»Erdbeben der Epoche«80
Gottfried Benn beschäftigte sich wie viele seiner Kollegen, seien es die Manns, Musil, George oder auch Hofmannsthal, ein Leben lang mit Nietzsche. Wie jene setzte er sich mit ihm nicht philosophisch auseinander, sondern glaubte ihn historisch einordnen zu können im Hinblick auf seine eigenen kunsttheoretischen Überlegungen, was zu Missverständnissen in seinem Nietzsche-Verständnis führte, die er jedoch produktiv zu nutzen wusste. Benn deutete Nietzsche lebenslänglich vor dem Horizont eines »einzigen Satz[es], das könnte nur sein tiefster und zukünftigster sein: ›Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.‹«81 Vor dem Erfahrungshorizont des Nihilismus ging es um
die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit. Das alles nannte er Artistik.
Helligkeit, Wurf, Gaya – diese seine ligurischen Begriffe, – rings nur Welle und Spiel, und zum Schluß: du hättest singen sollen, o meine Seele – alle diese seine Ausrufe aus Nizza und Portofino –: über dem allen ließ er seine drei rätselhaften Worte schweben: »Olymp des Scheins«.82
Die letzte große Begegnung mit dem »weitreichenden Giganten der nachgoetheschen Epoche«,83 dem Verkünder des »Artistenevangeliums«,84 begann bereits wenige Tage vor Beginn von dessen 50. Todesjahr. Die französische Literaturzeitschrift 84 hatte einen Beitrag erbeten, den Benn noch am selben Tag fertigstellte, an dem ihn die Post aus Paris erreichte. Ursprünglich plante er, diesen kurzen Text in Doppelleben einzugliedern, nahm jedoch davon Abstand, weil ihm Jürgen Schüddekopf, Leiter des NWDR-Nachtstudios, anbot, einen großen Radiovortrag zu Nietzsches Todestag im August zu schreiben.
In Nietzsche – nach 50 Jahren erklärte Benn »das größte deutsche Sprachgenie seit Luther«85 zum Vorläufer und Verkünder der Phase II und des »Stils der Zukunft«.86 Seine Philosophie war »eben nur Philosophie«, und »den archimedischen Punkt, von dem die denkerischen Dinge transzendent und bindend werden«,87 konnte er nicht mehr finden. Nahtlos hatte Benn sein Nietzschebild seinen aktuellen ästhetischen Vorstellungen angepasst:
vor allem: die Erledigung der Wahrheit und die Fundamentierung des Stils. Mit Deutungen kommt man nicht mehr weiter, das Verhängnis arbeitet, die Verwandlung wendet sich her.88
Zu Beginn der zeitraubenden Arbeit, für die sich Benn die einschlägige Nietzsche-Literatur von Ernst Bertram, Friedrich Georg Jünger, Ludwig Klages und Karl Jaspers besorgte, um ausgiebig daraus zu exzerpieren und dann aus dem Exzerpierten ein lockeres Gewebe zu knüpfen, sandte ihm Alain Bosquet, den ihm seine Freundin »Muschelkalk« Gescher, die Ringelnatz-Witwe, vorgestellt hatte, sein neuestes Buch, das Benn so sehr ansprach, dass er am selben Tag notierte: »von Bosquet ›Surrealisme‹ / nach 50 Jahren darf man die Methode anwenden, jemanden als Traum zu sehn. / Er war ein grosser Erlöser, aber das war nach ihm Freud auch u vor ihm Montaigne u Bruyere auch«.89
Noch einmal schlug er die Kronzeugen der Rezeption auf und stieß auf die »reine Gestalt« des »großen Mannes«, seine Widersprüche, seine Zweideutigkeit und Faszination.
Es ist doch eine unendliche Lesearbeit damit verbunden – mehr als ich mir zutrauen kann in Anbetracht dessen, dass ich ja nicht voraus weiss, ob ich überhaupt zu einem nennenswerten Resultat kommen werde. … irgendwas zum Basteln u Probieren muss man sich zurechtlegen, damit die Existenz nicht zu unerträglich wird.90
Anfang August lagen die Resultate vor: »Nicht sehr lang, NWDR, Stuttgarter Sender u der Berliner ›Kurier‹ haben ihn bestelltu streben nach ihm.«91 Benn zog seine gemachten Zusagen zurück, denn der NWDR bestand auf Exklusivität: Der Sender hatte »das alleinige Senderecht für den 25. VIII 50 für die höchste Summe erworben, die je für ½ Stunde Literatur gezahlt wurde«.92
Drei Tage vor der Erstausstrahlung im Nachtprogramm erhielt Benn vom Rektor der Philipps-Universität in Marburg die Einladung, im kommenden Sommer vor Studenten »Über die Möglichkeiten neuer Lyrik« zu reden. »Ich steige auf«,93 lautete der lapidare Kommentar an Oelze. Benn sollte Recht behalten, denn der Vortrag, der, wie die Kritik bescheinigte, »dem Intellekt Herzklopfen«94 machte, wurde für Dichtergenerationen zur Ars poetica, an der kein Lyriker bis zum heutigen Tag vorbeikann, sei es identifikativ oder ablehnend.