»Phase II«

 
 

Innerhalb eines Jahres war durch die Flut der Veröffentlichungen die Aufmerksamkeit so groß geworden, dass Benn nicht nur wieder anerkannt, sondern mit dem Erscheinen seiner Autobiographie Doppelleben im März 1950 zum meistbesprochenen deutschen Autor avanciert war. Sein Dilemma bestand einzig darin, dass er viel lieber »Dichterisches« gearbeitet hätte »als Gedankliches und Essay«.32 Die Krise, in die er geraten war, war eine dichterische: Benn hatte Probleme mit der Lyrik, und die waren eng mit einem Konzept verbunden, das er im Sommer 1949 entwickelt hatte.

 

Ich nenne es für mich: Phase II (nämlich des nachantiken Menschen), liegt in der Richtung von Montage-Mensch, Roboterstil; den Menschen giebt es gar nicht mehr, er wird zusammen gesetzt aus Redensarten, verbrauchten Floskeln, ausgewetztem Sprachschatz, alles steht gewissermassen in Anführungsstrichen – und das Seltsame ist: es wirkt auf Sie gewissermassen echt.33

 

Diese »Darstellung der inneren Lage der Gegenwart«34 hatte Benn erstmals im Oktober 1949 ins öffentliche Spiel gebracht und geradezu multimedial verbreitet: in einem Zeitungsinterview mit dem Curtius-Schüler Georg Rudolf Lind, einem daraus entstandenen Text, der im Merkur erschien und später ein Teil von Doppelleben wurde, und in einem Rundfunkgespräch mit Thilo Koch.

Benn vertrat seit langem die Auffassung, dass der abendländische Mensch vor einer »grundsätzlichen Bauplanänderung«35 stehe. Den sich verwandelnden Menschen im Übergang von transzendentaler Verbundenheit zum Bewusstsein des vollkommenen Verlusts und dem damit verbundenen Gefühls von Trauer und Einsamkeit galt es stilistisch zu erfassen und gewissermaßen produktiv zu antizipieren. Die Formel lautete: »Sie müssen anders schreiben, sie müssen anders sein.«36

Thilo Koch fragte nach: »Sie müssen anders sein, wie sind Sie denn?« Benn: »Sie fragen sehr direkt, und ich werde direkt antworten: Zunächst bin ich, wie wir alle, Prothesenträger. Wir bewegen uns noch in gewissen Gelenken – Antike, Humanismus, Religion, Kollektivismus, Nationalismus, aber die Gelenke wackeln.«37 Die Antwort berührt die vielzitierte Stelle von Benns Beschreibung der Phase II, die er bereits im Gespräch mit G. R. Lind formuliert hatte:

 

Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein, Montagekunst. Der bisherige Mensch ist zu Ende, Biologie, Soziologie, Familie, Theologie, alles verfallen und ausgelaugt, alles Prothesenträger.38

 

Der Mensch müsse – und an dieser Stelle fügte Benn bei einer Podiumsdiskussion während der Berliner Festwochen 1952 ein: »in der Kunst« –

 

neu zusammengesetzt werden – aus Redensarten, Sprichwörtern, Wiederholungen von Worten und Motiven, … seine Darstellung wird in Schwung gehalten durch formale Tricks im Rahmen des Materials in dem man arbeitet, also Farben, Töne, Worte – alles dies geht in die Richtung der absoluten Kunst. In ihr werden, daran zweifle ich nicht, grosse Meister entstehn. Der körperliche Aufbau des Menschen ist vollendet, seitdem entwickelt sich das Reich der immateriellen Dinge, aus dieser Spannung zwischen der fertigen Gestalt und der immer zwangsmässiger werdenden Abstraktion wird sich der neue Stil bilden, er wird weniger psychologisch und weniger erzählungsbeflissen sein, sondern mehr expressiv.39

 

Geprägt hatte Benn den Begriff »Phase II«, wie das Arbeitsheft zeigt, bereits im Mai 1949, und das Umfeld, in dem er auftauchte, spricht für sich:

 

Die Flugzeuge übertreffen an Schnelligkeit den Schall, die Radargeräte berichten vom Mond, aber das Geistige soll Wasser treten, trübes abgestandenes Wasser, – nur die Entengrütze nicht erschüttern.

 

Dann taucht er auf:

 

Schnapp-Stil

Superprosa

II Phase

Enola Gay / die B 29 Superfestung

1 Atombombe auf Hiroshima40

 

 

Nur wenige Wochen später bezeichnete der Schweizer Essayist Ferdinand Lion in der Neuen Zürcher Zeitung Benns Formulierungen als »geistige Atombomben«41 und zitierte zum Beweis seiner These aus dem Ptolemäer Benns Wort von der ins allgemeine Gefühl getretenen »Zukunftslosigkeit eines ganzen Schöpfungswurfes«.42 »Das Quartär ging hintenüber«,43 und das bedeutete für Benn, dass die Ausdrucksmittel der Kunst, die auf diesen katastrophalen Zustand reagierten und von ihm mit dem Atombombenwurf auf Hiroshima in Zusammenhang gebracht wurden, überprüft werden mussten.

Zweifellos hatte der Geist, den Benn so lange mit dem Leben ringen sah, endgültig alle Heilungs-, Rettungs- und Reparaturversuche aufgegeben, um sich ganz einer dem Leben abgewandten Sphäre hinzugeben, in der der Mensch zu sich selbst kommen könne. In den 24 Stunden von Goethe bis zur Gegenwart, also am Ende von »Phase I des expressionistischen, nachantiken Stils«,44 war aus einem schleichenden Plattfuß ein irreparabler Reifenschaden geworden, alle Luft entwichen, mit ihr der Geist, und der – folgt man dem Radardenker – »tastete sich in einen neu sich eröffnenden Raum«.45

In Sommer 1949, als Benns Gedanken um die Phase II kreisten, begab er sich erneut auf die »Jagd nach Einzelheiten« und skizzierte eine Prosastudie, die den Titel Der Radardenker tragen sollte. Sein Held: ein Mann am Fenster, der unbeweglich auf einem Holzstuhl saß, Eindrücke empfing und sie verwandelte: »Aber ich bin ja gar nichts, durch mich läuft nur etwas hindurch, dessen Herkunft und Sinn mir immer schleierhaft war und mit jedem Tag schleierhafter wird.«46 Was der Radardenker empfing, waren künstliche Stimmen, deren Denken »bereits von Maschinen gedacht werden kann«.47 Zusammenhänge stellt diese Art des Denkens nicht mehr her. Aber es wirft ein Licht auf die Gegenwart: »Wir werden sein, was wir sind: Alte animistische Rudimente und die neue technische Realität.«48

 

Doch zurück zu Benns Problemen mit der Lyrik und seinen Phase-II-Gedichten, Probleme, die im Juni 1951 gelöst schienen, als er mit Fragmente den ersten Gedichtband nach den Statischen Gedichten veröffentlichte. Vier Wochen zuvor hatte er in einem anlässlich seines 65. Geburtstages geführten Rundfunkgespräch mit Karl Schwedhelm und Max Niedermayer seine veränderte Haltung dem Gedicht gegenüber zum Ausdruck gebracht.

 

Ich bin seit einiger Zeit etwas gegen den Reim eingenommen, … er schließt Dinge ab, die gar nicht abschließbar sind. … Außerdem sind ja Strömungen in der Lyrik anderer Länder, die man als journalistische Lyrik bezeichnen könnte, die finde ich sehr viel interessanter. … Es kommt gar nicht darauf an, ob die Leute sagen, was ist denn nun der Mann, der soll nun ein Lyriker sein, das ist ja Journalismus, und das ist ja doch ganz und gar kalt und hart, das wollen wir nicht wissen. Von meinem Standpunkt aus bin ich ja in der Lage, immer auf das Niveau mich zu begeben, das mir innerlich gerade liegt.49

 

Dem Journalismus näher als der Bibel, dem ersten Buch, das einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hatte,50 nahe den Zeitungen und nahe dem Schlager: dem »Nicht-Gedicht«51 auf der Spur, entstanden im April 1950 mit Notturno und Restaurant 52 zwei der unedlen, antiidealistischen und journalistischen Gedichte, die Benn als neuartig empfand. Trotz Müdigkeit und innerer Krisen, so schrieb er an seinen Verleger, gebe er »diesen inneren Stimmungen immer sehr nach und sehe zu, wohin sie mich tragen – ob sie mich überhaupt noch irgendwohin tragen oder ob der Verfall und das senile Abbröckeln beginnt«.53

Wie aber sah ein Phase-II-Gedicht eigentlich aus? Schon als er solche Gedichte noch gar nicht schrieb, erläuterte Benn Hans Paeschke ihre wesentlichen Stilmerkmale, »nämlich inhaltlich die Tendenz zum Antifamiliären, Diskontinuierlichen und dazu die Erwartung von Katastrophen formell, das Einsetzen von Banalitäten und Aktualitäten als Strukturprinzip, und dann das wenig Abschliessende, das Offen-lassen von allen Fragen«.54

Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie
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