FÜNF
1
Man sagt zu einem Mann, der sich total verrannt hat, nicht: »Suche sie und bring sie her.«
Aber Treslove wäre ein Idiot, wollte er der fraglichen Sie noch eine einzige weitere Minute seiner Zeit widmen. Es kommt der Tag, da muss man zu seinem zwanghaften Verlangen Nein sagen. Er zog den Mantel an und zog ihn wieder aus. Jetzt reichte es. Er wusste, was er dachte. Er wusste, was er gehört hatte. »Du Jud.« Nicht »du verdammter Jud, du« oder »du dreckiger Jud« oder »du lieber Jud«, einfach nur »du Jud«. Und gerade das Seltsame dieser Äußerung bewies letztlich, dass sie stimmte. Warum sollte er sich so etwas ausdenken? »Du Jud, du«, schlicht und einfach – »du reiner, ungeschminkter Jude« –, sprach für keine Theorie oder Vermutung, war keine Reaktion auf ein Bedürfnis, das Treslove in sich ausmachen konnte. Diese Bemerkung bewies nichts, löste nichts, erfüllte nichts.
Treslove kannte die Gegenargumente. Er hatte sie aus einer Not heraus erfunden. Und was sollte das für eine Not sein?
Gerade die Willkür war ein Beweis der Echtheit. Seine Psyche war frei von jeglichem Verlangen, sich von ihrer Bemerkung auch nur die geringste Belohnung zu versprechen. Blieb noch die Attentäterin selbst. Hatte sie ihn schlicht aus einer Laune heraus »Jud du« genannt? Nein, er wurde »Jud du« genannt, weil sie einen Juden gesehen hatte. Warum sie ihm allerdings sagen sollte, was sie sah, war eine andere Frage. Eigentlich hätte sie überhaupt nichts zu sagen brauchen. Sie hätte seine Wertsachen nehmen und wortlos verschwinden können. Schließlich hatte er sich nicht gerade gewehrt. Oder ein Dankeschön erwartet. Die meisten Straßenräuber, zumindest nahm er dies an, identifizierten beim Ausrauben wohl kaum ihre Opfer. Du Protestant, du Chinese. Warum sich die Mühe machen? Man durfte davon ausgehen, dass Protestanten und Chinesen wussten, wer sie waren, das brauchte ihnen der Straßenräuber nicht erst zu sagen. Also war »du Jud« entweder Ausdruck einer unbezwingbaren Wut, oder die Worte dienten der Information. »Ich habe mir deine Uhr, deine Brieftasche, deinen Füller, dein Handy und deine Selbstachtung genommen – kurzum, deine Juwelen –, dafür gebe ich dir aber auch etwas: Nur für den Fall, dass du es noch nicht wissen solltest, und ich habe da insgeheim so ein leises Gefühl (frag mich nicht, wieso), dass du es noch nicht weißt, aber: Du bist ein Jude.
Tschüss.«
Treslove wollte einfach nicht glauben, dass er einem Menschen begegnet war, der eine Schraube locker hatte, oder dass er nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Er hatte genügend Missgeschicke erlebt. Sein ganzes Leben war ein Missgeschick. Seine Geburt war ein Missgeschick – seine Eltern hatten es ihm erzählt: »Du warst nicht geplant, Julian, aber du warst eine nette Überraschung.« Genau wie seine eigenen Söhne. Nur hatte er denen nie gesagt, dass sie eine nette Überraschung gewesen waren. Sein modularer Abschluss war ein Missgeschick; in einem anderen Leben hätte er Altphilologie oder Theologie studiert. Die BBC war ein Missgeschick, ein böses Missgeschick. Die Frauen, die er geliebt hatte, waren ein Missgeschick gewesen. Warum aber das Leben leben, wenn ihm keine Spur von Bedeutung anhaftete? Manche Menschen finden zu Gott, wenn sie am wenigsten damit rechnen. Manche finden den Sinn ihres Lebens in Sozialarbeit oder Selbstaufopferung. Solange Treslove zurückdenken konnte, hatte er sich in Bereitschaft geübt. Na schön, dachte er, und jetzt ruft mich mein Schicksal.
Zwei Abende später dinierte er mit einigen Glaubensgenossen in Libors Wohnung.
2
Ein halbes Jahr vor dem Tod seiner Frau nahm Sam Finkler die Einladung an, als Gast in der Radiosendung Desert Island Discs aufzutreten und ein Buch sowie acht Musikstücke vorzustellen, die er auf eine einsame Insel mitnehmen würde.
Es wäre grausam, wollte man annehmen, dass die beiden Ereignisse in mehr als nur einem zufälligen Zusammenhang stünden.
Als Finkler die Einladung zur Sprache brachte, saßen sie im Garten; nur ein niedriges Tor trennte sie von der Heide. Hätte er nicht über die Einladung geredet, hätte er Tyler beim Pflanzen helfen müssen. Ihr Garten galt ihm schon seit Langem als ein Bereich der Nicht-Entspannung, da Tyler ständig darin herumwerkelte und Finkler unter allergischen Reaktionen auf Rasen, Blumen und die Vorstellung litt, das Leben leichtzunehmen. »Man nennt das einen Liegestuhl – also leg dich hin!«, pflegte Tyler ihn anzuherrschen, nur um dann festzustellen, was er längst wusste – sein Körper war nicht dazu geschaffen, in einem Liegestuhl zu liegen. »Es kommt eine Zeit, da werde ich noch lang genug liegen«, lautete stets seine Antwort. Also wagte er sich entweder gar nicht hinaus in den Garten, oder er pirschte an seinen Grenzen entlang wie ein Privatdetektiv, der die Büsche nach einer Leiche absucht. Er hielt nur inne, um ihr zu erzählen, was ihn beschäftigte, und das war – jedenfalls soweit er Tyler davon berichten konnte – unweigerlich seine Arbeit. Wenn er verstummte oder auch nur langsamer wurde, dann, das wusste er, würde ihn Tyler bitten, einen Bambusstab für sie zu halten oder den Finger auf eine grüne Schnur zu pressen, damit sie einen Knoten binden konnte. An sich keine lästigen Aufgaben, doch weckten sie in Finkler das Gefühl, sein Leben versickere in Mist und Mulch.
»Ich habe mir Desert Island Discs an Land gezogen«, rief er ihr aus dem fernsten Winkel des Gartens zu, während er sich mit den Händen hinterm Rücken sicherheitshalber an einem Fallrohr festhielt.
Tyler war auf Händen und Knien und versuchte, dem steinigen Boden Leben zu entlocken. In Gedanken ganz bei der Erde. Sie blickte nicht auf. » An Land gezogen? Was soll das heißen? Ich habe gar nicht gewusst, dass du danach geangelt hast.«
»Hab ich auch nicht. Sie haben mich geangelt.«
»Dann sag ihnen, sie sollen dich wieder ins Wasser werfen.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Warum nicht? Wieso interessiert dich Desert Island Discs? Du wirst doch schon in deinem Garten verrückt, was also willst du auf einer einsamen Insel? Außerdem besitzt du keine einzige Platte oder CD. Du kennst überhaupt keine Musik.«
»Tu ich wohl.«
»Nenn mir irgendeine Musik, die dir gefällt.«
»Aha, gefallen – das ist was anderes als kennen.«
»Du Korinthenkacker!«, sagte sie. »Reicht es nicht, dass du ein Lügner bist? Musst du auch noch den Pedanten spielen? Ich rate dir, nicht mitzumachen. Das bringt nichts. Die Zuhörer merken, wenn du nur so tust als ob. Weil du dann nämlich sehr laut wirst.«
Mag sein, dass man Finkler geangelt hatte, aber auf den Köder seiner Frau biss er trotzdem nicht an. »Ich werde schon nicht lügen. Außerdem kann auch was anderes als Musik auf den CDs sein.«
»Was willst du dir dann aussuchen – Bertrand Russell liest seine Memoiren? Ich kann’s kaum erwarten.«
Sie stand auf und wischte sich die Hände an der Gärtnerschürze ab, die er ihr vor Jahren gekauft hatte. Tyler trug Ohrringe, ebenfalls von ihm gekauft, und die goldene Rolex, die ihr von ihm zum zehnten Hochzeitstag geschenkt worden war. Tyler gärtnerte stets in bester Garderobe und trug dazu ihren Schmuck. Sie hätte direkt vom Düngerstreuen zum Abendessen ins Ritz gehen können, ohne sich mehr als die Handschuhe ausziehen und mit den Fingern durchs Haar fahren zu müssen. Der Anblick seiner Frau, die wie eine Venus der beau monde dem Kompost entstieg, das war der Grund, warum er sich diesen gefürchteten Garten überhaupt näherte. Es blieb ihm selbst rätselhaft, warum er Affären hatte, wenn er seine Frau doch um so vieles begehrenswerter als all seine Geliebten fand.
War er ein schlechter Mensch? Oder bloß dumm? Eigentlich hielt er sich nicht für schlecht und glaubte, im Grunde ein guter und treuer Ehemann zu sein. Nur ließ sich Monogamie nicht mit der Natur des Mannes vereinen. Und seiner Natur war er etwas schuldig, selbst wenn diese Natur seinem Verlangen widersprach, daheim zu bleiben und seine Frau zu lieben.
Die Natur war schuld – die ganze Natur, die Herrschaft der Natur –, sie war der Bösewicht, nicht er.
»Na ja, für den Anfang«, sagte er und spürte, wie er sentimental wurde, »habe ich an die Musik gedacht, die zu unserer Hochzeit …«
Sie ging zum Gartenschlauch, um den Wasserhahn aufzudrehen. »Mendelssohns Hochzeitsmarsch? Wohl kaum besonders orig inell. Und wenn es dir nichts ausmacht, zöge ich es vor, du würdest unsere Hochzeit außen vor lassen; sie wäre sowieso das Letzte, woran du auf deiner einsamen Insel dächtest. Falls dir übrigens nichts Besseres als Mendelssohn einfällt, rate ich dir dringend, dem Sender zu sagen, du hättest keine Zeit. Es sei denn, Mendelssohn hat auch einen Ehebrechermarsch geschrieben. «
»Keine Zeit für Desert Island Discs? Jeder hat Zeit für Desert Island Discs. Bei so einem Angebot muss man einfach zugreifen – ist eine Karrierefrage.«
»Du hast deine Karriere. Greif dir lieber das Schlauchende.«
Finkler sah sich außerstande, das Schlauchende zu finden, und begann deshalb wieder, wie ein Privatdetektiv durch den Garten zu staksen, starrte in die Büsche und kratzte sich am Kopf.
»Der Schlauch ist das Ding, aus dem das Wasser kommt, du Schwachkopf. Wie viele Jahre wohnst du schon hier? Und du weißt immer noch nicht, wo dein eigener Schlauch ist? Ha!« Sie lachte über ihren Scherz. Er nicht.
»Man sagt nicht ab, wenn man zu Desert Island Discs eingeladen wird«, fuhr er fort, fand den Schlauch und fragte sich, was er damit anfangen sollte.
»Du bist eingeladen worden. Warum solltest du da nicht absagen können? Ich hätte gedacht, für deine Karriere könnte es kaum was Besseres geben. Würde beweisen, dass du nicht zu habgierig bist. Gib schon her.«
»Zu habgierig?«
»Zu übereifrig. Zu erpicht.«
»Du hast habgierig gesagt.«
»Und?«
»Ich soll kein habgieriger Jude sein, hast du das gemeint?«
»Ach, um Gottes willen, daran habe ich nicht mal gedacht, und das weißt du sehr gut. Der habgierige Jude ist deine eigene Projektion. Du hast Angst, dass man dich dafür halten könnte, aber das ist dein Problem, nicht meins. Ich finde, du bist einfach habgierig, Punkt. Außerdem bin ich in unserer Beziehung fürs Jüdische zuständig, schon vergessen?«
»So ein Unsinn.«
»Dann sag mir die Amida auf oder nenne mir eine der achtzehn Bitten …«
Finkler wandte den Blick ab.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hätte sie vielleicht daran gedacht, den Schlauch auf ihn zu richten, da sie wusste, er würde sie dann auch nass spritzen, sie würden in ihrem Garten um den Schlauch kämpfen und den Streit im Gelächter enden lassen, sich vielleicht sogar auf dem Rasen lieben, scheiß auf die Nachbarn. Doch die war vorbei, diese Zeit …
… falls es sie denn je gegeben hatte. Tyler versuchte, ihn sich vorzustellen, wie er hinter ihr herlief, sie einfing, seinen Mund auf ihre Lippen presste, und merkte mit Erschrecken, dass es ihr nicht gelang.
Er fragte seine Freunde. Nicht nach ihrer Meinung, ob er an der Sendung teilnehmen sollte oder nicht. Er wusste, er musste es tun. Nein, nach Musik, zu der er auf einer einsamen Insel abhängen konnte. Libor schlug Schuberts Impromptus vor. Und ein paar Violinkonzerte. Treslove schrieb ihm die Titel der größten Todesarien der italienischen Oper auf. »Wie viele brauchst du?«, fragte er. »Sechs?«
»Eine reicht. Sie wollen Abwechslung.«
»Ich habe dir sechs aufgeschrieben, da bist du auf der sicheren Seite. Sie sind alle verschieden. Mal stirbt die Frau, mal der Mann. Und ich habe noch eine dazugesetzt, bei der beide gemeinsam sterben. Wäre ein großartiger Abschluss der Sendung.«
Und meiner Karriere, dachte Finkler.
Erst nachdem Finkler auch noch Alfredo gefragt hatte, verließ er sich ganz auf seinen populistischen Instinkt und entschied sich für Bob Dylan, Queen, Pink Floyd, Felix Mendelssohn (hielt sich aber an Libors Vorschlag und nannte das Violinkonzert, nicht den Hochzeitsmarsch), Girls Aloud, natürlich ein Stück von Elgar, Bertrand Russell mit einem Auszug aus seinen Memoiren und Bruce Springsteen, den er während der Sendung nur den »Boss« nannte. Was das Buch anging, wählte er Platons Dialoge, fragte aber, ob man dieses eine Mal die Regel nicht lockern und ihm erlauben wolle, stattdessen den kompletten Harry Potter mitzunehmen.
»Als Erholung von der schweren Lektüre?«, fragte der Moderator.
»Nein, das wäre ja Platon«, antwortete Finkler, ein Scherz, natürlich, aber auch für jene gemeint, die ihm unterstellen wollten, dass er es ernst meinte.
Um seiner Frau zu beweisen, dass sie in ihrer Ehe nicht allein fürs Jüdische zuständig war, machte er viel Aufhebens darum, dass er als Kind jeden Morgen mit seinem Vater in die Synagoge gegangen war und ihm zugehört hatte, wie er für seine Eltern betete, großartige, eindringliche Klageweisen, die ihn tief bewegt und, ja, auch geprägt hatten. Jisgadal wejiskadasch … die alte Sprache der Hebräer, die für die Toten erklang. Erhoben und geheiligt werde sein großer Name. Ein Gebet, das er seinerseits gesprochen hatte, als er zum Waisen wurde. Der rationalistische Philosoph, der sich angesichts einer Wahrheit an Gott wandte, die sich mit Vernunft allein wohl niemals durchdringen ließe. Eine Stecknadel, dachte er, hätte man im Studio zu Boden fallen hören können. Sein Judentum sei ihm schon immer enorm wichtig gewesen, gestand er, täglicher Anlass zu Trost und Inspiration, doch könne er die Vertreibung der Palästinenser nicht stillschweigend übergehen. »Was Palästina angeht«, fuhr er mit einem Beben in der Stimme fort, »ist es a Schand, wie man auf Jiddisch sagt.«
»Was für ein aufgeblasener Schmonzes«, bemerkte Tyler, als sie die Sendung hörte. »Wie konntest du nur?«
»Warum denn nicht?«
»Weil es in der Sendung nicht um Scham und Schande ging, deshalb. Weil niemand danach gefragt hat.«
»Tyler …«
»Ich weiß – dein Gewissen hat dich gezwungen. Ein praktisches Ding, dein Gewissen. Da, wenn du es brauchst, unauffindbar, wenn du es nicht brauchst. Nun, ich schäme mich jedenfalls für die öffentliche Zurschaustellung deiner Scham, und dabei bin ich nicht einmal Jüdin.«
»Eben deshalb«, erwiderte Finkler.
Es enttäuschte Finkler sehr, dass es keine seiner geistreich aufpolierten Wendungen in die Zitate der Woche schaffte, doch fühlte er sich geschmeichelt, als er vierzehn Tage nach Ausstrahlung der Sendung einen Brief von einigen in der Welt des Theaters und der Universitäten wohlbekannten Juden erhielt, die ihn einluden, einem Verein beizutreten, der bislang bloß eine Idee ohne konkrete Richtung gewesen war, jetzt aber umstrukturiert und zu Ehren seiner Courage, sich öffentlich zu bekennen, in Schandejiddn umgetauft werden sollte.
Finkler war gerührt. Lob von seinesgleichen rührte ihn beinahe ebenso sehr wie jene Gebete, die er nie für seinen Großvater gesprochen hatte. Er überflog die Liste. Die meisten Professoren kannte er, und sie waren ihm egal, mit den Namen der Schauspieler aber schwang sich sein Ruhm zu neuen Höhen auf. Zwar galt er nicht gerade als Theaternarr und hatte über Tylers Vorschläge – »komm, sehen wir uns das Stück an« – meist bloß verächtlich die Nase gerümpft, doch von Schauspielern angeschrieben zu werden – auch wenn er von ihnen als Schauspieler nicht gerade viel hielt –, das sah er durchaus in anderem Licht. Auf der Liste standen auch die Namen eines berühmten Kochs und einiger gefeierter Stand-up-Komiker. »Jesus!«, sagte er, als er den Brief las.
Tyler war im Garten, lag diesmal im Liegestuhl, eine Tasse Kaffee in der Hand, die Zeitung aufgeschlagen vor sich. Sie war eingeschlafen, obwohl es noch nicht einmal Mittag war. Dass sie in letzter Zeit schneller müde wurde als früher, war Finkler noch nicht aufgefallen.
»Jesus!«, wiederholte er, sodass sie ihn hören konnte.
Sie rührte sich nicht. »Was ist, Lieber? Wirft dir jemand Wortbruch vor?«
»Wie es scheint, finden mich nicht alle beschämend«, sagte er und las die Namen der bekanntesten Briefunterzeichner vor.
»Und?«
Für dieses eine Wort brauchte sie so lang wie ihr Mann für das Dutzend Namen.
Mit geblähten Nasenflügeln fragte er: »Was soll das denn heißen: Und?«
Sie richtete sich auf und schaute ihn an. »Unter den Leuten, Samuel, deren Namen du mir gerade vorgelesen hast, ist nicht einer, den du auch nur im Mindesten respektierst. Du verabscheust Akademiker. Schauspieler magst du nicht – vor allem diese Schauspieler nicht –, für berühmte Köche hast du keine Zeit, und Stand-up-Komiker kannst du nicht ausstehen. Nicht lustig, sagst du über die. Kein bisschen lustig. Warum sollte mir – nein, warum sollte dir daran gelegen sein, was irgendwer von denen über dich denkt?«
»Auf meine Beurteilung ihrer beruflichen Fähigkeiten kommt es in diesem Fall wohl kaum an, Tyler.«
»Worauf dann? Auf deine Beurteilung ihrer Fähigkeiten als politische Analysten? Als Historiker, Theologen, Moralphilosophen? Ich kann mich nicht erinnern, dass du je behauptet hättest, als Komiker seien sie zwar eine Niete, als tiefschürfende Denker aber würdest du große Stücke auf sie halten. Jedes Mal, wenn du bislang mit Schauspielern zu tun hattest, hast du sie zu Kretins erklärt, unfähig, einen einzigen Satz zusammenzukriegen oder auch nur einen halben Gedanken – jedenfalls völlig unfähig, deine Ideen zu verstehen. Was sollte jetzt anders sein, Samuel?«
»Ist doch nett, wenn man Unterstützung findet.«
»Egal von wem? Ob Hinz oder Kunz?«
»Ich würde diese Leute nicht gerade Hinz oder Kunz nennen. «
»Nein, nicht mal Hinz und Kunz, um es mit deinen eigenen Worten zu sagen. Bloß sind sie jetzt, wo sie dein Loblied singen, mehr als Hinz und Kunz.«
Er wusste, er konnte ihr nicht den ganzen Brief vorlesen, konnte ihr nicht sagen, dass seine Courage eine Bewegung inspiriert oder doch revitalisiert hatte, eine kleine Bewegung, die aber wer weiß wie groß werden würde, konnte ihr nicht sagen, wie angenehm er es fand, so gefragt zu sein, also, Tyler, du kannst mich mal!
Trotzdem konnte er ihr auch nicht den Rücken kehren.
Also fasste er sich kurz. »Lob ist anders, wenn dich deinesgleichen lobt.«
Sie schloss die Augen; seine Gedanken konnte sie auch mit geschlossenen Augen lesen.
»Gott verdammt noch mal, Schmuel«, sagte sie. »Deinesgleichen? Hast du vergessen, dass du keine Juden magst? Du gehst ihrer Gesellschaft aus dem Weg und hast öffentlich erklärt, dass sie dir auf die Nerven gehen, weil sie so gern den starken Mann markieren und einem dann sagen, dass sie an einen mitfühlenden Gott glauben. Und nur weil jetzt ein paar mediokre, pseudoprominente Juden beschlossen haben, sich vorzuwagen und mit dir einer Meinung zu sein, findest du sie toll. Ging es immer nur darum? Wärst du der beste aller guten Judenjungs gewesen, hätten dich die anderen Judenjungs nur früher geliebt? Ich kapier’s nicht. Das ergibt keinen Sinn. Wirst du wieder ein begeisterter Jude, um dich gegen das Judentum zu wenden?«
»Gegen das Judentum wende ich mich doch gar nicht.«
»Na ja, gegen das Christentum jedenfalls sicher nicht. Schandejiddn? Da wäre es ja ehrenvoller, du würdest dich auf David Irving einlassen oder den britischen Nationalisten beitreten. Frag dich, was du wirklich willst, Samuel … Sam! Um die Anerkennung der Juden geht es dir bestimmt nicht. Von denen gibt’s gar nicht genug.«
Er hörte ihr nicht mehr zu. Mit heißen Ohren ging er nach oben an den Schreibtisch und schrieb den Schandejiddn einen hochachtungsvollen Brief – einen Brief der Hochachtung ihrer Hochachtung. Es sei ihm eine Ehre, ihnen beizutreten.
Doch dürfe er einen Vorschlag machen? Im Zeitalter der markanten Slogans, in dem sie, ob es nun gefalle oder nicht, zweifelsfrei lebten, könne ein schlichtes, leicht zu erinnerndes Akronym die Wirkung von tausend Grundsatzerk lärungen haben. Nun, ein Akronym – zumindest etwas, das einem Akronym sehr nahekomme – verberge sich bereits in jenem Namen, den der Verein sich gegeben habe. Wie wäre es, statt Schandejiddn mit A-SCHandjiddn, was man, je nachdem, wie die Mitglieder dazu stünden, jetzt oder auch in Zukunft zu ASCHjiddn oder zu ASCH wie Asche kürzen könne, unter den gegebenen Umständen eine selten glück liche Fügung, auf die er, dessen sei er sich gewiss, wohl kaum ausdrücklich hinzuweisen brauche.
Schon nach einer Woche erhielt er ein enthusiastisches Antwortschreiben mit dem Brief kopf: »ASCHandjiddn.«
Ihn erfüllte großer Stolz, der natürlich durch den Kummer um jene geschmälert wurde, deren Leid die ASCHandjiddn erst notwendig machten.
Tyler lag grausam falsch. Er hatte kein Verlangen nach dem, was sie ihm unterstellte. Sein Wunsch nach Anerkennung – oder gar Zustimmung – war keineswegs unersättlich. Er besaß bereits genügend Ansehen, Gott war sein Zeuge. Hier aber ging es nicht um Anerkennung, sondern um die Wahrheit. Jemand musste sie aussprechen. Und jetzt waren andere bereit, sie mit ihm auszusprechen. Und das in seinem Namen.
Wäre Ronit Kravitz nicht die Tochter eines israelischen Generals gewesen, hätte er sie angerufen und ihr vorgeschlagen, ein Wochenende lang mit ihm in Eastbourne aufs Schändlichste und Vergnüglichste jiddisch zu pimpern.
3
Wie sich herausstellte, sah Tyler doch eine Sekunde lang die Sendung ihres Mannes in Tresloves Hampsteader Wohnung, die nicht in Hampstead lag. Und danach, in schicklichen Abständen, auch noch weitere Sendungen. Es tröstete sie darüber hinweg, dass ihr Mann so viel fürs Fernsehen arbeitete. Was zwischen ihr und Julian lief, wuchs sich nie zu einer richtigen Affäre aus, da sie beide keine Affäre suchten – zumindest Tyler nicht, und Treslove war es leid, überhaupt irgendwas zu suchen –, doch fanden sie Wege und Möglichkeiten, einander Freundlichkeiten zu erweisen, die über einen gewöhnlichen, von Wut und Neid angefachten Nachmittagsehebruch hinausgingen.
Treslove bemerkte, wie rasch sie müde wurde.
»Du siehst blass aus«, sagte er ihr einmal und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.
Sie ließ es zu, und sie lachte. Ihr stilles, nicht ihr wildes Lachen.
»Und du wirkst bedrückt«, sagte er und küsste sie aufs Neue.
»Tut mir leid«, erwiderte sie. »Ich bin nicht hergekommen, um dich zu deprimieren.«
»Das tust du nicht, deine Blässe gefällt mir. Ich mag es, wenn Frauen tragisch aussehen.«
»Mein Gott – tragisch? Steht es so schlimm um mich?«
Es stand so schlimm um sie, ja.
Am liebsten hätte Treslove gesagt: »Komm und stirb bei mir«, doch wusste er, das ging nicht. Eine Frau musste daheim im eigenen Haus sterben, in den Armen des Gatten, auch wenn ihr der Liebhaber die Stirn weit mitfühlender abtupfen würde, als es ihr Mann je vermochte.
»Du weißt, ich liebe dich«, sagte er ihr bei ihrem – wie sie wohl beide ahnten – letzten Stelldichein. Dass er sie liebte, hatte er ihr schon gesagt, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen und dabei Sam in der Flimmerkiste zugesehen hatten. Doch diesmal meinte er es ernst. Nicht, dass er es damals nicht ernst gemeint hätte, nur meinte er es diesmal anders ernst. Diesmal meinte er es um ihretwillen ernst.
»Sei nicht blöd«, erwiderte sie.
»Aber ich liebe dich wirklich.«
»Tust du nicht.«
»Tu ich doch.«
»Tust du nicht, aber ich finde es rührend, dass du es versuchst. Du warst sehr lieb zu mir, nur gebe ich mich keinen Illusionen hin, Julian. Ich weiß, wie Männer ticken und auf welche bizarre Weise Männerfreundschaften funktionieren. Dass ich mich von anderen Frauen in dieser Lage unterscheiden würde, habe ich mir nie vorgemacht – für euch bin ich eine Möglichkeit, eure Rivalität auszuleben. Das habe ich dir gleich zu Anfang gesagt, aber ich fand es auch schön, das für mich selber auszunutzen. Und ich danke dir dafür, dass du mir das Gefühl gegeben hast, ich sei es, die du wolltest.«
»Du warst es, die ich wollte.«
»Ich glaube dir, nur hast du mich nicht so sehr gewollt wie Samuel.«
Treslove war entsetzt. »Ich? Wie Samuel?«
»Na ja, nicht in dem Sinn, dass du mit ihm vögeln wolltest. In diesem Sinn habe ich ihn auch nie geliebt. Ich bezweifle sogar, dass ihn jemals irgendjemand in diesem Sinn geliebt hat. Er ist kein Mann zum Vögeln, auch wenn ihn das nie gehindert hätte … ihn oder die Frauen. Aber er hat was, mein Mann, nicht gerade eine Gloriole, doch eine Art Aura des Geheimnisvollen, die man durchdringen möchte, eine Überholspur-Kompetenz, ein praktisches Wissen, von dem man möchte, dass es auf einen abfärbt. Er ist einer von den Juden, die zu anderen Zeiten von Kaisern und Sultanen, selbst von den größten Judenhassern, in hohe Ämter gehievt worden wären. Er scheint Beziehungen zu haben, scheint zu wissen, wie man weiterkommt, und man spürt, bleibt man bei ihm, kommt man mit ihm zusammen weiter. Aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen. Du spürst das. Ich weiß, dass du das spürst.«
»Na ja, ich habe nicht gewusst, dass ich das spüre.«
»Glaub mir, du spürst es. Und da komme ich ins Spiel. Durch mich färbt er auf dich ab. Durch mich bist du mit ihm verbunden. «
»Tyler …«
»Ist schon in Ordnung. Es macht mir nichts aus, gestohlener Sternenstaub zu sein, der dich mit Second-Hand-Bedeutung bestäubt. Ich räche mich an ihm und fühle mich gleichzeitig von dir liebevoller behandelt als von ihm.«
Sie küsste ihn. Ein Dankeskuss.
Ein Kuss, dachte Treslove, wie ihn eine Frau einem Mann gibt, der sie nicht bis in die Grundfesten erschüttert. Denn das hatte ihr »liebevoll behandelt« schon angedeutet – dass er nett, aber keine Herausforderung war, kein Mann von Einfluss, niemand, der ihr Zugang zur Überholspur gewährte. Sicher, sie kam zu ihm, glitt mit link ischer Untreue in sein Bett und vögelte mit ihm, ohne ihn jedoch richtig wahrzunehmen. Selbst dieser Kuss ging irgendwie an ihm vorbei, so als küsste sie eigentlich einen Mann, der hinter ihm im Zimmer stand.
Stimmte, was sie gesagt hatte? Gewann er, indem er mit Sams Frau schlief, zeitweilig einen Zugang ehrenhalber zu Sams Erfolg? Aber wenn das stimmte, warum fand er sich dann nicht erfolgreicher? Ihm gefiel der Gedanke, dass Sam kein Mann zum Vögeln war, doch was brachte ihm diese Information, wenn er selbst auch keiner war? Die arme Tyler, vögelte mit zwei Männern, die beide nicht zum Vögeln waren. Kein Wunder, dass sie krank aussah.
Aber auch armer Treslove, dachte er.
Eine Möglichkeit, eure Rivalität auszuleben, hatte sie sich genannt. Eure Rivalität – was besagte, dass dies auch für Sam galt. Hieß das, er wusste Bescheid? War es möglich, dass Tyler, wenn sie nach Hause kam, ihrem Mann vom gemeinsamen Freund erzählte, der einfach nicht zum Vögeln war? Und machte Sam das an? Machte es sie beide an?
Taten Finkler so etwas?
Zum ersten Mal brach Treslove jene Regel, an die sich alle Ehebrecher halten müssen, soll der Ehebruch nicht ihr Untergang sein, und stellte sich die beiden im Bett vor. Tyler, eben erst von Treslove zurück, drehte sich lächelnd zu ihrem Mann um, sah ihn an, wie sie Treslove nicht ein einziges Mal angesehen hatte, hielt seinen Penis vor sich wie einen Brautstrauß und hatte kein Problem wie bei Treslove, das hinter ihrem Rücken gelöst werden musste. Sah ihn sich sogar an, bedachte ihn mit Kosenamen, bewunderte ihn und nahm ihn sich vor, wie sie seinen Penis nie bewundert und sich vorgenommen hatte.
»Mittlerweile«, sagte sie und schaute auf die Uhr, obwohl sie nicht »jetzt, in dieser Minute« meinte, »hat er sich ein neues Hobby zugelegt.«
Sollte sich Treslove dafür interessieren? »Was für eins?«, fragte er.
Sie schien das Thema beiseitewischen zu wollen, als wünschte sie sich jetzt, da sie es zur Sprache gebracht hatte, sie hätte es nie erwähnt, oder als glaubte sie, er würde die Feinheiten ja doch nicht verstehen.
»Ach, diese Israel-Sache. Tschuldigung, Palästina, auf dem Namen besteht er.«
»Ich weiß. Ich habe ihn gehört.«
»Du hast ihn in Desert Island Discs gehört?«
»Hab’s verpasst«, log Treslove. Er hatte es nicht verpasst. Er hatte sogar gründliche Vorkehrungen dafür getroffen, sich diese Sendung nicht anhören und anschließend auch niemanden treffen zu müssen, der sie gehört hatte. Finkler auf dem Bildschirm zu sehen, während er mit seiner Frau schlief, war eine Sache, aber Desert Island Discs zu hören, eine Sendung, zu der sich das ganze Land einschaltete …
»Gut gemacht. Hätte ich sie doch auch verpasst. Ich wäre sogar hergekommen, um sie zu verpassen, aber er wollte, dass ich sie mir mit ihm zusammen anhöre. Was mich hätte misstrauisch machen sollen. Wieso war da keine Ronit …?«
Wieder merkte Treslove, dass er sich Tyler und Sam im Bett vorstellte, wie sie, einander zugewandt, Desert Island Discs hörten und Tyler dabei Sams Penis bewunderte, ihn begurrte, während ihr Mann am Radio sein Palästina-Ding abzog.
Er sagte nichts.
»Egal, da ist er jedenfalls damit rausgerückt.«
»Womit?«
»Seinem Schambekenntnis.«
»Scham? Wegen Ronit?«
»Nein, wegen Israel, du Blödmann.«
»Ach das, ich habe ihn schon mit Libor drüber reden hören. Ist doch nichts Neues.«
»Neu ist es, dem ganzen Land zu sagen, dass man sich schämt. Weißt du, wie viele Leute sich diese Sendung anhören?«
Treslove hatte eine ungefähre Ahnung, wollte sich aber auf keine Diskussion über Zahlen einlassen. Die Erwähnung von Millionen hätte seinen Ohren wehgetan. »Und? Bedauert er es jetzt?«
»Bedauern? Er ist wie die Katze, die von der Sahne schlecken durfte. Seitdem hat er einen ganzen Haufen neuer Freunde. Die ASCHandjiddn. Sind ein bisschen wie Peter Pans verlorene Jungs. Fehlende Mutterliebe, darauf läuft’s letztlich hinaus, wenn du mich fragst.«
Treslove lachte. Zum einen über Tylers Scherz, zum anderen, um den Gedanken zu verscheuchen, dass Finkler neue Freunde hatte. »Weiß er, dass du sie so nennst?«
»Die verlorenen Jungs?«
»Nein, die ASCHandjiddn.«
»Oh, das ist nicht meine Erfindung. Sie nennen sich selbst so. Sie sind eine Bewegung, ins Leben gerufen, ob du es glaubst oder nicht, von meinem Ehegespons. Sie schreiben an die Zeitungen. «
»Als ASCHandjiddn?«
»Als ASCHandjiddn.«
» Klingt ein bisschen nach Selbstbeschneidung.«
»Wie das?«
»Naja, die eigene Scham zur Grundlage zu machen. Erinnert mich an die Ellen Jamesians.«
»Nie davon gehört. Noch mehr Antizionisten? Sag bloß Sam nichts davon. Sind das Antizionisten und Frauen, tritt er ihnen auf der Stelle bei.«
»Das sind ziemlich verwirrte Feministinnen aus dem Roman Garp und wie er die Welt sah von John Irving. Nie gelesen? Ein geschwätziger Amerikaner. Ringkämpfer. Schreibt auch ein bisschen so. Ich habe eine meiner ersten Sendungen über die Ellen Jamesians gemacht. Aus Solidarität mit einem Mädchen, das vergewaltigt und verstümmelt wurde, haben sich die Ellen Jamesians die Zunge herausgeschnitten. Eine reichlich selbstzerstörerische Aktion, weil sie danach ihre Wut nicht mehr wirksam zu Gehör bringen konnten. Ein prima antifeministischer Witz, finde ich, aber nicht dass du glaubst, ich sei …«
»Na ja, ich glaube kaum, dass sich jemand von denen die Zunge rausschneiden lässt. Ist ein ziemlich scharfzüng iger Haufen; die sind das Rampenlicht und den Klang ihrer Stimmen gewöhnt. Jede freie Minute telefoniert Sam mit ihnen. Und dann sind da noch diese Treffen.«
»Sie treffen sich?«
»Nicht öffentlich, soweit ich weiß. Noch nicht jedenfalls. Aber sie verabreden sich privat. Klingt ziemlich unangenehm, finde ich. Wie Gruppenbeichten. Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Sam ist ihr Oberbeichtvater. ›Ich vergebe dir, mein Kind. Sag drei Ich bin a Schand auf und fahr im Urlaub nicht nach Eilat.‹ In mein Haus kommen die mir nicht.«
»Und sie verbindet nichts weiter, als dass sie sich schämen, Juden zu sein?«
»Mann!« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das darfst du nicht sagen. Nein, sie schämen sich nicht nur für ihr Judentum, sondern für Israel, für Palästina, was auch immer.«
»Also sind sie Israelis?«
»Du weißt doch, dass Sam kein Israeli ist. Der würde nicht mal hinfahren nach Israel.«
»Ich meinte die anderen.«
»Alle kenne ich nicht, aber die Schauspieler, Komiker und sonstigen Mitglieder, von denen ich gehört habe, sind jedenfalls keine Israelis.«
»Und wieso schämen sie sich dann? Wie kann man sich für ein Land schämen, wenn es nicht das eigene Land ist?« Treslove war ernstlich durcheinander.
»Eben weil sie Juden sind.«
»Aber du hast gesagt, sie würden sich nicht dafür schämen, Juden zu sein.«
»Ganz genau. Aber sie schämen sich als Juden.«
»Schämen sich als Juden für ein Land, dessen Bürger sie nicht sind …?«
Wieder legte ihm Tyler eine Hand auf den Arm. »Sieh mal«, sagte sie, »was wissen wir denn schon? Um das begreifen zu können, müsste man schon einer von ihnen sein.«
»Einer von ihnen? Ein ASCHandjidd?«
»Ein Jude. Man muss wohl Jude sein, um zu begreifen, warum man sich dafür schämt, Jude zu sein.«
»Ich vergesse immer, dass du keine Jüdin bist.«
»Tja, bin ich nicht. Höchstens dank Adaption und großem Fleiß.«
»Aber dafür schämst du dich wenigstes nicht.«
»Ganz und gar nicht. Wenn überhaupt, dann bin ich stolz. Allerdings nicht auf meinen Mann. Für den schäme ich mich.«
»Also schämt ihr euch beide.«
»Ja, aber aus unterschiedlichen Gründen. Er schämt sich, weil er Jude ist, ich, weil er es nicht ist.«
»Und die Kinder?«
Tyler reagierte unwirsch. »Die studieren, Julian, schon vergessen? Also sind sie alt genug, eine eigene Meinung zu besitzen …, aber ich habe sie nicht als Juden erzogen, damit sie sich dann dafür schämen.« Sie lachte über ihre eigenen Worte. »Hör dir das an – habe sie als Juden erzogen.«
Wieder wollte Treslove ihr sagen, dass er sie liebte.
»Und?«, fragte er.
»Und was?«
»Und was sind sie?«
»Eines ist, eines nicht, eines ist sich unsicher.«
»Du hast drei?«
Sie tat, als wollte sie ihn schlagen, wenn auch eher kraftlos. »Du bist derjenige, der sich schämen sollte«, sagte sie.
»Ach, ich schäme mich schon, keine Sorge. Ich schäme mich für viele Dinge, nur haben die nichts mit Juden zu tun; es sei denn, ich sollte mich unseretwegen schämen.«
Sie bedachte ihn mit einem langen Blick, einem Blick, der von Vergangenem redete, nicht von der Zukunft. »Bist du uns nicht langsam leid?«, fragte sie, als wollte sie das Thema wechseln. »Nicht uns beide, sondern die Juden. Hast du nicht langsam genug davon, dass wir ständig mit uns – sie ständig mit sich – beschäftigt sind?«
»Von dir habe ich nie genug.«
»Schluss damit und antworte mir – wünschst du dir nicht, sie würden endlich aufhören, von sich zu reden?«
»Die ASCHandjiddn?«
»Alle Juden. Die sich endlos in der Öffentlichkeit darüber kabbeln, wie jüdisch sie sein sollen, ob sie es überhaupt sein sollen oder nicht, ob sie praktizieren sollen oder nicht, ob sie Schläfenlocken tragen oder Schweinespeck essen sollen, ob sie sich hier sicher oder bedroht fühlen, ob die Welt sie hasst oder nicht, der verdammte Holocaust, das verdammte Palästina …«
»Nein, kann ich nicht behaupten. Sam, vielleicht, ja. Wenn er über Palästina redet, habe ich immer das Gefühl, er rächt sich für irgendwas an seinen Eltern. Wie früher, wenn man als kleiner Junge geflucht hat – eine Herausforderung an Gott, dich zu erschlagen. Oder wenn man beweisen wollte, dass man schon zu den fluchenden Jungs gehörte. Aber das Politische verstehe ich nicht. Höchstens, dass wir uns lieber alle schämen sollten, wenn sich überhaupt wer schämen muss.«
»Genau. Die Arroganz von denen – ASCHandjiddn, um Gottes willen, als würde die Welt nur darauf warten, was ihnen ihr Gewissen sagt. Das finde ich wirklich beschämend …«
»Als Jüüüdin.«
»Ich habe dich gewarnt, dieses Wort zu benutzen.«
»Ich weiß«, erwiderte Treslove, »aber es macht mich an.«
»Trotzdem.«
»Meine Jüdin«, sagte er, »meine schamlose Jüdin.« Er zog sie an sich und hielt sie fest. Sie fühlte sich in seinen Armen kleiner an als damals, vor einem Jahr oder länger, als er sie zum ersten Mal zu umarmen versuchte. Ihre Haut ist nicht mehr so elastisch, dachte er, und ihre Kleider sind nicht mehr ganz so scharf. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als er sie zum ersten Mal umarmte, hatte er danach geblutet. In ihr steckte noch Wut, aber keine Kampfeslust mehr. Dass sie überhaupt bereit war, sich umarmen zu lassen, und in seinen Armen stillhielt, bewies, wie sehr sie sich verändert hatte. Je weniger sie wurde, desto mehr von ihr gehörte ihm.
»Ich habe es ernst gemeint«, sagte er. »Ich liebe dich wirklich. «
»Und ich habe es ernst gemeint, als ich dir für deine Freundlichkeit gedankt habe.«
Einen Moment lang kam es Treslove so vor, als wären sie die Außenseiter, sie beide allein im Dunkeln, ausgeschlossen von der Meute der anderen. Heute wollte er nicht, dass sie nach Hause ging, zurück in Sams Bett, zu Sams Penis. Ob Sam sich jetzt auch wohl für seinen Penis schämte, überlegte Treslove.
In der Schule hatte er mit seiner Beschneidung herumgeprotzt. »Das lieben die Frauen«, hatte er Treslove im Duschraum gesagt.
»Lügner.«
»Ist nicht gelogen, ist wahr.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich hab’s gelesen. Für sie ist die Befriedigung größer. Mit einem von diesen Prachtstücken hältst du ewig durch.«
Treslove las selbst darüber nach. »Du kannst es nicht so genießen wie ich«, sagte er seinem Freund. »Dir fehlt das empfindlichste Stück.«
»Empfindlich mag es ja sein, aber es sieht ziemlich eklig aus. Dein Ding will doch keine Frau anfassen. Also was nützt dir die Empfindlichkeit? Falls du den Rest deines Lebens nicht damit verbringen willst, allein empfindlich zu sein.«
»Du kannst nie spüren, was ich spüre.«
»Mit dem Ding da wirst du nie was zu spüren kriegen.«
»Wir werden ja sehen.«
»Wir werden ja sehen.«
Und jetzt? Bezog sich Finklers jüdische Scham auch auf seinen jüdischen Schwanz?
Oder war der Schwanz das an ihm, was sich einer Ausnahme von der allgemeinen Diffamierung erfreuen durfte? Konnte ein ASCHandjidd den Frauen größere Befriedigung schenken als ein schamloser Goi, ob nun Palästinenser oder nicht?
Falls denn in dem Ganzen überhaupt ein Körnchen Wahrheit steckte. Bei Juden wusste man nie, was als Scherz galt und was nicht, dabei war Finkler nicht mal ein Jude, der gern scherzte. Treslove wünschte sich, Tyler würde es ihm sagen, würde das Rätsel ein für alle Mal lösen. Hatten Frauen eine Vorliebe? Sie wäre für diesen Vergleich ideal geeignet. Ja oder nein? Hielt ihr Schmuel wirklich ewig durch? Lag es an der Vorhaut und an ihr allein, dass Tyler willens war, sich den Penis ihres Mannes anzusehen, nicht aber den ihres Liebhabers? War Treslove im unbeschnittenen Zustand wirklich zu hässlich? Hatten die Juden wenigstens das richtig hingekriegt?
Was schließlich auch erklären würde, warum sie so mit ihm herumfummelte, wie sie es tat, hinter ihrem Rücken. Versuchte sie unbewusst, ihm sein Präputium abzuzupfen?
Er hatte sie nicht gefragt. Ihm fehlte der Mut. Bestimmt hätte ihm ihre Antwort nicht gefallen. Außerdem ging es Tyler nicht so gut, dass er sie hätte fragen können.
Wenn sich die Chance bietet, soll man sie beim Schopfe packen. Treslove sollte nie eine zweite erhalten.
4
»Und? Wo ist sie?«, fragte Libor, als er Treslove die Tür aufmachte. Normalerweise drückte er nur auf den Summer, um den Freund einzulassen, doch diesmal war er eigens mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren. Er wollte der mysteriösen Angreiferin privat vorgestellt werden, die offenbar riechen konnte, welcher Religion man angehörte.
Treslove hielt Libor die Handteller hin. Leer. Dann zeigte er auf sein Herz. »Da drinnen«, sagte er.
Libor zeigte auf den Kopf seines Freundes. »Du bist dir sicher, dass sie nicht da drinnen ist?«
»Ich kann auch wieder gehen.«
»Damit du gleich wieder überfallen wirst? Geh nicht. Komm lieber und lern die anderen Gäste kennen. Übrigens feiern wir Seder.«
»Was ist Seder?«
»Seder gehört zum Pessach-Fest.«
»Ich komme ein andermal wieder.«
»Sei nicht dumm. Es wird dir gefallen. Jedem gefällt ein Sederabend. Wir werden sogar singen.«
»Ich komme ein andermal wieder.«
»Du kommst mit nach oben. Es ist eine interessante Gruppe. Alte Leute, aber interessant. Und Gott sollte ebenfalls anwesend sein. Zumindest einer seiner Engel. Wir schenken ihm ein Glas Wein ein.«
»Bist du deshalb so vornehm angezogen? Weil du einen Engel erwartest?«
Libor trug einen grauen Anzug mit grauen Streifen und einen grauen Anwaltsschlips. So viel Grau in Grau machte ihn fast unsichtbar. Treslove tat, als sähe er in Libors Jackett nach, wohin er verschwunden war.
Libor nickte. »Bist du nicht überrascht?«
»Von deinem Anzug? Ja, vor allem von der Tatsache, dass dir die Hosenbeine bis auf die Schuhe reichen.«
»Ich schrumpfe, mehr hat’s nicht zu bedeuten. Schön, dass es dir auffällt, aber ich meinte eigentlich, ob es dich nicht überrascht, dass wir Seder im September abhalten.«
»Wieso? Wann sollte man denn sonst Seder feiern?«
Libor sah ihn von der Seite an, als wollte er sagen: So viel zu deinem Judentum. »März, April – irgendwann um Ostern. Hat was mit dem Mond zu tun.«
»Also feiert ihr es früher? Mir zuliebe?«
»Wir feiern nicht früher, sondern später. Ich habe eine im Sterben liegende Uruurur irgendwas. Schwer zu glauben, ich weiß. Sie muss um die hundertvierzig sein. Jemand von Malkies Seite der Familie. Beim diesjährigen Seder ging es ihr nicht so gut, und sie fürchtet nun, dass sie für den nächsten Seder nicht mehr lang genug leben wird. Also veranstalten wir ihn für sie ein letztes Mal, ehe sie von uns geht.«
Treslove berührte Libor am grauen Ärmel. Der Gedanke, etwas finde zum letzten Mal statt, machte ihm unweigerlich zu schaffen. »Darf man das denn?«
»In den Augen eines Rabbis vielleicht nicht, aber ich finde das unwichtig. Man feiert Seder, wenn einem danach ist. Könnte ja ebenso gut mein letzter sein.«
Treslove ging darauf nicht ein. »Werde ich alles verstehen?«
»Nicht alles; wir machen Seder im Schnelldurchlauf. Rasch, solange noch Leben in uns steckt.«
Und während die alte Dame den letzten Seder ihres Lebens verschlief, verbeugte sich Treslove vor den versammelten Gästen, sagte nichts und setzte sich zu seinem ersten Seder an den Tisch.
Er kannte die Geschichte. Wer kennt sie nicht? Treslove kannte sie, weil er während seiner Schulzeit in Händels Israel in Ägypten mitgesungen hatte, einer unnötig opulenten Inszenierung, deren Finanzierung Finklers Vater unterstützte, indem er für die Kostüme auf kam und jedes Mitglied des Ensembles mit einem Satz seiner Wunderpillen versorgte, auch wenn die Kostüme nur von Finklers Mutter umgenähte Bettlaken waren und sie von den Tabletten alle Durchfall bekamen. Was Treslove sang, behielt er in Erinnerung … Der neue Pharao, der Joseph nicht kannte und über Israel Fronvögte setzte, die sie drückten mit Arbeit und mit Diensten unbarmherzig. Und die Kinder Israel schrien in ihrer harten Knechtschaft – er hatte es geliebt, im Chor gegen diese harte Knechtschaft anzuschreien –, Moses und Aaron, die Er erwählet hatte, zu tun Wunder unter ihnen, und verwandelten den Strom in Blut, woraufhin Frösche ohne Zahl selbst in des Königs innerste Gemächer drangen, schwarze Blattern die Haut verzehrten und eine dicke Finsternis sich über all das Land legte, »eine Finsternis, die man fühlen konnte«. Im Chor hatten sie dabei die Augen geschlossen und die Hände ausgestreckt, als ertasteten sie das Dunkel. Es war eine Dunkelheit, die Treslove, wenn er seine Augen schloss, immer noch zu fühlen meinte. Kein Wunder, dass Ägypten froh war, den Auszug der Israelis zu erleben, denn das Volk »fürchtete sich vor ihnen« … Job erledigt, wie er fand.
Dann aber kam Teil zwei, in dem es hauptsächlich um die Kinder Israel ging, die Gott sagten, was Er für sie getan hatte und dass es keinen gab, der Ihm gleich war.
Treslove wusste noch, dass er Finkler nach dem Konzert gefragte hatte: »Seid ihr deshalb von eurem Gott verlassen worden? Weil er sich mit euch zu Tode gelangweilt hat?«
»Gott hat uns nicht verlassen«, hatte ihm Finkler wütend geantwortet. »Komm mir bloß nicht gotteslästerlich.«
Das waren noch Zeiten!
Als Treslove sah, dass man rings um ihn in Büchern von rechts nach links las, fiel ihm Finklers Schulhofprahlerei wieder ein: »Wir können Bücher von beiden Enden lesen«, hatte er Treslove gesagt, der sich nicht einmal ansatzweise vorzustellen vermochte, wie so etwas möglich sein sollte und welche Macht der Nekromantie, welch geheimes Wissen nötig sein mussten, um derlei zu bewirken. Zudem nicht bloß irgendein altes Buch, sondern Bücher, die in so alter Schrift geschrieben waren, dass sie mit scharfem Stein in Fels geritzt gehörten, nicht bloß rückwärts auf Papier geschrieben. Kein Wunder, dass Finkler nicht träumte – er hatte in seinem Kopf keinen Platz für Träume.
Libor hatte Treslove wortlos mitten an einem langen Tisch Platz nehmen lassen, an dem schon etwa zwanzig Gäste saßen, den Kopf über Bücher gebeugt, in denen sie von rechts nach links lasen. Treslove saß zwischen einer älteren und einer jüngeren Frau – jünger, gemessen am Durchschnittsalter der Versammlung. Dachte er sich die Falten der Älteren und die Speckrollen der Jüngeren weg, könnten sie nahe Verwandte sein. Irgendwas an der Art, wie sie sich über den Tisch beugten – wie Vögel. Bestimmt waren sie Großmutter und Enkelin, vielleicht trennte sie aber auch noch eine weitere Generation, nur wollte Treslove ihnen nicht allzu neugierig in die Gesichter starren, solange sie sich in die Geschichte von der Errettung des jüdischen Volkes vertieften. Von einem allerdings konnte er den Blick kaum abwenden, von dem Buch nämlich, in dem die ältere Frau las. Es schien ein Kinderbuch mit Aufklapp- und Ausziehbildern zu sein, und er schaute fasziniert zu, wie sie das Lesen zum Kinderspiel machte, wie sie auf einer Seite ein Rädchen drehte, das die endlosen Folterqualen anzeigte, unter denen die Tag und Nacht schuftenden Israeliten litten, mal unter brennender Sonne, mal unter eisigem Sichelmond, während auf der gegenüberliegenden Seite Frösche zu sehen waren, schwarze Blattern und eine Dunkelheit, so dick, dass man sie fühlen konnte.
Als man zum Zug durch das Rote Meer kam, zog die alte Dame an einer Lasche und, schwups!, wurde dort, wo die Israeliten gerade noch das Meer sicher durchquert hatten, der Feinde Schar von den Fluten überwältigt, »dass auch nicht einer übrig blieb«. Wieder und wieder zog sie an der Lasche, und immer wieder aufs Neue ertranken die Ägypter.
Da red mir einer von Unverhältnismäßigkeit, dachte Treslove, dem einfiel, was er kürzlich von Finkler über Juden gelesen hatte, die zwei Augen für eines nahmen. Als er aber das nächste Mal hinschaute, zupfte die alte Dame verärgert an einer neuen Lasche, woraufhin ein kleiner Junge mit Kippa unterm Tisch verschwand und mit einem Stückchen Matze wieder auftauchte. Auch das ließ sie wieder und wieder geschehen. Also fand sie Vergnügen an der Wiederholung, nicht an der Rache.
Er blickte sich um, erstaunt darüber, wie anders Libors Tisch heute aussah als noch zu Malkies Zeit, anders sogar als an dem Tag, an dem er zuletzt mit Finkler hier gewesen war. So viele Finkler – wenn auch ohne Sam Finkler –, so viele Speisen, die er nicht kannte, so viele ältere Leute, versunken im Gebet, was sich nicht immer deutlich von einem Schwätzchen oder Nickerchen unterscheiden ließ.
Und dann wurde er auch schon gebeten, da er unter den anwesenden Männern der jüngste war – »Ich?«, fragte er erstaunt –, die vier Fragen vorzulesen.
»Ich würde ja, wenn ich könnte«, antwortete er. »Ich hätte sogar noch viel mehr als nur vier Fragen, aber ich kann kein Hebräisch lesen.«
»Verkehrte Reihenfolge«, sagte die alte Dame, ohne den Blick von ihrem Buch zu heben. »Über die vier Fragen sind wir längst hinaus. Nie halten wir uns in dieser Familie an die richtige Reihenfolge. Alles läuft falsch. Wer ist der Junge überhaupt? Noch eines von Bernices Kindern?«
»Bernice ist vor dreißig Jahren gestorben, Mutter«, sagte jemand am anderen Ende des Tisches.
»Dann sollte er nicht hier sein«, gab die alte Dame zurück.
Treslove wunderte sich, was er in Gang gesetzt hatte.
Die Enkelin – zumindest hielt er sie dafür, aber vielleicht war sie ja auch die Urenkelin – berührte sanft seine Hand. »Gar nicht hinhören«, flüsterte sie. »An Seder ist sie immer so. Sie liebt Seder, aber es macht sie wütend. Sind wahrscheinlich die Plagen. Sie fühlt sich deshalb ein wenig schuldig. Aber Sie brauchen nicht Hebräisch lesen zu können. Sie dürfen die vier Fragen auch auf Englisch stellen.«
»Aber ich kann nicht von rechts nach links lesen«, flüsterte Treslove.
»Wenn Sie Englisch lesen, müssen Sie das auch nicht.«
Sie schlug die Haggada auf der entsprechenden Seite auf und zeigte ihm die Stelle.
Treslove blickte hinüber zu Libor, der ihm zunickte und sagte: » Also stell die Fragen«, wobei er das Gesicht verzog, bis er einem alten Theaterisraeliten glich. »Du bist doch der Judenbub«, lautete die Botschaft, die Treslove darin las, »also stell die Fragen.«
Und sehr verlegen, mit klopfendem Herzen, tat Treslove, worum er gebeten worden war.
»Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?
Warum essen wir in dieser Nacht besonders bittere Kräuter? Warum müssen wir unser Essen in dieser Nacht zwei Mal eintauchen?
In allen anderen Nächten speisen wir sowohl aufrecht sitzend als auch angelehnt – warum speisen wir in dieser Nacht alle angelehnt?«
Es fiel ihm schwer, den Antworten zuzuhören. Das Vorlesen hatte ihn befangen gemacht. Woher sollte er wissen, wie man jüdische Fragen in einem Raum voller Juden stellte, die er nie zuvor gesehen hatte? Waren die Fragen rhetorisch gemeint? Waren sie ein Witz? Hätte er sie stellen sollen, wie sie Jack Benny oder Shelley Berman gestellt hätten, die bitteren Kräuter komisch betont? Oder hätte er sie übertrieben betonen müssen, um das Ausmaß des jüdischen Leids zu unterstreichen? Juden neigten zur Übertreibung. Hatte er übertrieben genug vorgelesen?
»Biii … ttaare« – was, wenn er so hätte sprechen sollen, mit theatralischem Schauder, etwa wie Donald Wolfit in Hamlet den Geist des Vaters spielte?
»So werden die aber nicht gelesen«, rief die alte Dame, noch ehe er die erste Frage gestellt hatte. Doch sah man einmal davon ab, dass einige »Pssst, Mutter« riefen, nahm niemand weiter Notiz von ihr. Allerdings applaudierte ihm auch niemand.
Falls die Antworten auf die Fragen denn auf irgendetwas hinausliefen, dann darauf, dass diese Geschichte erzählt und immer wieder erzählt werden sollte – »Je mehr man über den Auszug aus Ägypten redet, umso besser«, las er. Was, sofern er Finkler richtig verstand, ganz und gar nicht dessen Position entsprach. »Ach, das schon wieder, Holocaust, Holocaust«, hörte er Finkler sagen. Würde er auf Pessach genauso reagieren? »Ach, schon wieder Exodus, Exodus …«
Treslove gefiel der Gedanke, etwas immer wieder zu erzählen; seinem obsessiven Charakter kam das entgegen. Ein weiterer Beweis, falls weitere Beweise denn noch nötig waren …
Die Andacht – sofern dies das richtige Wort für eine derart formlose Veranstaltung mit so vielen Unterbrechungen war – ging ihren schleppenden Gang. Einige Grüppchen machten einander auf bestimmte Stellen aufmerksam, als gehörte es zum Vergnügen des Abends, den Anschluss zu verlieren und sich beim Zurechtfinden helfen zu lassen; manche gaben sich Gesprächen hin, deren Themen Tresloves Meinung nach nichts mit dem Abend zu tun hatten, und der ein oder andere nickte ein oder verließ den Tisch, um eine von Libors vielen Toiletten aufzusuchen und erst wiederzukommen, als die Juden Ägypten längst verlassen hatten, während ein, zwei Gäste ins Leere stierten, ohne dass Treslove hätte sagen können, ob sie fünftausend Jahre zurück an den Auszug ihres Volks aus Ägypten oder an das eigene Dahinscheiden in nächster Zukunft dachten.
»Hier sind nicht genug Kinder«, sagte ein alter Mann, der Treslove gegenübersaß. Seine Haut war schlaff und abgewetzt; unter einem Schock übertrieben schwarzer Haare funkelte er den Tisch an, als hätte ihm jeder Anwesende auf die ein oder andere Weise übel mitgespielt.
Treslove sah sich um. »Ich glaube, es sind gar keine Kinder hier«, erwiderte er.
Der alte Mann starrte ihn wütend an. »Das habe ich doch gerade gesagt. Warum hörst du nicht zu, wenn ich was sage? Es sind keine Kinder hier.«
Zum Pessachmahl, offenbar dem Ende aller Liturgie, kamen die Gäste wieder an den Tisch. Treslove aß, was ihm vorgesetzt wurde, erwartete aber nicht, dass es ihm schmeckte. Zwischen zwei Scheiben Matze gek latschte bittere Kräuter – »Um uns an die bitteren Zeiten zu erinnern, die wir durchgemacht haben«, sagte jemand, der jetzt auf dem Platz der Frau saß, die ihm mit den vier Fragen geholfen hatte. »Und immer noch durchmachen, soweit es mich betrifft«, sagte jemand anderes; einer Erklärung, der ein dritter Gast widersprach, der meinte: »Unsinn, das soll an den Zement erinner n, mit dem wir die Pyramiden gebaut haben – mit bloßen Händen.« Anschließend gab es Ei in Salzwasser (»Das symbolisiert unsere Tränen; die Tränen, die wir vergossen haben«), dann Hühnersuppe mit knejdl und danach noch mehr Hühnersuppe, diesmal mit Kartoffeln, ein Gericht, das, soweit Treslove wusste, gar nichts symbolisierte. Das gefiel ihm. Essen, das nichts symbolisierte, war leichter zu verdauen.
Libor kam und fragte, wie er zurechtkomme. »Magst du Hühnersuppe?«, fragte er.
»Ich mag alles, Libor. Hast du selbst gekocht?«
»Ich habe ein Team von Frauen. Hühnersuppe symbolisiert das Vergnügen, das jüdische Männer empfinden, wenn sie ein Team von Frauen für sich kochen lassen.«
Wenn Treslove jedoch glaubte, mit dem Mahl fänden die Zeremonien ein Ende, hatte er sich getäuscht. Kaum waren die Teller abgeräumt, begann man aufs Neue, sagte Gott Dank für seine anhaltende, liebevolle Güte, sang Lieder, die jedermann kannte, übte sich in Kritteleien, auf die niemand reagierte, und gab Feinheiten der gelehrten Auslegung jüdischer Historie zum Besten. Treslove staunte. Rabbi Jehoschua hatte dies gesagt, Hillel jenes getan. Über Rabbi Eliezer erzählte man sich folgende Geschichte … Dieser Abend rief nicht nur ein lang vergangenes Ereignis in Erinnerung, sondern das kollektive Wissen eines ganzen Volkes.
Seines Volkes.
Als es angebracht schien, stellte er sich der Frau vor, die er für die Urenkelin der alten Dame hielt. Nachdem sie mit einigen Leuten im hintersten Winkel des Zimmers gesprochen hatte, nahm sie ihren Platz wieder ein und wirkte dabei wie eine müde Reisende, die von anstrengender Fahrt zurückkehrte. »Julian«, sagte er und zog dabei die erste Silbe in die Länge.
»Hephzibah«, sagte sie und reichte ihm ein pummeliges, mit vielen Silberringen verziertes Händchen. »Hephzibah Weizenbaum.«
Selbst ihren Namen auszusprechen schien sie zu ermüden.
Treslove lächelte und wiederholte »Hephzibah Weizenbaum«, stolperte aber über das Ph, das sie wie irgendwas zwischen einem H und einem F aussprach, was er aber aus unerfindlichem Grund – etwas Fink lerisches? – nicht hinbekam. »Hepzibah«, sagte er. »Hepzibah, Heffzibah, ich schaff’s nicht. Was für ein schöner Name.«
Sie musterte ihn amüsiert. »Danke«, sagte sie und bewegte dabei ihre Hände stärker, als er es für nötig befunden hätte, »wie immer Sie ihn auch aussprechen.«
Ihre Ringe verwirrten ihn. Sie sahen aus, als wären sie in einem Hell’s-Angel-Shop gekauft worden. Nur wo ihre Kleider herkamen, das wusste er. Hampstead Bazaar. Unweit seiner Wohnung in Hampstead gab es einen Basar, in den er manchmal auf dem Heimweg einen Blick warf und sich fragte, warum noch keine Frau, der er einen Heiratsantrag gemacht hatte, wie die vielschichtig gewandeten Modelle im Schaufenster ausgesehen hatte. Im Hampstead Bazaar gab es Kleider für Frauen, die etwas zu verbergen hatten, da aber Tresloves Frauen nur aus Haut und Knochen bestanden, war er selbst das Einzige, das sie zu verbergen suchten. Was wäre gewesen, fragte er sich, wenn er einen anderen Frauengeschmack hätte? Hätte es eine Frau mit fülligerer Figur länger bei ihm ausgehalten? Hätte er mit ihr sein Glück finden können? Bei ihr zur Ruhe kommen können?
Hephzibah Weizenbaum trug ein Zeltkleid, das den Nahen Osten herauf beschwor. In der Oxford Street gab es ein arabisches Geschäft, das Parfüm in den Verkehr versprühte. Wenn Treslove kein bestimmtes Ziel hatte, blieb er dort manchmal stehen und holte tief Luft. So roch Hephzibah Weizenbaum – nach Autoabgasen, Touristenscharen und dem Euphrat, an dem alles begonnen hatte.
Sie lächelte und erriet nicht, was er dachte. Das Lächeln umfing ihn, trug ihn wie warmes Wasser einen Badenden im Schwimmbecken. Er spürte, wie er im Blick ihrer eher purpurfarbenen als schwarzen Augen schwebte. Ohne zu begreifen, was er tat, tätschelte er mit den Fingern ihren Handrücken. Und sie tätschelte ihn ihrerseits mit ihrer freien Hand. Die Silberringe taten auf erregende Weise weh.
»So«, sagte er.
»So«, erwiderte sie.
Sie hatte eine Stimme, warm wie geschmolzene Schokolade. Bestimmt war sie voller Schokolade, dachte Treslove. Was Übergewicht anging, war er normalerweise pingelig, entschied aber, dass es ihr gut stand, so umhüllt und dem Blick verborgen.
Sie hatte ein kräftiges Gesicht, breite Wangenknochen – eher mongolisch als nahöstlich –, volle Lippen und ein lebhaftes Mundwerk. Spöttisch, doch ohne ihn oder die Zeremonie zu verspotten. Einfach spöttisch.
War er in sie verliebt?
Er nahm es an, auch wenn er nicht sicher wusste, wie er jemanden lieben sollte, der so gesund aussah.
»Wohl Ihre erste, wie?«, fragte sie.
Treslove war erstaunt. Woher wusste sie, dass sie seine erste gesund aussehende Frau war?
Sie bemerkte seine Verwirrung. »Ihre erste Pessachfeier«, sagte sie.
Erleichtert lächelte er. »Ja, aber hoffentlich nicht meine letzte«, antwortete er.
»Dann darf ich nicht vergessen, Sie zu meiner einzuladen«, sagte sie und richtete den Strahl ihrer Augen auf ihn.
»Das wäre schön«, erwiderte Treslove und hoffte, nicht sein fremdartiges Aussehen, sondern seine Unvertrautheit mit den Ritualen hatte ihr verraten, dass dies seine erste Pessachfeier war.
»Libor hat oft von Ihnen erzählt«, sagte sie. »Von Ihnen und Ihrem Freund.«
»Sam.«
»Ja, Sam. Julian und Sam; mir ist, als würde ich sie beide schon ewig kennen. Übrigens stamme ich von Malkies Seite der Familie ab und bin daher Libors angeheiratete Großgroßnichte, vielleicht aber auch seine Großgroßgroßkusine.«
»Ist hier jeder ein Großgroßgroßverwandter von der Person, neben der er sitzt?«
»Ja, es sei denn, man ist noch enger verwandt.«
Mit einem Kopfnicken wies er in Richtung der alten Dame. »Und sie ist …?«
»Sie ist meine irgendwas. Fragen Sie bloß nicht, was genau. Letztlich sind alle Juden Urururverwandte von irgendwem. Dreimal Ur ist übrigens okay, sechsmal kommt nicht infrage.«
»Eine große, glückliche Familie?«
»Glücklich, das weiß ich nicht, aber Familie, ja. Kann ziemlich nerven.«
»Es würde Sie nicht nerven, wenn Sie nie eine große Familie gekannt hätten.«
»Sie haben keine?«
»Nur Vater und Mutter, mehr nicht.«
Plötzlich fand er, dass er sich wie ein Waisenkind anhörte, und hoffte, das Drama seiner Einsamkeit brachte sie nicht zum Weinen. Höchstens ein paar Tränen …
»Was hätte ich nicht manchmal dafür gegeben, nur einen Vater und eine Mutter gehabt zu haben, mehr nicht.« Hephzibahs Bemerkung überraschte ihn. »Und weiß Gott, ich vermisse sie.«
»Sie sind nicht hier?«
»Von uns gegangen. Seither halten mich die meisten hier für eine Art Universaltochter.«
(Und Mutter, fragte sich Treslove.)
»Haben Sie Geschwister?«
»Eigentlich nicht. Und deshalb hält man mich auch für eine Art Universalschwester. Ich habe Tanten, ich habe Onkel, ich habe Vettern und Kusinen, ich habe Kusinen von Kusinen, gebe ein Monatsgehalt für Geburtstagskarten aus und erinnere mich kaum an die Hälfte der Namen.«
»Eigene Kinder?« Treslove ließ seine Frage beiläufig klingen, fast, als erkundige er sich nach dem Wetter: »Finden Sie es heute auch so kalt?«
Sie lächelte. »Noch nicht. Hat keine Eile.«
Treslove, der es bislang nicht so mit Babys gehabt hatte, sah nun die Babys vor sich, die sie beide haben würden, denn diesmal sollte alles anders sein. Jakob, Esther, Ruth, Moische, Isaak, Rachel, Abraham, Lea, Leopold, Lazarus, Miriam … Langsam gingen ihm die Namen aus. Samuel – nein, kein Samuel –, Esau, Eliezer, Bathseba, Enoch, Isebel, Tabitha, Tamar, Judith …
Hudith.
»Und Sie?«, fragte sie.
»Geschwister? Nein.«
»Kinder?«
»Zwei. Söhne. Beide erwachsen. Allerdings habe ich bei ihrer Erziehung kaum eine Rolle gespielt und kenne sie eigentlich gar nicht richtig.«
Er wollte nicht, dass sich Hephzibah – Heppzibah … Heffzibah – Weizenbaum von seinen Kindern bedroht oder ausgeschlossen fühlte. Sie sollte wissen, dass in ihm noch mehr Kinder steckten.
»Sie und ihre Mutter sind geschieden?«
»Mütter. Ja. Nun ja, nicht gerade geschieden. Wir waren nur zusammen. Haben aber natürlich getrennt gelebt. Hielt beide Male nicht lang.«
Er wollte auch nicht, dass sie sich von den Müttern seiner Kinder bedroht oder ausgeschlossen fühlte, ebenso wenig aber, dass sie ihn für eine Eintagsfliege, eine Einnachtfliege hielt. Also machte er irgendwas mit seinen Schultern, das sie hoffentlich für einen Ausdruck seines Kummers hielt, übertrieb es aber nicht.
»Wenn Sie nicht darüber reden mögen …«, sagte sie.
»Nein, nein. Die Runde hier kommt mir nur wie eine große Familie vor, und mit Familie hatte ich es nicht besonders … « – »Noch nicht«, wollte er hinzusetzen, begriff aber, wie falsch das in ihren Ohren klingen musste.
»Idealisieren Sie uns nicht«, warnte sie ihn und wedelte dabei mit ihrer beringten Hand.
Uns.
Bei diesem Wort schmolz er dahin.
»Warum nicht?«
»Aus all den üblichen Gründen. Und bewundern Sie unsere Warmherzigkeit nicht allzu sehr.«
Unsere.
Treslove musterte sie gefasst, obwohl ihm war, als ob der Boden unter seinen Füßen schwankte. »Dann werde ich das auch nicht tun«, sagte er entgegenkommend. »Ich frage mich bloß, warum wir nie von Libor vorgestellt wurden, obwohl er doch, wie Sie sagen, so oft von uns gesprochen hat. Warum hat er den Mantel des Schweigens über Sie gebreitet?«
Der Mantel des Schweigens – wohl kaum besonders taktvoll.
Wäre er nicht noch vom Lesen der vier Fragen rot gewesen, wäre er spätestens jetzt rot geworden. Wenn auch wohl nicht allein aus Taktmangel, sondern auch wegen fehlender Zurückhaltung. »Wo bist du mein Leben lang gewesen?«, schien seine Miene zu fragen.
Sie schloss den Mund und zuckte die Achseln, eine Geste, die sie, wie Treslove fand, angesichts dessen, was dabei mit der Haut unter ihrem Kinn passierte, lieber bleiben lassen sollte. Er würde ihr das auf nette Art sagen, wenn sie erst einmal verheiratet waren.
Dann lachte sie, als hätte sie einen Moment gebraucht, um seine Frage zu verstehen. »Da wäre aber ein riesiger Mantel vonnöten gewesen«, sagte sie und zog das Schultertuch fester um sich, den Kasak oder was immer es war.
Er wusste seine Verlegenheit kaum zu verbergen. »Tut mir leid«, sagte er.
»Muss es nicht.«
Er hielt ihrem Blick stand und suchte nach einer Frage, deren Antwort ihre Gesichter näher zusammenbringen würde. »Hepzibah«, sagte er. »Heffzibah …«, doch machte ihr Name ihn so unsicher, dass er über die Frage stolperte.
Trotzdem rückte sie mit dem Gesicht näher. »Hören Sie«, sagte sie, »wenn mein Name ein zu großes Wort für Sie ist…«
»Nein, geht schon.«
»Wenn aber doch …«
Diesmal zeigte er ihr die Zähne. »Glauben Sie mir, ist er wirklich nicht.«
»Wenn aber doch, nun, meine Freunde nennen mich Juno.«
Treslove hielt sich an der Stuhllehne fest. »Juno? Juno!«
Sie wusste nicht, warum er so erstaunt reagierte, und strich mit den Händen an sich herab, zeigte sich, zeigte ihren Leibesumfang. Was ihre Figur anging, machte sie sich keine Illusionen. »Wie die Kriegsgöttin«, sagte sie lachend.
Er stimmte in ihr Lachen ein. Versuchte es zumindest. Lachte jovial wie ein Kriegsgott.
»Ich fürchte nur«, fügte sie dann rasch hinzu, »dass der eigentliche Grund weit prosaischer ist. Ich habe in der Schule nämlich die Juno in Juno und der Pfau gespielt.«
»Juno? Kennt Jud eine Juno?«
Verwirrt schaute sie ihn an.
Immerhin, das war doch was, dachte Treslove. Also haben nicht alle Finkler ein Faible für Wortspiele. Dabei wäre er für sie durchaus bereit, sämtliche Tricks verbaler Spaßvogelei aus dem Finkler-Buch hochsemantischer Albernheiten zu lernen. Worte besaßen für Finkler eine numerische Bedeutung, das hatte er irgendwo gelesen. Selbst der Name Gottes war für sie ein Wortspiel und verwies auf etwas anderes. Wenn er Juno zu beziffern und zu dekodieren wüsste, würde der Name bestimmt bedeuten: Tresloves Stunde hat geschlagen.
Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?
Die Frage beantwortete sich selbst.
Juno, Juno, Himmelherrgott!