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5. Die Freiheit der Wahl im existenziellen Individualismus

»Freiheit« ist ein vieldeutiges Wort, deshalb bedarf es der Klärung, was Sartre mit »Freiheit« meint. Sein Begriff einer Freiheit der Wahl hat nichts mit politischer oder ökonomischer Freiheit zu tun.

In der klassischen Freiheitsdiskussion geht es um die Willensfreiheit, also um die Frage, ob wir frei (und quasi beliebig) wollen können, was immer wir auch wählen. Es geht nicht um die Handlungsfreiheit, also darum, ob wir das, was wir wollen, auch ausführen können; vielmehr steht zur Debatte, ob es Wahlfreiheit als Willensfreiheit gibt und wie sie sich zu einer Determination verhält. Von Albert Einstein stammt die Sentenz »ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will«1, mit der er prägnant Handlungs- und Willensfreiheit unterscheidet. Handlungsfreiheit meint Freiheit von Hindernissen bei der Ausführung einer Handlung nach der Formulierung eines Willens. Willensfreiheit bezieht sich demgegenüber auf die Freiheit von Beeinflussungen vor der Formulierung eines eigenen Willens.

Das Thema Willensfreiheit wird in der Philosophie von drei Grundpositionen geprägt: dem Determinismus, der Idee der Willensfreiheit und einer Vereinbarkeitsthese von (bedingter) Freiheit und Determination. Der Determinismus wird in der Philosophie beispielsweise von Thomas Hobbes (1588–1679) vertreten und vor allem von den empirischen Wissenschaften inspiriert – sei es der Physik, Psychologie, Soziologie oder jüngst der Neurobiologie. Klassische Formulierungen zur Willensfreiheit finden sich beispielsweise bei René Descartes und bei Immanuel Kant (1724–1804). So formuliert Kant in der Freiheitsantinomie der Kritik der reinen Vernunft: »Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher [52] die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig.« (A 444/B 472) Zwar lässt Kant theoretisch durchaus offen, ob eine solche Freiheit nur ideell oder empirisch wirklich ist.2 Deutlich wird gleichwohl die hohe Hürde, die eine klassische These der Willensfreiheit nehmen muss: Die natürlichen Determinationen müssen bei einer Handlung aus Freiheit aufgehoben sein; denn freie Handlungen erfordern eine Kausalität eigener Art außerhalb des Naturzusammenhangs.

In der klassischen Philosophie gibt es allerdings mit Autoren wie Baruch de Spinoza und David Hume (1711–1776) auch Positionen, die es leichter machen, dem Menschen Willensfreiheit zu attestieren. So schreibt Spinoza in seiner Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt: »Dasjenige Ding heißt frei, das allein aus der Notwendigkeit seiner Natur heraus existiert und allein von sich her zum Handeln bestimmt wird; notwendig oder eher gezwungen dagegen dasjenige, das von einem anderen bestimmt wird, auf bestimmte und geregelte Weise zu existieren und etwas zu bewirken.«3

Wenn Freiheit die Übereinstimmung mit der eigenen Natur meint, dürfte es leichter sein, die These der Willensfreiheit im Angesicht der Wissenschaften zu vertreten. Freie Handlungen sind dann Handlungen, die durchaus auf eine bestimmte Art und Weise determiniert sind. Während dann beispielsweise reflexhafte und ohne Überlegung spontan ausgeführte Handlungen als weniger frei gelten, könnten Handlungen nach genauer Erwägung als frei gedeutet werden. So wäre Willensfreiheit die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen, Stellung gegenüber den eigenen Impulsen zu beziehen.

Wenn Sartre seine These der Wahlfreiheit vertritt, wird er üblicherweise so verstanden, dass er sich der klassischen These der Willensfreiheit anschließt. Da Sartre selbst nicht in analytischen Kategorien denkt und die hier vorgeschlagene Differenzierung des Freiheitsthemas nicht nutzt, gibt es bei ihm sowohl Stellen, die für die Lesart der klassischen [53] Willensfreiheit sprechen, als auch solche, die die Vereinbarkeitsthese nahe legen. Insbesondere in dem populären Text Der Existentialismus ist ein Humanismus, den Sartre am 28. Oktober 1945 als Vortrag hält, treffen wir auf zugespitzte Thesen zur Willensfreiheit, etwa wenn Sartre einen ersten Grundsatz des Existenzialismus formuliert: »Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht.«4 Und es findet sich immer wieder die Formel, dass im atheistischen Existenzialismus die Existenz des Menschen seiner Essenz – seinem Wesen also – vorausgehe.5 Sartre hat in dieser kleinen Schrift, deren Veröffentlichung er schon bald wegen ihres plakativen Charakters bedauert hat, dem existenziellen Individualismus ein viel zitiertes Programm verliehen. Wir erfahren, dass der Mensch durch Freiheit, Angst und Verantwortlichkeit gekennzeichnet ist. In diesem Text finden sich all die Parolen, die einen Beitrag zur existenzialistischen Mode geleistet haben. Ein angemessenes Sartre-Verständnis kann nur durch diesen verschriftlichten Vortragstext allerdings nicht erwartet werden: Der Vortrag ist in starker Weise durch die historische Situation im gerade befreiten Frankreich geprägt, das die Frage nach Kollaboration oder Widerstand als persönlich existenzielle Frage der Verantwortlichkeit erlebt hat. Insofern konnte bei den zeitgenössischen Zuhörern eine unmittelbare Evidenz vorausgesetzt werden, wenn von Angst oder der Dramatik einer Entscheidung die Rede war. In ähnlicher Weise war ihnen die radikale Verantwortung, die sich an keine Instanz delegieren lässt, vermutlich nur allzu bewusst: »Wir sind allein, ohne Entschuldigungen. Das möchte ich mit den Worten ausdrücken: der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein.«6 Zugleich behauptet Sartre, dass es für Menschen keinen Determinismus gibt. Rhetorisch sind solche Passagen eindeutige Programme einer Freiheitsphilosophie, aber der sachliche Gehalt bleibt jenseits ihres aufrüttelnden Charakters unklar. Die Verurteilung zur Freiheit könnte auch als Determination zur Freiheit und damit als eine These der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus verstanden werden.

[54] Ausdrücklich bekennt sich Sartre zur Subjektivität des Individuums als dem entscheidenden Bezugspunkt, der seine Position als existenziellen Individualismus charakterisiert.7 Immer wieder kommt er (in der Tradition Nietzsches) auf den atheistischen Charakter seiner Auffassung zu sprechen, so im letzten Absatz des Textes: »Der Existentialismus ist nichts anderes als das Bemühen, alle Konsequenzen aus einer kohärenten atheistischen Position zu ziehen.«8

Wie Sartre später selbst einräumt, stellt es ein Problem dar, die eigene Position als »ismus« einzuführen: »Ich spreche nicht gerne über den Existentialismus, denn es gehört ja gerade zum Wesen eines philosophischen Bemühens, daß es sich einer genauen Bestimmung entzieht. Es benennen oder definieren wollen hieße, es zum Stagnieren bringen. Was bliebe dann von ihm übrig? Eine vergangene und schon überholte philosophische Mode, so etwas wie eine Seifenmarke, mit anderen Worten: eine Idee.«9

Neben dem plakativen Charakter ist es die mangelnde gedankliche Entfaltung, die den Text Der Existentialismus ist ein Humanismus zu einem philosophisch fragwürdigen Teil der Schriften Sartres macht. Das Anliegen seines Vortrags war vor allem eine Verteidigung gegen Angriffe aus dem marxistisch und aus dem katholisch geprägten Denken. Mit dieser doppelten Gegnerschaft hat auch die starke Pointierung seiner Sätze zu tun. Gegen die Überlegungen eines historischen Materialismus mit seinem ökonomischen Determinismus wird die Freiheitsthese und gegen den Katholizismus der atheistische Charakter seines Existenzialismus stark gemacht.

Weil Sartre die Freiheit immer wieder über die Abwesenheit Gottes einführt, ist es nicht ohne Ironie, dass der existenzielle Individualismus geistesgeschichtlich entscheidende Impulse durch den Protestantismus erhalten hat: Diesem zufolge führt nicht die Heilsverwaltung durch eine Institution den Einzelnen in das Himmelreich, sondern nur der allmächtige Gott selbst, der sich aber durch den individuellen Glauben als [55] zugänglich erweisen kann. Der wichtigste Autor des Protestantismus, der diese existenzielle Dimension in aller Schärfe formuliert hat, ist Sören Kierkegaard (1813–1855). Er stellt den Einzelnen in den Mittelpunkt. Anders als bei Descartes und vor allem anders als bei dem von Kierkegaard polemisch abgelehnten Hegel verflüchtigt sich der Einzelne nicht zu einer begrifflichen Kategorie, sondern wird als ein wirklich biografisches Individuum behandelt.10 Seligkeit ist für Kierkegaard nicht im Kollektiv zu haben, sie bedarf vielmehr der Entscheidung zum Glauben. Daraus abgeleitet lässt sich die Besonderheit des existenziellen Individualismus so fassen, dass bei existenziellen Sinnfragen nur die je eigene Antwort Bestand haben kann. Existenzielle Sinnfragen können somit nicht stellvertretend für andere oder objektiv gelöst werden, sie bedürfen der je eigenen Anstrengung des Einzelnen. Selbst ein religiös geprägter existenzieller Individualismus wie der von Kierkegaard gelangt daher an den Punkt, dass der Weg zum Heil und insofern zu Gott nur über das Individuum gedacht werden kann. Diese im religiösen Kontext erarbeitete Einsicht verschärft sich bei Sartre als dem Vertreter eines atheistisch argumentierenden existenziellen Individualismus. Die Grundfigur eines freien Einzelnen ist aber gleich.

Auch Martin Heidegger vertritt in Sein und Zeit und vor seiner Kehre durchaus einige Thesen eines existenziellen Individualismus, so zum Beispiel in seiner Analyse der Endlichkeit des Daseins. Er betont ausdrücklich, dass Antworten auf Existenzfragen »nicht in einem isolierten und blinden Satz liegen« und mithin nicht bloß kognitiv wie ein angeeignetes Wissen über Gegenstände der objektiven Welt weitergereicht werden können.11 Deshalb kritisiert Heidegger die Uneigentlichkeit eines öffentlichen Plapperns und die Verstellung der Endlichkeit des Daseins durch das »Man«. Den Weg zur Eigentlichkeit – durch die Zerstreutheit in das Man hindurch – bestimmt er allerdings nur formal. Zunächst besteht er darauf, dass das menschliche Dasein sich in der Struktur der Jemeinigkeit immer auf sich selbst bezieht: »Dasein ist daher nie ontologisch zu fassen als [56] Fall und Exemplar einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem.«12 Dasein und Existenz des Menschen sind dementsprechend auch nicht einfach direkt durch tatsächliche Umstände als determiniert und geprägt zu denken, sondern als durch die Struktur der Jemeinigkeit gebrochen. Da es keine bloß faktische Existenz des Menschen gibt, öffnet sich der Horizont für verschiedene Möglichkeiten. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von einem Entwurf des Menschen: »Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten.«13 Angst erinnert für Heidegger den Menschen an seine Endlichkeit, an sein Sein zum Tode, wie Heidegger dies im Hinblick auf die Zeitlichkeit ausdrückt. Mit solchen Gedanken ist er ganz nahe bei Sartres existenziellem Individualismus.

Anders als in seiner Programmschrift Der Existentialismus ist ein Humanismus, die den Freiheitsgedanken rhetorisch überzieht, lässt sich im Überblick über die weiteren Werke Sartres die Einsicht gewinnen, dass dieser in Auseinandersetzung mit Heidegger und später mit Marx ausdrücklich eine Selbstüberschätzung des Individuums zurückweist und die gegenseitige Anerkennung als zentral erachtet.

In seinem Werk Das Sein und das Nichts geht Sartre der Frage nach, wie sich angesichts des Nichts die Existenz bewältigen lässt und wie Freiheit möglich ist. Er kritisiert dabei scharf den psychologischen Determinismus, der die Grundlage allen Entschuldigungsverhaltens und eine reflexive Abwehr der Existenzangst darstellt. Der psychologische Determinismus nimmt eine selbstobjektivierende Haltung ein und leitet aus Freiheitseinschränkungen eine durch Determination gegebene Ausweglosigkeit ab. Es ist für Sartre hingegen abwegig, sich die eigene Determination subjektiv-psychologisch als Ausweglosigkeit aneignen zu wollen. Niemand durchschaut existenziell vollständig und angemessen seine eigenen Determinationen. Deshalb ist mit Sartre für den Einzelnen zunächst die eigene Freiheit zu unterstellen. Diese Freiheit entspricht allerdings im Sinne der eingeführten analytischen Unterscheidung nicht der These der klassischen Willensfreiheit, sondern [57] einer These der Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus.

In seinen Frühwerken hat Jean-Paul Sartre die Freiheit des Individuums bei der existenziellen Wahl des eigenen Lebens sehr stark betont und in den Vordergrund gerückt. In den späteren Werken – insbesondere in der Kritik der dialektischen Vernunft und im Idiot der Familie – widmet er dem Zusammenspiel von Gesellschaft und Individuum größere Aufmerksamkeit, wobei er durchaus an der Freiheit als Zentralbegriff festhält, jedoch nach den Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit fragt. So arbeitet er heraus, dass jedes Individuum Elemente des Zeitbedingten aufweist und sich nicht als reines Produkt einer Selbstschaffung stilisieren lässt: Im Subjektiven gibt es immer das prägende Element des Allgemeinen, ohne dass ein Individuum damit zum bloßen Opfer der Verhältnisse wird. Das Moment der individuellen Besonderheit, gar der individuellen Selbstschaffung und vor allem die individuelle Anstrengung sind außerordentlich wichtig. Die Verhältnisse determinieren das Individuum nicht mechanisch, nicht direkt, vielmehr vollzieht sich die Prägung durch Überindividuelles kulturell gerade im Medium bewusster Selbstschaffung. Sartre wendet sich von seiner fast ausschließlich subjektorientierten ersten Phase, zu der Das Sein und das Nichts gehört, ab; dies geschieht allerdings nicht im Namen einer Kehre zum Sein wie bei Heidegger, sondern mit Blick auf die Gesellschaft, indem er in der Kritik der dialektischen Vernunft den Marxismus auch theoretisch rezipiert. Das große Flaubert-Projekt des späten Sartre lässt sich dann als der Versuch deuten, Freiheit und Gesellschaft als situierte Freiheit im Medium einer konkreten Biografie zusammenzudenken.