Das dritte Kapitel,
in dem William Ashborne eine fatale Entdeckung macht

Wenn der Leser bis hierher gekommen ist und, angeregt durch Percys Schlummer, nicht auch sanft entschlafen ist, wird er sich sicher noch daran erinnern können, daß William Ashborne der Sohn eines Lords ist. Solche Lords verfügen über eine umfangreiche Verwandschaft, und alle diese Onkels und Tanten, Vettern und Großvettern bestehen auf ihrem Recht, einem einsam gewordenen Angehörigen ihrer feudalen Sippe mit Rat und Tat – meistens aber nur mit Rat – zur Seite zu stehen. Diese rührende Fürsorge wurde durch den Umstand verstärkt, daß Ashborne ein Dichter war, zum Entsetzen der Familie, und daß man in ihm so das schwarze Schaf des ganzen Clans sah. Onkel Paddy, der nie ein Buch in die Hand nahm, behauptete, daß Dichten nahe am Irrsinn läge, und wenn man gar ein lyrischer Dichter sei, wären die Anzeichen einer langsamen Gehirnerweichung nicht mehr fern.

So gehörte also die ganze fürsorgende Liebe der großen Familie allein William Ashborne, der freilich große Teile des Jahres damit zubrachte, sich diesem Interesse zu entziehen.

In geradezu rührender Weise umsorgte die alte Lady Mary Abbot ihren über sieben Querverbindungen mit ihr verwandten Neffen, und immer, wenn ein Schreiben von ihr eintraf, in dem sie ihn zu sich nach Lancaster einlud, verdrückte sich Ashborne, trat eine Reise an und ließ sich eine Zeitlang nicht mehr sehen.

Heute nun, am schicksalhaften Tag, an dem der Brief Percys eintraf, brachte der Postbote auch einen Brief aus Lancaster. Und was Tante Abbot schrieb, das haute William einfach vom Stuhl. Eine nette Nichte habe sich zu Besuch für nächste Woche angesagt, teilte sie mit. Es wäre doch schön, wenn William auch kommen würde. Ihn erwarte nämlich auch noch ein Kunstgenuß. Und zwar sei ebenfalls die berühmte Sängerin Loretta Gower eingeladen, die man sicherlich zu einer kleinen Darbietung werde überreden können. »Weißt du übrigens«, schrieb Lady Mary, »daß Miss Gower mit mir ebenfalls verwandt ist? Allerdings nur entfernt. Sie nennt mich auch Tante.«

Man muß das nun verstehen – Ashborne war in großen Nöten. Erstens ließ er sich einen Bart wachsen, was ihm durchaus kein reines Vergnügen bereitete; zweitens wollte er bei Loretta seine Dienstbotenstelle antreten, was die Gefahr heraufbeschwor, durch Beschluß des Familienrates in ein Irrenhaus eingewiesen zu werden; und drittens wäre es einfach unmöglich gewesen, Loretta bei Tante Mary gegenüberzutreten. Daß Loretta auch noch eine Verwandte der alten Abbot-Schlange war, machte alles nur noch komplizierter, und so wurde er nun ein Opfer jener Stimmung männlicher Ratlosigkeit, in der lediglich der Genuß von Alkohol der Seele noch etwas Halt bietet.

Sie werden jetzt meinen, dieser Bursche ist schon ganz verwirrt. Anstatt die Gelegenheit beim Schopf zu packen und gleich bei Tante Mary den Sturm auf Lorettas Herz zu versuchen, zieht er es vor, einen verrückten Umweg zu machen und eine Stellung als Fahrer anzunehmen, um das gleiche Ziel zu erreichen. Was soll man dazu sagen?

Nichts, dazu kann man nichts sagen – oder man hätte in Ashbornes Haut stecken müssen. Er kannte nämlich seine Verwandtschaft, zu der nun auch noch – wenn auch über 14 Ecken – Loretta zählte. Ein Ehehindernis wäre darin wohl nicht mehr zu sehen, sagte er sich und entschied sich zunächst, so zu tun, als ob er den Brief der Tante nicht bekommen hätte. Das läßt sich ja deichseln, auch in Schottland – und gerade dort! Wenn man einem Briefträger von Invergarry ein Pfund in die Hand drückt, kneift er beide Augen – nicht nur eines – zu und schwört sieben Eide, daß ihm ein bestimmter Brief nicht zur Beförderung in die Finger gekommen ist.

Dafür hat er einen anderen Brief gebracht, den Ashborne auch sofort beantwortete. Er kam aus Aberdeen und war von Butler Stoke, der um Auskunft über den Chauffeur und Kutscher bat.

William nahm einen Bogen mit Wappen und setzte sich hin, um persönlich eine Antwort abzufassen.

»Mein treuer William Flip«, schrieb er, »ist ein Muster an Zuverlässigkeit und Können. Sein Verständnis für Pferde und Motoren findet nicht leicht seinesgleichen. Ich wäre sehr traurig, wenn er mich verlassen würde, und ich kann Sie nur bitten, seiner Bewerbung bei Ihnen einen abschlägigen Bescheid zu erteilen, da ich ihn nicht gern verlieren möchte. Lord William Ashborne Earl of Blandfort.«

Als Butler Stoke diesen Brief erhielt, grinste er zufrieden, lief aus dem Haus und klopfte Percy Bishop, der unglücklich im Garten stand und in einem Mistbeet herumharkte, auf die Schulter.

»Gut, mein Lieber, sehr gut«, lobte er Percy erfreut. »Ich habe bei Lord Ashborne Auskunft über Ihren Freund Flip eingeholt. Sie ist blendend. Ich werde ihn sofort engagieren.«

Percy hustete ein wenig und wandte sich wieder seinem Beet zu. »Vor der Aussaat sind mit der Harke 4-5 cm tiefe Rillen im weichen Boden zu ziehen, in die man die Setzlinge steckt. Diese sind nicht zu stark zu begießen, und dann ist mit leisem Druck die Erde anzudrücken …« Das stand so in dem Buch, in dem Percy abends zu lesen pflegte.

Alles blödsinnige Theorie, dachte er nun. Wie man diesen eisenharten Boden erst einmal weich bekommen soll, um die Rillen zu ziehen, das steht nicht drin. War doch eine blödsinnige Idee von mir, mich als Gärtner anstellen zu lassen. Und Bebsy habe ich heute den ganzen Tag auch noch nicht gesehen.

Immer draußen in der Sonne, immer den Rücken krummmachen und so tun, als täte man etwas – verflucht noch mal, gar nicht so einfach war das!

Butler Stoke wußte, als er sich freudig gestimmt in seine Wohnung zurückbegab, nicht, was unterdessen in Invergarry stattfand. Dort rollte nämlich, gerade als Lord Ashborne vorbeugungshalber in die Einsamkeit des Loch Ness entfliehen wollte, ein Rolls Royce vor das Portal seines Hauses, und eine alte, würdige Dame mit sehr, sehr viel Busen und einem asthmatischen Atem entstieg dem schmucken Vehikel. William, der am Fenster stand, erbleichte wie Desdemona kurz vor der Erdrosselung durch Othello und sank in einen Sessel.

Tante Mary! Es gibt keine gütigen Götter mehr, die einem das ersparen, dachte William. Und schon klingelte es draußen, und der alte Diener schlurfte an die Tür. Tante Marys durchdringendes Organ erfüllte die Diele. Sie fragte nach William, ihrem Neffen, und dann stand sie im Zimmer, breitete die Arme aus und rief: »Komm an mein Herz, du lieber Junge!«

Ashborne hatte wenig Lust, mit ihrem Busen zu kollidieren, und verneigte sich höflich. Das ist überhaupt eine besondere Eigenschaft der Männer: Mögen sie sich innerlich noch so gegen den Besuch einer alten Dame auflehnen, nach außenhin machen sie, wenn das Ereignis eintritt, gute Miene zum bösen Spiel und sind bestrickend höflich. Meistens aber merkt das die erfahrene alte Dame und ist dann doppelt so herzlich; daraus entsteht eine Unterhaltung ganz nach dem Geschmack des alten Herrn Knigge. Erst wenn der Gast wieder in der Ferne verschwindet, knirscht der Mann mit den Zähnen und wird zum geistigen Mörder und Amokläufer. Man nennt das Ganze schlicht ›gute Erziehung‹. Es soll aber auch Leute geben, die darauf pfeifen. Na ja, William Ashborne pfiff nicht darauf, sondern begrüßte Tante Mary mit der hellen Freude eines überraschten Neffen.

»Wie schön!« rief er. »Du in Invergarry?« Er drückte sie in einen Sessel und wünschte, dieser möge in der Erde versinken, mitsamt Tante Mary. »Das ist aber ein lieber Besuch!« Gott sei Dank kein häufiger, sonst wäre ich längst ausgewandert, dachte er.

Tante Mary schnaufte ein wenig und wischte sich den Schweiß von der fettigen Stirn. Sie war einem Walroß nicht unähnlich, vor allem, wenn sie kurzatmig prustete und dadurch ihre allzu üppig geratene Oberweite in gefährliche Schwingungen brachte, die von dem ihr gegenüber Sitzenden ängstlicher beobachtet wurden als von ihr selbst.

»Ich wollte dich noch einmal persönlich zu mir einladen«, sagte sie. »Und das war auch notwendig, denn ich habe auf der Herfahrt den Postboten getroffen. Merkwürdigerweise erklärte er mir, dir schon längere Zeit keinen Brief von mir mehr überbracht zu haben. Ich habe dir aber geschrieben. Wie gibt's das?«

»Was höre ich da?« wunderte sich Ashborne mit kindlichen Kulleraugen unschuldig. »Du hast mir geschrieben, Tantchen?«

»Ihr Männer seid alle furchtbar«, beklagte sich Tante Mary und schnaufte wieder. Seit sie Witwe war, erregte das Wort ›Männer‹ sie ungemein. »Natürlich habe ich dir geschrieben, und dieser seltsame Postbote steckt mit dir sicherlich unter einer Decke.« Sie blickte ihren Neffen mißbilligend an. »Warum, weiß ich nicht. Wie siehst du überhaupt aus? Nicht einmal rasiert bist du. Wozu hast du drei Diener, wenn dich keiner abschabt?«

Ashborne fuhr sich über das Kinn und fühlte mit Genuß die langen Stoppeln.

»Percy ist zu einer kranken Tante aufs Land gefahren«, sagte er. »Und die beiden anderen alten Knacker will ich nicht an mein kostbares Hälschen lassen. Dazu zittern sie mir schon zu stark. Mich selbst zu rasieren, wage ich auch nicht. Das will ich erst machen, wenn mein neues Buch abgelehnt wird. Dann fällt meine Lebensmüdigkeit nicht mehr sehr auf.«

»Du bist schrecklich«, stellte die Tante fest. Sie tat das immer, wenn sie bei William war. »Du müßtest besser gepflegt werden. Du solltest heiraten.« Sie schnaufte wieder laut.

William Ashborne hatte einen grausamen Zug um den Mund, als er zur Seite sah und das Verlangen unterdrückte, Tante Mary zu erwürgen.

»Ich habe kein Interesse an unkontrollierbaren Abenteuern«, sagte er brummend. »Ich habe meine Schriftstellerei, mein Land, ab und zu eine Partie Golf – was brauche ich mehr?«

»Ordnung brauchst du!« Tante Abbot richtete sich im Sitzen auf. Sie wirkte wie eine Glucke, der nur die zu behütenden Küken fehlten. »Du brauchst eine liebende Hand, die dein Leben zurechtrückt. Du verkommst hier, inmitten dieser reinen Männerwirtschaft. Du verlotterst. Ich habe deshalb für dich eine nette Braut ausgesucht, aus bestem, traditionsreichem Hause – ein Mädchen, tugendsam und edel.«

»Vielleicht auch noch mit Zöpfen und der Leidenschaft, Blockflöte zu blasen?«

»Spotte nicht! Sie ist die Tochter von Lord Saltefleet, eine vollendete Dame. Dreiundzwanzig Jahre alt, und so groß wie du.«

»Also eine Bohnenstange!«

»Sie ist schlank, ja«, meinte Tante Mary pikiert. »Sie hat die Rasse alten englischen Adels. Außerdem erbt sie vierhundertfünfzigtausend Pfund in bar und drei Landhäuser in Druham.«

»Das wäre das einzige, was mich reizen könnte«, erklärte William offen. »Aber sonst, liebes, gutes, prächtig aussehendes Tantchen, habe ich durchaus keine Lust, vor allen Leuten ›Ja‹ zu sagen und mich freiwillig ins Gefängnis zu begeben. Was, da staunst du? Meine Beste, es soll vorkommen, daß auch Neffen einen Willen haben. Leider hat dein guter, kleiner William einen sehr starken.« Er wiegte den Kopf hin und her und brachte damit Tante Abbot in Wut.

»So komm doch wenigstens zu meinem kleinen Abend, du Ekel!«

»Bei dem ich mit der Saltefleet zusammengeführt werden soll? Die mich überhaupt nicht interessiert? Danke, süßes Tantchen.«

»Ich habe, wiederhole ich, auch Loretta Gower eingeladen. Sie wird uns etwas vorsingen. Hast du sie schon einmal gehört?«

»Einmal, ja.« William sah zu Boden. »Bei einem Liederabend. Sie war gut. Außerdem sieht sie auch nicht schlecht aus. Ganz netter Käfer, ja.«

»William!« Tante Mary sah ihn empört an. »Sie ist die Tochter des Earls of Monmouth!«

»Um so verwunderlicher, daß sie auch etwas kann. Aber im Grunde ist mir das egal. Ich will nichts als meine Ruhe haben. Ich will niemanden sehen. Ich will dichten.«

»Du bist reichlich unhöflich, mein Junge«, stellte Tante Abbot erregt fest.

Ashborne zuckte die Schultern. »Ehrlichkeit wird oft mit Unhöflichkeit verwechselt. Das ist das Los des aufrechten Mannes.«

»Du kommst also nicht?«

Tante Mary erhob sich beleidigt und drückte die Hände an ihren teigigen Busen.

William schüttelte verneinend den Kopf.

»Wie du willst«, sagte sie, rollte zur Tür und riß sie auf. »Ich hätte nicht gedacht, daß ein Lord Ashborne sich so benehmen kann. Ich werde mich für dich nicht mehr verwenden.«

»Damit brichst du mir das Herz«, sagte William ironisch.

Die Tante sah ihn groß an, dann holte sie tief Luft, als wolle sie ihren Neffen einatmen, drehte sich schroff um und rauschte die Treppe hinab. Als sich unten der Rolls Royce in Bewegung setzte und davonfuhr, saß Ashborne schon in seinem Sessel und löschte in einem Buch einen Posten.

»Erbe Mary Abbot«, stand da. Und nun ein dicker Strich durch diese Zeile. Melancholisch sah William danach auf den Garten hinaus und hinüber zu den weiten grünen Hügeln der schottischen Landschaft.

Ich bin ein Esel, dachte er. Aber was soll ich machen? Bei einem Gesellschaftsabend, an dem Loretta teilnimmt, komme ich mit ihr nicht weiter. Und an dieser Gans Saltefleet habe ich schon gar kein Interesse. Außerdem wartet Percy auf mich. Und überhaupt ist das die beste Art, mich an Loretta heranzumachen – als ihr Fahrer nämlich und nicht als Lord Ashborne, dem sie ihre Liebe vielleicht nur des großen Namens wegen zuwendet, den er trägt.

Nur eins stimmte ihn bedenklich: Loretta war eine Nichte von Tante Mary. Das konnte Schwierigkeiten zur Folge haben, gerade jetzt, da die alte Dame wütend auf ihn war. Ob er nicht doch alles falsch gemacht hatte? Ob er nicht doch ein Trottel war?

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Bekanntlich sind die Gedanken, die plötzlich durchs Gehirn zucken, oft die besten. Sie haben schon manchen armen Schlucker zum Millionär gemacht. Den Gedanken, den William aber soeben hatte, wollte er sich nicht bezahlen lassen – er hatte ihn sozusagen ehrenamtlich.

Beschwingt ging er zum Telefon und meldete ein Ferngespräch nach London an.

In London saß ein Mann, dem es bei Nennung des Namens Ashborne kalt über den Rücken lief. Er hieß Silvester Holyhead und hatte einen Beruf, der gefährlicher gar nicht sein konnte: Er war Verleger. Solche Menschen fallen unter die Kategorie der Märtyrer – entweder sterben sie an Dolchstichen wütender Dichter, deren Werke sie abgelehnt haben, oder an der Mißachtung der Leser. Häuft sich letzteres, ist ein Konkurs unausweichlich, und die Schuld daran suchen die Verleger auch wieder bei den Schriftstellern, die aus der Konkursmasse auch prompt nichts erhalten.

Aber das gehört wieder nicht hierher, und wenn das mein Verleger liest, druckt er womöglich den ganzen Roman nicht, und Sie kommen dadurch nicht in den Genuß, das Leben William Ashbornes weiter verfolgen zu können. Das wäre schade, denn gerade jetzt beginnt es äußerst turbulent zu werden. Wundern Sie sich über gar nichts mehr – ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, daß William Ashborne eine äußerst farbige Persönlichkeit ist.

Er meldete also ein Ferngespräch nach London an und wollte Silvester Holyhead sprechen.

Warum – das verrate ich Ihnen noch nicht, denn gerade an diesem Abend hatte Percy in Aberdeen ein merkwürdiges Erlebnis.