Das vierte Kapitel,
in dem Percy Bishop plötzlich einen fremden
Mann sieht

Wer acht Stunden am Tag im Garten steht und jätet oder pflanzt, gräbt oder harkt, der kann am Abend ein Lied singen von dieser Arbeit. Percy Bishop, der mit den spärlichen Kenntnissen aus seinem zu Rate gezogenen Gartenlehrbuch auf die Blumen und Beete des Parks losgelassen worden war, hatte das Gefühl, als ob sein Kreuz gleich oberhalb seiner sogenannten vier Buchstaben einfach abgebrochen wäre. Als er sich aufrichtete und es auch noch ›knack‹ im Rücken machte, glaubte er fest daran, daß sich seine Knochen verschoben hätten, und wankte auf sein Zimmer.

Den Gong, der zum Essen rief, überhörte er, und als ihm deshalb Bebsy das Essen auf die Stube brachte (»Sogar zum Essen bist du zu faul«, meinte sie dabei), kam er sich kläglich und winzig wie eine lahme Ameise vor. Inzwischen hatte Bebsy sich angewöhnt, ihn auch zu duzen, wie es unter Dienstpersonal nun mal so üblich ist.

Percy hatte Loretta Gower, seine Herrin, den ganzen Tag über nicht gesehen. Vielleicht war sie in der Stadt oder probte in der Oper, oder sie war bei Bekannten eingeladen. Auf jeden Fall mußte Percy, der wiederholt um das Hauptgebäude herumschlich und sich im Zeitlupentempo um die Blumen im Beet vor dem Eingang bemühte, immer wieder feststellen, daß dort, wo die Privatzimmer Loretta Gowers lagen, noch immer die Fenster geschlossen und die Gardinen zugezogen waren.

Mit Unlust aß er sein Abendbrot und vergaß sogar, sich, wie üblich, mit Bebsy, als sie das Geschirr wieder abholte, längere Zeit zu kabbeln.

»Wie'n feiner Herr«, sagte sie. »Braucht 'ne Zofe für sich. Soll ich dir morgen früh den Rücken auch noch abreiben?«

Er antwortete nur: »Wenn einer eine Abreibung bekommt, bist du es.«

Dann setzte er sich ans Fenster, blickte auf den weiten Park hinaus und über den Hof und dachte daran, daß jetzt wohl William, unglücklich über sein bärtiges Gesicht, am Kamin sitzen und eine schmerzliche Ode nach der anderen aus seinem wehmütigen Dichtergehirn tropfen lassen würde.

Plötzlich sah er erstaunt auf und lehnte sich aus dem Fenster. Über den Hof, vom Parktor her, kam ein Mann. Er war äußerst elegant gekleidet, wirbelte ein Stöckchen in der Luft, hatte einen steifen, grauen Hut auf dem langen Schädel und schritt geradewegs auf das Herrenhaus zu. Auf dem Scheitelpunkt der großen Freitreppe zupfte er noch einmal an der Blume in seinem Knopfloch, strich sich mit angefeuchteten Fingern über seine Augenbrauen und rückte den Schlips zurecht. Dann trat er mir nichts dir nichts ins Haus und ließ die breite Flügeltür hinter sich zufallen.

Toll, dachte Percy Bishop und wandte sich vom Fenster ab. Kommt da so ein windiges Subjekt durch den Park und geht einfach ins Haus zu Loretta. Zieht sich sogar die Augenbrauen mit Spucke nach. Muß ein ganz besonderer Lackaffe sein, dessen Anblick aus der Nähe mich reizen würde.

Rasch schlüpfte er in seinen Rock und lief die Treppe hinunter. Unten im Flur stieß er auf Bebsy, die ihn scharf ansah.

»Wohin?« fragte sie ihn kurz.

»Mich ein wenig umsehen«, sagte Percy. »An einem Sommerabend wie heute können die Aberdeener Mädchen besonders gut küssen.«

»Du Wüstling!« fauchte Bebsy.

»Besser als ein Eunuch«, antwortete er grinsend. »Auch du wirst das noch feststellen. Wann hättest du Lust dazu? Ich bin aber ziemlich ausgebucht. Vormerken könnte ich dich für den Montag in vierzehn Tagen. Einverstanden?«

»Nein!«

»Wann dann?«

»Überhaupt nicht!«

»Das denkst du jetzt, aber du wirst schon noch sehen.«

Er lachte und schlüpfte aus dem Flur. Hinter ihm schmiß Bebsy einen Besen an die unschuldige Wand und zertrümmerte in der Küche einen Teller aus tadellosem Steingut.

Percy Bishop schlenderte über den Hof und näherte sich der Freitreppe. Da er sah, daß dieser Teil des Hauses nicht erleuchtet war, schwenkte er nach links ab und schlich sich an das Musikzimmer heran, aus dem ein Lichtschein in den dämmrigen Abend herausfiel und mit den Schatten der Bäume spielte. Loretta war also inzwischen doch nach Hause zurückgekehrt.

Was Percy am offenen Fenster hörte, war für ihn von größter Bedeutung. Loretta hatte sich nämlich drinnen den Besucher vorgeknöpft und las ihm die Leviten.

»Ich hätte nicht gedacht, daß Sie wiederkommen würden, Mr. McFladden«, erklärte sie.

Au! werden Sie sagen. Das hat mir gerade noch gefehlt. Jetzt kommt der Autor auch noch mit einem McFladden daher. Gleich wird er mit Schottenwitzen aufwarten. Hätte ich doch bloß nicht weitergelesen.

Ich danke Ihnen, lieber Leser. Denn da Sie das Buch doch nicht entrüstet zugeklappt haben, kann ich fortfahren, Ihnen zu erzählen, wie Loretta mit dem gelackten Mister McFladden Schlitten fuhr.

McFladden schien sehr zerknirscht zu sein, denn er gab keine Antwort. Um so unerbittlicher hielt sich Loretta daran, ihn herunterzuputzen.

»Sie besitzen eine große Ausdauer, das muß ich sagen – aber wohin soll die Sie führen? Ich liebe Sie nicht, das wissen Sie. Und trotzdem laufen Sie mir nach, werfen mir Blumen auf die Bühne und wiegen sich in der Illusion, daß ich Sie beachte. Warum das alles, Mr. McFladden?«

»Weil Sie die Sonne sind, die über meinem an sich trostlosen Dasein strahlt«, antwortete McFladden. Seine Stimme klang etwas belegt und rauh – man merkte daran, daß er sehr erregt war und ihm die Aufzählung seiner Bemühungen, die alle mit beträchtlichen Ausgaben verbunden waren, außerordentlich zusetzte. »Ich habe ein großes Vermögen, Loretta, ich habe alles, um Sie glücklich zu machen. Ich bete Sie an.«

Da Loretta nichts entgegnete, nahm Percy an, daß sie sich zur Schlußattacke sammelte. Er hörte, daß Stühle gerückt und im Zimmer hin und her gegangen wurde.

»Ich habe nicht die Absicht, mich an einen Mann zu binden«, sagte dann in der Tat Loretta Gower. »Ich bin mit meiner Kunst verheiratet, verstehen Sie? Ich habe meine Kunst, ich bin unabhängig – was will ich mehr?«

»Liebe«, meinte McFladden kühn.

Loretta lachte. Es klang, als fielen Perlen von einer Schnur in einen silbernen Becher.

»Liebe? Was nennen Sie Liebe? Das, was man im allgemeinen darunter versteht? Soll ich mein freies Leben aufgeben, um die Waschmaschine mit Windeln zu füllen und aufzupassen, daß das Baby auch pünktlich seine Flasche bekommt? Vielleicht leiden Sie an kalten Füßen, McFladden, und ich müßte für eine Wärmflasche im Bett sorgen. Oder haben Sie mit chronischem Husten zu tun? Dann müßte ich in der Küche stehen und Milch mit Honig für Sie heißmachen. Nein, mein Bester, dafür bin ich mir zu gut. Ich liebe meine Opern mehr als jeden Mann. Komisch, nicht wahr? Es ist aber so, das können Sie mir glauben, McFladden. Sie sind nicht der erste, der sich, was meine Person angeht, einer Illusion hingibt.«

Das könnte auf William gemünzt sein, dachte Percy erregt. Eine harte Nuß, diese Frau. Hat eine Art, daß einem angst und bang werden kann. Falls die wirklich einmal Mrs. Ashborne werden sollte, kündige ich wohl besser. Das möchte ich nicht erleben, wenn William gegen sie zum Duell antritt, er müßte mir nur leid tun.

»Kommen Sie, McFladden, trösten Sie sich, trinken Sie einen Whisky«, sagte Loretta gerade etwas milder. »Vielleicht ändere ich mich einmal, wenn ich alt und grau geworden bin und einen Mann brauche, um an ihm eine Stütze zu finden. Aber solange ich singen kann, stehe ich nur auf eigenen Beinen.«

Nicht mehr singen, schoß es Percy durch den Kopf. Wenn sie nicht mehr singen kann, wird sie zu Wachs in der Hand eines Mannes. Himmel, wenn man es erreichen könnte, daß es als Sängerin aus wäre mit ihr, dann würde sie meinem William mit liebevollem Blick in die Arme sinken. Aber wie soll man das erreichen? Man kann ihr doch nicht die Stimmbänder durchtrennen.

Percy drückte sich an die Hauswand, weil er hörte, daß eine Tür ging. McFladden trat auf die Freitreppe, begleitet von Loretta, die einen wundervollen hellblauen Kimono an hatte. Sie gab dem bedrückten, geknickten, gescheiterten Verehrer die Hand und blickte ihm ohne Mitleid nach, als er traurig den Parkweg entlangschritt.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich wieder geschlossen, löste Percy sich von der Hauswand und schlug schnellen Laufes einen Bogen durch den Park, rannte an dem Gewächshaus vorbei und erreichte das hintere Tor gerade noch, als McFladden die Allee schon herunterkam.

Der Mann, den Loretta hatte abblitzen lassen, stoppte, als er plötzlich vor sich einen Mann aus den Büschen heraustreten sah, und faßte sein Kavaliersstöckchen fester. Doch Percy lächelte ihn beruhigend an und trat auf ihn zu.

»Mr. McFladden«, sagte er leise, »ich weiß, wer Sie sind. Sie können sich zehn Pfund verdienen.«

›Geld‹ ist bei Schotten ein Ausdruck, der von Gott kommt. Wenn einer zu einem Schotten sagt, du kannst etwas verdienen, gehört er zu den Menschen, die gesegnet sind.

»Es ist mir egal, woher Sie wissen, wer ich bin«, sagte McFladden und musterte Percy, der ihm fremd war. »Für Ihre zehn Pfund interessiere ich mich aber auf jeden Fall.«

»Die Sache ist ganz einfach. Sie brauchen nur in Aberdeen Verbindung mit Dr. More aufzunehmen. Dr. More wohnt in der London Street 15.«

»Und?«

»Leider hat Dr. More kein Telefon. Sie müssen sich also persönlich zu ihm bemühen. Überbringen Sie ihm bitte diese Nachricht.«

Percy kritzelte, wobei er seine Brieftasche als Unterlage benützte, ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier und steckte dieses in einen Umschlag, den er schloß und McFladden überreichte.

»Und meine zehn Pfund?« fragte McFladden.

»Ich habe sie bar nicht bei mir«, antwortete Percy. »Darf ich sie Ihnen überweisen?«

McFladden gab ihm seine Kontonummer, dann tippte er an seinen grauen, steifen Hut und schritt durch das Tor ins Freie. Lange sah ihm Percy nach. Ob ich das Richtige getan habe, fragte er sich. Ich kann in Teufels Küche kommen, wenn McFladden falsch reagiert. Aber ich muß das Risiko tragen, sonst kann William nicht zum Ziel kommen. Entdeckt Loretta nämlich erst einmal, wer der Fahrer Flip ist, darf McFladden nicht in erreichbarer Nähe sein.

Nachdenklich wanderte er den Parkweg zurück und stieß dabei auf Bebsy, die angriffslustig am Gewächshaus stand.

»Na, was machen die Gürkchen?« fragte Percy lustig. »Oder wolltest du nach den Karotten sehen?«

Bebsy blitzte ihn wütend an und lehnte sich gegen die Glaswand. »Wo warst du?« wollte sie wissen.

»Das sagte ich dir doch«, entgegnete Percy grinsend. »Warum willst du alles zweimal hören? Oder läßt dein Gedächtnis schon nach?«

Bebsy ballte die Fäuste und preßte sie gegen ihre wirklich nette Brust. Percy Bishop bekam Stielaugen und fühlte, wie ihm seine Gedanken zu entgleiten drohten.

»Es ist eine Schweinerei, in der Dunkelheit herumzuschleichen und Mädchen nachzustellen«, zischte sie ihn an. »Das kennen wir hier nicht. Es wäre besser für dich, dir das zu merken und nicht uns alle gegen dich aufzubringen. Wir sind ein anständiges Haus. Du solltest dich schämen!«

»Und wie ich mich schäme!« stieß Percy hervor und bedeckte die Augen mit den Händen. »Ich bin ganz zerknirscht. Bebsy, Süße, verzeih mir.«

Da fühlte er einen klatschenden Schlag auf seiner rechten Wange, und mit fliegendem Röckchen rannte Bebsy zurück zum Gesindehaus.

Glücklich sah ihr Percy nach und rieb sich die rote Backe.

»Sie liebt mich«, sagte er leise. »Bebsy, du Allerschönste, noch einen Monat Geduld, und wir feiern eine Doppelverlobung.«

Langsam schlenderte er den Weg zurück. Ab und zu blieb er stehen und lauschte. Aus dem Fenster des Musikzimmers drang herrlicher Gesang. Loretta saß am Flügel und begleitete sich selbst. Glockenhell schwebten die Töne in den nachtdunklen Park hinaus.

Die Arie der Tosca von Puccini.

Welch wunderbare Stimme sie hat, dachte Percy überwältigt. Ihre Stimme ist ihre Seele – ist sie ganz und gar. Ein Engel – wirklich – so müssen Engel singen, wenn sie besonders schön Gottes Herrlichkeit preisen.

Leise begab sich Percy ins Haus. Warum er auf Zehenspitzen ging, wußte er nicht; es fiel ihm noch nicht einmal auf.

Selbst als er schon im Bett lag und die Nachttischlampe löschte, klang die schöne Stimme noch in ihm nach und wiegte ihn in einen Traum, in dem allerdings ein recht irdischer Engel – nämlich Bebsy – die Hauptrolle spielte.