ZEHN
1
Mit der Zeit begann Treslove zu glauben, er habe durchaus Grund zu der Annahme, dass Finkler ein Auge auf Hephzibah geworfen hatte. Sollte dies weit hergeholt klingen, dann vielleicht deshalb, weil Tresloves Verdacht weit hergeholt war.
Eigentlich gab es nämlich nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Finkler ein Auge auf Hephzibah geworfen hatte, doch beschloss er, ihn dennoch zu verdächtigen. Es war nichts, was er gesehen, was Finkler oder Hephzibah gesagt hätte, nur ein Gefühl. Und für die Eifersucht ist ein Gefühl Grund genug.
Er nahm es hin, dass dieses Gefühl ein Sprössling seiner Hingabe war. Wenn man eine Frau derart liebt, bleibt es nicht aus, dass man glaubt, jeder andere Mann müsse ebenfalls in sie verliebt sein. Nur hatte er bei keinem anderen Mann Grund zu der Annahme, dass er ein Auge auf Hephzibah geworfen haben könnte. Bloß bei Finkler.
Finkler hatte sich verändert, keine Frage. Er wirkte nicht mehr so von sich überzeugt, hielt den Kopf anders. Wenn er mit Libor zum Essen kam, war er still und ließ sich nur ungern auf Isrrrae ein. Soweit Hephzibah wusste, und im Bescheidwissen war Hephzibah ein Profi, hatte er sich mit seinen Mitrepräsentanten der jüdischen ASCHandheit wegen eines vorgeschlagenen akademischen Boykotts zerstritten. Wie ernst das Zerwürfnis war, konnte sie allerdings nicht sagen.
»Bestimmt will er nicht auf eine kostenlose Vortragsreise nach Jerusalem, Tel Aviv und Eilat verzichten«, vermutete Treslove.
»Julian!«, ermahnte ihn Hephzibah.
(Sag ich’s doch, dachte Treslove.)
»Was denn?«
»Weißt du das genau?«
Treslove gab zu, es nicht zu wissen, doch kenne er seinen Freund.
»Nun, manchmal frage ich mich, ob das wirklich stimmt«, sagte Hephzibah.
(Sag ich’s doch!)
Selbst mit Treslove legte sich Finkler seltener an, als spüre er die Veränderungen, die auf Hephzibahs Einfluss zurückgingen. Hieß das, er sah Treslove in anderem Licht? Oder wollte er selbst etwas von dem, was Treslove für sich gefunden hatte?
Allerdings war Hephzibah bestimmt nicht Finklers Typ, vor allem nicht, wenn man Tyler als Maßstab nahm. Treslove wusste, dass Finkler stets Geliebte gehabt hatte. Auch Jüdinnen, wie er von Tyler wusste, die er sich allerdings nicht vorstellen konnte. Die tiefe, dunkle Kluft zwischen Ronit Kravitz’ Brüsten wäre, wenn er sie denn gesehen hätte, gewiss eine Überraschung für ihn gewesen. Sooft er über Finklers Geliebte nachdachte, stellte er sie sich als jüdische Versionen von Tyler vor, die für ihn ja immer eine Jüdin gewesen war. Rasiermesserscharfe Frauen mit kantigem Kinn, denen eng anliegende Hosenanzüge lieber waren als Roben und Tücher. Frauen, die mit Stilettos und Bügelfalten durchstarteten, keine Frauen, die langsam niederschwebten, in weite Stoffbahnen gehüllt. Also keine, die Hephzibah auch nur entfernt ähnlich sahen. Was zweierlei bedeuten konnte: Entweder hatte es Finkler auf Hephzibah abgesehen, weil er es Treslove für irgendwas heimzahlen wollte, oder er war einer Frau verfallen, die seinen Erfahrungen und Vorlieben völlig widersprach, und falls Letzteres, hatte er sich bestimmt Hals über Kopf in sie verknallt. Genau wie Treslove sich verknallt hatte. Genau wie Treslove immer noch verknallt war. Die große Frage aber lautete: Was empfand Hephzibah? War sie ebenfalls verknallt?
Nach einigen Tagen, in denen es ungewöhnlich ruhig zwischen ihnen geblieben war, kam er schließlich im Bett darauf zu sprechen. Zu der Zeit wusste er nicht, dass sie ihm Informationen über den zweiten Anschlag aufs Museum vorenthielt.
»Sollten wir Sam nicht bald einmal wieder zum Abendessen einladen?«, fragte er. »Mit Libor? Ich glaube, er ist einsam.«
»Libor? Natürlich ist er einsam.«
»Nein, Sam.«
Hephzibah nippte an ihrem Tee. »Wenn du magst.«
»Nein, nur wenn du magst.«
»Ja, ich mag.«
»Ihn? Oder den Gedanken an ein Abendessen?«
»Das musst du mir erklären.«
»Gefällt dir ganz allgemein der Gedanke, dass jemand zum Abendessen kommt, oder gefällt es dir vor allem, Sam zu uns einzuladen?«
Sie stellte die Teetasse ab und rollte sich auf seine Betthälfte. Er liebte es, wie die Matratze wogte, wenn Hephzibah sich auf ihn zubewegte. An ihr war alles monumental. Von Anfang an hatte in ihrer Gesellschaft die Erde gebebt, das Meer sich aufgebäumt, der Himmel sich zugezogen. Sie zu lieben war, als überlebte man ein elektrisches Unwetter. Und in manchen Nächten hätte es ihm nichts ausgemacht, es nicht zu überleben. Doch war auch jeder Morgen voller Versprechen. Irgendwas würde gesagt werden. Irgendwas würde geschehen. Mit ihr verging kein Tag, der kein Ereignis war.
So anders als die Mütter seiner Söhne, deren Schwangerschaften er gar nicht bemerkt hatte.
Allerdings hatten sie ihn auch verlassen, sobald sie merkten, dass sie schwanger waren.
Trotzdem hätte er wenigstens merken sollen, dass sie ihn verlassen hatten.
»Was soll das? Worum geht’s hier?«, fragte Hephzibah, nachdem sie schließlich in jenem kleinen Winkel des Bettes zur Ruhe gekommen war, der ihm gehörte.
»Das? Nichts. Ich habe mich bloß gefragt, ob es dir gefällt, jemanden zum Abendessen einzuladen.«
»Ein Abendessen mit Sam?«
»Aha, das mit Sam gefällt dir also, ich meine, ein Essen mit Sam?«
»Worum geht’s hier, Julian?«
»Ich frage mich, ob du eine Affäre mit ihm hast.«
»Mit Sam?«
»Oder zumindest daran denkst, eine Affäre mit ihm zu haben.«
»Mit Sam?«
»Siehst du? Du kannst kaum aufhören, seinen Namen zu wiederholen.«
»Warum, Julian, sollte ich eine Affäre haben oder auch nur daran denken, eine Affäre zu haben? Ich habe doch schon eine Affäre mit dir.«
»Das hält andere Leute auch nicht davon ab.«
»Würde es dich nicht davon abhalten?«
»Mich? Ja, aber ich bin nicht wie andere Leute.«
»Stimmt«, sagte sie, »aber das bin ich auch nicht. Davon solltest du lieber ausgehen.«
»Gut, dann tue ich das.«
Sie wollte, dass er sie anschaute. »Ich habe kein Interesse an Sam Finkler«, sagte sie. »Ich finde ihn weder interessant noch attraktiv. Er ist die Art jüdischer Mann, der ich schon mein Leben lang aus dem Weg zu gehen versuche.«
»Und was ist das für eine Art Mann?«
»Arrogant, herzlos, egoistisch, ehrgeizig und davon überzeugt, die eigene Klugheit mache ihn unwiderstehlich.«
»Nach all dem, was du mir erzählt hast, klingt das wie eine Beschreibung deiner beiden Exehemänner.«
»Ganz genau. Wenn ich nicht mit einem von ihnen verheiratet war, bin ich ihnen aus dem Weg gegangen. Und seit ich mit ihnen verheiratet war, habe ich sie gemieden.«
»Aber man meidet doch nur, was man fürchtet. Fürchtest du dich vor Sam?«
Sie lachte laut. Zu laut?
»Na ja, das würde ihm sicher gefallen, aber ich tu’s nicht. Was für eine merkwürdige Frage. Kann es sein, dass du dich vor Sam fürchtest?«
»Ich? Warum sollte ich Sam fürchten?«
»Aus demselben Grund wie ich.«
»Aber du hast doch gesagt, du tust es nicht.«
»Und du hast gesagt, du glaubst mir nicht. Hattet ihr während der Schule was miteinander?«
»Sam und ich? Gott bewahre.«
»Sei nicht so entsetzt. Jungs machen doch so was, oder nicht?«
»Nicht die Jungs, die ich gekannt habe.«
»Wäre vielleicht besser gewesen. Ich glaube, es ist immer gut, so etwas frühzeitig aus dem Weg zu räumen. Meine beiden Männer hatten beide was in der Schule.«
»Miteinander?«
»Nein, du Blödmann. Sie haben sich gar nicht gekannt. Mit anderen Jungen.«
»Tja, aber es hat dich nicht glücklich gemacht, mit ihnen verheiratet zu sein.«
»Doch nicht deshalb. Ich habe die ganze Zeit nur auf dich gewartet.«
»Den Goi?«
Sie schlang ihre mächtigen Arme um ihn und zog ihn an ihren Busen. »Ehrlich gesagt, als Goi bist du eigentlich eine Enttäuschung. Die meisten Gojim, die ich kenne, verbringen ihre Zeit nicht damit, Maimonides zu lesen und sich jiddische Kosenamen auszudenken.«
Er ließ den Sturm über sich hinwegfegen, ein wilder Ritt in wogender See. Wenn sie ihn auf diese Weise hielt, sah er nichts, doch war die Farbe, die seine erblindeten Augen sahen, die Farbe sich brechender Wellen.
»Neschomele«, sagte er in ihr Fleisch.
Lange konnte er es nicht dabei belassen. Über sein Fünf-Pfannen-Omelett gebeugt, sagte er am nächsten Tag: »Gibt es da eine besondere Bindung?«
»Zwischen wem?«
»Juden.«
»Kommt auf die Juden an.«
»Ist es wie schwul sein? Habt ihr ein besonderes Radar, ein ›Judar‹, mit dem ihr euch gegenseitig erkennt?«
»Kommt wieder drauf an. Es passiert selten, dass ich jemanden für einen Juden halte, wenn er keiner ist, aber in einem Gespräch weiß ich oft auch nicht, ob ich mich mit einem Juden unterhalte, selbst wenn er einer ist.«
»Und wonach hältst du Ausschau?«
»Nach nichts.«
»Wieso weißt du es dann?«
»Kann ich nicht erklären. Es ist nicht bloß das eine, eher eine Vielzahl von Dingen. Gesichtszüge, Mimik, eine Art zu reden, sich zu bewegen.«
»Geht es um was Rassisches?«
»Rassisch würde ich das nicht nennen, nein.«
»Um was Religiöses?«
»Nein, definitiv nichts Religiöses.«
»Um was dann?«
Sie wusste es nicht.
»Aber es gibt dann da eine Verbindung.«
»Kommt wieder drauf an.«
»Und mit Sam?«
»Was ist mit Sam?«
»Gibt es da für dich eine Verbindung?«
Sie seufzte.
Sie seufzte auch, als Treslove später erneut auf Sam zu sprechen kam. Und dann noch einmal. Sie hatte geglaubt, sein Argwohn wäre ausgeräumt. Doch beim dritten Mal seufzte sie nicht allein deshalb. Seltsamerweise hatte ihr Sam nämlich an diesem Nachmittag einen Besuch im Museum abgestattet. Das hatte er noch nie getan. Und erklären konnte sie sich seinen Besuch auch nicht. Als sie ihn sah, war ihr, als hätten ihn die Gespräche mit Treslove herauf beschworen, als hätte ihn Tresloves Wille hergeführt.
Es dürfte ihn selbst überrascht haben, dass sie ihn mit offenem Mund empfing.
»Wie komme ich zu diesem Vergnügen?«, fragte sie, als sie ihm die Hand reichte.
Sie kannte die Antwort. Die Ängste ihres Lovers hatten ihn hergeführt.
»Ach, ich fuhr gerade vorbei und dachte, ich schau mal rein«, sagte er. »Sehe mir an, wie’s vorangeht. Ist Julian da?«
»Nein, er kommt nicht mehr her. In diesem Stadium kann er hier nicht viel tun.«
Er blickte sich um, betrachtete die Vitrinen, die Wandbilder, die Reihen mit Computern und Kopfhörern. An der hinteren Wand fielen ihm Fotos mit Sir Isaiah Berlin und Frankie Vaughan auf. Nie zusammen.
»Sieht doch schon fast fertig aus«, sagte er.
»Ja, aber es ist noch nichts angeschlossen.«
»Also kann ich meinen Stammbaum noch nicht erforschen?«
»Wusste gar nicht, dass du das wolltest.«
Er zuckte mit den Achseln. Wer wusste schon, was er wollte? »Wie wär’s mit einer Führung?«, fragte er. »Oder bist du zu beschäftigt?«
Sie schaute auf die Uhr. »Ich habe zehn Minuten für dich«, sagte sie. »Aber nur, wenn du versprichst, nicht so ironisch zu sein wie bei unserem letzten Gespräch. Denk dran, dies ist kein Holocaust-Museum.«
Er lächelte. So unattraktiv, dachte sie, war er gar nicht.
»Ach«, sagte er, »das würde mir auch nichts ausmachen.«
2
Als er Hephzibah sagte, dass Finkler sich anscheinend einsam fühlte, vergaß Treslove zu erwähnen, was ihn, außer der eigenen Angst vor der Einsamkeit, auf diesen Gedanken gebracht hatte, nämlich die SMS von Alfredo: »Hab deinen durchgeknallten TV-Kumpel auf Nuttensuche ertappt und mich gewundert, dass du nicht bei ihm warst.«
Treslove schrieb zurück: »Woran erkennst du, dass ein Mann auf Nuttensuche ist?«
Für die Antwort brauchte Alfredo ein paar Tage: »Ihm hängt die Zunge aus dem Hals.«
Treslove schrieb: »Du bist nicht mein Sohn«, drückte aber nicht auf die Sendentaste. Er wollte sich von Alfredo keine Breitseite in Sachen Vernachlässigung der Elternpflichten einfangen.
Hephzibah einmal außen vor gelassen, bedauerte er Finkler, falls Alfredos Vermutung zutraf, und bedauerte ihn fast noch mehr, falls sie nicht zutraf und Finkler nur wie ein Mann aussah, auf den weder ein Heim noch eine treusorgende Frau warteten.
Es war schrecklich, die Frau zu verlieren, die man liebte.
3
»Bestimmt bildest du dir das nur ein«, sagte Libor. Treslove hatte ihn in die wiedereröffnete Nosh-Bar in der Windmill Street zu einem Salt-Beef-Sandwich eingeladen. Jahre zuvor war Libor mit Treslove und Finkler hier gewesen, da dies zu seinem Plan gehörte, die jungen Männer in jene geheimen Vergnügungen der Stadt einzuweihen, die er selbst sehr schätzte. Ein Salt-Beef-Sandwich in Soho, das war für Treslove damals wie ein Abstieg in die Unterwelt kosmopolitischer Zügellosigkeit. Er hatte sich gefühlt, als erlebe er die letzten Tage des Römischen Reiches, auch wenn die Römer kaum Sandwich mit gesalzenem Rindfleisch gekannt haben dürften. Jetzt fragte er sich allerdings, ob er nicht die letzten Tage seiner selbst erlebte.
Und wie es aussah, auch die von Libor. Gewissenhaft trennte der alte Mann das Rindfleisch vom Roggenbrot, da Letzteres nicht leicht zu verdauen war, dann aber rührte er das Fleisch nicht an. Er hatte ohne Senf verlangt. Er wollte auch keine eingelegten Gurken.
Er aß nicht mehr, er zerlegte sein Essen nur noch.
Früher hätte er aus dem Fenster geschaut und die Parade der zügellosen Scharen genossen. Heute blickte er wie mit geschlossenen Augen hinaus. Ich habe ihm mit meiner Einladung keinen Gefallen getan, dachte Treslove.
Allerdings war die Einladung auch nicht als Gefallen für Libor gedacht gewesen; Treslove selbst hatte sie bitter nötig.
»Warum sollte ich mir das einbilden?«, fragte er. »Ich bin glücklich. Ich bin verliebt. Und ich glaube, meine Liebe wird erwidert. Wieso sollte ich etwas so Schreckliches heraufbeschwören wollen?«
»Aus dem üblichen Grund«, erwiderte Libor.
»Komm mir nicht tschechisch. Was ist das für ein Grund?«
»Der Grund, dem all unsere Ängste entstammen, der Ort, der unsere Sehnsucht nach dem Ende aller Dinge birgt.«
»Das wird ja immer tschechischer. Ich habe keine Sehnsucht nach dem Ende aller Dinge.«
Libor lächelte und legte eine alte, zittrige Hand auf seine Finger. Von alt und zittrig einmal abgesehen, erinnerte ihn diese Geste an Hephzibah. Warum musste ihn nur jedermann tätscheln?
»Mein Freund, in all den Jahren, in denen ich dich kenne, hast du dich nach dem Ende der Dinge gesehnt und dich dein Leben lang darauf vorbereitet, immer kurz davor, in Tränen auszubrechen. Selbst Malkie hat das gemerkt. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie Schubert spielen sollte, wenn du bei uns warst. Der da braucht keine weitere Aufforderung, hat sie gesagt.«
»Aufforderung wozu?«
»Dich in die Flammen zu stürzen. Darum geht es doch, darum bist du mit meiner Nichte zusammen und liest Maimonides.«
»Hephzibah ist für mich doch kein Flammenmeer.«
»Nein? Was machst du dir dann für Sorgen? Ich glaube, du bekommst, was du haben wolltest, dieses ganze jüdische gescheft. Du siehst darin einen direkten Weg in die Katastrophe, und ich will durchaus nicht behaupten, dass du unrecht hättest.«
Was für ein Blödsinn, wollte er sagen, aber man lädt einen alten Mann nicht zu einem Salt-Beef-Sandwich ein, das er nicht mehr verdauen kann, und sagt ihm dann, dass er Blödsinn redet. »Ich weiß gar nicht, was du sagen willst«, erwiderte er stattdessen.
Libor zuckte mit den Achseln. Wenn nicht, dann nicht. Ihm fehlte die Kraft zum Streiten, auch wenn er sehen konnte, dass Treslove mehr brauchte. »Der Sündenfall, die Sintflut, Sodom und Gomorrha, das Ewige Gericht, Masada, Auschwitz – sieht man einen Juden, denkt man Armageddon«, sagte er. »Wir erzählen gute Schöpfungsgeschichten, Apokalypsen können wir aber noch besser. Wir sind am Beginn und am Ende von allem, und jeder will dabei sein. Wer uns nicht mit Mistgabeln in die Flammen treiben kann, möchte schreiend mit uns untergehen. Entweder oder. Vom Temperament her hast du dich immer fürs oder entschieden.«
»Du klingst wie deine Großgroßnichte.«
»Kein Wunder, wir sind ja auch Familie, weißt du.«
»Aber Libor, ist das nicht alles, wie Finkler sagen würde, ein wenig solipsistisch? Wenn es nach dir geht, kann niemand den Juden entrinnen.«
Libor schob den Teller beiseite. »Stimmt, niemand kann den Juden entrinnen«, sagte er.
Treslove starrte aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Seite der schmalen Straße versuchte eine unansehnlich dicke Frau in kurzem Rock Männer zu überreden, sie in einen Club zu begleiten, den freiwillig wohl nur ein sehr verzweifeltes oder ziemlich gestörtes Wesen betreten würde. Sie merkte, dass Treslove zu ihr herübersah und winkte ihm zu. Bring deinen Freund mit, besagte die Geste. Bring auch das Salt-Beef-Sandwich mit. Er senkte den Blick.
»Und du glaubst«, nahm er den Faden wieder auf, »ich würde mir einreden, Hephzibah habe was mit Sam, um meinen eigenen Untergang zu beschleunigen?«
Libor wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum. »Das wollte ich damit nicht sagen, doch wer stets mit dem Schlimmsten rechnet, wird stets das Schlimmste sehen.«
»Ich habe überhaupt nichts gesehen.«
»Eben.«
Treslove stemmte die Ellbogen auf den Tisch. »Da du sagst, Hephzibah gehört zu deiner Familie, Libor, verrat mir doch deine eigene Ansicht. Glaubst du, sie würde so etwas machen?«
»Mit Sam?«
»Mit irgendwem.«
»Nun, nur weil sie zur Familie gehört, ist sie nicht anders als andere Frauen. Aber ich war nie der Ansicht, Frauen seien von Natur aus flatterhaft. Ich habe da meine eigenen Erfahrungen gemacht. Malkie hat mich nie betrogen.«
»Kannst du dir da sicher sein?«
»Natürlich bin ich mir nicht sicher, aber wenn sie mich glauben ließ, dass sie mich nie betrogen hat, dann hat sie das auch nie getan. Treue beurteilt man nicht nach jeder einzelnen Tat; es geht vielmehr um den Wunsch, behaupten zu können, dass man treu ist, und um den Wunsch, dass einem geglaubt wird.«
»Das kann nicht stimmen, Libor, jedenfalls nicht außerhalb von Prag.«
»Wir haben aber gar nicht in Prag gelebt. Und ich will damit auch nur sagen, dass es auf die eine oder andere Indiskretion nicht ankommt. Entscheidend ist die Treueabsicht als solche.«
»Also könnte mir Hephzibah noch treu sein wollen, selbst wenn sie mit Sam vögelt.«
»Ich hoffe, sie tut es nicht.«
»Ich hoffe, sie tut es nicht.«
»Und ich bezweifle, dass sie es tut. Die Frage ist nur, warum du es nicht bezweifelst, wenn du doch nichts gesehen hast, das einen solchen Verdacht rechtfertigen könnte.«
Treslove dachte darüber nach.
»Ich muss mir noch ein Sandwich bestellen«, sagte er, als könnte er ohne nicht ehrlich nachdenken.
»Nimm meins«, erwiderte Libor.
Treslove schüttelte den Kopf und dachte an Tyler. »Nimm, was mir gehört«, hatte Finkler gesagt, wenn auch nicht explizit mit diesen Worten. »Nimm die meine, ich bin anderweitig liiert.«
Er hatte Libor nie von den Abenden erzählt, an denen er sich mit Tyler Finklers Dokumentationen angesehen hatte. Er hatte keinem Menschen davon erzählt. Das stand ihm nicht zu. Die Abende gehörten auch der armen Tyler, und in gewisser Weise sogar Finkler. Doch er wünschte sich, er könnte die Affäre erwähnen, falls es denn eine Affäre gewesen war, könnte Libor jetzt davon erzählen. Vielleicht half es, etwas zu erklären, wenn er auch nicht genau wusste, was das sein sollte. Woher sollte er es auch wissen, wenn er sich selbst die Frage nicht in Worte fassen hörte? Libor war alt. Wem würde er schon was erzählen? Das Geheimnis, das mit Treslove ins Grab sinken würde, würde gewiss noch viel früher mit Libor ins Grab sinken.
Er gab diesem Impuls nach und begann zu erzählen.
Stumm hörte Libor zu. Als er zum Ende kam, fing Libor zu Tresloves Erstaunen zu weinen an. Keine Unmengen Tränen, doch rannen eine oder zwei aus den wässrigen Augen des alten Mannes.
»Tut mir leid«, sagte Treslove.
»Das sollte es auch.«
Treslove wusste nicht, was er sagen sollte. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Libor war ein Mann von Welt. Erlaube mir wenigstens einen kleinen Fick außer der Reihe, wenn du aus meinem Leben erzählst, hatte er zu Treslove gesagt. So was tun Männer und Frauen nun mal. »Auf die eine oder andere Indiskretion kommt es dabei nicht an« – Libors eigene Worte.
»Ich hätte dir besser nichts davon erzählt«, sagte Treslove. »Es war falsch von mir.«
Libor schaute auf seine Hände. »Ja, das war falsch von dir«, sagte er, aber so, als redete er gar nicht mit Treslove. »Mir davon zu erzählen war vermutlich schlimmer als die Tat selbst. Ich will die Bürde dieses Wissens nicht. Lieber würde ich Tyler anders in Erinnerung behalten. Dich auch. Bei Sam dagegen kommt es nicht so drauf an. Er kann für sich selbst sorgen. Auch wenn mir lieber gewesen wäre, ich wüsste nicht, wie falsch eure Freundschaft ist. Du hast die Welt ein wenig trauriger gemacht, Julian, und glaub mir, sie ist schon traurig genug. Warum hast du mir nur davon erzählt? Das war wirklich sehr unhöflich von dir.«
»Ich weiß nicht. Und ich betone noch einmal, wie leid es mir tut. Ich weiß nicht, warum ich es erzählt habe.«
»O doch, das weißt du. Man weiß immer, warum man etwas erzählt. War es deshalb, weil du stolz auf diese Eskapade bist?«
»Eskapade? Gott, nein.«
»Auf die Eroberung dann.«
»Eroberung? Gott, nein.«
»Aber aus irgendeinem Grunde bist du darauf stolz. Vielleicht, weil du Sam damit eins ausgewischt hast?«
Treslove wusste, es gehörte sich, dass er über seine Antwort nachdachte. Ständig »Gott, nein« zu sagen, war nicht genug.
»Nicht, weil ich ihm damit eins ausgewischt hätte, ich hoffe es jedenfalls nicht. Vielleicht eher, weil ich damit in seine Welt vorgedrungen bin. In ihre Welt.«
»Von der du dich ausgeschlossen gefühlt hast?«
Es gehörte sich, auch darüber nachzudenken. »Ja.«
»Weil sie ein glamouröses, erfolgreiches Paar waren?«
»Ja, vielleicht.«
»Aber Sam war dein Freund. Du bist mit ihm aufgewachsen. Ihr habt euch ständig gesehen. Er hat doch nicht in einer Welt gelebt, zu der du keinen Zugang hattest.«
»Ich bin mit ihm aufgewachsen, aber für mich blieb er immer fremd. Ein Rätsel gewissermaßen.«
»Weil er so klug ist? Weil er berühmt ist? Weil er ein Jude ist?«
Tresloves Salt-Beef-Sandwich kam, triefend vor Senf, wie er es zu schätzen gelernt hatte, dazu nicht eine, sondern zwei eingelegte Gurken, in feine Scheibchen geschnitten.
»Schwer zu beantworten«, sagte er. »Aber okay, ein Ja auf alle Fragen.«
»Wenn du also in den Armen seiner Frau gelegen hast, dann hast du dich einen Moment lang so klug wie er, so berühmt wie er und so jüdisch wie er gefühlt?«
Treslove verschwieg, dass er nie in Tylers Armen und sie nie in seinen gelegen hatte. Libor sollte nicht wissen, dass ihm stets nur der Rücken zugekehrt worden war.
»Ja, vielleicht.«
»War eins davon wichtiger als die anderen?«
Treslove seufzte, ein Seufzer aus den tiefsten Tiefen seiner Schuldgefühle und Ängste. »Kann ich nicht sagen«, erwiderte er.
»Dann lass es mich für dich sagen. Am wichtigsten war das Jüdische für dich.«
Treslove beugte sich über den Tisch, um Libor am Weiterreden zu hindern. »Du weißt schon«, sagte er, »dass Tyler keine Jüdin war. Ich hielt sie dafür, aber wie sich dann herausstellte, war sie keine.«
»Du klingst enttäuscht.«
»War ich auch, ein bisschen.«
»Also behaupte ich erst recht, dass es das Jüdische war. Und ich weiß, dass es das Jüdische war, weil das, was du jetzt von Sam und Hephzibah befürchtest, es bestätigt.«
Treslove schaute ihn an, den Mann ohne Verdauungsapparat, der ihm Rätsel auftischte. »Da komme ich nicht mehr mit«, sagte er.
»Was wirfst du Sam und Hephzibah vor? Dass sie zusammen Sex haben. Hast du dafür Beweise? Nein, nur die Vermutung, dass sie es miteinander treiben, weil sie etwas gemeinsam haben, wovon du ausgeschlossen bist. Sie sind Juden, du nicht, also vögeln sie miteinander.«
»Ach, Libor.«
»Ganz wie du willst, aber du hast keine bessere Begründung für deinen Verdacht. Und du bist nicht der erste Goi, der den Juden Lüsternheit nachsagt. Wir hatten sogar schon mal Hörner und einen Schwanz wie die Ziegen oder der Teufel. Wir vermehren uns wie Ungeziefer. Wir besudeln christliche Frauen. Die Nazis …«
»Hör auf, Libor, das ist dumm und verletzend.«
Der alte Mann lehnte sich zurück und rieb sich über den Kopf. Früher einmal hatte er eine Frau gehabt, die ihm den Schädel rieb, die lachte, wenn sie ihn polierte, wie eine Hausfrau, die Spaß an ihren Pflichten hat. Doch das war lange her.
Verletzend? Er zuckte die Achseln.
»Es beschämt mich zutiefst«, sagte Treslove, »dass ich es dir erzählt habe.«
»Es beschämt dich zutiefst? Noch etwas, das du mit ihm teilst.«
»Hab Erbarmen«, flehte Treslove.
»Du hast angefangen, Julian«, sagte Libor. »Du hast mich eingeladen, um über deine Befürchtung zu reden, dass es Sam und Hephzibah miteinander treiben könnten. Ich habe dich gefragt, welche Gründe du für deinen Verdacht hast, und du sagst, es sei eine unbestimmte Befürchtung. Ich bin dein Freund – also strenge ich mich an, die Gründe für dich aufzudecken. Du schreibst den beiden seltsame und geheime sexuelle Kräfte zu, und deshalb hast du Angst. Du glaubst, sie könnten sich nicht zurückhalten, weil sie beide von einer unbeherrschbaren sexuellen Gier getrieben werden, von Jude zu Jude, und du denkst, sie werden sich nicht zügeln, weil sie von Jude zu Goi skrupellos sind. Julian, du bist ein Antisemit.«
»Ich?«
»Tu nicht so erstaunt. Du bist nicht allein. Wir sind alle Antisemiten. Wir haben gar keine Wahl. Du, ich, wir alle.«
Er hatte keinen einzigen Bissen gegessen.
4
Sie gingen zusammen ins Theater – Hephzibah, Treslove und Finkler. Es war Tresloves Geburtstag, und da für Hephzibah jeder Tag eine Party war, hatte sie stattdessen das Theater vorgeschlagen. Libor war ebenfalls eingeladen, aber ihm gefiel nicht, was er über das Stück gehört hatte.
Niemandem gefiel, was man so über das Stück hörte, aber wie Finkler schon sagte: Geht man nicht ins Theater, wenn einem missfällt, was man über die Aufführung hört, wann geht man dann? Außerdem war das Stück nur für eine Woche angesetzt, eine Agitprop-Inszenierung, die eine Flut von wütenden und begeisterten Leserbriefen auslöste. Ganz London sprach von nichts anderem.
»Bist du sicher, dass dir dadurch nicht dein Geburtstag verdorben wird?«, fragte Hephzibah, der Zweifel gekommen waren.
»Ich bin doch kein Kind mehr«, erwiderte Treslove, setzte aber nicht hinzu, dass ihm sowieso alles den Geburtstag verdarb, weshalb es aufs Theater nicht mehr ankam.
Das Stück hieß Söhne Abrahams und schilderte das Leid des auserwählten Volkes von alters her bis in die Gegenwart, in der es beschloss, das Leid nun anderen zuzufügen. Die letzte Szene bot ein gut inszeniertes Bild der Zerstörung, nichts als Rauch, wummernde Bleche und Wagnermusik, zu der die Auserwählten wie Teufel in Zeitlupe tanzten, brüllten, johlten und mit Händen und Füßen im Blut badeten, das wie Ketchup aus den Leichen ihrer Feinde quoll, von denen nicht wenige Kinder waren.
Finkler, der neben Hephzibah und Treslove saß, stellte anhand des Programms überrascht fest, dass Tamara Krausz das Stück weder geschrieben hatte noch an seiner Produktion beteiligt gewesen war. Beim Zusehen beschlich ihn das Gefühl, sie müsse im Theater sein. Nicht gerade neben ihm, da saß Hephzibah, aber irgendwo in der Nähe. Er konnte sie riechen, die Verlockungen der Metze mit ihrem unversöhnlich scharfsinnigen Verstand, wie sie ihre Töchter-Hebrons-Schönheit den Feinden ihres Vaters darbot, auf dass sie sich daran erfreuten und sich an ihnen rächten.
In den letzten Sekunden des Dramas wurde das Luftbild eines Massengrabs von Auschwitz auf einen Gazevorhang projiziert, das dann mit einem Foto der Trümmer von Gaza überblendet wurde.
Tamara pur.
Das Stück erhielt stehende Ovationen. Hephzibah und Treslove blieben sitzen. Finkler lachte laut und drehte sich um, damit die Leute ihn sehen konnten. Treslove fand seine Reaktion überraschend. Nicht allein wegen der Einstellung, die sie verriet, sondern auch, weil sie so grotesk übertrieben wirkte. War Finkler jetzt völlig durchgedreht?
Im Publikum waren eine Anzahl ASCHandjiddn, doch fand Finkler, dass sie seine Anwesenheit ziemlich kühl zur Kenntnis nahmen. Nur Merton Kuggle kam auf ihn zu.
»Nun?«, fragte er.
»Wunderbar«, sagte Finkler. »Einfach wunderbar.«
»Und warum haben Sie gelacht?«
»Ich habe nicht gelacht, Merton. Das waren die Zuckungen der Trauer.«
Kuggle nickte und ging hinaus auf die Straße.
Finkler fragte sich, ob er auf dem Weg ins Theater noch schnell in einem Supermarkt vorbeigeschaut und sich die Taschen mit verbotenem Stör aus Israel vollgestopft hatte.
Still verließen die Leute das Theater, tief in Gedanken versunken, so tief, wie es nur jenen möglich ist, die schon wissen, was sie denken. Finkler hielt die meisten für Sozialarbeiter oder Schauspieler und meinte, ein paar von Kundgebungen auf dem Trafalgar Square zu kennen. Sie machten den Eindruck erfahrener Demonstranten. »Schluss mit dem Massaker! Stoppt Israels Genozid!« Bei anderer Gelegenheit hätte er sich unter sie gemischt, um ihnen mit düsterer, feierlicher Miene die Hand zu schütteln, als wären sie Überlebende eines Luftangriffs.
Er schlug vor, in der Krypta des Theaters auf Tresloves Geburtstag anzustoßen. Erinnerungen an ihre Studententage kamen auf. Seltene Biere, frisch gezapft, dazu Hummus und Tabbuleh mit Fladenbrot. Alte, mit schwarzen Vorhängen drapierte Sofas, auf denen sich reden ließ. Finkler besorgte die Drinks, stieß mit Treslove und Hephzibah an und verstummte dann. Zehn Minuten lang fiel kein Wort. Treslove fragte sich, ob die Stille der beiden eine unterdrückte Erotik verriet. Es hatte ihn ziemlich überrascht, dass Finkler ihre Einladung – vielmehr Hephzibahs Einladung – angenommen hatte. Er musste doch gewusst haben, dass sie unterschiedlich auf das Stück reagieren würden und der Abend sogar im Streit enden könnte. Also musste es noch einen tieferen Grund dafür geben, weshalb er gekommen war. Aus den Augenwinkeln achtete Treslove auf Blickwechsel oder verstohlene Handbewegungen zwischen den beiden, doch vergebens.
Schließlich war es jemand anderes, der ihnen aus der ideologischen Sackgasse half, in der sie nach Tresloves Meinung steckten.
»He! Was für eine Überraschung, dich hier zu sehen!«
Treslove hörte die Stimme, ehe er die Person sah.
»Abe!«
Hephzibah verhedderte sich in der Sofadecke, ehe sie sich in einem Wirrwarr von Tüchern erhob. »Julian, das ist Abe – mein Ex.«
Was glaubt Abe wohl, fragte sich Treslove, mit wem sie jetzt zusammen ist, mit Julian oder mit Sam?
Abe schüttelte Hände und setzte sich zu ihnen. Ein Mann von schurkischem, aber auch irgendwie engelsgleichem Aussehen mit einem welligen Kranz schwarzer, von weißen Strähnen wie mit Lichtstrahlen durchschossener Haare, dazu eine Hakennase und eng beieinanderstehende Augen. Er hat ein Gesicht, das langweilt, dachte Treslove, meinte aber ein Gesicht, dessen Anblick ein Stechen, ein Bohren auslöst, keines, das ermüdet. Das Gesicht eines Propheten oder Philosophen – ein Gedanke, an dem ihm gefiel, dass Finkler folglich mehr Grund zur Eifersucht besaß als er.
Natürlich hatte ihm Hephzibah von ihren beiden Gatten erzählt, von Abe und Ben, doch sosehr er sein Hirn auch zermarterte, fiel ihm nicht ein, wer der Anwalt und wer der Schauspieler war. Wenn er jedoch bedachte, wo sie sich befanden, wie der Mann aussah und dass er ein schwarzes T-Shirt trug, so dürfte Abe, der Schauspieler, vor ihm stehen.
»Abe ist Anwalt«, sagte Hephzibah. Treslove fand, dass sie ganz rot im Gesicht war und nervös wirkte angesichts der Aufmerksamkeit so vieler Männer. Ihre Gestalt gewordene Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft …
»Wieso überrascht es Sie, Hep hier zu sehen?«, fragte Treslove und steckte damit einen Besitzanspruch ab, den ein Mann mit größerem Selbstbewusstsein längst für geklärt gehalten hätte.
Abe gloste wie die Glut eines gerade erloschenen Vulkans. »Nicht unbedingt ein Stück, das ihr liegt«, erklärte er.
»Liegt mir denn irgendwas besonders?«, wollte Hephzibah wissen.
Keck, fand Treslove, der alles registrierte.
»Na ja, so was jedenfalls nicht.«
»Hast du von meinem Museum gehört?«
»Hab ich.«
»Dann sollte es dich nicht wundern, dass ich mit dem Ohr am Puls der Zeit bleiben muss.«
»So tief bräuchtest du deshalb aber nicht gleich zu sinken«, warf Finkler ein.
Das erstaunte Treslove. »Willst du behaupten, es hätte dir nicht gefallen?«
Hephzibah ging es ähnlich. »Wie interessant.«
Darauf also war er aus, sagte sich Treslove, er wollte Hephzibahs Interesse wecken.
Finkler wandte sich an Abe. »Julian und ich sind zusammen zur Schule gegangen«, sagte er, »deshalb glaubt er zu wissen, was mir gefällt.«
Treslove wehrte sich. »Du gehörst zu den ASCHandjiddn, markierst bei ihnen Sam, den Mann. Das Stück musste dir einfach gefallen. Es ist wie für dich geschrieben. Es hätte von dir geschrieben sein können. Ich habe dich fast reden hören.«
»Solche Worte wären mir nie über die Lippen gekommen, weil ich für Nazi-Analogien nichts übrig habe. Die Nazis waren die Nazis. Aber habe ich denn behauptet, es hätte mir nicht gefallen? Ich liebe das Stück. Von mir aus hätte es nur noch mehr Tanz und Gesang geben können. Deshalb ist meine einzige Kritik, dass kein Hit wie in Frühling für Hitler vorkommt. Ich konnte bei der Musik nicht mit den Füßen wippen. Anders gesagt, hast du irgendwen gesehen, der beim Rausgehen Wagner gesummt hätte?«
»Geht es dabei für dich denn um eine Geschmacksfrage?«, wollte Treslove wissen. »Nur damit wir uns richtig verstehen.«
»Für dich nicht?«
»Nicht im musikalischen Sinne, nein.«
Finkler legte einen Arm um ihn. »Weißt du«, sagte er, »ich glaube, ich überlasse das Gespräch lieber euch und besorge uns noch eine Runde Getränke. Abe?«
Abe trank nicht. Zumindest nicht an diesem Abend. Weil er gewissermaßen gerade arbeite, wie er erklärte.
»Machst du doch immer«, sagte Hephzibah, die Privilegien einer Ex in Anspruch nehmend.
»Und was arbeiten Sie?«, fragte Treslove.
»Na ja, eigentlich sehe ich mir nur das Stück an und sammle anschließend Reaktionen. Einer der Co-Autoren ist ein Klient.«
»Und du bist hier, um zu prüfen, ob er Klage erheben und vom jüdischen Volk Schadensersatz fordern kann?«, fuhr Hephzibah fort und drückte seinen Arm. Treslove spürte, dass ihm ein Blick auf ihre vergangene Ehe gestattet worden war, und wünschte sich, er wäre ihm erspart geblieben.
Mit zwei Glas hatte Hephzibah nicht nur ihre Jahresmenge an Wein, sondern nun auch noch ihr jährliches Kontingent für kecke Bemerkungen überzogen.
»Na ja, wenn Sie hier sind, um Reaktionen zu sammeln, sage ich Ihnen gern meine Meinung«, sagte er, hinkte aber dem Gespräch hinterher und fand keine Beachtung.
»Abe hat schon immer gewusst, wie man auch noch den letzten Penny aus einem Angeklagten herausholt«, erzählte Hephzibah.
»Ganz so ist nicht«, sagte Abe.
»Wie denn? Klagt das jüdische Volk etwa Ihren Klienten an?«
»Nein, es geht nicht um die Juden. Und auch nicht ums Geld. Der Fachbereich seiner Universität hat ihn entlassen. Wenn er gerade keine Theaterstücke schreibt, ist er nämlich Meeresbiologe, und er war unter Wasser, als man ihn entlassen hat. Ich versuche, ihm seine Stelle wieder zu beschaffen.«
»Man hat ihn wegen des Theaterstücks entlassen?«
»Nicht direkt, sondern weil er behauptet hat, Auschwitz sei für die meisten Juden keine Hölle, sondern eher eine Art Ferienlager gewesen.«
»Und wenn es keine Hölle gibt, gibt es auch keinen Teufel – läuft es darauf hinaus?«
»Zu seiner Theologie kann ich nichts sagen. Er erklärt jedenfalls und behauptet, es zweifelsfrei beweisen zu können, dass es auf dem Gelände Kasinos, Bäder und Prostituierte gab. Er hat Fotos von Juden, die im Swimmingpool liegen und von Lagerhostessen mit geeisten Erdbeeren gefüttert werden.«
Hephzibah brach in schallendes Gelächter aus. »Seinem eigenen Stück zufolge«, sagte sie, »muss Gaza dann auch ein Ferienlager sein. Beides zugleich geht nicht. Es ergibt schließlich keinen Sinn, die Juden Nazis zu nennen, wenn die Nazis lebenslustige Menschenfreunde waren.«
»Dann hat Sam vielleicht recht, und wir haben gerade eine leichte, romantische Komödie gesehen«, sagte Treslove, kam mit seiner Bemerkung aber erneut zu spät.
»Ich finde, das hieße, die Analogien ein wenig zu pedantisch auszulegen«, sagte Abe als Antwort auf Hephzibah, sah dabei aber Treslove an, von Mann zu Mann, Gatte zu Gatte. Was sind Frauen doch kleinlich!
Treslove zog das Tempo an und fragte: »Was halten Sie denn als Jude davon?«
»Nun, als Anwalt …«
»Nein, als Jude, was denken Sie?«
»Über das Stück? Oder meinen Klienten?«
»Über all das, das Stück, Ihren Klienten, den Auschwitz-Lido.«
Abe drehte die Handinnenflächen nach oben. »Als Jude denke ich, dass es für jedes Argument ein Gegenargument gibt.«
»Deshalb sind wir auch so gute Anwälte.« Hephzibah lachte und drückte beiden Männern den Arm.
Diese Leute wissen nicht, wie man sich behauptet, dachte Treslove. Diese Leute hatten ausgespielt.
Er ging zur Toilette. Von Toiletten bekam er immer schlechte Laune. Es waren Orte, die ihn auf sich selbst zurückwarfen. Illusionslos betrachtete er sich im Spiegel. Sie haben ihr Gefühl für Empörung verloren, sagte er zu seinem Spiegelbild, während er sich die Hände wusch.
Als er zurückkam, sah er, dass Sam sich wieder zu ihnen gesellt hatte. Sam, Hephzibah, Abe. Was für eine trauliche Finkler-Truppe. Vielleicht bin ich ja derjenige, der ausgespielt hat, dachte Treslove.