»Kann keine Trauer sein«2
Am 6. Januar 1956, einem Freitag, war der Morgen wie alle Tage seit Weihnachten grau. Es hatte geregnet. Die Straßen waren nass. Benn hatte gut geschlafen, am Abend zuvor war er bereits um elf zu Bett gegangen. Vorher saß er mit Ilse für eine Stunde bei Bettin, einer der zahlreichen Kneipen um den Bayerischen Platz, wo er ganz gegen seine Gewohnheit kein Bier, sondern einen Pernod trank. Er war erleichtert, dass sich die Bildhauerin Jutta Wrede aus Braunschweig nach drei anstrengenden Sitzungen verabschiedet hatte. Ihre »Besuche«, bei denen er mehr auf der Couch lag als auf dem Stuhl saß, hatten ihn »irgendwie berührt«. Doch er war müde. »Es tat mir leid, dass ich am letzten Tag so down war, dass wir uns nicht mehr gut unterhalten konnten.«3 »Adenauer 80 Jahre«,4 notierte er in seinen Kalender, denn der Bundeskanzler war in Bonn mit großem Aufwand und unter Beteiligung zahlreicher Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kultur gefeiert worden. Benn fragte sich, ob er im Mai seinen eigenen 70. Geburtstag überhaupt erleben würde.
Bereits seit dem Silvesterabend, den Ilse und Gottfried zusammen mit der Tänzerin Mary Wigman bei den Akademiekollegen Woty und Theodor Werner in der Dernburgstraße verbracht hatten, fühlte er sich »down«; als er dann vor drei Tagen »schwarzen Stuhl, teerfarbenen!!«5 bei sich feststellte, suchte er sofort den befreundeten Hausarzt Franz-Josef Misgeld auf, der ein Zwölffingerdarmgeschwür diagnostizierte, zu einer Stuhluntersuchung auf okkultes Blut6 riet und als Sofortmaßnahmen bestimmte: »nicht rauchen, kein Bier trinken, kaum was essen«.7 Da konnte ihn auch Neles Paket nicht trösten, in dem sich neben vielem anderen eine Flasche Schnaps befand. Er rührte sie nicht an. Benn blieb »abends zu Hause, Selterswasser getrunken«.8 Nachdem er jedoch den Laborarzt Dr. Wolfgang Albath konsultiert hatte, kamen ihm Zweifel:
Nicht die Sache vom Sommer mit dem hohen Blutdruck, etwas Ernsteres, ich mag nicht viel davon sprechen: erinnere Dich an die letzten Jahre Deines verehrten Vaters, in dieser Richtung etwas, höher gelegen, jedenfalls sprechen alle Untersuchungen dafür.9
Die Blutsenkung betrug 27 zu 49 und war damit ungefähr dreimal so hoch wie normal. Ob er vielleicht doch seinen Medikamentenkonsum einschränken sollte? Morgens kein Preludin mehr nehmen, um aufzuwachen, zum Einschlafen kein Phanodorm und tagsüber kein Pyramidon gegen die Kopfschmerzen?
Den Abend des 6. Januar verbrachte Benn wieder zu Hause. Am Nachmittag des folgenden Tages musste er ins Krankenhaus; er hielt es nicht für ausgeschlossen, dass er es nicht mehr verlassen und in dem Bett, in das er sich legen würde, sterben könnte. Er nahm seine Kladde, notierte das Datum – Tag der Erscheinung des Herrn –, nahm so auch den fernsten aller möglichen Horizonte in den Blick10 und schrieb:
6 I 56
In jenem kleinen Bett, fast Kinderbett, starb die Droste
(zu sehn in ihrem Museum in Meersburg),
auf diesem Sofa Hölderlin im Turm bei einem Schreiner,
Rilke, George wohl in Schweizer Hospitalbetten,
in Weimar lagen die grossen schwarzen Augen
Nietzsches auf einem weissen Kissen
bis zum letzten
AugenbBlick –alles Gerümpel jetzt oder garnicht mehr vorhanden,
unbestimmbar, wesenlos
im schmerzlos ewigen Zerfall.
Wir tragen in uns Keime aller Götter,
das Gen des Todes und das Gen der Lust,
wer trennte sie: die Worte und die Dinge,
wer mischte sie: die Qualen und die Statt,
auf der sie
endetenenden, Holz mit Tränenbächen –für kurze Stunden ein erbärmlich Heim.
Kann keine Trauer sein. Zu fern, zu weit,
unberührbar Bett u Tränen,
kein Nein, kein Ja
Geburt u. Körperschmerz u. Glauben
ein Wallen, namenlos, ein Huschen,
dasein Überirdisches, im Schlaf sich regend,bewegte Bett u Tränen –
schlafe ein!
Gottfried Benn.
für »Merkur«.
Titel: »Kann keine Trauer sein« –11
Mit dem Berliner Brief12 für Hans Paeschke und dessen Merkur hatte er seinen letzten literarischen Lebensabschnitt begonnen, mit Kann keine Trauer sein wollte er ihn abschließen. »Sollte es schlecht ausgehn, ist es mein Abschied für Sie u von Ihnen. Seien Sie meiner Freundschaft versichert.«13 Und noch zwei schriftliche Zeugnisse dieses bewegenden Abends lassen erahnen, wie ihm zumute war.
Abends zu Hause. Traurig.
Brief an Paeschke mit Gedicht »Kann keine Trauer sein«.14
Das andere ist ein Abschiedsbrief an Ilse, in dem er ihr versicherte, dass sie das Glück seines Lebens war.
Dich in meine Todesstunde mitnehmen u. Dein liebes Gesicht vor mir sehn. … Ich weiss nicht, wie ich schliessen soll so erfüllt ist mein Inneres von dem Kummer, dass ich Dich verlassen u Dir das antun muss. Ich habe Dich immer geliebt u. liebe Dich bis zum letzten Augenblick.15
Am nächsten Nachmittag legte sich Benn in das Bett des Sankt-Gertrauden-Krankenhauses in der Paretzer Straße in Wilmersdorf, Station 9, vierte Etage, in einem doppelfenstrigen Zimmer mit Bad. Als er gewogen wurde, zeigte die Waage 85,3 kg. Zunächst beschlossen die Ärzte, ihm eine Gallendiät zu verabreichen, dann eine Fleisch-, schließlich eine Milchdiät mit Rollkur, was ihn, ausgestattet mit einer gehörigen Portion Galgenhumor, auf eine Idee brachte: »Nächste Gedichtsammlung: Ulcus duodeni – klingt doch sehr schön! … Papa, ich denke an Dich und bin stolz, dass Du nun endlich ein Ulcus hast. Das bekommen Autobuschauffeure und Intellektuelle. Du bist also doch einer.«16 Ständig wurde ihm Blut abgenommen, heiße Packungen gemacht und Glaubersalz für geschmeidigen Stuhl verabreicht. Besuche erhielt Benn in diesen Tagen bis auf den des befreundeten Nachbarn Walter Lennig und Haushaltshilfe Liselotte nur wenige. Ursula Ziebarth bat er, noch kurz bevor er ins Krankenhaus kam, auf ein Kommen zu verzichten. Als sie dennoch erschien, steckte er dem gemeinsamen Bekannten Lennig einen Zettel »zur postalischen Weiterleitung«17 zu, von dessen Inhalt sie sich so beleidigt fühlte, dass der daraus erwachsene Streit eskalierte und noch im Mai anwaltliche Schreiben hin- und hergingen, ehe alle gegenseitigen Vorwürfe ausgeräumt waren.
Ilse kam so gut wie jeden Tag für zwei Stunden. Alles in allem war der Zustand deprimierend: »ich kann im Liegen nicht lesen, nicht essen, nicht trinken, nicht rauchen u nicht schreiben«.18 Am dritten Tag nahm Benn seine Kladde und notierte zwischen Ärztevisiten und Schwesternbesuchen:
Der Mensch ist ein Wesen, das mit anderen reden will. Er will merkwürdigerweise nicht Schnaps trinken, rauchen, Fricassee geniessen, sondern reden, sich äussern können.19
In den Tagen seines Krankenhausaufenthaltes erreichten ihn die Nachrichten einiger anderer müder Helden: Paul Fechter lag in einer Privatklinik und schrieb deprimierte Briefe, die seine Freundin, die Schriftstellerin Ilse Molzahn, mit einem Strauß aus Veilchen und Christrosen und einem Stück Bernstein ans Krankenbett brachte. Von der Witwe des Verlegers der Morgue, A. R. Meyer alias Munkepunke, kam die Kunde seines Todes.
Nach genau zwei Wochen, am 21. Januar, wurde Gottfried Benn entlassen, »muss aber noch 1 Woche ausgestreckt liegen und – Milch trinken«,20 ehe er seine Wohnung wieder verlassen konnte, brieflich Freunden, Bekannten und der literarischen Welt seine Rückkehr vermeldete – und »abends 2 Glas Beaujolais«21 trank.