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8. Der Idiot der Familie: Situierte Freiheit und das Genre einer philosophischen Biografie

Weshalb sollte sich ein Philosoph mit Biografien von Literaten beschäftigen? Ist die Philosophie als Disziplin der Sachlichkeit nicht darauf ausgerichtet, Genesis und Geltung strikt zu trennen, es also im Kern uninteressant zu finden, in welchem Kontext ein Autor seine Argumente entdeckt hat? Wer ein solch striktes Verständnis von Philosophie hat, kann auf Sartres zahlreiche Biografien nur mit Desinteresse reagieren. Im Gesamtwerk von Sartre nehmen die meist umfangreichen Bücher zu literarischen Autoren jedoch eine Schlüsselstellung ein – nicht zuletzt, weil sie es ihm erneut ermöglichen, Literatur und Philosophie zu verbinden. Die Biografie stellt für Sartre das Medium dar, in dem er seine Gedanken zur Freiheit und zur Bedingtheit des individuellen Lebens durch die Gesellschaft konkret zusammenbringen kann. Es befriedigt ihn nicht, nur in allgemeinen Worten – wie in der Kritik der dialektischen Vernunft geschehen – Freiheit und gesellschaftliche Determination gleichzeitig zu denken. Seine philosophischen Biografien versuchen, diese Vermittlung im Leben eines Individuums nachzuzeichnen.

Thomas Macho betont die Bedeutung dieses Textgenres bei Sartre: Künftige Generationen werden, so prophezeit er, Sartre nicht so sehr für seine Werke Das Sein und das Nichts oder Kritik der dialektischen Vernunft schätzen, auch nicht mehr so sehr als Romancier und Dramatiker, sondern als »einen der großartigsten Biographen, den es jemals gegeben hat. Mit dieser fälligen Anerkennung müßte auch der Respekt vor dem Genre der Biographie spürbar erhöht werden.«1

Aus der Sicht der Philosophie ist die Biografie meist eine Textsorte minderer Bedeutung, weil es nur darum geht, einige [94] Fakten zum Leben eines Menschen zusammenzutragen, während die richtige Philosophie harte Denkarbeit leistet. Für Sartre hingegen bildet die Biografie das Medium der philosophischen Denkarbeit, weil er als Philosoph die Alternative einer reinen oder einer nützlichen Philosophie vermeiden und stattdessen eine konkrete Philosophie versuchen will. Das Leben eines Individuums – in der Biografie analysiert und auf das Allgemeine bezogen – bietet dabei spannende Möglichkeiten, allgemeine Begrifflichkeiten zu konkretisieren.

Sartre hat neben dem monumentalen Werk zu Flaubert eine ganze Reihe biografischer Texte vorgelegt, so einen frühen Essay zu Baudelaire, eine Ausarbeitung zu Mallarmé, die allerdings erst nach Sartres Tod erschienen ist, und ein umfangreiches Buch zu Saint Genet. Allgemeine Beachtung bis hin zum Literaturnobelpreis hat seine Autobiografie Die Wörter gefunden. Bemerkenswert ist, wie präzise und distanziert, vielleicht sogar abschätzig Sartre gleichermaßen sich selbst wie die anderen von ihm ausgewählten Autoren charakterisiert. Die Autobiografie Die Wörter unterscheidet sich nicht wesentlich von seinen sonstigen Biografien, auch hier geht es um ein Individuum als Teil seiner Zeit, nur dass es dieses Mal – quasi zufällig – Sartre selbst ist. Den hierfür charakteristischen Ton hat Sartre früh gelernt, wie zum Beispiel ein Brief an Simone Jolivet von 1926 zeigt, in dem er sich als zugleich »äußerst ehrgeizig« und geprägt von Feigheit und Charakterschwäche beschreibt: »Das also sind meine beiden Grundtendenzen. Die wesentliche ist der Ehrgeiz. Ich habe mir sehr bald nicht gefallen, und das erste, was ich wirklich gestaltet habe, war mein Charakter. Ich habe an zwei Dingen gearbeitet: an meinem Willen und an der Unterdrückung der zweiten Tendenz, deren ich mich zutiefst schämte.«2 Wenn Sartre so über sich spricht, vermeidet er noch die kleinsten Spuren von Selbstbetrug und erschließt sich nicht vom Ich-Ideal, sondern von den eigenen Schwächen her.

Am Anfang einer Biografie steht bei ihm immer die illusionslose und nüchterne Wahrnehmung dessen, was ist. Erst [95] jenseits des Selbstbetrugs und leerer Charakterisierungen fängt eine Biografie an, interessant zu werden. Immer wieder steuert Sartre auf die Momente zu, an denen eine Person aus ihren Schwächen etwas Besonderes gemacht hat: »[…] das Kind wird den Fatalitäten seiner Geburt nur entgehen, wenn es ihm gelingt, sich neu zu schaffen3 Aus der vorfindlichen Faktizität erwacht ein eigenständiges Individuum, das »sich eine reflexive Persönlichkeit« gibt, »die nichts anderes als die abstrakte Negation der empirischen Persönlichkeit ist«4. Der Gedanke der Kontingenz, bei Heidegger mit dem Begriff der Geworfenheit gedeutet, bildet den Ausgangspunkt einer Biografie, in der das Individuum sich zunächst nicht in der Hand hat. Interessant ist der Punkt, an dem das Individuum es schafft, einen eigenen Weg zu finden: »Mallarmé oder das unglückliche Bewußtsein: in ihm werden stellvertretend für alle das Einzelne und das Allgemeine, Ursache und Zweck, Idee und Materie, Determinismus und Autonomie, Zeit und Ewigkeit, Sein und Sein-sollen miteinander im Widerstreit liegen.«5 Was ihn im eigenen und im fremden Fall immer schon gefesselt hat, versucht Sartre im Flaubert-Projekt systematisch zu entfalten, indem er Allgemeines und Besonderes mit der progressiv-regressiven Methode zusammenbringt.6

Mit Hilfe der Aufzeichnungen von Flaubert versucht Sartre eine genaue Abgrenzung des Individuellen und des Überindividuellen vorzunehmen: »Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von einer Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelnheit wiederhervorbringt.«7 Auf einen Menschen stürmt immer prägend Allgemeines ein; insofern lassen sich für das Individuum selbst, aber vor allem für Beobachtende von außen (zeitgleich oder nachträglich) überindividuelle Zusammenhänge erkennen: »Was man Charakter nennt, ist nämlich rein differentiell und manifestiert sich als eine leichte Verschiebung der Verhaltensweisen der Person gegenüber den objektiven Verhaltensweisen, die ihre Umwelt ihr [96] vorschreibt.«8 Hier unterstreicht Sartre, dass es so etwas wie eine Besonderheit des Individuellen im Überindividuellen gibt, wonach sich das Individuelle als Ergebnis eines überindividuell zu erfassenden Besonderungsprozesses deuten lässt.

Warum Flaubert?

Das aus vier Teilen bestehende Werk Der Idiot der Familie ist 1971 und 1972 erschienen. Sartre untersucht darin das Leben des Gustave Flaubert (1821–1880) bis 1857: »Wir müssen folgenden Skandal zu begreifen versuchen: ein Idiot wird ein Genie.«9 Laut Vorwort begreift sich auch Der Idiot der Familie als Fortsetzung von Fragen der Methode, so dass dieser Text als Vorwort für zwei große Werke fungiert.10 Tatsächlich thematisieren die Kritik der dialektischen Vernunft und Der Idiot der Familie die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Während jedoch die Kritik der dialektischen Vernunft in weiten Passagen an ihrer eigenen hochabstrakten, vermeintlich dialektischen Begrifflichkeit erstickt, versucht Der Idiot der Familie mit enormen Detailkenntnissen der Biografie Flauberts, der Psychoanalyse, der Ästhetik und der Zeitgeschichte die eigene Fragestellung geerdet zu halten. »Was kann man heutzutage von einem Menschen wissen«, formuliert Sartre selbst als Leitfrage seiner Untersuchung.11

Warum beschäftigt sich Sartre ausgerechnet mit Flaubert so ausführlich? Ganz vordergründig muss man in Rechnung stellen, dass Flaubert als dem Meister des realistischen Romans innerhalb Frankreichs eine ungleich höhere Bedeutung und Aufmerksamkeit zukommt, als dies in Deutschland der Fall ist. Darüber hinaus gibt Sartre selbst Aufschluss: »Warum Flaubert? Aus drei Gründen. Der erste ist ein ganz persönlicher«, insofern Sartre diesem Schriftsteller niemals gleichgültig gegenüberstand und eine ursprünglich starke Antipathie in Empathie verwandelt hat. »Zweitens hat er sich in [97] seinen Büchern objektiviert«, das heißt, Flaubert ist ein Individuum, das in einem Werk greifbar ist. »Schließlich erweisen sich seine frühen Werke und seine dreizehn Bände Korrespondenz […] als die merkwürdigsten, die am leichtesten zu dechiffrierenden Geständnisse: man glaubt, einen Neurotiker zu hören, der auf dem Sofa des Analytikers vor sich hin spricht.«12 Die gute Materiallage bei den persönlichen Aufzeichnungen, eine persönliche Affinität und das Spannungsverhältnis von Werk und Autor veranlassen Sartre also, am Beispiel von Flaubert die Frage nach dem Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem zu untersuchen. Die grobe Einteilung des Werks unterscheidet die »Konstitution« und die »Personalisation« sowie zum Schluss die Frage nach dem Verhältnis von objektiver und subjektiver Neurose.

Die Konstitution des Idioten

Die Konstitution erzählt die Determinationsgeschichte eines Individuums – eine Geschichte, die zu jedem Leben erzählbar ist. Insofern geht es zwar inhaltlich um das besondere Individuum, eben um Gustave Flaubert, aber eine solche Analyse kann im Prinzip für jedes Individuum durchgeführt werden, insbesondere auch für die eigene Person (was Sartre in den Wörtern für sich ja praktiziert hat). Warum ist jemand zu dem geworden, der er ist? Warum bin ich zu dem geworden, der ich bin? Die Antworten liegen für Sartre nicht in allgemeinen Sozialisationstheorien, sondern in der erzählenden Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem. Daraus ergibt sich ein wechselseitiger Richtigkeitstest: Die allgemeine Theorie wird am Besonderen erprobt und das Besondere erschließt sich im Licht des Allgemeinen.

Für die Konstitutionsgeschichte spielt zunächst die Analyse von Gustaves Familie eine zentrale Rolle. Wir erfahren viel über den Vater, der als Arzt wirkt und um 1830 einen damals [98] schon etwas altmodischen rigiden Materialismus verkörpert. Die Mutter bildet mit ihren religiösen Schwärmereien den gefühlsorientierten Gegenpol; im Machtgefüge der Familie ordnet sie sich allerdings ihrem Mann völlig unter. Gustave ist also gegensätzlichen Erziehungsstilen unterworfen, wobei im ausdrücklichen Konfliktfall stets der Vater gewinnt – nur ist der Gewinner in der Familie nicht immer anwesend, so dass die Mutter für ihre Vorstellungen doch immer wieder Einflussmöglichkeiten findet. Bedeutsam für Gustave ist auch sein älterer Bruder, insofern dieser sich ganz an den vom Vater vorgezeichneten und als normal empfundenen Berufsweg des Arztes hält. Im Kontrast zum älteren Bruder gilt Gustave als Versager, eben als Idiot. Dies wird nicht zuletzt daran festgemacht, dass er lange Zeit nicht lesen kann, aber »mit neun Jahren beschloß Gustave zu schreiben, weil er mit sieben Jahren nicht lesen konnte«13. Gustaves Umgang mit Sprache hat etwas Forciertes; aufgrund einer ursprünglichen Schwäche muss er sich die Sprachkompetenz abringen, indem »er von den Wörtern Gebrauch macht, aber nicht spricht«14.

Selbstverständlichkeiten – sonst das Merkmal der Kindheit – fehlen dem jungen Gustave; das Leben ist eine Last für ihn: »Der kleine Junge lebt so, wie der Soldat marschiert: mit dem gleichen Widerwillen und der gleichen Bemühtheit, mehr aus Gehorsam als aus Selbsterhaltungstrieb.«15 Sartre fasst diesen Teil der frühen Sozialisation von Gustave als dessen »passive Konstitution«16.

Methodisch bricht Sartre zwischendurch immer wieder seinen Erzählgang ab und reflektiert die von ihm vorgetragenen Deutungen und Evidenzen. Er gesteht sich dabei ein, dass es so sein kann, wie er es beschreibt, aber es könnte eben auch ganz anders sein. Der konventionelle Anspruch der Wissenschaftlichkeit im Sinne der Nachprüfbarkeit wird zwar nicht aufgegeben, aber im Sinne einer strikten Beweisführung auch nicht erhoben: »Die Wahrheit dieser Rekonstruktion kann nicht bewiesen werden; ihre Wahrscheinlichkeit ist nicht meßbar: mit etwas Glück werden wir zwar über alles, was wir [99] wissen, Aufschluß geben können. Aber dieses Alles ist wenig: fast nichts.«17 Neben dem Problem des Wissens ist auch das Determinationsverhältnis zwischen dem Kind und dem Erwachsenen nicht so eindeutig: »Ein Leben ist bekanntlich eine zu allem möglichen verwendete Kindheit.«18 Trotzdem bleibt Sartre nichts anderes übrig, als bei dem Erwachsenen anzusetzen und von hier aus in die Kindheit zurückzugehen, um bei der »Erforschung der Innenbeziehungen mit dem letzten Stadium der untersuchten Erfahrung« zu beginnen.19

Für Sartres Bild der Konstitution von Gustave Flaubert sind die folgenden Aspekte besonders wichtig: 1. »Gustave ist niemals aus seiner Kindheit herausgekommen. […] dieser Erwachsene ist entfremdet in die jämmerliche Mißgeburt, die er war.«20 2. »Der bittere Fluch, der den jüngeren Bruder zu seinem Unglück und zu seinem Ruhm bis zum Ende seines Lebens in der Kindheit festhält, hat seinen Ursprung in dem erdrückenden Segen, der den älteren Bruder zu einem Erwachsenen macht und ihm das Kreuz bricht.«21 3. »So ist Gustave: ein bloßer Behälter für Sentenzen, die Andere in ihn hineingelegt haben, die auswendig gelernt sind, als Entfremdung, also roh, empfunden werden, findet er sich in einer Welt vor, in der die Wahrheit der Andere ist.«22 Diese Einsichten Sartres sind spezifisch für Gustave; es gibt aber auch solche, die viele andere Kinder betreffen: »Wenn Väter Pläne haben, haben die Kinder Geschicke.«23 Sartre betont, dass er die Konstitution Gustaves nur in groben Zügen ermitteln konnte und außerdem »nur eine abstrakte Bedingtheit erfaßt: niemand kann sich leben, ohne sich zu schaffen, das heißt, ohne auf das Konkrete hin zu überschreiten, was man aus ihm gemacht hat«24.

[100] Die Personalisation von Gustave Flaubert

Die Personalisation eines Individuums umfasst das, was ein Mensch aus seiner Konstitution – quasi in Freiheit – macht: »In jedem Fall ist die Personalisation beim Individuum nichts andres als die Überschreitung und Aufbewahrung (Übernahme und innere Negation) dessen, was die Welt aus ihm gemacht hat – und immer noch macht –, innerhalb eines totalisierenden Entwurfs.«25 Der Begriff der Personalisation bildet mithin das Gegenstück zu dem der Konstitution. Sartre bringt so das begriffliche Erbe der Wahlfreiheit ein, um es mit der Faktizität vereinbar zu machen: »Die Person ist nämlich weder ganz und gar erlitten noch ganz und gar konstruiert.«26

Die Personalisation des Gustave Flaubert schafft aus dem Idioten einen letztlich berühmten Mann: »Das heißt also, daß dieser, um seine inneren Konflikte zu lösen, sich zum Schriftsteller gemacht hat.«27 Sartre datiert diesen Prozess in die Jahre 1835 bis 1839, in denen Flaubert durch die schriftstellerische Einbeziehung des Irrealen in seine Person integriert, was sonst nicht integrierbar wäre. Sartre nutzt für die Beschreibung dieses Vorgangs allerdings immer wieder Formulierungen, die doch eher nach Konstitution als nach Personalisation klingen: »Gustave braucht keine so großen Gefahren, um ins Imaginäre überzugehen: seine Ohnmacht ist permanent, und die kleinste Anforderung der Außenwelt, der geringste Gleichgewichtsverlust lassen ihn in Verstörtheit fallen: auf dieser Ebene sind seine Imaginarisierung und die Irrealisierung der Welt ein und dasselbe.«28

Nach 1840 kommt es im Leben von Gustave Flaubert zu einer krisenhaften Entwicklung: Sartre spricht hier von einer »Präneurose«.29 Am Ende der Krise steht die endgültige Kristallisation von Flaubert als Künstler. Die Ereignisse spitzen sich 1844 zu, als Gustave Flaubert einer »Nervenattacke«30 ausgesetzt ist und damit für seine Familie und Umgebung sichtbar zum Kranken wird. Die Krankheit ermöglicht es ihm, endlich das ungeliebte Jurastudium aufzugeben und gleichzeitig als [101] Kranker ein wenig wohltuende Aufmerksamkeit von seiner Familie zu bekommen. Die Abstempelung als Idiot endet mit dem Ausbruch der Krankheit, weil Gustave Flaubert mit ihr ein Schonraum zugestanden wird, der darüber hinaus eine Künstlerexistenz für die Familie tolerabel macht. Die Krankheit wird deshalb für ihn zum Anfang einer Befreiung; einen direkten Ausweg hätte er kaum gefunden.

Eine besondere Pointe der Personalisation von Flaubert liegt darin, dass er als Verfechter des realistischen Romans als Person in besonderer Weise mit dem Irrealen kämpft. Sartre spielt immer wieder mit diesem Paradox: Der Künstler ist ein Akteur des Imaginären; Gustave wird zu einem solchen Künstler, um bestimmte Probleme seiner Konstitution zu bewältigen; innerhalb des Imaginären bevorzugt Flaubert aber den Realismus. Mit Madame Bovary wird aus dem Idioten der Künstler des Realen. In der Auseinandersetzung mit Sartres Konzept der Personalisation drängt sich die Frage auf, ob diese nicht auch konstituiert ist. In einem gewissen Sinne markiert der Sprung von der Konstitution in die Personalisation ein Wunder, das argumentativ nicht wirklich überzeugt. Gleichwohl hat Sartre damit eine wichtige Intuition formuliert, insofern es in jedem Leben Schlüsselszenen der Selbstwerdung und insofern der Freiheit gibt, die eine Person nachträglich als den Beginn der eigenen Geschichte deutet. In diesem Sinne überzeugt der Begriff der Personalisation, auch wenn ein völliger Ausstieg aus der Konstitutionsgeschichte damit wohl kaum verbunden ist.

Objekte und subjektive Neurose

Die Kristallisation von Flaubert als Künstler und Schriftsteller ist zunächst eine rein neurotische: »Die Literatur baut sich völlig um seine Neurose auf.«31 Die subjektive Geschichte scheint also trotz aller methodischen Probleme der Verifizierung für Sartre doch mehr als klar zu sein: Der Idiot wird Schriftsteller. [102] Ein erfolgreicher Schriftsteller wäre ein Individuum allein aufgrund der neurotischen Ausgangsposition allerdings noch nicht. Deshalb ist für die Würdigung von Gustave Flaubert als Autor der Madame Bovary die objektive Dimension der Neurose bei Sartre zentral. Das Publikum muss aufgrund der Objektivität der Neurose, das heißt einer, die über das einzelne partikulare Individuum Gustave Flaubert hinausgeht, an die subjektive Neurose des Autors anschließen können. Es darf sich also nicht um eine bloß private Neurose bei Flaubert handeln: »Dieses Paradox ist nur erklärbar, wenn man voraussetzt, daß das Werk von selbst das Stadium der neurotischen Gefälligkeit überschreitet und Objektivitätsstrukturen enthält.«32

Die Rede von subjektiver und objektiver Neurose verweist auf Freud und Marx als zwei Autoren, die hinter dieser Unterscheidung stehen. Mit der Psychoanalyse Freuds sollen die subjektiven Bedingungen einer persönlichen Neurose erhellt werden, während Marx als Schüler Hegels an der Kritik der objektiven Krankheit seiner Epoche arbeitet. Sartre überblendet diese beiden Perspektiven, indem sich für ihn die Objektivität in der Subjektivität »austobt«. Wichtig ist, dass die persönlichen Neurosen des Schriftstellers Flaubert von einem Publikum verstanden oder gar geteilt werden können.

Insgesamt stehen hinter Sartres Unterscheidung von objektiver und subjektiver Neurose sowie hinter seinen Begriffen der Konstitution und Personalisation wichtige Ideen. Ihre Entfaltung bleibt allerdings auch deshalb begrifflich in der Schwebe, weil er im Flaubert-Projekt auf eine Entfaltung des Allgemeinen im Medium des Besonderen zielt und gerade nicht auf eine erneute Theorie.