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10. Sartre in der Philosophie des 21. Jahrhunderts

Sartre selbst hat sich als isoliert erlebt: »Ich bin seit siebzehn Jahren an eine Arbeit über Flaubert gefesselt, die die Arbeiter nicht interessieren kann, da in einem komplizierten und bestimmt bürgerlichen Stil geschrieben.«1 Diese Eigendiagnose verarbeitet den Sachverhalt, dass Sartre trotz seiner bleibenden Wichtigkeit als intellektuelle Figur in der französischen Philosophie erstaunlich schnell an den Rand gedrängt wird. Jeder kennt ihn, aber er spielt sachlich in der Philosophie eine immer geringere Rolle. Wer Sartre nur als Fachphilosophen im engeren Sinne begreift, wird sich schwer tun, ihm im 21. Jahrhundert noch einen zentralen Platz einzuräumen. Vermutlich wird das Phänomen Sartre dennoch auf Dauer Faszination auslösen.

Darüber hinaus hat er viele spannende Themen besetzt; an erster Stelle ist hier das Verhältnis von Literatur und Philosophie zu nennen. Eine Philosophie, die den Anspruch erhebt, für alle Menschen oder zumindest für alle lesenden Menschen interessant zu sein, wird Sartres phänomenologischen Versuch als Anregung aufgreifen, das Begriffliche als die angestammte Domäne der Philosophie mit dem Erzählerischen zu verbinden. Auch wenn Sartre immer wieder der Vorwurf gemacht worden ist, dass seine Philosophie zu literarisch und seine Literatur zu philosophisch sei, scheint es mir eher zuzutreffen, dass vieles in seinen philosophischen Schriften ohne die literarischen Passagen nur inkonsistent und vieles in den literarischen Schriften ohne die philosophischen Erörterungen bloß dürftig wäre. Erst mit der gebührenden Berücksichtigung des Literarischen wie des Philosophischen erscheint Sartre als interessanter Autor.

Weniger überzeugend ist Sartre dagegen als [113] argumentierender Philosoph; hier treten die Schwächen vieler seiner Schriften offen zu Tage. Hinzu kommt eine existenzielle Überlastung des Tons, die die Dramatik der Jahre von Resistance und Kollaboration ausdrückt. Darüber hinaus ist eine Neigung zur Selbstgerechtigkeit festzustellen. Sartre sagt praktisch nie: Das verstehe ich nicht, hier muss ich mich zurückhalten (obwohl er immerhin nachträglich eigene Irrtümer einräumt). Er hat die Neigung, etwas Halbverstandenes (z. B. von Hegel) noch abstrakter zu referieren und ihm eine Aura des Tiefen zu geben, um es dann mit einem anderen Gedanken (oft eines weiteren Autors) zu »vermitteln« und so endgültig undeutlich zu machen. Klarheit ist also leider nicht seine Stärke.

Auch Sartres Auslegung der Rolle des Intellektuellen hat ihre Tücken. Gleichwohl bleibt sein Bestreben, das Nachdenken über den Gang der Welt in all ihren Facetten nicht den Experten zu überlassen, in der Tradition der Aufklärung bedeutend. So kritikwürdig Sartres Überheblichkeit und Selbstüberschätzung auch sein mögen, so gehört zum sartreschen Intellektuellen angesichts der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse und der abnehmenden Verbindlichkeit von Werten doch Bekennermut. Um eine öffentliche Diskussion zukünftiger Trends ebenso wie eine Diagnose der Gegenwart zu ermöglichen, muss es Autoren und Denker geben, die den Mut haben, isolierte Einsichten zu verallgemeinern und Werte mit Nachdruck zu vertreten. Hierzu gehören Bereitschaft zum Zuhören und zweifelnde Nachdenklichkeit vielleicht in einem stärkeren Maße, als Sartre selbst sie aufzubringen vermochte. Der Intellektuelle sollte genauso individualistisch sein, wie es der frühe Sartre dem Menschen nahe legt; eine Indienstnahme beispielsweise durch Parteien widerspricht jedenfalls der Rolle des nachdenkenden Intellektuellen. Und wenn sich Sartre gerade in seinem politischen Urteil immer wieder verirrt, geschieht dies nicht weil, sondern obwohl er ein Philosoph der metaphysischen Freiheit ist. So lässt sich lernen, dass Reste der denkerischen Unfreiheit auch bei Verfechtern der Freiheit zu finden sind.

[114] Viele Themen der Philosophie Sartres sind nach wie vor aktuell: Freiheit und Faktizität, der Einzelne und der Andere, das Individuum und die Gemeinschaft markieren solche Themen, deren Bearbeitung Sartre vielleicht nicht wirklich argumentativ gelungen ist, die aber von seinen Beiträgen profitieren. Nicht nur einen Beitrag, sondern das Muster schlechthin liefert Sartre zum Thema der Authentizität, die von ihm in Leben und Werk gleichermaßen verkörpert wird. Dass die radikale Thematisierung aller Schwächen des Menschen eine viel tiefere Achtung vor dem Wert des Einzelnen ermöglicht als eine illusionäre oder gar verlogene Idealisierung, gehört zum Kern der Botschaft Sartres.