nichts gemacht. Malkie war es dann, die ernstlich erkrankte, aber gemacht hatten sie nicht das Mindeste.

Drei Monate nach ihrem Tod wagte sich Libor tapfer ins Innerste seiner Verzweiflung vor und engagierte einen Lehrer, der nach alten Briefen, Zigaretten und Guinness roch, um sich von ihm die Impromptus beibringen zu lassen, die Malkie gespielt hatte, als wäre Schubert mit ihr im Zimmer (als komponierte er sie im selben Augenblick), und Libor spielte sie immer wieder, auf der Pianoablage vier seiner Lieblingsfotos von Malkie. Seine Muse, seine Mentorin, seine Gefährtin, seine Richterin. Auf einem der Bilder sah sie unfassbar jung aus, beugte sich lachend über den Pier in Brighton, die Sonne im Gesicht. Eine andere Aufnahme zeigte sie im Hochzeitskleid. Auf allen Fotos hatte sie nur Augen für Libor.

Julian Treslove weinte schamlos, sobald die Musik einsetzte. Er war fest davon überzeugt, dass ihn, wäre er mit Malkie verheiratet gewesen, ihre Schönheit jeden Morgen zum Weinen gebracht hätte, sooft er sie an seiner Seite im Bett liegen sah. Und er konnte sich nicht ausmalen, was er getan hätte, wäre er eines Tages aufgewacht und sie hätte nicht mehr neben ihm gelegen … Sich vom Bitchy ’Ead gestürzt – warum nicht?

Wie lebt man weiter, wenn man weiß, dass man den Menschen, den man liebt, nie mehr – nie, niemals mehr – wiedersehen wird? Wie überlebt man mit diesem Wissen auch nur eine einzige Stunde, eine Minute, eine Sekunde? Wie bleibt man bei Verstand?

Das wollte er Libor fragen. »Wie war die erste Nacht des Alleinseins, Libor? Hast du geschlafen? Hast du seither überhaupt geschlafen? Oder ist dir nur der Schlaf geblieben?«

Aber er konnte nicht. Vielleicht wollte er die Antwort nicht hören.

Einmal sagte Libor allerdings: »Gerade wenn man glaubt, man hätte die Trauer überwunden, begreift man, dass einem die Einsamkeit bleibt.«

Treslove versuchte, sich eine Einsamkeit vorzustellen, die größer als die seine war. Gerade wenn man die Einsamkeit überwunden hat, dachte er, begreift man, dass einem die Trauer bleibt.

Nun, er und Libor waren ja auch verschiedene Menschen.

Es schockierte ihn, als Libor ihm ein Geheimnis anvertraute. Zum Ende hin hatten sie sich beschimpft. Mit richtig schlimmen Schimpfworten.

»Du und Malkie?«

»Malkie und ich. Wir gaben uns vulgär. Damit schützten wir uns vor zu viel Pathetik.«

Treslove konnte den Gedanken nicht ertragen. Warum sich vor Pathetik schützen?

Libor und Malkie gehörten derselben Generation wie seine längst verstorbenen Eltern an. Er hatte seine Eltern geliebt, ohne ihnen sonderlich nahegestanden zu haben. Dasselbe hätten sie gewiss von ihm behauptet. Die Armbanduhr, die ihm später am Abend abgenommen werden sollte, war ein Geschenk seiner stets um ihn besorgten Mutter gewesen. »Ein Juwel für meinen Jules«, hatte sie eingravieren lassen, ihn aber ihr Leben lang nie Jules genannt. Das ebenfalls abhandengekommene Gefühl, ordentlich beieinander zu sein, hatte er von seinem Vater geerbt, einem Mann, der sich so gerade hielt, dass er eine gleichsam architektonische Stille um sich verbreitete. An ihm, erinnerte sich Treslove, konnte man ein Lot ausrichten. Dennoch glaubte er nicht, dass seine Eltern der Grund für die Tränen waren, die er in Libors Gesellschaft vergoss. Ihn rührte vielmehr dieser Beweis für die Zerstörbarkeit der Dinge, denn letztlich zahlte man für alles einen Preis, für Glück womöglich einen noch grausameren als für das Gegenteil von Glück.

War es also besser – gemessen am Verlust –, Glück gar nicht erst zu erleben? Besser, ein Leben lang auf das zu warten, was niemals kam, da man dann um weniger trauern musste?

Sollte das der Grund sein, warum Treslove so oft allein war? Sperrte er sich gegen das ersehnte Glück der Gemeinsamkeit, weil er Angst davor hatte, wie er sich fühlen mochte, wenn es ihm genommen wurde? Oder war der gefürchtete Verlust eben jenes Glück, nach dem es ihn verlangte?

Dieses Nachdenken über die Ursache seiner Tränen ließ ihn nur noch mehr weinen.

Sam Finkler, der Dritte im Bunde, vergoss bei Libors Klavierspiel nicht eine einzige Träne. Der schockierend frühzeitige Tod seiner Frau – ein grausamer Zufall, dass es im selben Monat geschah, in dem auch Libor zum Witwer wurde – hatte ihn eher wütend als traurig zurückgelassen. Tyler hatte Sam nie gesagt, dass er ihre »Erfüllung« sei, dennoch hatte er sie mit erwartungsvoller, gar aufmerksamer Zuneigung von Herzen geliebt – was für ihn nicht ausschloss, dass er sich nebenher anderen Zuneigungen hingab –, so als hoffte er, sie würde sich eines Tages dazu herablassen, ihm ihre wahren Gefühlen zu gestehen. Das hatte sie nie getan. In der letzten Nacht saß Sam an ihrem Bett. Einmal bat sie ihn näher zu kommen. Er tat wie geheißen, legte ein Ohr an ihre verdorrten Lippen, doch falls sie vorgehabt hatte, ihm etwas Zärtliches zu sagen, gelang es ihr nicht. Ein schmerzliches Keuchen war alles, was er hörte, ein Laut, der ebenso gut seiner eigenen Kehle entwichen sein konnte.

Ihre Ehe war gleichfalls liebevoll, wenn auch etwas unfriedlicher als die von Libor und Malkie verlaufen – und auch fruchtbarer, jedenfalls wenn man damit Kinder meinte. Sam hatte seine Frau allerdings stets zurückhaltend und irgendwie verschlossen gefunden. Vielleicht treulos, er wusste es nicht. Womöglich hätte es ihm nichts ausgemacht. Nun aber waren ihre Geheimnisse mit ihr begraben, wie man so sagt. Es gab Tränen in Sam Finkler, doch wachte er darüber so aufmerksam wie einst über seine Frau. Er wollte sicher sein, dass er, wenn er weinte, aus Liebe weinte und nicht aus Verbitterung. Also zog er es vor – zumindest bis er seine Trauer besser kannte –, überhaupt nicht zu weinen.

Außerdem hatte Treslove genügend Tränen für sie alle.

 

Julian Treslove und Sam Finkler waren zusammen zur Schule gegangen und eher Rivalen als Freunde gewesen, aber auch Rivalität kann ein Leben lang verbinden. Finkler war der Klügere von beiden. Damals wollte er nur Samuel genannt werden. »Ich heiße Samuel, nicht Sam. Sam heißen Privatdetektive, Samuel war ein Prophet.«

Samuel Ezra Finkler – wie sollte man mit so einem Namen nicht der Klügere sein?

Und zu Finkler war Treslove in heller Aufregung gerannt, nachdem ihm in Barcelona die Zukunft geweissagt worden war. Treslove und Finkler teilten sich ein Zimmer. »Juno? Kennst du eine Juno?«, fragte Treslove.

»Kennst du eine Juno?«, wiederholte Finkler die Frage, wobei er das J merkwürdig zwischen den Zähnen hervorstieß.

Treslove kapierte nicht.

»Kennst du eine Juno? Das fragst du mich?«

Treslove kapierte immer noch nicht. Also schrieb Finkler es für ihn auf: »D’jew know Jewno? Kennt Jud einen Jud nich?«

Treslove zuckte mit den Achseln. »Findest du das witzig?«

»Ich schon«, sagte Finkler. »Aber jedem das Seine.«

»Findet ein Jude es witzig, das Wort Jude aufzuschreiben? Ist das komisch?«

»Vergiss es«, antwortete Finkler. »Du würdest es doch nicht kapieren.«

»Warum nicht? Wenn ich ›Nicht-Jud kennt keinen Jud nich‹ schriebe, könnte ich dir sagen, was daran komisch ist.«

»Daran ist aber nichts komisch.«

»Eben. Nicht-Juden finden es nämlich nicht witzig, das Wort Nicht-Jude geschrieben zu sehen. Wir finden es einfach nicht erstaunlich, unsere Identität schriftlich festgehalten zu wissen.«

»Und Jud weiß nich, warum das so ist?«, fragte Finkler.

»Du kannst mich mal«, erwiderte Treslove.

»Das soll jetzt wohl nicht-jüdischer Humor sein, wie?«

Ehe er Finkler kennenlernte, hatte er keinen Juden gekannt. Zumindest nicht wissentlich. Er hatte angenommen, Juden seien wie das Wort Jude – klein, dunkel, irgendwie kompakt. Geheimniskrämerische Leute. Dabei war Finkler fast apfelsinenfarben und platzte nahezu aus allen Nähten. Er hatte etwas Maßloses an sich, ein vorstehendes Kinn, lange Arme und riesige Füße, für die er selbst mit fünfzehn nicht ohne Weiteres Schuhe fand. (Treslove hatte einen Blick für Füße, seine waren zierlich wie die eines Tänzers.) Mehr noch – und alles an Finkler war ein wenig mehr –, er hatte eine irgendwie überragende Art, die ihn größer aussehen ließ, als er war; außerdem fällte er seine Urteile über Menschen und Geschehnisse mit solcher Selbstgewissheit, dass er sie auszuspucken schien. Sag’s, aber spuck’s nicht, riet ihm manch ein Junge, riskierte damit aber sein Leben. Falls alle Juden so aussahen, dachte Treslove, sollten sie besser Finkler heißen, was ja fast wie Sprinkler klang. Und so nannte er sie dann für sich auch die Finkler.

Er hätte es gern seinem Freund gesagt. Das, dachte er, würde sie von ihrem Stigma befreien. Redete man über die Finkler-Frage oder über die finklerische Verschwörung, entzog man dem Ganzen das Gift. Nur kam er nie dazu, Finkler davon zu erzählen.

Sie waren beide die Söhne aufstrebender Ladenbesitzer. Tresloves Vater verkaufte Zigarren und andere Rauchwaren, Finklers Arzneimittel. Sam Finklers Vater war dafür bekannt, dass er ein Medikament zubereiten konnte, das Kranke noch am Tor des Todes wiederbelebte. Nahmen seine Kunden die Arznei ein, wuchs ihnen aufs Neue das Haar, sie streckten den Rücken, der Bizeps schwoll wieder an. Finkler senior war selbst ein wandelndes Miraculum, ein ehemaliger Magenkrebspatient, der zum lebenden Beweis für die Wirkkraft seiner Medikamente geworden war. Ganz egal, mit welchen Beschwerden die Kunden zu ihm in die Apotheke kamen, stets forderte er sie auf, ihm in den Bauch zu boxen. Genau dahin, wo der Krebs gesessen hatte. »Fester«, sagte er. »Schlagen Sie fester zu. Ach nein, zu lasch, ich spüre ja nichts.«

Wenn sie dann seine Widerstandskraft bestaunten, zückte er die Tablettenschachtel. »Drei am Tag, jeweils zu den Mahlzeiten, und Sie leiden nie wieder Schmerzen.«

Trotz dieser zirkusreifen Faxen war er ein religiöser Mann, der einen schwarzen Filzhut trug, eifriges Mitglied der Synagoge war und Gott anflehte, sein Leben zu erhalten.

Julian Treslove wusste, auf diese finklerische Weise konnte er nicht clever sein. Kennt Jud einen Jud nich? Das wäre ihm nie eingefallen. Sein Hirn funktionierte bei anderer Temperatur. Er brauchte länger, um zu einer Entscheidung zu finden, und kaum hatte er sich entschieden, wollte er seine Meinung oft auch schon wieder ändern. Trotzdem war er, wie er fand – und das vielleicht aus ebendiesem Grund – von ihnen beiden derjenige mit der kühneren Fantasie. Manchmal trug er morgens seine nächtlichen Träume zur Schule wie ein Akrobat, der eine menschliche Pyramide auf den Schultern balanciert. Meist wurde er in riesigen, widerhallenden Räumen allein gelassen, stand an leeren Gräbern oder sah brennende Gebäude. »Was glaubst du, was das zu bedeuten hat?«, fragte er dann seinen Freund. »Keinen Schimmer«, lautete unweigerlich Finklers Antwort. Als gäbe es für ihn Wichtigeres, worüber es nachzudenken lohnte. Finkler träumte nie. Manchmal kam es Treslove so vor, als würde Finkler aus Prinzip nicht träumen.

Falls er nicht einfach nur zu groß zum Träumen war.

Deshalb musste Treslove selbst herausfinden, worum es in seinen Träumen ging. Sie handelten davon, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Oder vom Zuspätkommen, falls er nicht gerade zu früh kam. Oder davon, dass er wartete, bis die Axt niedersauste, eine Bombe fiel, sein Herz einer gefährlichen Frau in die Finger geriet. Julie, Judith, Juno …

Huno.

Er träumte auch, dass er Sachen verlegte und nicht wiederfinden konnte, obwohl er sie an den unwahrscheinlichsten Stellen verzweifelt suchte – hinter Fußbodenleisten, in der Violine seines Vaters, sogar zwischen Buchdeckeln, auch wenn das Gesuchte viel größer als ein Buch war. Das Gefühl, etwas Wertvolles verlegt zu haben, verließ ihn manchmal den ganzen Tag nicht.

Libor, der, als sie sich kennenlernten, dreimal so alt war wie Treslove und Finkler, tauchte wie aus heiterem Himmel in ihrem Leben auf und sah in seinem kastanienbraunen Samtanzug mit farblich passender Fliege tatsächlich aus, als hätte er – wie Treslove in einem seiner Träume – die falsche Tür aufgestoßen, um nun in europäischer Geschichte zu unterrichten, obwohl er doch eigentlich nur über die kommunistische Unterdrückung reden wollte (immerhin war er so weitsichtig gewesen, 1948 vor den Kommunisten zu fliehen, kurz bevor sie die Klauen in sein Land schlugen), über die Hussiten in Böhmen und über jene Rolle, die Fenster in der tschechischen Geschichte spielten. Julian Treslove verstand beim ersten Mal »Gangster« und wurde ganz aufgeregt.

»Gangster in der tschechischen Geschichte, Sir?«

»Fenster, chlapec, Fenster!«

Er war schon in seiner Heimat eine Art Journalist gewesen, ein Filmkritiker und Klatschspaltenkolumnist mit guten Kontakten, hatte als Egon Slick über das Showgeschäft in Hollywood geschrieben, in den Bars am Sunset Boulevard die schönen Schauspielerinnen belagert, um darüber für die glamourhungrige englische Presse zu berichten, und klärte jetzt Jungen an einer Nordlondoner Oberschule über die Absurditäten der tschechischen Geschichte auf. Falls es aber etwas noch Absurderes als die tschechische Geschichte gab, dann war das seine eigene Biografie.

Für Malkie gab er Hollywood auf. Sie hatte ihn nie bei seinen Recherchen begleitet, da sie es vorzog, das Feuer daheim im Kamin in Gang zu halten. »Ich mag die Vorfreude«, sagte sie. »Und ich warte gern auf dich.« Doch merkte er bald, dass ihre Vorfreude nachließ. Auch gab es Probleme, mit denen er sie, wie er fand, nicht alleinlassen konnte. Er brach seinen Vertrag und stritt sich mit dem Redakteur. Er wollte mehr Zeit, um darüber zu schreiben, wo er gewesen war und wen er kennengelernt hatte. Der Lehrberuf gab ihm diese Zeit.

Von Pacific Palisades nach Highgate, von der Garbo zu Finkler – die steile Kurve seiner Karriere ließ ihn selbst im Unterricht manchmal respektlos auflachen, womit er bei seinen Schülern Punkte machte. Vormittag um Vormittag hielt er den gleichen Vortrag: eine Schmährede auf Hitler und Stalin, gefolgt vom Ersten und – »wenn ihr brav seid« – vom Zweiten Prager Fenstersturz. An manchen Tagen bat er einen der Jungen, die Rede für ihn zu halten, die sie doch so gut kannten. Als auf dem Prüfungsbogen keine Frage zum Ersten, zum Zweiten oder sonst irgendeinem Prager Fenstersturz auftauchte, beschwerte sich die Klasse. »Erwartet nicht von mir, dass ich euch auf euer Examen vorbereite«, sagte er und kniff die bereits verkniffenen Lippen noch fester zusammen. »Es gibt genügend Lehrer, die euch helfen, gute Zensuren zu bekommen. Mir aber liegt daran, euch einen Vorgeschmack auf die große, weite Welt zu geben.«

Libor hätte ihnen gern von Hollywood erzählt, aber Hollywood stand nicht auf dem Lehrplan. Prag und den Fenstersturz konnte er noch irgendwie im Unterricht abhandeln, nicht aber die Stars und ihre Indiskretionen.

Er blieb nicht lang. Lehrer, die Fliege tragen und von der großen, weiten Welt reden, bleiben selten lang. Sechs Monate später arbeitete er tagsüber für die tschechische Abteilung im World Service der BBC und schrieb abends an den Biografien einiger der schönsten Frauen Hollywoods.

Malkie machte das nichts aus. Sie bewunderte ihn und fand ihn lustig. Lustig war besser als absurd. Dass sie ihn lustig fand, hielt ihn bei Verstand: »Und dass sie bei Verstand sind, kann man nun wirklich nicht gerade von vielen Tschechen behaupten«, scherzte er.

Sooft er Zeit fand, traf er sich auch weiterhin mit den beiden Jungen. Ihre Unschuld fand er unterhaltsam; er selbst hatte jungenhafte Unschuld nie gekannt. Er ging mit ihnen in Bars, die sie sich allein nicht leisten konnten, bestellte Cocktails, von denen sie nie zuvor gehört und die sie erst recht noch nie probiert hatten, beschrieb detailliert seine erotischen Eroberungen – er benutzte tatsächlich das Wort »erotisch«, an dem seine Zunge hängen blieb, als genügten allein die anzüglichen Silben, um ihn zu erregen – und erzählte von jenem Böhmen, dem er zum Glück entronnen war und das er nicht noch einmal wiederzusehen hoffte.

Zum Leben kamen, nach Libors Ansicht, unter allen Nationen der freien Welt nur England und Amerika infrage. Er liebte England und kaufte ein, wie seiner Meinung nach Engländer einkauften, besorgte sich parfümierten Tee und Gentleman’s Relish bei Fortnum & Mason und erstand seine Hemden und Jacketts in der Jermyn Street, wo er sich morgens, sooft er es sich leisten konnte, eine Rasur und heiße Gesichtstücher gönnte. Als Finkler sprach er sich gelegentlich auch für Israel aus, wollte wohl eher aber dessen Existenz einigen Leuten unter die Nase reiben, dachte Treslove, als selbst dort leben. Wenn Libor das Wort Israel aussprach, dann rollte er das R, als gäbe es drei davon, und das L ließ er fallen, wie um anzudeuten, dass dieses Land dem Allmächtigen gehörte, weshalb er es nicht über sich brachte, seinen Namen in voller Länge auszusprechen. So gingen Finkler eben mit Sprache um, sagte sich Treslove. Wenn sie nicht mit ihr spielten, machten sie etwas Heiliges aus ihr. Oder dessen Gegenteil. Worte wie Zionist, Tel Aviv oder Knesset, die im Zusammenhang mit Israel standen, spuckte Sam Finkler jedenfalls aus, als wären es Flüche.

Eines Tages vertraute ihnen Libor ein Geheimnis an. Er war verheiratet. Und das seit über zwanzig Jahren. Mit einer Frau, die wie Ava Gardner aussah. Eine so wunderbare Frau, dass er es nicht wagte, seine Freunde mit nach Hause zu bringen, da er fürchtete, sie könnten von ihrer Schönheit geblendet sein. Treslove fragte ihn, warum er denn jetzt nach so langer Zeit von ihr erzählte. »Weil ich glaube, dass ihr für sie bereit seid«, lautete die Antwort.

»Bereit, geblendet zu werden?«

»Bereit, das Risiko einzugehen.«

Der wahre Grund war der, dass Malkie Nichten im selben Alter wie Treslove und Finkler hatte, Mädchen, denen es schwerfiel, Jungen kennenzulernen. Aus der Kuppelei wurde nichts – sogar Treslove fand es unmöglich, sich in Malkies Nichten zu verlieben, die mit ihr so gar keine Ähnlichkeit hatten, obwohl er sich natürlich auf der Stelle in Malkie verliebte, die alt genug war, seine Mutter sein zu können. Libor hatte nicht übertrieben. Malkie sah Ava Gardner so ähnlich, dass die Jungs ernsthaft darüber diskutierten, ob sie nicht tatsächlich Ava Gardner war.

Danach lebten sie sich ein wenig auseinander. Nachdem Libor den Jungs seine Frau gezeigt hatte, wusste er nicht, wie er sie sonst noch beeindrucken konnte. Und die Jungs mussten ihrerseits noch eine Ava Gardner für sich selbst finden.

Kurz darauf wurde die erste Biografie veröffentlicht, die zweite folgte bald danach. Pikant, amüsant und ein wenig fatalistisch. Libor wurde aufs Neue berühmt, berühmter noch als zuvor, da einige der Frauen, über die er geschrieben hatte, mittlerweile gestorben waren und man allgemein annahm, dass sie Libor mehr Geheimnisse anvertraut hatten als sonst einem Menschen. Es gab Fotos, die Libor zeigten, wie er Wange an Wange mit den Schönen tanzte, und man meinte fast sehen zu können, wie sie ihm das Herz ausschütteten. Sie vertrauten ihm, weil er so lustig war.

Jahrelang blieben Sam und Julian nur über diese Biografien mit Libor in Kontakt. Julian beneidete ihn, Sam nicht so sehr. Geschichten über Hollywood drangen höchst selten bis in die menschenleeren mitternächtlichen Flure des Rundfunkhauses vor, auf denen Julian Treslove zu Hause war – falls denn die Hölle ein Zuhause genannt werden kann. Und da ihm schien, dass Libors Karriere im Vergleich zu seiner eigenen den umgekehrten Verlauf nahm, fand er sie stets, wenn auch nur insgeheim, ziemlich faszinierend.

Sam Finkler – oder Samuel Finkler, wie er sich damals noch nannte – hatte keinen modularen Uniabschluss in einer Küstenstadt gemacht. Er wisse nämlich, sagte er, auf welcher Seite sein Brot die Butter habe. Wie finklerisch, dachte Treslove voller Bewunderung und wünschte sich, er wüsste ebenso instinktiv, auf welcher Seite sein Brot gebuttert war.

»Und? Was wirst du studieren?«, fragte er. »Medizin? Jura? Betriebswirtschaft?«

»Weißt du, wie man das nennt?«, fragte ihn Finkler.

»Wie man was nennt?«

»Das, was du gerade machst.«

»Interesse zeigen?«

» Klischees verbreiten. Du willst mich in eine Schublade stecken.«

»Du hast gesagt, du wüsstest, auf welcher Seite dein Brot die Butter hat. Verbreitest du damit nicht selbst Klischees über dich?«

»Ich darf ja auch Klischees über mich verbreiten«, sagte ihm Finkler.

»Aha«, sagte Treslove. Wie so oft fragte er sich, ob er je begreifen würde, was Finkler über sich sagen durften, Nicht-Finkler aber nicht.

Ganz im Gegensatz zum Klischee – was, wenn man drüber nachdachte, nur eine weitere Spielart geistiger Klischeeverbreitung war, wie Treslove rasch begriff – studierte Finkler in Oxford Moralphilosophie. Dies schien Treslove damals zwar kein allzu kluger Karriereschritt zu sein –, und die fünf folgenden Jahre in Oxford, wo Finkler in kleinen Klassen Rhetorik und Logik unterrichtete, waren es allem Anschein nach noch viel weniger – , doch rechtfertigte Finkler in Tresloves Augen seinen Ruf, ziemlich gewitzt zu sein, als er erst eines, dann ein weiteres, dann noch eines und schließlich noch ein viertes jener Selbsthilfebücher praktischer Philosophie veröffentlichte, die ihm ein Vermögen einbringen sollten. Der Existenzialist in der Küche hieß das erste, das zweite Das kleine Handbuch für den Stoizismus im Alltag. Danach hörte Treslove auf, sie zu kaufen.

In Oxford kürzte Finkler übrigens seinen Vornamen von Samuel zu Sam. Tat er das, weil er den Eindruck erwecken wollte, nun Privatdetektiv zu sein? Unser Mann Sam? Treslove kam der Gedanke, sein Freund habe vielleicht etwas dagegen, für einen Finkler gehalten zu werden, doch wäre es dann nicht sinnvoller gewesen, den Nachnamen Finkler und nicht den Vornamen Samuel zu ändern? Vielleicht wollte Finkler ja auch nur, dass man ihn für einen umgänglichen Menschen hielt. Der er nicht war.

Ehrlich gesagt, Treslove hatte recht mit der intuitiven Vermutung, dass Finkler kein Finkler mehr sein wollte. Sein Vater war gestorben. Zum Ende hin hatte er allen Wunderpillen zum Trotz große Schmerzen gelitten. Und es war Finklers Vater gewesen, der stets darauf geachtet hatte, dass er den Finkler-Anforderungen genügte. Seine Mutter hatte noch nie viel davon verstanden und machte sich jetzt, da sie allein war, erst recht nichts daraus. Also war Schluss mit dem Finklertum, Schluss mit den irrationalen Glaubenssystemen. Treslove kapierte nur nicht, warum seinem Freund der Name Finkler noch etwas bedeutete, wenn er doch mit der finklerischen Idee nichts mehr anfangen konnte. Indem er Finkler blieb, erhielt Finkler die rückständigen Gefühle seines Glaubens lebendig. Indem er Samuel loswurde, schwor er der Finkler-Zukunft ab.

Mithilfe seiner Ratgeberserie praktischer Weisheiten gelang es ihm – trotz großer Füße, gelegentlicher Verbalsprinklereien und seines, wie Treslove fand, rundum unsympathischen Äußeren – , sich zu einer bekannten TV-Persönlichkeit zu mausern und Sendungen zu machen, die den Menschen zeigten, wie Schopenhauer ihnen in Liebesdingen, Hegel bei den Urlaubsvorbereitungen oder Wittgenstein beim Erinnern von PIN-Zahlen behilflich sein konnten. (Und den Finklern bei unvorteilhaftem Aussehen, dachte Treslove, als er verärgert den Fernseher abstellte.)

»Ich weiß, was ihr von mir denkt«, brachte Finkler im Freundeskreis gern wie zur Entschuldigung vor, als sein Erfolg selbst für jene, die ihn kannten und akzeptierten, allmählich schwer zu verkraften war, »aber ich brauche das Geld für den Tag, an dem Tyler mich verlässt und auf Heller und Pfennig verklagt.« Natürlich hoffte er, dass sie sagte, sie liebe ihn und denke nicht im Traum daran, ihn zu verlassen, nur hat sie das nie getan. Vielleicht, weil sie kaum etwas anderes tat, als davon zu träumen, dass sie ihn verließ.

Wohingegen Finkler, wenn Tresloves Vermutung stimmte, schlicht zu groß war, um irgendwas zu träumen.

Obwohl sich ihre Leben in verschiedene Richtungen entwickelten, verloren sie nie den Kontakt zueinander, zu ihren jeweiligen Familien – falls man bei Treslove denn von Familie sprechen konnte – oder zu Libor, der sich, erst auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit, dann aber auch, als es stiller um ihn wurde und er sich vor allem um seine kranke Frau kümmerte, immer wieder an sie erinnerte und zu einer Party einlud, zu einem Einzugsfest oder gar einer Filmpremiere. Als Julian Treslove zum ersten Mal in Libors prächtiger Wohnung am Portland Place war und Malkie hörte, wie sie Schuberts Impromptus Opus 90 Nr. 3 spielte, weinte er wie ein kleines Kind.

Seither hatten Trauerfälle die Unterschiede in Alter und Karriere verwischt und ihre Zuneigung füreinander wieder entfacht. Kummer und grausamer Verlust waren die Gründe, weshalb sie sich nun häufiger als in den vergangenen dreißig Jahren sahen.

Seit ihre Frauen fort waren, konnten sie wieder zu jungen Männern werden.

Unter »fort« verstehe man bei Treslove, dass sie die Koffer gepackt oder jemanden gefunden hatte, der emotional weniger anstrengend war, oder dass sie auf den gefährlichen Straßen einfach noch nicht seinen Weg gekreuzt und ihm den Seelenfrieden geraubt hatte.

4

Nach dem Essen war Julian allein zum Regent’s Park gegangen, um durchs Tor zu schauen. Finkler hatte angeboten, ihn mitzunehmen, aber er hatte abgelehnt. Er wollte nicht im Leder von Sams großem schwarzem Mercedes versinken und fühlen, wie ihm der Neid das Hinterteil wärmte. Er hasste Autos, beneidete Sam aber um den Mercedes ebenso wie um den Fahrer für Abende, an denen Sam wusste, dass er zu viel trinken würde – nur was ergab das für einen Sinn? Wollte er einen Mercedes? Nein. Wollte er einen Fahrer für die Abende, an denen er zu viel trank? Nein. Er wollte eine Frau, und die hatte Sam nicht mehr. Also was hatte Sam, was er nicht hatte? Gar nichts.

Selbstachtung vielleicht ausgenommen.

Was auch nach einer Erklärung verlangte. Wie konnte man eine Sendung machen, die Blaise Pascal und Zungenküsse auf einer Ebene abhandelte, und dabei seine Selbstachtung bewahren? Antwort – man konnte nicht.

Und doch besaß er sie.

Vielleicht war es ja gar keine Selbstachtung. Mit »Selbst« hatte das vielleicht nichts zu tun, vielleicht war es sogar eher eine Freiheit vom Selbst oder doch vom Selbst im tresloveschen Sinne, diesem verschüchterten Wissen um den eigenen kleinen Platz in dem von einem Stacheldrahtzaun aus Geboten und Grenzen umzogenen Universum. Wie schon seinen Vater, den Showman und Arzneimittelhersteller, zeichnete Sam eine Art Bedenkenlosigkeit gegenüber dem Versagen aus, eine großspurige Chuzpe, von der Treslove nur vermuten konnte, dass sie zum finklerischen Erbe gehörte. War man ein Finkler, fand sich derlei einfach in den Genen, genau wie die übrigen Finkler-Attribute, über die man höflicherweise besser schwieg.

Sie drängten jedenfalls auch da vor, diese Finkler – selbst Libor –, wo Nicht-Finkler sich nur zögerlich zu Wort melden würden. An diesem Abend zum Beispiel hatten sie nach dem Klavierspiel über den Nahen Osten geredet. Treslove hielt sich zurück, da er meinte, kein Recht auf eine Meinung zu einem Thema zu haben, das ihn nichts anging, zumindest nicht so, wie es Sam und Libor etwas anging. Doch wussten sie wirklich mehr als er? Und falls ja, wie kam es dann, dass sie sich in fast jeder Hinsicht uneins waren? Oder ignorierten sie bloß schamlos die eigene Ignoranz?

»Nicht schon wieder«, sagte Finkler meist, wenn die Rede auf Israel kam. »Holocaust, Holocaust«, obwohl Treslove sicher wusste, dass Libor den Holocaust gar nicht erwähnt hatte.

Allerdings war es ja möglich, sagte sich Treslove, dass Juden den Holocaust nicht zu erwähnen brauchten, um den Holocaust zu erwähnen. Vielleicht konnten sie den Gedanken an den Holocaust mit Blicken übertragen, selbst wenn Libor nicht so aussah, als ob er tatsächlich Gedanken an den Holocaust übertrug.

Woraufhin Libor seinerseits meist erwiderte: »Schon wieder? Dreht sich schon wieder alles um den Selbsthass der Juden?«, dabei hatte Treslove noch nie einen Juden oder sonst wen kennengelernt, der sich selbst so wenig hasste wie Finkler.

Und dann legten sie los, als analysierten und zerfetzten sie die jeweiligen Argumente zum ersten Mal, dabei wusste Treslove, der ja nichts wusste, dass sie seit Jahrzehnten dasselbe sagten. Zumindest seit Finklers Zeit in Oxford. In der Schule war Finkler ein so glühender Zionist gewesen, dass er sich, als der Sechs-Tage-Krieg begann, freiwillig zur israelischen Luftwaffe melden wollte, obwohl er damals erst sieben Jahre alt gewesen war.

»Du bringst da einiges durcheinander«, korrigierte ihn Finkler, als Julian ihn daran erinnerte. »Es war die palästinensische Luftwaffe, zu der ich mich freiwillig melden wollte.«

»Die Palästinenser haben keine Luftwaffe«, erwiderte Treslove.

»Eben«, sagte Finkler.

Libors Haltung hinsichtlich Israel mit drei R und ohne L – Isrrrae – war jene, die man Treslove als Rettungsboothaltung beschrieben hatte. »Nein, ich war nie dort und will auch nicht hin«, sagte er, »doch mag selbst in meinem Alter der Tag nicht fern sein, an dem ich nirgendwo anders mehr hin kann. Das lehrt uns die Geschichte.«

Finkler gestattete sich nicht, das Wort Israel auch nur in den Mund zu nehmen. Für ihn gab es kein Israel, nur Palästina. Treslove hatte ihn in diesem Zusammenhang sogar schon von Kanaan reden hören. Israelis dagegen musste es geben, damit man die Täter von jenen unterscheiden konnte, denen etwas angetan wurde. Und während Libor Israel wie einen heiligen Laut ausstieß, wie ein Hüsteln Gottes, fügte Finkler ein seekrankes J zwischen A und E ein – Israjelis –, als sei damit eines jener Gebrechen gemeint, gegen die sein Vater die berühmten Wunderpillen verschrieben hätte.

»Das lehrt uns die Geschichte!«, schnaubte er verächtlich. »Die Geschichte sagt, dass die Israjelis noch nie gegen einen Feind gekämpft haben, der durch den Kampf nicht stärker wurde. Die Geschichte sagt, dass die Tyrannen sich letztlich selbst vernichten.«

»Und warum warten wir dann nicht einfach, bis es so weit ist?«, warf Treslove zögerlich ein. Ihm war nie ganz klar, ob Finkler Israel den Sieg oder die nahende Niederlage übel nahm.

Obwohl Finkler seine Mitjuden wegen ihrer Sippenhaftigkeit in Sachen Israel hasste, vermochte er seinen Unwillen kaum zu verhehlen, wenn Treslove es wagte, als Außenseiter eine eigene Meinung zu haben. »Weil so viel Blut vergossen wird, während wir hier herumsitzen und nichts tun«, sagte er und besprinkelte Treslove mit seiner Verachtung, um dann, an Libor gewandt, fortzufahren: »Und weil ich mich als Jude dafür schäme.«

»Jetzt schaut ihn an«, sagte Libor, »protzt mit seiner Scham vor einer gojischen Welt, die an weit Besseres zu denken hat, nicht wahr, Julian?«

»Nun«, begann Treslove, doch war das auch schon alles, was beide von der gojischen Welt hören wollten.

»Mit welchem Recht wirfst du mir vor, mit irgendwas zu protzen?«, wollte Finkler wissen.

Libor aber legte nach: »Liebt man dich denn wegen deiner Bücher nicht schon genug? Muss man dich auch noch wegen deines Gewissens lieben?«

»Ich will keine Liebe. Ich will Gerechtigkeit.«

»Gerechtigkeit? Und du nennst dich Philosoph? Was du willst, das ist die warme Glut der Selbstgerechtigkeit, die man fühlt, wenn man das Wort laut ausspricht. Hör auf mich – ich war dein Lehrer und bin alt genug, dein Vater zu sein –, Scham ist eine Privatangelegenheit. Die behält man besser für sich.«

»Ach ja, das Familienargument.«

»Und was ist falsch am Familienargument?«

»Wenn sich ein Mitglied deiner Familie danebenbenimmt, ist es dann nicht deine Pflicht, Libor, ihn darauf hinzuweisen?«

»Ihn darauf hinweisen, ja. Ihn boykottieren, nein. Wer boykottiert schon die eigene Familie?«

Und so ging es weiter, bis sich die Bedürfnisse von Männern, denen der Trost weiblicher Gesellschaft fehlte – noch ein Glas Portwein, ein weiterer unnötiger Gang zur Toilette, ein Nickerchen nach dem Essen –, geltend machten.

Während Treslove ihnen gleichsam von den Rängen her zuschaute, registrierte er mit neidischem Staunen ihr Finklertum. Welch ein Selbstvertrauen, welche Gewissheit, im Recht zu sein, ganz unabhängig davon, ob Libor nun mit seiner Vermutung recht hatte, dass Finkler nichts anderes wollte, als von Nicht-Finklern akzeptiert zu werden.

Doch was Sam Finkler auch immer wollte, auf Julian Treslove wirkte er stets so, dass der sich nicht recht wohl- und irgendwie ausgeschlossen fühlte. Einem Selbst untreu, von dem er nicht einmal sicher wusste, ob er es besaß. In der Schule war es nicht anders gewesen. Mit Finkler fühlte er sich wie jemand, der er nicht war. Fast wie ein Clown. Erkläre das, wer will.

Man hielt Treslove auf eine Weise für gut aussehend, die sich schwer beschreiben ließ; er hatte jedenfalls Ähnlichkeit mit gut aussehenden Leuten. Symmetrie spielte dabei eine gewisse Rolle. Und Anstand. Er hatte ein anständiges Gesicht. Außerdem war er gut gekleidet, im Stil von wem noch mal? Wohingegen Finkler – dessen Vater seine Kunden aufgefordert hatte, ihm in den Bauch zu boxen – füllig geworden war, die Wampe oft aus dem Hemd hängen ließ, die Kamera ansprenkelte und auf großen Füßen dahinwatschelte, wenn er einen jener sinnlosen Fernsehgänge die Straße hinunter absolvierte, auf der Roland Barthes von einem Wäscheauto angefahren worden war, oder das Feld überquerte, auf dem Hobbes einen Schrebergarten besessen hatte; und wenn er sich hinsetzte, dann sackte er in sich zusammen wie ein Krämer in seinem Gewürzbasar. Dennoch war es Treslove, der sich wie ein Clown vorkam.

Ob Philosophie etwas damit zu tun hatte? Alle paar Jahre beschloss Treslove, es sei an der Zeit, es noch einmal mit Philosophie zu versuchen. Statt am Anfang mit Sokrates zu beginnen oder direkt zur Epistemologie vorzurücken, machte er sich auf und kaufte, was eine verständliche Einführung in das Thema zu sein versprach – von jemandem wie Roger Scruton oder Bryan Magee, wenn auch nicht, aus vielleicht verständlichen Gründen, von Sam Finkler. Diese Versuche der Weiterbildung ließen sich anfangs immer gut an. Das Thema war schließlich nicht allzu schwierig. Er konnte leicht folgen. Doch dann, stets mehr oder weniger zur selben Zeit, stieß er auf eine Gedankenreihe oder Argumentationskette, der er nicht mehr folgen konnte, selbst wenn er noch so viele Stunden mit ihrer Entschlüsselung verbrachte. Eine Behauptung wie zum Beispiel jene, dass »der Evolution die Idee entstamme, die Ontogenese wiederhole die Phylogenese« – an sich keineswegs zu kompliziert –, widerstand irgendwie all seinen Bemühungen, so als löste sie etwas Unnachgiebiges, gar Delinquentes in seinem Geiste aus. Oder die Aufforderung, eine Behauptung unter drei Perspektiven zu betrachten, von denen jede fünf hervorstechende Merkmale habe, deren erstes wiederum vier deutlich unterscheidbare Aspekte aufweise – es war, als führte man ein völlig normales Gespräch mit einer angeblich vernünftigen Person, nur um dann festzustellen, dass sie eigentlich doch ziemlich verrückt war. Und wenn nicht verrückt, dann sadistisch.

Ob Finkler auf ähnliche Widerstände treffe, hatte Treslove ihn einmal gefragt. Nein, lautete die Antwort, für ihn sei das alles klar und verständlich. Und die Leute, die seine Bücher lasen, fanden auch, dass er sich klar und verständlich ausdrücke. Wie wollte man sonst erklären, dass es so viele von ihnen gab?

Erst als er ihm zum Abschied nachwinkte, kam Treslove der Gedanke, dass sich sein alter Freund womöglich nach Gesellschaft sehnte. Libor hatte recht – Finkler war auf der Suche nach Liebe. Ohne Frau kann ein Mann in einem großen schwarzen Mercedes ziemlich einsam sein, ganz unabhängig davon, wie viele Leser er hat.

Treslove sah zum Mond auf und ließ den Kopf kreisen. Er liebte diese warmen, hohen Sommerabende, einsam und von allem ausgeschlossen. Er griff nach den Gitterstäben, als wollte er das Tor einreißen, tat aber nichts Gewaltsames, lauschte einfach nur dem Atem des Parks. Wer ihn sah, hätte ihn für einen Anstaltsinsassen halten können, für einen Gefangenen oder Verrückten, der verzweifelt zu entkommen versuchte. Möglich wäre aber auch eine andere Deutung seines Verhaltens: Vielleicht versuchte er ja, verzweifelt hineinzugelangen.

Eigentlich aber brauchte er das Tor, um sich aufrecht zu halten, so berauscht war er, wenn auch nicht von Libors Wein, obwohl es davon für drei trauernde Herren reichlich gegeben hatte, sondern von den reifen, sinnlichen Ausdünstungen des Parks. Wie ein Liebhaber öffnete er den Mund und ließ den weichen Laubduft in seine Kehle dringen.

Wie lang war es her, dass er den Mund für eine echte Geliebte geöffnet hatte? Ihn wirklich geöffnet hatte, aufgerissen, um nach Luft zu schnappen, seine Dankbarkeit hinauszuschreien, vor Freude und Furcht laut zu heulen. Gingen ihm die Frauen aus? Er war ein Liebhaber, kein Casanova, es war also nicht so, als hätte er die Kandidatinnen für seine Zuneigung der Reihe nach aufgebraucht. Nur schienen sie auf einmal nicht mehr da zu sein. Oder sie waren plötzlich immun gegen Mitleid, zumindest jene Sorte Frauen, die in der Vergangenheit sein Herz gerührt hatte. Er sah die Schönheit der Mädchen, die auf der Straße an ihm vorübergingen, bewunderte ihre kraftvollen Glieder, verstand den Reiz, den sie auf andere Männer ausübten, ihre sorglose Beeindruckbarkeit, doch hatten sie auf ihn keine Laternenpfahlwirkung mehr. Er sah sie nicht in seinen Armen sterben. Konnte nicht um sie weinen. Und konnte er nicht weinen, konnte er nicht lieben.

Konnte nicht einmal begehren.

Für Treslove gehörte die Melancholie unabdingbar zur Sehnsucht dazu. War das denn so ungewöhnlich, fragte er sich. War er der einzige Mann, der sich an eine Frau klammerte, nur weil er sie nicht verlieren wollte? Nicht an andere Männer, das meinte er nicht. Andere Männer interessierten ihn eigentlich nicht. Was keineswegs heißen sollte, dass er ihnen alles nachsah – selbst heute noch schmerzte die beiläufige Art, mit der ihn der Schiebefenster reparierende Italiener kaltgestellt hatte –, aber er war nicht eifersüchtig. Zu Neid war er fähig, oh ja – er war neidisch gewesen, war immer noch neidisch auf Libors monoerotisch (»ärotihksch«), wie es aus Libors Mund klang, wenn er die Silben durch seine krummen tschechischen Zähne quetschte) gelebtes Leben –, aber eifersüchtig, nein. Der Tod war sein einzig ernsthafter Rivale.

»Ich habe einen Mimi-Komplex«, hatte er seinen Freunden auf der Universität erklärt. Sie hielten es für einen Scherz oder dachten, er wolle besonders clever rüberkommen, aber darum ging es ihm nicht. Er schrieb einen Essay zu diesem Thema im Kurs Weltliteratur in Übersetzungen, für den er sich eingeschrieben hatte, nachdem er mit Ökologische Entscheidungsfindung gescheitert war – den entsprechenden Vorwand lieferte Henri Murgers Roman, die Vorlage zur Oper La Bohème. Für die Interpretation gab ihm sein Dozent eine Eins, eine Vier minus für geistige Unreife.

»Werde erwachsen«, hatte er gesagt, als Treslove seine Benotung infrage stellte.

Tresloves Zensur wurde zu einer Eins mit Sternchen aufgewertet, doch wurde jede Zensur aufgewertet, wenn die Studenten sie infrage stellten. Da sich aber alle Studenten wegen ihrer Zensuren an die Dozenten wandten, fand Treslove, könnten sie auch gleich eine Eins mit Sternchen geben und sich eine Menge Zeit sparen. Seinem Mimi-Komplex sollte er allerdings nie entwachsen, der war, trotz Tresloves neunundvierzig Jahren, noch ziemlich ausgeprägt. Aber galt das nicht generell für Opernliebhaber?

Und vielleicht hatte er auch – wie alle Liebhaber präraffaelitischer Bilder und Leser von Edgar Allen Poe – einen Ophelia-Komplex. Der vorzeitige Tod einer schönen Frau – gab es etwas Poetischeres?

Wenn Julian an einer Weide oder einem Bach vorbeikam, am besten gleich an einer schief über einem Bach wachsenden Weide – was sich in London nicht besonders oft finden ließ –, sah er Ophelia im Wasser liegen, wie sie, einer Meeresnixe gleich, mit weit aufgefächerten Kleidern ihre melodischen Weisen sang. In zu vielen Wassern war sie zu finden – ist je eine Frau in so viel Kunst ertränkt worden? –, doch zögerte er keinen Augenblick, ihre Fluten mit seinen Tränen zu mehren.

Es war, als wäre ihm von den Göttern (Gott konnte er nicht sagen, da er an keinen Gott glaubte) ein Pakt aufgezwungen worden, demzufolge er eine Frau so vollständig und ausschließlich besitzen, sie so lückenlos mit seinen Armen umschließen musste, dass der Tod durch kein Schlupfloch zu ihr dringen konnte. In diesem Sinne liebte er auch, in jenen Tagen damals, als er noch liebte. Verzweifelt, ausdauernd, als wollte er alle bösen Geister erschöpfen und verscheuchen, die es auf die Frau in seinen Armen abgesehen hatten. Von Treslove umarmt, konnte jede Frau glauben, immun gegen jegliches Leid zu sein. Hundemüde, aber geborgen.

Wie sie schliefen, sobald er mit ihnen fertig war, die Frauen, die Treslove anbetete. Wenn er über sie wachte, dachte er manchmal, sie würden nie wieder aufwachen.

Deshalb blieb es ihm ein Rätsel, warum sie ihn verließen oder es ihm unmöglich machten, sie seinerseits nicht zu verlassen. Das war die Enttäuschung seines Lebens. Dazu bestimmt, ein neuer Orpheus zu sein, der seine Geliebte aus dem Hades lockte, um sich zuletzt doch umzudrehen und auf ein Leben der Hingabe zurückzuschauen, jemand der Tränen unerträglicher Trauer vergoss, wenn sie zum letzten Mal in seinen Armen verschied – »Meine Liebe, meine einzige Liebe!« –, stand er stattdessen hier und gab sich als einer aus, der er nicht war, ein universeller Doppelgänger, der anders fühlte, als andere fühlten, dem nichts weiter blieb, als die Düfte des Parks einzusaugen und um einen Verlust zu weinen, der, bei allem Respekt, nicht der seine war.

Das war also auch etwas, worum er Libor beneiden konnte – seine Trauer, seinen Verlust.

5

Er blieb etwa eine halbe Stunde am Parktor, ehe er gemessenen Schrittes zum West End zurückging, vorbei an der BBC – seinem alten Revier – und Nashs Kirche, in der er sich einmal verliebt hatte, während er einer Frau dabei zusah, wie sie eine Kerze anzündete und sich bekreuzigte. Vor Kummer, nahm er an. Im Chiaroscuro, dämmerig wie das Licht. Düster wie er selbst. Untröstlich. Also hatte er sie getröstet.

»Es wird schon wieder«, sagte er. »Ich beschütze dich.«

Sie hatte zarte Wangenknochen, eine fast durchsichtige Haut. Man konnte das Licht durch sie hindurchschimmern sehen.

Nach zwei Wochen intensiven Trosts fragte sie ihn: »Warum sagst du immer, es wird schon wieder? Es ist doch nichts passiert. «

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe gesehen, wie du eine Kerze angezündet hast. Komm her.«

»Ich mag Kerzen. Sie sind hübsch.«

Er fuhr ihr mit der Hand durchs Haar. »Du magst ihr Flackern. Ihre Vergänglichkeit. Das verstehe ich.«

»Es gibt da etwas, was du über mich wissen solltest«, sagte sie. »Ich bin ein kleiner Feuerteufel. Nichts Schlimmes. Ich wollte die Kirche auch nicht abfackeln, aber Feuer macht mich an.«

Er lachte und küsste ihr Gesicht. »Still«, sagte er. »Still, meine Liebe.«

Beim Aufwachen am Morgen kam ihm eine zweifache Erkenntnis; die erste war, dass sie ihn verlassen hatte, die zweite, dass sein Bettzeug brannte.

Statt in die Regent Street einzubiegen, ging er an der Kirche links und trat zwischen die Säulen, streifte mit der Schulter ihre animalisch weichen Rundungen, war gleich darauf mitten unter den kleinen Modegeschäften der Riding House Street und Little Titchfield Street und fand sich wie stets von dem Tempo überrascht, mit dem in London kulturelle wie kommerzielle Aktivitäten einander ablösten. Seinem Vater hatte hier ein Zigaretten- und Zigarrenladen gehört – Bernard Treslove: Rauchwaren – , deshalb kannte er die Gegend, die er seither in liebevoller Erinnerung hielt. Für ihn würde sie stets nach Zigarren riechen, ganz wie sein Vater. Schaufenster mit billigem Schmuck, grellbunten Handtaschen und Pashmina-Schals ließen ihn an so manche romantische Affäre denken. Und da er es nicht eilig hatte, nach Hause zu kommen, ging er ein Stück zurück und blieb stehen, wo er immer stehen blieb, wenn er in der Nähe war, direkt vor J.P. Guivier & Co., dem ältesten Geigenhändler und Instrumentenbauer des Landes. Tresloves Vater hatte Geige gespielt, er selbst spielte nicht. Sein Vater hatte ihm abgeraten. »Vergiss es«, hatte er gesagt, »das regt dich nur auf.«

»Vergiss was?«

Bernard Treslove, kahl, braun gebrannt, aufrecht wie ein Lot, blies seinem Sohn Zigarrenrauch ins Gesicht und tätschelte ihm liebevoll den Kopf. »Die Musik.«

»Heißt das, ich kann auch kein Cello haben?« J. P. Guivier verkaufte wunderschöne Cellos.

»Cellos machen sogar noch trauriger. Geh und spiel Fußball.«

Julian ging, doch um romantische Romane zu lesen und sich Opern des neunzehnten Jahrhunderts anzuhören. Was seinem Vater auch nicht gefiel, obwohl alle Bücher, die Treslove las, ebenso wie die Opern, die er sich anhörte, aus den Regalen seines Vaters stammten.

Bernard Treslove ging nach diesem Wortwechsel auf sein Zimmer, um Geige zu spielen. Als wollte er seiner Familie kein schlechtes Beispiel geben. Hatte sich Treslove etwa nur eingebildet, seinen Vater beim Spielen in die Geige weinen zu hören?

Deshalb also beherrschte Julian Treslove kein Instrument, obwohl er sich jedes Mal wünschte, es wäre anders, wenn er am Schaufenster von J. P. Guivier vorbeikam. Nach dem Tod seines Vaters hätte er natürlich ein Instrument lernen können. Libor begann schließlich noch mit über achtzig Jahren, Klavier zu spielen, aber Libor hatte auch jemanden, für den er spielen konnte, selbst wenn sie nicht mehr bei ihm war. Treslove dagegen …

 

Der Überfall geschah, als er sich die Geigen ansah und seinen traurigen Erinnerungen nachhing. Ohne jede Vorwarnung packte ihn eine Hand im Nacken, so wie sich ein Katzenfänger auf dem Dach eine Edelkatze greift. Treslove zuckte zusammen und zog den Kopf zwischen die Schultern, genau wie es Katzen tun. Nur fuhr er weder Klauen aus, noch fauchte er oder wehrte sich sonstwie. Er kannte die Menschen der Straße, die Bettler, die Obdach- und Besitzlosen. Im Geiste war er einer von ihnen, denn wie ihnen drohte ihm auf den Straßen und Pflastern der Stadt Gefahr.

Jahre zuvor, als er es auf eine schöne, unrasierte, Nasenring tragende Sozialarbeiterin abgesehen hatte, von der er glaubte, das Schicksal hätte ihm beschieden, mit ihr glücklich zu sein – oder unglücklich, darauf kam es nicht an, solange es nur das Schicksal so wollte –, hatte er in einer Zeit zwischen zwei Jobs den Obdachlosen Hilfe angeboten und sich für sie eingesetzt. Also erschlaffte er in den Händen des Angreifers und ließ zu, dass er gegen das Fenster gepresst und ausgeraubt wurde.

Er ließ es zu?

Die Worte beschönigten seine Rolle. Diese Angelegenheit war viel zu schnell vorbei, als dass er darin etwas zu sagen gehabt hätte. Er wurde gepackt, gepresst, ausgenommen.

Von einer Frau.

 

Aber das war noch längst nicht alles.

Entscheidend war, was sie – wie er sich später zu erinnern meinte, als er über das Vorgefallene nachdachte – dabei zu ihm gesagt hatte. Gut möglich, dass er sich irrte. Der Angriff war zu schnell und plötzlich gekommen, als dass er noch wissen könnte, welche Worte gefallen waren, falls die Frau denn überhaupt etwas gesagt hatte. Er war sich nicht einmal sicher, ob ihm auch nur eine einzige Silbe über die Lippen gekommen war. Hatte er wirklich alles stillschweigend hingenommen, ohne ein »Lass mich los!«, ein »Was soll denn das?« oder bloß ein »Hilfe!«? Ebenso gut mochten die Worte, die sie seiner Ansicht nach gesagt hatte, nur das Geräusch seiner am Fenster brechenden Nase gewesen sein, die zerberstenden Knorpel, das Herz, das ihm in der Brust zu zerspringen drohte. Dennoch gab es da einen Wirrwarr von Lauten, der sich in seinem Kopf immer wieder neu zusammensetzte …

»Your jewels!«, meinte er sie sagen zu hören, »deine Juwelen. «

Was für eine merkwürdige Forderung von einer Frau an einen Mann, falls nicht dergleichen früher schon mal an sie selbst gerichtet worden war, weshalb sie dieses Verlangen nun aus einer Laune bitterer, rachsüchtiger Ironie heraus erneut äußerte. »Die Juwelen – jetzt weißt du, wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein!«

Treslove hatte an der Universität einen Kurs zum Thema Patriarchat und Politik belegt und dabei oft den Satz gehört: »Jetzt weißt du, wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein.«

Was aber, wenn er sich diese Worte nur aus obskurer maskuliner Schuld heraus zusammenreimte und sie in Wahrheit »You’re Jules« gesagt hatte, »du bist Jules«, er also von ihr mit jenem Kosenamen angeredet worden war, den seine Mutter so geliebt hatte?

Nun, auch dann bedurfte dies einiger Erklärungen, da ihm selbst schließlich kaum gesagt zu werden brauchte, wer er war.

Vielleicht hatte sie ihn auf diese Weise gleichsam nur gebrandmarkt, um ihn wissen zu lassen, dass sie seine Identität kannte – »Du bist Jules, und glaub ja nicht, dass ich das je vergesse«.

Dem aber wäre gewiss noch etwas gefolgt. Etwas war natürlich gefolgt, schließlich wurden ihm sämtliche Wertsachen abgenommen, aber hätte sie ihn dann, um ihre Genugtuung vollkommen zu machen, nicht ihrerseits wissen lassen wollen, wer sie war? »Du bist Jules, ich bin Juliette – verg iss mich nie wieder, du kleiner Scheißer.«

Je mehr er darüber nachdachte, desto unsicherer war er sich, ob sie tatsächlich etwas in der Art wie »your« oder auch »you’re«, gesagt hatte. Es hatte abgehackter gek lungen. Eher wie ein you als ein »you’re«. Auch anklagender. Mehr wie »you Jules!« als »you’re Jules «!

»Du Jules« wie in: »Du Jules, du!«

Aber was sollte das bedeuten?

Außerdem war ihm, als hätte sie gar kein »les« ausgesprochen. Im Nachhinein gab er sich alle Mühe, ein »les« zu hören, doch der Laut blieb unbestimmt. Hatte sie nicht viel eher »you Jule« gesagt? Oder doch »you jewel«?

Wie aber passte es zusammen, dass man jemanden sein Schmuckstück nannte, um ihn dann auszurauben und ihm das Gesicht einzuschlagen?

Gar nicht, fand Treslove.

Was ihn zurück zu »you Jule«! brachte.

Ebenso unerk lärlich.

Es sei denn, sie hatte, als sie ihm die Taschen leerte, »You jew« gesagt, »du Jud!«.