Das elfte Kapitel,
das ganz anders wird, als man erwartet

Nee, nee, werden Sie sagen, daß die sich so schön und glatt letzt schon kriegen, das glauben wir noch nicht. Danach sieht's zwar nun aus, aber wir wissen doch, wie's in Romanen zugeht.

Da braucht der Autor noch ein paar Dutzend Seiten und denkt sich deshalb eine letzte große Verwicklung aus. Wetten, daß das hier auch zutrifft …

Und ich kann Ihnen nicht widersprechen, meine Damen und Herren, Sie haben sogar recht. Daß ich dazu gezwungen bin, Pegasus, das Dichterroß, noch nicht abzusatteln, sondern noch einmal mit ihm zu einem furiosen Ritt anzusetzen, liegt an Williams schwierigem Charakter, mit dem ich ihn ausgestattet habe. Lesen Sie, bitte …

Loretta kam also in der Tat nach Pabbay.

Sie ließ gar nicht lange auf sich warten, sie erschien schon drei Tage nach dem Eintreffen der Schallplatte und hopste mit süßem Lächeln an Land und sank William in die ausgebreiteten Arme.

Untergehakt gingen die beiden dann zu Williams Behausung, und sie sprachen auf dem Weg durch die weiten Wiesen nicht viel, weil ihnen das Glück die Kehle zuschnürte. Nur ab und zu blieben sie stehen, küßten sich und wandelten dann weiter, bis das Dach des kleinen Landhauses zwischen den Felsen hervorlugte.

»Dort ist es«, sagte William froh. »Und Percy hat bestimmt schon den Tisch gedeckt. Fünfzig Schritte weiter, und du bist am Meer, die Brandung rauscht zu dir empor, und du fühlst dich unendlich frei.«

»Herrlich«, sagte Loretta begeistert und schmiegte sich an William. »Ich liebe das Meer so. Wir werden oft zusammen auf den Felsen sitzen.«

Als sie in das kleine Haus traten, war Percy, nachdem er den Tisch gedeckt hatte, so diskret gewesen, das Feld zu räumen und irgendwo an der Küste zu angeln. Wenn zwei Liebende nach so vielen Verwicklungen endlich doch zusammenkommen, haben sie sich manches zu erzählen, was auch den besten Freund nichts angeht, sagte sich der lebenskluge Percy.

Behaglich ließ sich Loretta in einen Sessel sinken und blickte sich um.

»Schön hast du's«, sagte sie lächelnd. »Ich glaube wirklich, daß wir hier ohne weiteres leben können. Was brauchen wir die Welt draußen mit ihrem Getöse und Geschrei? Nichts sehen und hören und doch leben und lieben – das muß wie im Paradies sein.«

William nickte. Er setzte sich Loretta gegenüber und hielt ihre Hände in den seinen.

»Zuerst war ich wütend, als ich erfuhr, daß Percy dir meinen Schlupfwinkel verraten hatte. Doch dann war alles gut, und ich stand Stunde für Stunde am Strand, bis du kamst. War es ein großer Schrecken für dich in Brighton, als du durch den Auftritt Tante Marys erfahren hast, wer ich bin, nämlich nicht der Chauffeur Flip, sondern Lord Ashborne? Der Mann, der dich glühend verehrte, den aber nicht zum Zuge kommen zu lassen du dich redlich bemüht hattest?«

Loretta schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich muß dir etwas gestehen, William«, sagte sie zart.

»Daß du mich liebst?« Er streichelte ihre Hände.

»Etwas anders.«

»Daß wir bald heiraten wollen?«

»Auch nicht.«

»Dann errate ich es nicht«, sagte William und lachte wie ein kleiner Junge.

»Das kannst du auch nicht erraten.« Sie strich ihm über den wirren Haarschopf. »Ich habe von Anfang an gewußt, wer du bist.«

»Was?« William zuckte zurück und sah Loretta entgeistert an. »Du hast … das ist doch nicht wahr?«

»Doch.« Loretta nickte. »Tante Mary hatte mir erzählt, daß du dir einen Bart stehen läßt. Sie schimpfte erbost darüber. Und dann kamst du zu mir und hattest von Pferden keine Ahnung. Aber vom Dichten. Oh, wir Frauen sind darin hellhörig und scharfsichtig. Unsere erste Ausfahrt werde ich nie vergessen. Erinnerst du dich, ich nahm dir die Zügel ab, um dich nicht zu blamieren, und lenkte die Kutsche selbst. Wie froh du warst, sah ich dir an.«

»Dann wußtest du also schon alles, als wir nach Brighton fuhren? Du hattest mich erkannt und hast trotzdem Scotland Yard alarmiert, um mich suchen zu lassen? Du schimpftest auf Lord Ashborne und sahst ihn vor dir stehen?«

William war aufgesprungen und lief im Zimmer hin und her. Ängstlich folgte ihm Loretta mit ihren Blicken und wußte nicht, was sie von seinem Benehmen halten sollte. Sie preßte die Hand auf die Brust und schien mehr und mehr in sich zusammenzusinken.

William fuhr fort: »Und ich flüchtete aus Brighton, weil ich mich durch Tante Mary bloßgestellt fühlte. In Wirklichkeit hattest du mich aber schon wochenlang blamiert, da du mich erkannt hattest und mich trotzdem wie einen Kutscher behandelt hast. Wie sagte doch Percy: Loretta ist von dir überwältigt worden. Du hast ihr gezeigt, daß dein Stolz und deine Selbstachtung von deiner Liebe überwunden worden waren. Oh, nein! Nein! Ich bin es, der blamiert wurde! Du hast ein Spiel mit mir getrieben, das mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wird. Wie magst du innerlich über mich Tölpel gelacht haben. Du hast mich …«

»William!« Loretta war aufgesprungen und streckte beide Hände nach ihm aus. »So darfst du nicht sprechen! Man soll die Liebe nicht so tragisch nehmen!«

»Und du hättest weiter mit mir gespielt, wenn nicht zufällig Tante Mary nach Brighton gekommen wäre. Du hättest den Lord Ashborne noch lange als deinen Chauffeur herumlaufen lassen … weil es deiner Eitelkeit schmeichelte.«

»Hör bitte auf, William.« Loretta klammerte sich am Tisch fest. »Du weißt ja nicht, was du sagst. Tante Mary ist nicht zufällig nach Brighton gekommen, sondern ich habe sie kommen lassen, um dein Inkognito zu lüften und mich vor ihr mit dir zu verloben.«

»Ha!« William lachte schrill auf. »Auch das noch! Du hast Tante Mary kommen lassen. Sehr schön! Wirklich sehr schön. Das hätte die Blamage des Lord Ashborne perfekt gemacht. Großes Theater am Strand. Tante Mary in großer Pose: ›O William!‹ Kleine Ohnmacht. Du in noch größerer Pose: ›Was, Sie sind Lord Ashborne, Flip? O pfui, Sie Scharlatan!‹ Und ich wäre dagestanden wie ein dummer Junge und hätte am Daumen lutschen können. Zwangsläufig hätte ich jubeln müssen, wenn du mich dann doch genommen hättest, denn so ein armer Irrer, der einen Kutscher spielt, muß froh sein, dennoch akzeptiert zu werden. Und endlich die Pointe: ›Ich habe alles von Anfang an gewußt.‹«

»Du tust mir weh, William«, sagte Loretta leise. Tränen glänzten in ihren Augen. »Ich wollte dich Tante Mary als meinen Verlobten vorstellen, wiederhole ich. Das war mein Plan. Ich konnte es kaum mehr erwarten.«

»Sehr dramatisch, wirklich. Wie bei Shakespeare: Der Narr kriegt die Prinzessin, weil er so gut blödeln kann«, antwortete William bitter. Sein ganzer Stolz, das Bewußtsein, von Beginn an durchschaut und an der Nase herumgeführt worden zu sein, bäumte sich in ihm auf. »Schluß!« rief er. »Begreifst du, es ist Schluß! Jetzt gebe ich dir einen Korb – aber keinen momentanen – nein, einen unabänderlichen. Ich denke nicht daran, dich zu heiraten. Ein Lord Ashborne, der so behandelt wurde, ehelicht nicht diejenige, welche das tat.«

»William!« Loretta sehne auf und wankte. »Du liebst mich doch?«

»Es war ein Irrtum.« William wandte sich zur Tür. »Ich habe dir nichts mehr zu sagen. Geh zurück nach Aberdeen an deine Oper und sing fleißig deine Traviata oder deine Butterfly. Vielleicht wirst du einmal der Welt beste Sopranistin – bestimmt wirst du das … aber eine Lady Ashborne wirst du nie!«

Er knallte die Tür hinter sich zu und rannte aus dem Haus. Schluchzend fiel Loretta in ihren Sessel und bedeckte die Augen mit den Händen.

Er wußte nicht, was er sagte, dachte sie. Er liebt mich doch. Ich hätte ihm nicht verraten dürfen, daß ich im Bilde war. Ich hätte mir doch denken können, wie stolz er auf seinen Einfall war.

O Gott, was soll ich jetzt nur tun?

So saß sie eine ganze Weile und starrte durch das kleine Fenster hinaus auf das flache Weideland und auf den blaßblauen Himmel, der sich über der Insel und dem Meer spannte.

Ihre Gedanken waren tieftraurig. Sie haderte mit sich und dem Schicksal und wußte nicht, was sie machen sollte. Daß William ziemlich sauer reagieren würde, war vielleicht vorauszusehen gewesen – aber daß er sich so wild anstellte, das hatte sie nicht erwartet. Nun saß sie hier in dem kleinen Landhaus, William tief beleidigt. Er hatte sie abgekanzelt wie eine seiner Bekanntschaften in London, war weggerannt und hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, daß es zu einem endgültigen Bruch gekommen war. »Eine Lady Ashborne wirst du nie!« hatte er ihr ins Gesicht geschleudert, und sie war unter diesem Schrei zusammengezuckt, als ob er sie mitten ins Gesicht geschlagen hätte.

Percy schlich um das Haus herum, doch er wagte nicht, das Innere zu betreten, sondern bezog Posten in der Nähe der Tür. Frauen, die unglücklich lieben, muß man unter Kontrolle halten, dachte er. Bei Männern ist das halb so schlimm. Die saufen bloß. Aber Frauen, die schneiden sich die Pulsadern auf, drehen den Gashahn auf oder gehen ins Wasser.

Er hat mich wie eines seiner Weiber in London abgekanzelt, dachte Loretta wieder. Sie steigerte sich in einen Zustand hinein, der gefährlich war. Zorn und Haß, Stolz und Trauer verbanden sich in ihr. Ich kann ihn nie wiedersehen, jetzt nicht mehr, nachdem er mir solche Häßlichkeiten gesagt hat. Ich habe ihn lieb, ich bin ihm heimlich nachgefahren, ich habe gezeigt, wie sehr ich ihn liebe … und er kommt nicht einmal darüber hinweg, daß ich sein Spiel als Kutscher Flip durchschaut und eine Weile mitgespielt habe. Er hatte doch angefangen mit allem …

Nein, er kann mich nicht so lieben wie ich ihn. Und ich kann auch nicht wieder nach Aberdeen zurück, nachdem ich dem Direktor der Oper gesagt habe, daß ich in Kürze heiraten werde.

Für immer müßte ich mich degradiert fühlen. Nun, es gibt kein Zurück mehr.

Aber wohin soll ich denn?

Wohin?

Sie stand auf und trat vor den Spiegel. Mit zitternden Fingern ordnete sie ihre Locken. Traurige, tiefliegende Augen starrten sie an. Ihre Lider waren von Tränen gerötet. Sie sah gar nicht mehr hübsch aus.

»Ich muß weg von Pabbay«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Jawohl, weg. Noch heute. Sofort. Und wohin? Das ist doch egal, Loretta. Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Die Welt ist weit. Sie besteht nicht nur aus Aberdeen, Edinburgh, Pabbay oder Invergarry. Sie ist überall schön, wenn man zufrieden ist.«

Sie blickte ihr Spiegelbild an. Zufrieden? Ich werde nie mehr zufrieden sein, dachte sie. Ich werde immer an ihn denken müssen, und das ist furchtbar.

Loretta wandte sich vom Spiegel ab.

In diesem Zustand sind Frauen unberechenbar. Wenn sie sich erst einmal in einen Komplex hineingesteigert haben, gibt es kein Halten mehr. Eher kann man mit roten Tüchern gereizte Stiere besänftigen, als eine Frau beruhigen, die glaubt, nicht verstanden zu werden. Ich kenne das, o ja … man hat da so seine Erfahrungen.

Und deshalb war es gut, daß Percy in der Nähe der Tür hinter einem Holzstapel hockte und das Haus scharf beobachtete.

Gas hatten sie nicht. Der Gastod entfiel also.

Ein gutes, scharfes Rasiermesser ließ sich ebenfalls nicht so schnell finden. Die Pulsadern mußten also auch in Ruhe gelassen werden.

Aber Wasser stand zur Verfügung, viel Wasser. Nicht etwa in der Wasserleitung, sondern vor der Tür.

Das Meer.

Es brauste und brüllte. Es warf seine Wellen gegen die Insel und fraß sich seit Jahrtausenden langsam in das Land hinein. Es lockte und mordete, glänzte und verschlang.

Welch eine Gelegenheit für eine unglückliche, unverstandene Frau!

Loretta Gower war viel zuviel Weib, um daran nicht zu denken.

Nun wurde die Lage ernst – todernst im wahrsten Sinne des Wortes.

Loretta hatte ihr Bild im Spiegel nicht mehr sehen können … die traurigen Augen, den zuckenden Mund. Sie schlüpfte in ihren leichten Sommermantel und rannte aus dem Haus.

Aha, dachte Percy, jetzt heißt's zur Stelle sein. Unbemerkt glitt er hinter Loretta her und war sehr verwundert, als sie den Weg zum Hafen nahm.

Heute fährt doch kein Schiff mehr, grübelte er, scharf darauf achtend, daß er Loretta nicht aus den Augen verlor. Und Fischer fahren auch nicht aus. Was will sie im Hafen? William suchen? Der ist bestimmt nicht dort. Der hockt auf seinem Felsen über der Brandung und klagt den Winden sein Leid.

Loretta strebte mit schnellen Schritten zur Fischersiedlung. In dem kleinen Hafen sah sie sich um und trat auf eine Gruppe Inselbewohner zu, die sich beim Netzeflicken unterhielten.

»Ich brauche ein gutes Ruderboot«, sagte sie nach kurzer Begrüßung ohne Umschweife.

»Jetzt?« Die Fischer sahen sich groß an. »Mylady, es wird ein Sturm aufkommen«, sagte einer.

»Trotzdem. Ich möchte ein Boot mit kleinem Segel.« Sie schaute über das bewegte Meer. »Wie lange braucht man bis zum Festland?«

»Mit einem kleinen Boot?«

Die Fischer sahen sich wieder an. Die Lady weiß anscheinend nicht, wovon sie redet, dachten sie.

»Ja.«

»Gut sieben Stunden. Aber nur, wenn der Wind günstig steht und er das Segel voll trifft.«

»Das ist doch jetzt der Fall.« Loretta befeuchtete den Zeigefinger und hielt ihn in den Wind. »Er kommt vom Meer und weht zum Festland«, stellte sie fest.

»Er wird sich drehen.« Einer der älteren Fischer machte sich nun zum Wortführer. »Wir selbst fahren deshalb heute nicht hinaus aufs Meer.«

»Aber ich sehe keine Gefahr.« Loretta griff in die Tasche. »Wer will mir ein Boot verkaufen?«

Wieder blickten die Fischer einander an. Keiner wagte, der erste zu sein, der auf den Wahnsinn der Lady einging.

»Ich biete fünfhundert Pfund«, sagte Loretta laut genug, um von allen gehört zu werden.

Fünfhundert Pfund! Davon konnte man sich fünf neue Boote kaufen. Die Fischer erstarrten. Mit schlechtem Gewissen sagte endlich einer von Ihnen: »Ich hätte ein gutes, seetüchtiges Boot. Aber ich erkläre vor – vor meinen Freunden hier: Ich überlasse es Ihnen nur auf Ihre eigene Gefahr und Ihren ausdrücklichen Wunsch.«

»Natürlich.« Loretta gab ihm die fünf Hundertpfund-Noten und ging mit ihm hinunter zum Hafen, wo die Boote vertäut lagen.

Es war ein breites, tiefgehendes Boot, das der Fischer Loretta verkaufte. Ein weißes Segel lag gerafft auf dem Schiffsboden. Die Segelstange war glatt und poliert. Ein schönes Boot.

Ohne zu zögern, stieg Loretta Gower hinein und setzte sich. Sie nahm die Ruder in die Hände und nickte dem verdutzten Fischer zu, der untätig am Ufer stand.

»Binden Sie mich los und stoßen Sie mich ab!« sagte sie entschlossen.

»Mylady werden kentern«, erwiderte der Fischer. »Das Wetter schlägt um. Sie kommen nicht weit. Wir kennen uns aus, glauben Sie mir das. Ich rate Ihnen, hier zu bleiben.«

»Nein! Ich fahre! Stoßen Sie mich ab!«

»Kommt nicht in Frage, das mache ich nicht.« Der Fischer steckte demonstrativ die Hände in die Hosentaschen. »Ich habe Mylady ein Boot verkauft, das kann ich verantworten. Aber mehr nicht.«

»Dann nicht.«

Loretta stand auf, beugte sich über den Pflock und band selbst das Boot los. Unverzüglich stieß sie sich mit einem Ruder ab und hantelte sich in dem schwankenden Boot auf den Sitz, zurück. Mit kräftigen Zügen legte sie sich in die Riemen und ruderte das Boot sicher aus dem kleinen, geschützten Hafen hinaus auf das freie Meer, einer in der Ferne sichtbaren Sandbank entgegen.

In diesem Augenblick stürzte Percy in den Hafen. Er rannte zu dem Platz, wo das Boot gelegen hatte, und schwenkte beide Arme.

»Mylady!« brüllte er. »Zurück, Mylady! Das ist Selbstmord, Mylady!«

Loretta schaute sich um. Percy! durchzuckte es sie heiß. Ob ihn William geschickt hat? Ob er mich zurückholen soll? Zu spät, William, zu spät, ich gehe weit weg von dir.

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Der Wind wehte durch ihre Locken. Dann drehte sie sich wieder um und ruderte weiter … in langen, gleichmäßigen Zügen, wie bei einer Regatta auf der Themse.

Im sportlichen England hatte Loretta Rudern und Segeln schon auf dem College gelernt.

Percy schlug im Hafen die Faust gegen seine Stirn.

»Ihr Idioten!« brüllte er die versammelten Fischer an. »Wie konntet ihr das zulassen?« Er drohte ihnen. »Wenn das Lord Ashborne erfährt, wird er euch alle zur Verantwortung ziehen!«

»Welcher Lord?« fragte einer.

»Der Mann, dem das Haus am Strand gehört. Denkt ihr Schafsköpfe immer noch, er wäre einer von euch?«

»Gott sei uns gnädig!« stieß der Wortführer der Fischer hervor.

»Sie wollte ja nicht hören«, sagte mit kläglicher Stimme der Mann, der sein Boot an Loretta verkauft hatte. »Ich habe mich geweigert, sie loszubinden. Sie hat es dann selbst getan. Wie hätte ich es verhindern sollen? Ich kann doch einer Lady nicht in den Arm fallen.«

»Holzköpfe seid ihr! Gemeingefährliche Idioten!« Percy tobte. »Natürlich kann man in einem solchen Fall einer Lady in den Arm fallen! Man muß es sogar! Sie will sich das Leben nehmen!«

»Was will sie?« riefen mehrere Fischer zugleich.

»Krabben fangen!« schrie Percy und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Ich muß es sofort William melden, dachte er keuchend. Hoffentlich finde ich ihn. Hoffentlich sitzt er auf seinem Felsen und starrt in die Brandung.

Hoffentlich!

Loretta ruderte. Es war – nach langer Zeit – eine ungewohnte Übung für sie, auch wenn sie auf dem College diesen Sport viel betrieben und zu den besten der Ruderinnen gehört hatte. Aber hier, in der stürmischen Hebridensee, mitten in den hohen Wellen und den sich immer wieder drehenden Winden war alles viel schwieriger als auf einem Binnengewässer.

Eine Strömung, die von der Insel Pabbay zum Festland ging, half ihr dann dennoch, schneller als erwartet einen größeren Abstand von der Insel zu gewinnen.

Sie sah noch, wie Percy mit den Fischern schimpfte, wie er dann wegrannte, und machte das Segel klar, um es beim Aufkommen eines günstiges Windes sofort setzen zu können.

Die Sandbank überruderte sie. Hier tobte das Meer noch einmal ungestüm gegen das Naturhindernis an und gischtete. Dann aber lag das freie Wasser vor Loretta, und die langen, hohen Wellen rollten ungehindert auf das kleine Boot zu. Auf Berge hinaufgeworfen, in Täler hinabgeschleudert wurde die Nußschale, und Loretta klammerte sich an der Bordwand fest, zog die Ruder ein und ließ sich treiben von der Strömung.

Die Insel Pabbay war nur noch ein flacher Erdstreifen. Über Loretta wölbte sich der graue Himmel, um sie herum tobte das Meer.

Loretta bekam Angst. Richtige gemeine Angst.

Was wollte sie überhaupt hier draußen auf der See? Wirklich hinüber aufs Festland rudern? Morgen ging ein Postdampfer … Oder wollte sie nur hinausfahren, damit ihr Boot kenterte und man sagen konnte, es sei ein Unfall gewesen?

Kentern? Und hinein in diese Wellen fallen?

Sie würden sie emporschleudern und dann umarmen, hinabdrücken in dunkle Tiefen, aus denen es kein Emporkommen mehr gab.

Ertrinken? War es so schlimm zu ertrinken? Man schließt die Augen, öffnet den Mund und schluckt … schluckt … bis die Nacht über einem zusammenschlägt und man von nichts mehr weiß. Eine Minute wird es dauern, vielleicht auch zwei – zwei fürchterliche, grauenvolle Minuten. Luft! Wird sie schreien, Luft! Ich ersticke! Und mit jedem Schrei wird sie tiefer sinken, bis sie ins Schwarze fällt.

Nur zwei Minuten …

Loretta Gower klammerte sich an die Bordwand. Heiße Angst überspülte sie.

Nein, ich will nicht sterben! schrie es in ihr. Ich will zurück nach Pabbay, ich will zurück zu William! Warum hilft mir denn keiner? Warum kommt denn keiner nachgerudert?

Sie schaute sich hilflos und mit entsetzensgeweiteten Augen um. Nichts … niemand. Und das Meer brüllte um sie herum. Das Meer, das morden wollte.

Doch, da – da kam ein Boot von Pabbay! Ein Segelboot. Und ein Mann stand vorn am Bug und winkte.

Loretta fing an, laut zu beten.

Wirklich, sie kommen! Sie wollen mich retten!

Und William ist es. William! Ich kann ihn nicht erkennen, aber ich fühle es, ich weiß, daß er es ist.

Tränen rannen Loretta über die Wangen.

Ja, William, rette mich. Ich komme dir entgegen. Ich werde das Segel hissen und das Boot im Wind wenden. Zu dir hin … zu dir … lieber, lieber William.

Sie sprang auf, warf sich nach vorn in das schwankende Boot und krallte sich in das Segel, als eine neue Welle nach ihr greifen wollte. Der Boden des Bootes wurde schon hoch von Wasser überspült. Loretta dachte nicht daran, es auszuschöpfen. Sie schleifte das nasse Segel an die Stange, hakte die Haken in die Ösen der Leine und zog das Segel auf.

Keuchend zog sie an den Leinen. Langsam kletterte das Segel hoch, schlug im Wind, rauschte dann und bauschte sich. Das Boot machte einen Satz nach vorn, drehte etwas und lag vor dem Wind. Mit aller Kraft warf sich Loretta in das Segel und drehte es herum. Sie befestigte es an der Querrahe und klammerte sich an den Mast, als neue Brecher von der Seite über das Boot klatschten.

»Hilfe!« rief sie. »Hilfe, William! Ich schaffe es nicht! Ich treibe ab! Ich liege vor dem Wind, ich kann nicht wenden! Ich treibe hinaus aufs weite Meer! Hilf mir doch, hol' mich ein! Ich flüchte ja nicht vor dir, wie du vielleicht denkst, sondern ich möchte dir entgegenkommen – aber ich kann es nicht! Das Meer, der Wind, sie sind stärker als ich!«

Sie preßte sich an das Segel und ließ den Gischt der Wellen über sich sprühen. Mehr und mehr füllte sich das Boot mit Wasser, schon ging es tief, schwappte in den Wellentälern.

Wenn es hoch oben ritt, konnte Loretta die Retter sehen. Sie fuhren mit vollen Segeln und schäumendem Kiel durch das Meer. Vorne, an der äußersten Spitze, stand William, hatte die Hände an den Mund gelegt und schien etwas zu rufen. Sie verstand es nicht. Das Meer brüllte stärker, und der Wind pfiff durch das feuchte Segel.

»Komm!« schrie sie da. »William, komm doch! Ich kann nicht mehr! Mein Gott, vergib mir! Ich kann nicht mehr!«

Sie warf sich dem Segel entgegen und erwischte die Leitleine. An sie klammerte sie sich und versuchte, das Segel herumzureißen.

Ein Motorengeräusch wurde über dem Brausen des Meeres vernehmbar. Loretta jubelte. Sie haben einen Motor. Sie kommen näher. Ich bin gerettet. Sie sah sich um. Dort winkte William, sie konnte ihn nun deutlich erkennen. Neben ihm standen Percy und zwei Fischer. Sie winkte zurück … sie lachte … da schlug das Segel herum, klatschte gegen sie, traf ihre Stirn. »William!« schrie sie gellend, dann fiel sie über Bord in die kochende See und sah noch, wie das Boot sich über sie senkte. Nacht wurde es, tiefe Nacht …

Was war geschehen, nachdem Loretta von William verlassen worden war? Wie hatte sich das alles entwickelt? Wie kam William neben Percy auf das Meer? Wie war Percy nach Hause gekommen? Er war doch angeln gewesen, als sich der Streit zwischen William und Loretta entwickelt hatte?

Wie hatte das Schicksal da gespielt?

Nun, es war so gewesen:

William beleidigte Loretta. Und Loretta weinte, als William zornig das Haus verließ. Und Percy saß irgendwo und hielt die Angel ins Wasser. Der Tränenstrom der weinenden Loretta im Zimmer verstärkte sich. Man hatte ihr sozusagen ihre ganze große Liebe vor die Füße geworfen. Und sie wußte das und wurde lebensmüde. Lord Ashborne aber, der Übeltäter, der Rohling, rannte über die Wiesen den Felsen zu. Am Strand sah er Percy auf einem großen Stein hocken und friedvoll angeln. Er stürzte zu ihm hin, riß dem Verdutzten die Rute aus der Hand, zerbrach sie überm Knie und schrie ihn an: »Du Idiot!« Dann eilte er weiter und verschwand in den Felsen.

Verständnislos starrte ihm Percy nach und blickte auf seine kaputte Angelrute.

»Dem hat sich die Liebe aufs Gehirn geschlagen«, sagte er kopfschüttelnd. Dann zuckte er plötzlich zusammen und griff sich an den Kopf. Loretta, dachte er. Was ist im Haus vorgefallen?

Alles liegen lassend, rannte er die Uferböschung hinauf und lief über die Wiese dem Haus zu.

William hockte oben auf seinem Felsen und blickte in die kochende Brandung. In schauriger Wildheit brach sich unter ihm das Meer an dem Gestein.

Da hinunter springe ich gleich, dachte er und fühlte, wie er fror. Dann hat alles ein Ende, dann schweigen die Gedanken, und das Herz, das noch immer für Loretta schlägt, steht still. Sie hat alles gewußt und mich an der Nase herumgeführt. Ich wollte sie erobern, und sie spielte mit mir. Was hält mich denn noch davon ab, dort hinunterzuspringen und Schluß zu machen mit dem bißchen Leben, an dem mir nichts mehr liegt?

Er stand auf, trat an den äußersten Rand des Felsens und blickte hinab. Ich zähle bis drei, sagte er zu sich selbst, dann lasse ich mich fallen. Das Meer wird mich verschlingen, niemand wird mehr etwas von mir finden. Also … eins … zwei …

Er hörte hinter sich einen eiligen Schritt und einen keuchenden Atem. Halb wandte er sich um und sah Percy über die Felsen springen.

»William!« schrie Percy und winkte mit beiden Armen. »Loretta ist weg!«

Na und? dachte William. Sie ist weg. Das war doch mein Wunsch. Sie hat getan, was ich wollte: ging weg aus meinem Leben. Das ist gut so, sehr gut, das macht mir den Sprung in die Tiefe wesentlich leichter.

Keuchend und schwitzend stand Percy neben ihm. Doch momentan sprach er kein Wort mehr, sondern riß William vom Abgrund zurück, drehte ihn ganz zu sich herum und gab ihm rechts und links jeweils eine kräftige Ohrfeige.

»Du kannst mich jetzt entlassen!« schrie er dabei. »Mach', was du willst. Aber eins sage ich dir noch: Du bist das größte Rindvieh, das je herumlief. Halt' deinen Mund, jetzt rede ich! Loretta ist weg. Begreifst du das nicht? Sie ist von der Insel Pabbay runter. Und es fuhr kein Schiff, verstehst du?«

William sah Percy mit stieren Augen an. Auf seine weiße Stirn trat ihm plötzlich kalter Schweiß.

»Es fuhr kein Schiff?« stammelte er. »Und Loretta ist trotzdem weg?«

»Ja. Mit einem lächerlichen Ruderboot. Durch die Hebriden-See mit einem lächerlichen Ruderboot. Das ist Selbstmord!« Percy schrie es außer sich.

»Nein!« William riß die Hand an den Mund und biß in sie hinein, bis der Schmerz ihn zur Besinnung brachte. »Das darf sie nicht!« Er stieß Percy zur Seite und stürzte den Weg zurück, rannte durch das Haus, rief sie, taumelte dann zu den Fischerhütten und erfuhr bei den in Gruppen herumstehenden und erregt diskutierenden Fischern, daß die Dame ein Boot gekauft habe und hinaus aufs Meer gefahren sei.

»Dann brauche ich ein besseres Boot!« brüllte William und sah sich im Kreis um. »Wer mir ein besseres Boot zur Verfügung stellt und hilft, die Lady einzuholen, erhält fünftausend Pfund!«

Man rannte zum Hafen und takelte im Handumdrehen eines der größeren, einigermaßen seetüchtigen Fischerboote auf.

William, Percy und zwei Fischer sprangen hinein, während andere das Boot vom Strand abstießen. Ein Außenbordmotor wurde angeworfen, und das Boot glitt hinaus in die stürmische Barra-Passage.

Weit draußen, kaum wahrnehmbar mit dem bloßen Auge, schaukelte eine Nußschale auf dem Wasser. Sie war gegen den hellen Horizont eben noch sichtbar. Mit starren Augen lehnte William am Mast und beobachtete die tanzende Nußschale auf den Wellen.

»Wir müssen sie erwischen, Percy«, preßte er zwischen den Zähnen hervor, »ehe sie in die Hebriden-See kommt, denn dort kentert der Kahn sofort.«

Knatternd und fauchend arbeitete der kleine Motor. Der Wind in dem großen Segel blähte dieses weit auf. Doch da zeigte sich auch über der schwarzen Nußschale plötzlich ein weißer Fleck, der hell in der Sonne aufleuchtete.

»Sie hat uns gesehen und setzt nun ihr Segel!« schrie Percy. »Los, Leute, zeigt, was ihr könnt! Sie darf nicht in die Hebriden-See!«

Mühsam arbeitete sich das kleine Boot durch die hohen Wellen. Sie muß wie eine Irre gearbeitet haben, um schon so weit zu sein, sagte sich William. Ich habe sie ja aus meinem Haus gejagt. Ich habe sie tödlich beleidigt. Mein Gott, verzeih' mir, das habe ich nicht gewollt. Ich liebe sie doch noch immer. Ich kann sie ja gar nicht hassen. Wenn sie stirbt, folge ich ihr hier draußen auf dem Wasser sofort nach in die Ewigkeit.

Langsam kamen sie der Nußschale näher. Jetzt unterschied man das Segel und das Boot und sah in diesem einen lockigen Kopf, dessen Haare im Wind flatterten.

»Loretta!« schrie William, die Hände trichterförmig am Mund. »Loretta! Halte aus!«

Aber das Toben des Meeres verschluckte seine Stimme. Das Knattern des Motors und das Brausen des Windes halfen dazu.

Wir jagen den Tod, dachte William plötzlich. Warum mußte das alles so kommen? Warum mußte sich aus einem Scherz eine solche Tragik entwickeln? Man soll die Liebe nicht so tragisch nehmen – das war eines der letzten Worte Lorettas gewesen. Und ich habe sie zum äußersten getrieben, ich habe getobt und sie verlassen.

Und warum? Nur, weil sie gewitzter gewesen war als ich, und nicht ich sie, sondern sie mich an der Nase herumgeführt hatte.

Er beugte sich nach vorn und beobachtete mit heißen Augen, wie die Entfernung sich immer mehr verringerte. Jetzt konnte er Loretta deutlich sehen: Sie hockte hinter dem Segel und hielt die Leinen mit beiden Händen. Der Wind trieb ihr Boot vor sich her, und die Wellen drohten es oft zu verschlingen. Klatschend schlugen sie manchmal ins Boot, wenn Loretta nicht mit dem Segel lenkte und eine Woge sie seitwärts traf.

»Sie wird gleich kentern!« brüllte William den Fischern zu, die mit harten, kantigen Gesichtern das Boot steuerten. »Sie läuft voll, sie weicht den Wellen ja nicht aus! Da – da – wieder – schneller, schneller! Ich biete zehntausend Pfund!«

Der kleine Motor gab das Letzte. Das Segel über ihm knallte im Wind. Schaum brauste vor dem Bug des Bootes auf.

Da blickte sich Loretta um. Sie sah William an der Spitze des Bootes stehen und wollte ihm zuwinken. Adieu, sollte das heißen. Leb wohl, William, mach's gut, meine Liebe war unendlich groß.

Die Leine entglitt ihren Händen, das Segel schlug herum, flatterte im Wind, wurde von ihm losgerissen, das Boot legte sich zur Seite. Der Quermast schlug herum, traf Loretta an der Schulter und schleuderte sie in hohem Bogen in die kochende See.

»Loretta!« brüllte William auf. Es klang wie der Todesschrei eines Tieres, grell, unvergeßlich, schaurig.

Mit einem Satz war Percy neben ihm und riß ihn zurück. Einer der Fischer klammerte sich an Williams zweiten Arm. Von Sinnen trat und schlug William um sich und wollte sich ins Meer stürzen. Er biß in die ihn haltenden Hände, stieß um sich und drängte zur Bordwand. Da klatschte es neben ihm, und Percys Kopf tauchte zwischen den Wellen auf. Er hatte einen Rettungsring um die Brust und schwamm im Freistil durch das Meer. Percy konnte schwimmen wie ein Fisch. Hochauf schnellte sein Körper bei jedem Doppelschlag seiner Beine. Steuerlos trieb Lorettas Boot auf den Wellen. Loretta selbst mußte längst in die Tiefe gesunken sein. Noch immer rang William mit den beiden Fischern und schrie unverständliche Worte in das Getöse von Willen, Motor und Segeln.

Als Percy das Boot erreichte, sah er, daß sich Lorettas Bein in einer Leine verfangen hatte. Ihr Körper wurde vom treibenden Boot mitgeschleift. Ein Wunder war geschehen. Mit geschlossenen Augen lag Loretta im Wasser, mit aufgelösten Haaren, schon bewußtlos. Sie mußte rasch die Besinnung verloren haben. Höchste Eile tat not.

Mit wenigen Stößen war Percy bei ihr, stülpte ihr den Rettungsring über den Kopf, drückte ihre Schultern hindurch und legte die Arme über den Ring. Dann schob er sie vor sich her, dirigierte den ohnmächtigen Körper durch die Wellen und machte sich durch Winken mit der einen oder der anderen Hand dem Boot Williams bemerkbar. Rasch verließen nun auch ihn die Kräfte.

»Er hat sie«, sagte der eine der Fischer zu William und ließ ihn los.

Stöhnend sank William auf den Bug und starrte Percy entgegen, der gegen die Wellen kämpfte und Loretta vor sich herschob.

Als der Retter und die ohnmächtige Gerettete endlich an Bord gezogen wurden und man letztere hinab in die Kabine trug, kauerte William zwischen den Tauen und Netzen am Bug.

Er weinte.

Und keiner, selbst Percy nicht, wagte, zu ihm zu gehen.

»Das Schicksal hat ihn gestreift«, sagte Percy leise und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an.

Dann stieg er hinab in die Kabine, wo Loretta blaß und ohne Besinnung auf einer Bank lag.

Als er nach einiger Zeit wieder nach oben kam, stand William am Mast und blickte der Küste entgegen, der sie sich näherten.

»Wir bringen sie nach Castlebay ins Hospital«, sagte er, als ob es das Selbstverständlichste von der Welt wäre, daß man Loretta halb ertrunken in ein weißes Krankenhausbett legte. »Und dann hoffe ich, Percy, daß du weißt, was du zu tun hast. Ich danke dir übrigens. Ich werde dir deine Heldentat nie im Leben vergessen.«

»Ich rufe sofort in Aberdeen an und zitiere Bebsy herbei.«

»Natürlich. Das kommt dir gelegen, und auch Loretta kann das Mädchen in den nächsten Wochen gut brauchen.« William zog an seiner Zigarette. »Was noch, Percy?«

»Ich verständige Lady Abbot.«

»Was wirst du ihr sagen?«

»Erstens, daß du gefunden worden bist.«

»Falls sie das noch nicht weiß. – Und zweitens?«

»Daß alles okay ist.«

»Was ist alles okay?« William blickte seinen Freund und Diener mißtrauisch an.

Jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorüber war, befürchtete er schon wieder irgendeine der kleinen Teufeleien des unverbesserlichen Percy.

»Na, was denn, mein Goldjunge?« Percy blinzelte ihm zu. »Ich werde Tante Abbot sagen, daß Lord Ashborne und Lady Loretta Gower in Kürze als Vermählte grüßen werden.«

»Bist du verrückt?« William hielt Percy, der sich abwenden wollte, am Ärmel fest. »Wir haben doch Loretta noch gar nicht gefragt.«

»Ist das nötig?« lachte Percy. »Bebsy hat ›ja‹ gesagt, als ich sie fragte, ob sie meine Frau werden will. Und hast du schon einmal erlebt, daß eine Kammerzofe etwas anderes sagt als ihre Herrin – oder umgekehrt?« Und als er das verblüffte Gesicht Williams sah, klopfte er ihm kräftig auf die Schulter und meinte. »Na, mach' den Mund zu, hier zieht's ganz gewaltig.«

Und darin konnte William dem guten Percy nicht widersprechen.

In Castlebay ging man an Land. Ein Wagen brachte Loretta, die noch immer besinnungslos war, sofort in die Klinik von Dr. Scilly. William wich nicht von ihrer Seite. Er saß im Krankenzimmer bei ihr, er begleitete sie ins Untersuchungszimmer, er stand neben dem Bett, als sie, noch immer – oder schon wieder – besinnungslos, in erhitzte Tücher eingewickelt wurde.

Dann – als der Arzt absolute Ruhe verordnete – ging er in den großen Garten der Klinik, setzte sich auf die Bänke, lief herum, beobachtete das Fenster, hinter dem Loretta bleich in den Kissen lag, oder ließ sich von Percy berichten, was dieser alles unternahm. Er selbst begnügte sich damit, zu warten, zu warten und zu warten. Zu etwas anderem fühlte er sich nicht in der Lage.

Percy hatte unterdessen, wie angekündigt, bei Lady Abbot angerufen.

Dieses Telefongespräch war es wert, aufgezeichnet zu werden. Es bewies, daß man per Draht allerhand erzielen konnte, was normalerweise unmöglich zu erreichen gewesen wäre.

Percy sagte: »Guten Abend, Mylady. Hier spricht Percy …«

»Wo ist William?« schrie Tante Mary sofort. »Sie Lümmel, Sie sind einfach verschwunden! Und Ihre Bebsy weint den ganzen Tag! Wo ist William?«

»Bei mir, Mylady.«

»Bei – bei Ihnen?« Tante Mary keuchte wie eine lahme, sich eine Steigung hinaufquälende Lokalbahn, welcher der Dampf auszugehen droht. »Und wo sind Sie?«

»Gegenwärtig in Castlebay. Sonst auf Insel Pabbay.«

»Castlebay? Pabbay? Mein Gott, was macht William am Ende der Welt?«

»Zuerst stand er am Meer und starrte hinein. Unzweifelhaft wollte er hineinspringen. Aber dann maß ich die Temperatur. Sechzehn Grad. Das war ihm zu kalt.«

»Sie wagen es, mich auf den Arm zu nehmen?« schrie Lady Abbot außer sich. »Sie sind wohl inzwischen Kommunist geworden? Ich schicke Sie nach Moskau! Warten Sie nur, ich komme sofort nach Pabbay!«

Und jetzt geschah das, was in die vereinigte Familiengeschichte der Abbots und Ashbornes einging. Percy sagte, was noch keiner vor ihm zu sagen gewagt hatte: »Bloß das nicht! Bleiben Sie, wo Sie sind!«

Tante Mary verschlug es die Sprache. Eine solche Ungeheuerlichkeit hatte sie noch nie erlebt. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie geschlagen, so geschlagen, daß sie während der folgenden Unterhaltung nur noch »ja« und »nein« und »soso« sagte.

»Lord Ashborne hat inzwischen ganz davon abgesehen, Mylady, sich selbstmörderisch zu betätigen. Er ist verliebt.«

»Soso.«

»Lady Gower ist auch hier.«

»Ja?«

»Gewiß. Und sie lieben sich.«

»Soso.«

»Außerordentlich sogar. Haben Sie etwas dagegen, wenn die beiden sich heiraten?«

»Nein.«

»Wunderbar. Dann kann die Veranstaltung ja über die Bühne gehen. Lady Gower muß nur erst wieder gesund werden …«

»Lory ist krank?« entrang sich endlich auch wieder ein etwas umfänglicherer Schrei der voluminösen Brust der alten Dame.

»Och, nichts Schlimmes. Lady Gower wollte segeln und beherrschte diese Kunst nicht. Sie fiel in den Teich. Das ist ihr nicht gut bekommen. Wie gesagt, bei sechzehn Grad Wassertemperatur …«

»Sie Flegel! Sie Lümmel! Ich wiederhole: Sie Kommunist!« Lady Abbot entledigte sich ihres ganzen Vorrates an Insultationen. Dann hielt sie keuchend inne und schöpfte Atem. Percy nickte am Telefon.

»Mylady benutzen Chanel?« fragte er.

Tante Mary war zu verblüfft, um weiter zu denken. Sie fragte: »Woher wissen Sie das?«

»Ich rieche es durchs Telefon.«

»Percy!« Tante Mary hieb an die Hand. »Ich enterbe meinen Neffen, wenn er Sie nicht entläßt!«

»Das wäre schrecklich für ihn. Aber beruhigen Sie sich, Mylady, wenn ich Bebsy geheiratet haben werde, scheide ich freiwillig aus den Diensten bei Seiner Lordschaft aus und mache mich selbständig.«

»Als was? Als Revolutionär?«

»Nein, Mylady. Als Spion für die Russen.«

Er hörte nicht mehr den Schrei Mary Abbots – er hatte eingehängt und ging lustig pfeifend zum Bahnhof, auf dem in einer Stunde Bebsy und Stoke eintreffen mußten, die er per Telegramm nach Castlebay beordert hatte.

Als er dann mit den beiden in die Klinik zurückkam und sie auf den im Garten wartenden William trafen, wurde Percys gute Laune gedämpft. William saß auf einer Bank und starrte auf den Kiesweg.

»Noch immer ohne Bewußtsein«, sagte er deprimiert. »Dr. Scilly rechnet mit einer schweren Lungenentzündung. Er hat aus London ein besonderes Medikament angefordert. Loretta fiebert und phantasiert.«

Da wurden Percy und Bebsy, die auf dem ganzen Weg vom Bahnhof zur Klinik wie zwei Täubchen geturtelt hatten, still. Auch der alte, treue Stoke wischte sich über die Augen.

»Wird sie wieder gesund, Flip?« fragte er. Dann erst merkte er, was er gesagt hatte, und wurde blutrot. »Verzeihung, Euer Lordschaft. Mir rutscht das noch so über die Lippen.«

»Schon gut, Stoke.« William winkte ab. »Ob sie gesund wird, liegt in Gottes Hand. Wenn sie diese Krise übersteht, will ich jedenfalls für euch alle ein großes Fest geben. Wie gesagt, wenn sie die Krise übersteht …«

Dieses ›Wenn‹ hing tagelang wie ein Damoklesschwert über allen.

William und die anderen bewohnten in der Klinik Zimmer auf dem gleichen Flur, auf dem auch Loretta lag. Keiner von allen schlief. Sie saßen an den Fenstern oder lauschten nach draußen auf den Korridor, wenn die Nachtschwestern vorüberhuschten. Einmal sah Dr. Scilly herein zu William.

»Das Fieber ist sehr hoch«, meinte er besorgt. »Fast 41. Noch höher würde …« Er stockte. Aber jeder wußte, was ungesagt geblieben war. William stand auf und wanderte im Zimmer auf und ab. Seine Hände hielt er ineinander verkrampft auf seinem Rücken.

»Dr. Scilly«, sagte er mit tonloser Stimme, »Sie dürfen nicht glauben, daß ich Gott bezahlen will. Der Allmächtige ist unbestechlich. Aber wenn er mir Loretta nicht nimmt, stifte ich der Klinik eine neue Kapelle und eine Station für Unfallverletzte.«

»Danke, Mylord.« Der alte Arzt drückte ihm die Hand. »Was in unserer Macht steht, geschieht. Es sind uns aber Grenzen gesetzt, das wissen Sie. Zur Hoffnung gibt freilich die Zähigkeit der Patientin Anlaß.«

So saß man und wartete.

Eine Nacht.

Einen Tag und eine zweite Nacht.

Zwei Tage. Drei Tage. Vier Tage und Nächte. Und noch immer war das Fieber hoch. Noch immer lag Loretta phantasierend in den Kissen. William schlief kaum eine Minute – er qualmte unaufhörlich und trank starken Tee. Er starrte auf das bleiche Gesicht im Bett und rannte dann hinaus in den Garten.

Und er betete. Leise, versteckt hinter hohen Büschen, die Augen gen Himmel gerichtet.

Und der Himmel erhörte ihn.