Das siebte Kapitel,
in dem Loretta kräftig vom Leder zieht

Die Fahrt nach Banchory verlief am nächsten Tag ziemlich gefahrlos. Loretta schien in einer glücklichen Laune zu sein, denn sie bestand darauf, den Wagen selbst zu lenken. »Wenn ich etwas falsch mache, so sagen Sie es mir, Flip. Ich möchte das Fahren einmal richtig lernen.«

William betete drei stille Vaterunser, als sie starteten. Sicher hielt jedoch Loretta die Zügel in den Händen und lenkte die Pferde auf die Straße. Dann schnalzte sie allerliebst mit der Zunge, die Rösser trabten an, und die Kutsche rollte mit gut geschmierten Radachsen geschmeidig über die Landstraße.

Einmal glaubte William sagen zu müssen: »Gnädige Frau, die Zügel etwas straffer halten. Mehr die Kandare nehmen, Ajax steigt gern vorne auf.«

Daraufhin blickte ihn Loretta von der Seite an und grübelte darüber nach, wieso Lord Ashborne auf einmal etwas vom Kutschieren verstand.

Über die Fahrt wäre an sich nichts zu berichten. Oder meinen Sie doch? Sind Sie neugierig geworden? Na, geben Sie es ruhig zu … so ein bißchen, so um die Ecke herum möchten Sie doch einen Blick auf Loretta und Flip werfen. Was? Das wäre doch himmlisch, wenn die beiden im Wald ein nettes Picknick machen und sich ruckzuck ein wenig küssen würden. So ganz nebenbei. Oben flöten die Vögelchen, im Gras zirpen die Grillen, und William sagt zu Loretta: »Oh, my darling, I love you.«

Wollen Sie das lesen? So richtig Schmalz aufs Brot? Und die Wipfel der Bäume sangen halleluja. Die Lerche trillerte am Himmel zum Lobe der Schöpfung, die so herrlich ist. Tririlililili …

Nein, so war es bestimmt nicht; Sie können es mir glauben. Ich bin nach wie vor entschlossen, Ihnen kein unwahres Wort zu sagen und meiner Chronistenpflicht absolut korrekt nachzukommen. Loretta und Flip fuhren hinaus in die Natur. Soweit stimmt alles. Auch die Vöglein sangen, die Grillen zirpten im Gras, die Lerche stieg in den Himmel und trillerte. Das kann man alles nicht leugnen. Aber Loretta sagte nicht zu Flip: »Küß mich, Liebster, meine Augen sind selig geschlossen«, sondern sie meinte nach einer Fahrt von fünf Kilometern (genau fünftausendzweihundert Metern): »Flip, Sie sind ein Schwätzer!«

Hoppla, das sieht nicht nach Liebe aus. Nein, wirklich nicht. Verliebte sagen nicht Schwätzer, sondern finden einen adäquaten Ausdruck, der nicht so rauh ist. Die Terminologie der Liebe strotzt ja von Bezeichnungen, die aller Vernunft spotten. So sagt eine verliebte Maid vielleicht zu ihrem Schatz: »Mein süßes Schäfchen …« Das soll ganz lieb sein. Und eine reife Frau meint: »Hugo, du bist wirklich ein Dummerchen …« Damit leitet sie die Schlacht ein, an deren Ende sie ein neues Kleid gewinnt. Ganz raffinierte Weiber streicheln den Mann unterm Kinn und flüstern: »Bist du mein lieber Onassis …?« Dann geht es klarerweise um höhere Beträge, etwa für einen neuen Pelzmantel. Und wenn ich jetzt, bei Gott und allen Musen, den Haß sämtlicher Frauen auf mich ziehe: Es gibt keine Vertreterin des schwachen Geschlechts, die in einer verliebten Stunde nicht mindestens einmal einen solchen süßen, sinnlosen Ausdruck gebraucht.

Aber Schwätzer? Und dann aus dem Mund von Loretta Gower? Liebe Leser, geben Sie es ruhig zu, das stimmt Sie bedenklich. Mich übrigens auch, denn ich weiß jetzt nicht, wie ich Ihnen den Fortgang der Dinge der Reihe nach erklären soll.

Es begann damit, daß Flip nach diesen fünf Kilometern die Zügel der Kutsche selbst übernehmen mußte, weil Loretta über Müdigkeit in den Armen klagte.

William wechselte mit seiner Angebeteten den Platz auf dem Kutschbock. Fieberhaft überlegte er: Wie läßt man die Pferde antraben? Wie hat Loretta das vorhin gemacht? Er ließ die Zügel schnellen und schnalzte mit der Zunge, aber die Pferde bewegten sich nicht.

William preßte die Lippen aufeinander. Wieder ließ er die Zügel schnellen und schnalzte mit der Zunge. Ajax wedelte mit den Ohren, doch er stand wie ein Pfahl.

»Nanu?« sagte Loretta und schaute Flip von der Seite her an. »Was ist denn? Worauf warten Sie, Flip?«

»Auf nichts, Mylady.« William fühlte, wie ihm kalter Schweiß ausbrach. Verfluchte Gäule! dachte er. Kennen noch nicht einmal das erste Kapitel aus dem ›Handbuch für das Kutscherwesen‹. Das soll einer verstehen. Und bei Loretta haben sie pariert. Ajax, o Ajax, mein lieber Freund, sei brav, geh den anderen mit gutem Beispiel voran.

Wieder ließ er die Zügel schnellen und schnalzte laut. Die Zungenspitze tat ihm davon schon weh.

Die Pferde rührten sich nicht, am wenigsten der gute Freund Ajax.

William begann seine eigene Geburt zu verwünschen. Loretta saß steif neben ihm auf dem Bock und sah ihn beharrlich an.

»Ich glaube, irgend etwas machen Sie falsch«, sagte sie.

»Mir kommt es auch so vor, Mylady.« Flip ließ die Zügel sinken. »Aber was?«

»Versuchen Sie doch, wenn es Ihnen nichts ausmacht, an der Kandare zu ziehen.«

Dicker Spott klang in Lorettas Stimme. William wurde blutrot und zog an der Kandare. Prompt geriet Bewegung in die Pferde.

»Sie gehen!« rief er voller Freude, so, als habe er eine weltbewegende Entdeckung gemacht.

»Man sieht's.« Loretta griff ihm in die Zügel und zog an ihnen; die Pferde trabten gehorsam an. »Der Schaukelgang von denen macht mich seekrank«, sagte sie.

Jetzt bewegte sich das Gespann in flottem Trab, und Flip hing auf dem Bock, hielt sich an den Zügeln fest und ließ die Pferde einfach laufen. Sie kamen an eine Wegegabelung – die Gäule schlugen nach eigenem Ermessen einen Bogen nach rechts. Loretta faßte Flip am Ärmel der schönen grünen Livree.

»Ich wollte eigentlich den linken Weg nehmen«, meinte sie tadelnd.

»Zu spät, Mylady.« William war froh, daß die Pferde überhaupt liefen. Aber Loretta Gower hatte ihren eigenen Kopf. Sie schüttelte diesen und sagte: »Wenden Sie bitte, Flip.«

Wenden? William erschrak sichtlich. Wie wendet man ein Vierergespann, wenn es trabt? Hält man erst an? Fährt man ohne Unterbrechung einen Bogen? Überhaupt – wie hält man an? William machte das einzige, was ihm richtig erschien – er zog Zügel und Kandare straff an, und aus seinem Munde ertönte ein lautes »Brrr!«.

Ein Wonnegefühl durchrieselte ihn. Die Gäule standen wirklich. Sie standen sogar wie angewurzelt. Es blieb ihnen gar nichts anders übrig, denn Williams scharfer Kandarenzug zwang ihre Köpfe nach unten.

»Gut«, meinte Loretta erstaunt. »Und jetzt zurück.«

»Jawohl, Mylady.«

William Flip blickte sich um. Sie befanden sich in einem lichten Wald. Die Straße war breit und ausgefahren. Am Straßenrand verlief ein kleiner Wassergraben, dahinter begann der Wald. Farne wiegten sich in der Sonne. Schmetterlinge gaukelten zwischen den Stämmen. Weit und breit waren die beiden allein. Ziemlich nahe, im rechten Winkel zur Straße, führte eine kleine Schneise in den dichteren Wald.

Flip blickte zur Seite auf Loretta.

»Mylady«, meinte er, »heute ist ein schwüler Tag. Die Pferde haben sicherlich Durst. Man sollte sie hier im Wassergraben tränken. Sehen Sie nur Jenny an – sie zittert schon vor Durst. Und Ajax, mein Gott, der arme Ajax, der röchelt bereits. Ich glaube, Mylady …«

Und da fiel das ominöse Wort. Da sagte Loretta (allerdings mit einem Lächeln, das wiederum versöhnte): »Flip, Sie sind ein Schwätzer!«

Aber sie gab ihm nach und stieg mit ihm sogar vom Wagen.

Halt! sagen Sie jetzt. Der Autor ist ein Schwätzer! Was hat er angekündigt? Kein Techtelmechtel im Wald – keine gaukelnden Schmetterlinge – keine trillernde Lerche! Und was kommt jetzt? Genau das! Gemach, Herrschaften, keine vorschnellen Urteile, bitte.

Wohl gingen die beiden in den Wald.

Aha!

Und in die Schneise gingen sie auch.

Sieh da!

Ja, und sie setzten sich auch in die Farne mitten in der Sonne.

Oje!

In Dreiteufelsnamen, sie sprachen auch von Liebe.

Haben wir doch gewußt!

Aber – und das ist das Tolle an der Sache: Sie sprachen über das Liebesleben des Lord Ashborne.

Über die angeblichen Freundinnen in London.

Und jetzt wird's bunt, denn William sah im Interesse seines Spieles keine andere Möglichkeit, als die von Percy ausgestreuten Greuelgeschichten zu bestätigen und sich selbst einen kleinen Harem anzudichten. (Es war die erste Dichtung, die ihm mißfiel.)

»Also stimmt es doch!« Loretta saß in den Farnen und spielte mit einem Grashalm. »Ich wollte das Lord Ashborne nicht zutrauen. Aber wenn Sie es sagen, Flip, wird's wohl seine Richtigkeit haben.« Sie sah ihn tiefgründig an. »Sie müssen sich ja im Hause Ashborne bestens auskennen. Das bestätigt auch Percy.«

Immer dieser Percy! William ballte insgeheim die Fäuste. Er blickte auf Loretta, die neben ihm in den Farnen saß. Er biß sich auf die Lippen. Verdammt! Nun ist man nur ein dummer Kutscher. Nun muß man sich selbst schlecht machen. Das ist die Strafe für all die Lügen, mit denen man ein blödsinniges Abenteuer begann.

»Ich kann nur wiederholen, daß Lord Ashborne ein wunderbarer Arbeitgeber war«, meinte er. »Seine leichte Ader – na ja, jeder hat Fehler.«

»So?« Loretta sah ihn lächelnd an. Ihre Augen sind herrlich, dachte William. »Habe ich auch Fehler, Flip?«

»Es steht mir nicht zu, über meine Herrin zu urteilen.«

»Und wenn ich es Ihnen gestatte?«

»Lieber nicht.«

»So schlechte Eigenschaften habe ich?« Loretta erhob sich und strich mit der Hand Grashalme von ihrem Rock.

»Eigentlich nur eine, wenn ich mir diese Feststellung erlauben darf, Mylady.«

»Sie dürfen, Flip. Ich wünsche sogar, daß Sie mir sagen, welche das ist. Vielleicht kann ich mich bessern.«

»Mylady merken manches nicht.«

»Was merke ich nicht?« Loretta sah Flip mit zur Seite geneigtem Kopf an. »Das ist das Neueste, daß es mir an Sensibilität fehlen soll.«

»Doch, Mylady. Lord Ashborne wäre jedenfalls nie auf Abwege geraten, wenn Sie ihm – verzeihen Sie, daß ich das sage – Gelegenheit gegeben hätten, sich Ihnen zu erklären.«

»Ach so!« Loretta lachte hell. Welch ein raffinierter, geriebener Bursche, dachte sie dabei. Jetzt ist er es doch losgeworden. Unter der Maske des Flip hat er den Mut, es mir zu sagen. Wie schade, daß er sein Inkognito noch nicht lüften darf. Er würde in größte Verlegenheit geraten, wenn er jetzt erführe, daß ich sein Spiel durchschaut habe.

Bei diesem munteren Lachen von ihr blieb es also. Es war die einzige Antwort, die möglich war, und William dachte wütend, daß Loretta kein Herz im Leib habe. Wie kann eine Frau lachen, wenn man zu ihr von einem unglücklichen Mann spricht? Langsam glaubte William es selbst, daß er eine tragische Figur wurde, und runzelte die Stirn. Das verlieh seinem langen Gesicht den Ausdruck großen, mit Standhaftigkeit ertragenen Leides.

»Ich weiß, daß Lord Ashborne sehr unglücklich war«, erklärte er ernst. »›Flip‹, sagte er eines Tages zu mir, ›fahr mich hinaus zum Loch Ness. Ich bin traurig, ich möchte Schluß machen mit mir.‹ – ›Aber nicht doch, Mylord!‹ habe ich da gerufen. ›Wie können Sie an so etwas denken? Ich bitte Sie, es gibt doch Frauen genug auf der Welt! Es muß ja nicht gerade die eine sein!‹«

»So, das haben Sie zu Lord Ashborne gesagt?« Loretta sah Flip herausfordernd an. Das ist ja allerhand, dachte sie. Jetzt fängt er an, mich herabzusetzen. Es muß ja nicht gerade die eine sein.

»Ja.«

»Und er hat Ihnen nicht widersprochen, Flip?«

»Nein, Mylady. Er stimmte mir sogar zu und sagte: ›Recht hast du, Flip. Fahren wir nach London und vergessen wir die …‹«

William brach ab.

»Was ist?« fragte ihn Loretta. »Warum verstummen Sie?«

»Ich will nicht, daß Sie sich beleidigt fühlen, Mylady.«

»Wieso beleidigt fühlen?«

»Weil er einen bösen Ausdruck gebraucht hat.«

»Der mir galt?«

»Ja, Mylady.«

»Ich will ihn wissen. Los, er sagte also, ›recht hast du, Flip, vergessen wir die …‹«

»… dumme Gans.«

»Das hat er nicht gesagt!« rief Loretta. »Nein, das glaube ich nicht, so unverschämt ist er nicht!«

»Mylady, ich nehme es auf meinen Eid.«

Natürlich, jetzt, jetzt hat er es gesagt, dachte Loretta empört. Hier, vor mir, als der kleine Kutscher Flip. Raffiniert hat er das gemacht, der Lord Ashborne, schlau. Aber warte, mein Lieber, zur Strafe sollst du noch manchen Tag schwitzen unter deiner glatten Maske, Kutscher Flip.

»So, er hat es also gesagt?« Loretta Gower schlug den Weg aus der Schneise heraus zu den Pferden ein, was William gar nicht recht war. »Nun, dann bestätigt sich eben doch immer wieder, daß Lord Ashborne ein ungezogener Mensch ist, ein Flegel. Fuhr er denn anschließend nach London?«

»Wieso nach London?«

»Sie sagten doch selbst, daß er es vorziehen wollte, sich nicht zu erschießen –«

»Erschießen?«

»– oder sich im Loch Ness zu ertränken, sondern nach London zu fahren … wahrscheinlich zu seinen Weibern.«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich denke, Sie wissen alles von ihm?«

»Wie kommen Sie darauf?« antwortete Flip.

»Nein? Sie wissen nicht alles von ihm?« Loretta blickte ihn hintergründig an, dann wandte sie sich ab. Sie konnte nämlich nicht umhin zu lächeln, wollte aber dieses Lächeln vor ihm verbergen.

»Na schön, machen Sie kehrt, ich will nach Hause, Flip.«

William nahm auf der Straße die Pferde vorne am Geschirr und führte sie im Kreis. So umging er das Wenden und setzte sich dann stolz wieder auf den Bock. »Befehlen Mylady einen flotten Galopp?« fragte er sogar übermütig.

»Bitte, nein.« Loretta blickte vor sich auf die Straße. Hat nun er die erste Schlacht gewonnen oder ich? fragte sie sich und fand keine Antwort. Und sie achtete nicht mehr weiter darauf, ob Flip die Pferde richtig lenkte oder falsch. Man kam so schweigend und zu Percys Erstaunen wohlbehalten zu Hause wieder an.

Auf jeden Fall war also die erste Fahrt besser verlaufen, als zu befürchten gewesen war, und Percy gab sich alle Mühe, die Pferde heimlich zu putzen und die Hufe auszustechen. Und es hätte sich wohl auch noch länger alles in vollem Frieden entwickelt, wenn nicht Loretta etwas getan hätte, das weder William noch Percy erwarteten.

Eines Tages ließ sie nämlich Flip rufen und sagte zu ihm: »Flip, machen Sie den Tourenwagen fertig, wir werden heute nachmittag Lord Ashborne in Invergarry besuchen.«

»Wen?« William glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

»Ihren früheren Herrn, Lord Ashborne. Er wird sich freuen, Sie wiederzusehen. Außerdem will ich ihn fragen, ob er nicht doch das Gedicht von Ihnen vertonen will.«

William war bleich geworden, nickte und verließ das Zimmer. Draußen rannte er zu Percy, der im Garten arbeitete, und zog ihn in die Laube am Rande des Parks.

»Es ist aus, Percy«, stieß er hervor. »Komm, pack' sofort die Koffer, wir hauen ab. Loretta will mit mir zu Lord Ashborne fahren.«

»Da wird der Lord sich aber freuen. Das war doch schon immer sein Wunsch.«

»Spar dir deine Witze!« fauchte William. »Merkst du nicht, daß wir geliefert sind?«

»Wieso?« Percy schüttelte den Kopf. »Lord Ashborne ist eben, wenn ihr hinkommt, wieder verreist! Du telegrafierst sofort nach Invergarry, daß du nach – wohin denn? – verreist bist.«

»Das ginge.« William nickte zögernd. »Sagen wir: Ich bin in Brighton. Das liegt unten im Süden Englands. Da kann Loretta nicht einfach nachfahren, das sind mehr als 800 km Entfernung. Gute Idee, Percy. Gib folgendes Telegramm sofort auf: ›Lord Ashborne nach Brighton verreist stop Rückkehr nicht festgelegt stop Post braucht nicht nachgeschickt zu werden stop Neue Adresse Hotel Sunshine Brighton stop Ashborne‹.«

»Geht in Ordnung, Will.«

Percy versäumte keine Zeit und verschwand durch das hintere Parktor in Richtung Stadt.

Aber Loretta war nicht auf den Kopf gefallen. Sie ahnte etwas Ähnliches und hielt noch viele Überraschungen parat.

Die Reise am Nachmittag verlief still und harmonisch. Schloß Invergarry tauchte auf, man stoppte vor der großen Auffahrt. Der alte Diener stand dort und nahm sie in Empfang.

Fröhlich stieg Loretta aus. James, der Diener, starrte auf den Chauffeur und wußte noch nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Schnell legte William, von Loretta unbemerkt, den Finger auf den Mund und blickte James blinzelnd an. Der verstand nun und wappnete sich.

»Melden Sie mich bitte Lord Ashborne«, sagte Loretta.

»Bedaure, Mylady.« James zuckte mit den Schultern und sah dabei William an. »Seine Lordschaft ist verreist.«

»Ach? Nach London?«

»Nein, Mylady. Nach Brighton.«

»Brighton?« Loretta wandte sich um. »Flip, hatte Lord Ashborne in Brighton auch eine Geliebte?«

»Ich wüßte nicht.« William biß sich auf die Lippen.

Der alte Diener begann zu schwitzen und sagte hastig: »Seine Lordschaft wird sich erholen, Mylady. Die letzten Wochen waren für ihn sehr arbeitsreich.«

Loretta sah James skeptisch an. »Arbeitsreich? Hat er seine Adresse hinterlassen?«

»Ja, Mylady.« James kramte in den Taschen und brachte Percys Telegramm zum Vorschein. Dieses gab er Loretta Gower, die es an Flip weiterreichte.

»Schreiben Sie die Adresse auf, Flip!« befahl sie ihm.

Mit großen Augen schaute der alte Diener zu, wie Lord Ashborne seine eigene angebliche Adresse gehorsam aufschrieb und ihm dann das Telegramm zurückgab.

Loretta Gower stieg wieder in den Wagen. »Fahren Sie, Flip!« sagte sie knapp.

»Wohin, Mylady?«

»Zur Post.« Sie nickte dem Diener zu. »Auf Wiedersehen, James.«

»Auf Wiedersehen, Mylady.«

Der Wagen rollte an. Lange blickte der alte Diener ihm nach. Dann kratzte er sich den weißen Kopf. »Hoffentlich nicht«, sagte er leise. »So nicht, Mylady …«

Wenig später aber holte Loretta zu einem Schlag aus, der William in neue Schwierigkeiten versetzte.

Im Postamt führte sie ein Ferngespräch mit Brighton, ein Gespräch mit dem Hotel, in dem Lord Ashborne wohnen sollte.

»Jetzt werden wir ja sehen«, sagte sie zu Flip, der blaß neben ihr stand, »ob Ihr ehemaliger Herr wirklich müde und ausgelaugt von seiner vielen Arbeit am Strand sitzt.«

Schwitzend erlebte in diesen Minuten Lord Ashborne seinen Untergang.

In Brighton gab es gar kein Hotel Sunshine.

»Sehen Sie«, sagte Loretta und blickte Flip durchbohrend an.

Die Kurverwaltung fiel ihr ein. Sie ließ sich mit dieser verbinden. Loretta war entschlossen, das Spiel, in dem jetzt sie am Zuge war, so schnell nicht abzubrechen.

William Ashborne litt.

Ein Blick in die Kurliste der letzten acht Tage müßte Aufschluß geben, sagte Loretta.

»Nein, Mylady.« Der Kurdirektor persönlich war am Apparat. »Ein Lord Ashborne ist bei uns nicht eingetroffen und auch für die nächste Zeit nicht angemeldet. Und unangemeldet zu kommen, hätte keinen Zweck, denn wir sind restlos ausgebucht.«

»Ist es auch nicht möglich, daß er vielleicht schon in Brighton wohnte und inzwischen wieder abgereist ist?«

»Ganz ausgeschlossen.« Der Kurdirektor war sich seiner Sache absolut sicher. »Alle Gäste werden genau registriert. Jedes Hotel, jede Pension, jedes Privathaus ist angewiesen, Gäste innerhalb von drei Tagen bei uns zu melden. Er könnte nur unter einem anderen Namen abgestiegen sein, wenn ich mir diesen Hinweis erlauben darf, Mylady. Nur diese einzige Möglichkeit besteht.«

»Das leuchtet mir ein. Ich danke Ihnen.«

Loretta hängte ein. Empört wandte sie sich an Flip, der mit dem Gefühl, jeden Augenblick im Boden versinken zu müssen, neben ihr stand: »Was sagen Sie jetzt, mein Lieber?«

»Ich verstehe das nicht.«

William sah zu Boden. Das wird nie etwas, durchfuhr es ihn. Wenn ich je die Maske des Flip lüfte – und das muß ich ja einmal –, dann gibt das ein Drama ohne Beispiel, einen Sturm, gegen den die Shakespeare-Tragödien lauen Lüftchen aus Arkadien ähneln. Nein, nein und noch mal nein – jetzt ist alles aus! Schluß! Und an allem ist dieser Percy schuld. Bei der nächsten Gelegenheit erschlage ich ihn.

»Ich habe den Lord übrigens im Verdacht, daß er sich auf Invergarry verleugnen läßt«, sagte Loretta. »James war so merkwürdig zerfahren, so unsicher. Er kann sehr schlecht lügen. Wenn ich der Lord wäre, würde ich einen anderen ans Tor stellen, um Besucher abzuwimmeln. Vielleicht Percy. Der könnte das sicher besser.«

»Percy arbeitet doch bei Ihnen, Mylady.«

»Richtig.« Loretta biß sich auf die Lippen. Da hätte ich mich bald verraten, dachte sie erschrocken.

»Und wohin jetzt?« fragte William bedrückt.

»Noch einmal zum Schloß des Lords!« befahl Loretta, und William fuhr blaß und unfähig, etwas anderes zu tun, zu seiner Behausung zurück. Dort mußte er mitanhören, wie Loretta seinen alten Diener einem Verhör unterwarf.

»Seit wann ist Lord Ashborne verreist?«

»Seit acht Tagen.«

»Und Sie wissen nicht, wohin?«

»Nach Brighton, Mylady.«

»In Brighton ist er nicht. Ich habe soeben angerufen. Die Adresse ist falsch. Haben Sie gesehen, daß Lord Ashborne abgefahren ist?«

Der alte Diener schwitzte stark. »Nein, Mylady. Er war eines Morgens nicht mehr da und hatte nur einen Zettel hinteressen: ›Bin fort – komme bald wieder.‹ Das ist so seine Art, Mylady.«

»Mehr können Sie mir nicht sagen?«

»Nein.«

»Danke.« Loretta drehte sich um und stieg wieder in den Wagen. »Zur Polizei!« befahl sie William.

Aus! dachte William. Jetzt wird die Sache auch noch kriminell. Dieses Rindvieh von Percy! Hätte ich den Blödsinn doch bloß nicht mitgemacht. Das ergibt eine Kette ohne Ende.

»Warum starten Sie nicht, Flip?« fragte Loretta.

William fuhr aus seinen Gedanken hoch. Dann trat er aufs Gaspedal, und der Wagen schoß davon. Ist ja doch alles egal, dachte William. Die Karre steckt nun schon im Dreck, lassen wir sie ganz im Schlamm versinken. Galgenhumor überkam ihn.

Vor dem Gebäude der Polizei hielt er, und Loretta verschwand in den Räumen des Reviers.

»Ich habe eine Anzeige zu machen«, sagte sie zum Wachhabenden. »Eine Vermißtenanzeige – wenn nicht eine gefährlichere. Sie kennen den Lord Ashborne?«

»Aber ja«, lächelte der Beamte. »Wer sollte hier den Lord nicht kennen?«

»Er ist seit acht Tagen verschwunden.«

»Was?« Der Beamte starrte Loretta an. »Davon haben wir noch nichts gehört, deshalb kann ich mir das auch gar nicht vorstellen. Irren Sie sich nicht?«

»Nein. Er gab an, in Brighton zu sein. Aber die Adresse stimmt nicht. Es sieht alles nach einer Entführung oder vielleicht sogar nach Mord aus. Ich kann das nicht beurteilen, ich bin viel zu aufgeregt dazu. Ich wollte ihn vorhin besuchen und –« Sie drückte das Taschentuch an ihren Mund und begann leise zu schluchzen.

Der Beamte war rot geworden. Wenn das stimmt, dachte er aufgeregt, steht mir Großes bevor. Der Fall muß nur von mir entsprechend behandelt werden, dann …

»Ich werde mich sofort um die Sache kümmern und alles Nötige einleiten«, sagte er hastig, nahm ein rasches Protokoll auf, alarmierte den Bereitschaftswagen und raste zum Schloß des Lords.

Loretta war wenig später schon wieder auf der Fahrt nach Aberdeen und schilderte dem immer blasser werdenden William die Konsequenzen, die sich aus dem Verschwinden Lord Ashbornes ergeben konnten.

Als sie nachts endlich zu Hause gelandet waren, trommelte William Percy aus dem Bett und gab ihm eine Ohrfeige.

»Nanu«, sagte Percy erstaunt, »du bist aber gut gelaunt, Will.«

»Das ist für deine blödsinnige Idee, das Ganze hier zu inszenieren. Weißt du, als was ich gelte?«

»Nein.«

»Als entführt! Oder gar als ermordet«, grollte William. »Sie hat in Brighton angerufen und festgestellt, daß es dort gar kein Hotel Sunshine gibt. Ich bin logischerweise unauffindbar, und deshalb hat Loretta eine entsprechende Anzeige erstattet, daß ich vermißt bin oder gar verschleppt wurde und einem Mord zum Opfer fiel. Was nun?«

Percy massierte sich das Kinn und sah seinen Freund eine Weile grübelnd an.

»Dann wird es am besten sein, du bleibst das noch länger«, sagte er schließlich. »Auf diese Weise kann vorläufig nichts mehr passieren. Wer tot ist, wird in Ruhe gelassen.«

»Blödsinn. Die Anzeige läuft doch nun. Außerdem wird Loretta nicht lockerlassen.«

»Na und? Es gibt keine Spur von dir. Wie kommt sie überhaupt zu ihrem plötzlichen Interesse an Lord Ashborne?«

»Wenn ich das wüßte! Zuerst qualifiziert sie ihn laufend ab – und nun dies! Da kenne sich einer aus. Vielleicht haben wir zu früh die Nerven verloren. Wenn ich heute in Invergarry anzutreffen gewesen wäre, hätte sich womöglich alles blendend gelöst.«

»Wenn – wenn. Wenn das Wörtchen wenn nicht wär', wär' mein Vater Millionär. Wir müssen uns jetzt eben anders durchlavieren.« Percy setzte sich auf den Bettrand und ließ die Beine baumeln. »Theoretisch betrachtet, ist das so die beste Lösung. Du bist tot, keiner kennt den Fundort deiner Leiche – es gibt, wiederhole ich, keine Spuren – einfach prima!«

Und das war es, was sowohl William wie auch Percy den Hals brach. Ihre Ansicht war – auch theoretisch – grundfalsch. Denn Loretta, einmal dabei, die tragisch werdende Liebe William Ashbornes nicht so tragisch zu nehmen, rollte den Fall unerbittlich und gewandt auf.

Es begann damit, daß am nächsten Tag zwei Dienstwagen der Polizei vor Schloß Invergarry vorfuhren und acht Beamte auf den lockeren Kies sprangen. Der alte James begann schon im voraus zu zittern und nahm sich vor, sich dumm zu stellen. Das ist die beste Waffe gegen die Polizei, die für sich in Anspruch nimmt, besonders klug zu sein.

Mr. Webb, der Inspektor des Distrikts, leitete persönlich die Untersuchung. Man ging in die Bibliothek und ließ erst einmal nach bewährtem Muster sämtliche Hausbewohner im Gänsemarsch anrücken.

Auf die kluge Frage »Wissen Sie, wo Lord Ashborne ist?« erklang allenthalben ein promptes »Nein«.

Damit wäre an sich der Fall schon erledigt gewesen, denn wenn niemand etwas weiß, ist nichts zu machen. Doch die Polizei wittert hinter allem und jedem Unrat. Dazu ist sie ja da, wird von unseren Steuern bezahlt und umfaßt etliche tausend Mann mit fester Pension. Eine Polizei, die nicht Unrat wittert, verfehlt ihren Zweck und macht sich selbst überflüssig. Nichts aber ist eine tragischere Figur als ein überflüssiger Beamter. Deshalb wurde die Untersuchung fortgesetzt, indem Inspektor Webb, ein grauhaariges, kleines, dünnes Männchen mit scharfen Brillengläsern, die Privaträume Lord Ashbornes in Augenschein nahm.

James begleitete ihn.

»Kennen Sie einen gewissen Flip?« fragte Webb ihn so ganz nebenbei. Und James, das alte, vertrottelte Rindvieh, sagte: »Ja. Sie meinen den Chauffeur bei Lady Gower?«

»Der vorher Chauffeur bei Lord Ashborne war, ja.«

»Bei uns? Nein, wir hatten keinen Chauffeur.«

»Nicht? Merkwürdig.«

Da erst merkte James, daß er ein Hornochse war, und machte sich innerlich bittere Selbstvorwürfe. Bedrückt schlich er mit dem Inspektor durch die Räume.

»Ist das das Schlafzimmer des Lords?« fragte Webb den Diener, als sie einen hellen, großen, mit einem breiten Balkon versehenen Raum betraten, in dem ein großes Bett stand.

»Ja, Mr. Webb.«

»Wann haben Sie Lord Ashborne zum letztenmal gesehen?«

»Vor neun Tagen. Morgens. Er bestellte ein weichgekochtes Ei.«

»Und dann?«

»Dann räumte ich den Frühstückstisch ab«, sagte James dümmlich.

»Mein Gott! Und was machte inzwischen Lord Ashborne?«

»Er sang.«

»Sang? Sang was? Sang wo?«

James schwieg und lächelte verzeihend. »Wo man gerne singt«, sagte er dann etwas verschämt.

»Und wo tut man das?«

»Auf dem Klo.« James blickte zu Boden. »Sie haben vielleicht gedacht, in der Badewanne. Dem war aber nicht so. Mitten in der Arie rauschte nämlich die Spülung. Ich hörte sie in der Küche und wußte deshalb Bescheid.«

»Und was sang er?«

»Mozart.«

»Was von Mozart? Soviel ich weiß, hat dieser Mann vieles komponiert.«

»In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht –«

Inspektor Webb schaute an der Wand empor. Dort gehe ich gleich hoch, dachte er. Will man mich hier auf den Arm nehmen? Es ist zum Mäusemelken! Wenn dieser James eine Kuh anguckt, muß der doch sofort die Milch sauer werden.

»Und dann?« fragte er.

James blickte Webb an, dem nun etwas hätte sauer werden müssen, wenn auch keine Milch.

»Dann rief er nach Papier, Mr. Webb. Die Rolle war leer.«

»Hören Sie mal.« Webb faßte James an einem der blanken Knöpfe des Dienerjacketts. »Sie sind kein Idiot, mein Lieber. Wären Sie einer, hätten Sie nicht schon seit drei Jahrzehnten den Posten eines Kammerdieners im Hause Ashborne innegehabt. Also raus mit der Sprache – was wissen Sie?«

»Auf Ehr' und Gewissen – nichts!« James hob zur Beteuerung beide Hände. »Als ich Seiner Lordschaft das Papier durch einen Türspalt gereicht hatte, zog ich mich zurück. Dort ist das Bad, daneben das WC.« Er zeigte auf zwei Türen in der Schlafzimmerwand neben dem Balkon. »Als ich wieder hereinkam, um das Bett zu machen, war von Lord Ashborne keine Spur mehr vorhanden.«

»Und niemand sah ihn das Haus verlassen?«

»Niemand.«

»Der Lord konnte doch nicht fliegen.«

James zuckte mit den Schultern. »Wir sind über die sportlichen Qualitäten Seiner Lordschaft nicht orientiert.«

»Damned!« Webb ging zu dem großen Spiegel des eleganten Toilettentisches, blickte sich um, bückte sich triumphierend und hob vom Teppich ein dünnes Büschel Haare auf. Er hielt es gegen das Licht und fragte: »Welche Haarfarbe hat Lord Ashborne?«

»Blond.«

»Diese Haare hier sind aber braun.«

»Mag sein.«

»Geben Sie nicht so uninteressierte Antworten, als ob Sie das Ganze nichts anginge, mein Lieber. Was haben ausgerissene braune Haare beim Toilettentisch eines blonden Junggesellen zu bedeuten? Können Sie mir das erklären? Empfing Lord Ashborne hier Damenbesuche?«

»Nein.«

»Dann will ich es Ihnen sagen: Lord Ashborne hatte an diesem Morgen dennoch Besuch.«

»Nicht, daß ich wüßte. Ich glaube es jedenfalls nicht.«

»Und zwar unerwünschten Besuch. Männerbesuch. Der Betreffende kam über den Balkon. Verstehen Sie? Solchen Besuch! Die Haare auf dem Teppich sagen mir, daß ein Kampf stattgefunden hat. Der Unbekannte mußte zwar sozusagen Federn lassen – braune Federn –, aber letzten Endes konnte er den Lord doch überwältigen und mit sich schleppen. Es können auch mehrere gewesen sein. Wir haben es auf alle Fälle mit einer Entführung zu tun.«

»Großer Gott!« James dachte an Flip und dessen Doppelrolle und fühlte, wie der Boden unter ihm wankte. »Vergaloppieren Sie sich da nicht, Inspektor?«

»Nein!« Webb sah stolz um sich. Ja, so ein Kerl bin ich, sollte das heißen. Was ist ein Sherlock Holmes gegen Webb? Was ein Pinkerton? Was der ganze Scotland Yard? Wenig!

»Aber warum hätte Seine Lordschaft da nicht um Hilfe gerufen, Inspektor?«

»Das werden wir alles herauskriegen. Kümmern Sie sich nicht darum, James, das ist nicht Ihre Aufgabe. Überlassen Sie das Denken ruhig der Polizei. Die ist entsprechend ausgebildet und wird dafür bezahlt. Das hier ist ein Kapitalverbrechen, daran zweifle ich nicht mehr.«

Wenn das aber zutraf, mußte Inspektor Webb nun doch auch den Yard einschalten, was ihm durchaus nicht gefallen wollte. Nur ungern griff er zum Telefon.

Die Meldung schlug bei Scotland Yard wie eine Bombe ein, und Sir Brandley schickte seinen besten Beamten nach Aberdeen, um dem sensationellen Fall die richtige Bearbeitung angedeihen zu lassen.

Und dies heißt bei Scotland Yard immer, daß eine Maschinerie von Apparaten und Köpfen in Bewegung gesetzt wird.

Das As, das in Aberdeen bei Loretta erschien, war Superintendent Wisbeck.

Wisbeck hatte weder das K.o.-Kinn eines Sherlock Holmes noch die berühmte Shag-Pfeife im Mund. Er sah vielmehr wie ein pensionierter Bankbeamter aus und liebte über alles im Leben Pferde und den Rennsport.

Aha, wird der Leser sagen, jetzt fragt der Wisbeck den Flip nach Pferden, merkt, daß dieser nichts von Gäulen versteht, und nimmt ihn mit. Kennen wir, ist ne alte Masche, blättern wir zehn Seiten weiter.

Das wäre falsch, lieber Leser, denn gerade Superintendent Wisbeck fragte nicht nach Pferden. Er machte vielmehr etwas ganz anderes. Er aß zunächst bei Loretta zu Abend.

William, der vom Butler erfuhr, daß ein Beamter vom Yard eingetroffen war, bereitete sich auf alles vor und versorgte mit rührender Hingabe seine Pferde. Dies tat er nur, um den Bereich des Stalles nicht verlassen zu müssen. Percy hockte bei Bebsy, zankte sich mit ihr und schielte immer zur Tür, wenn draußen auf dem Flur ein Schritt laut wurde.

»Was würdest du sagen«, fragte er Bebsy, »wenn plötzlich ein Mann hier hereinkommen und mir mitteilen würde, daß ich verhaftet bin?«

»Ich würde lachen und sagen: endlich!«

»Mein Zuckermäuschen – das ist eine goldige Antwort. Die habe ich dir auch zugetraut.«

Da tat sich die Tür auf, und ein Mann trat wirklich ein. Groß sah Bebsy ihn an, als er auf Percy zuging und seine Polizeimarke vorwies.

»Dürfte ich Sie bitten mitzukommen, Mr. Bishop? Superintendent Wisbeck will Sie sprechen.«

Percy stand langsam auf und knöpfte sich das Jackett zu. Aber er kam gar nicht dazu, einen Schritt zu machen, denn Bebsy hatte sich vor ihn gestellt und funkelte den Beamten an.

»Bevor er mitgeht, wollen wir wissen, warum. Was hat Percy getan?«

»Das geht Sie – glaube ich – nichts an, kleines Fräulein«, antwortete der Polizist.

»Was? Das geht mich nichts an? Percy ist mein Verlobter! Deshalb –«

Percy hatte die Augen aufgerissen und schob Bebsy zur Seite. »Laß man, Süßes, es hilft doch alles nichts. Ich könnte dir sagen, warum, aber das erfährst du noch früh genug. Besten Dank und ein Küßchen für die rasche Verlobung.«

Als er dem Polizisten folgte, sah er, wie Bebsy weinend auf einen Stuhl sank und die Augen mit den Händen bedeckte. Daraufhin war er so vergnügt und innerlich so glücklich, daß ihm die Gefahr, in der er schwebte, gar nicht voll zum Bewußtsein kam.

Zuallererst hatte aber Superintendent Wisbeck nach dem guten Essen, zu dem er von Loretta eingeladen worden war, das Bedürfnis, sich mit Flip zu unterhalten. Als William in das Speisezimmer geführt wurde, musterte Wisbeck ihn mit einem scharfen Blick und schaute dann in ein kleines Notizbuch, in dem er allerhand stehen hatte.

»Sie waren bei Lord Ashborne angestellt?« fragte er Flip, der innerlich krampfhaft nach einem Ausweg suchte.

»Ja, Sir.«

»Und zwar als Chauffeur und Kutscher?«

»Sehr richtig, Sir.«

»Hm.« Wisbeck blickte von seinem Notizbuch auf. »Finden Sie es eigentlich nicht auch merkwürdig, daß man auf Schloß Invergarry gar keinen Mr. Flip kennt?«

»Nicht möglich.« Hier hilft nur Frechheit, dachte William. Je frecher du bist, um so verwickelter wird es, und am Ende wissen sie alle nicht mehr, wo hinten und vorne ist.

»Was heißt nicht möglich?« wollte Wisbeck wissen.

»Das soll heißen, daß ich vor zehn Tagen noch mit James, dem Kammerdiener, Skat gespielt habe.«

»Komisch. Wie reimen sich dann Ihre Angaben mit der Tatsache zusammen, daß Lord Ashborne seit Jahren jede Pferdehaltung aufgegeben hat?«

»Aber die Haltung von Autos hat er nicht aufgegeben. Und die habe ich gefahren.«

»Ach nee! Als Geist vielleicht? Einen Flip kennt man, wie gesagt, in ganz Invergarry nicht.«

»Vielleicht fragen Sie in halb Invergarry?«

Superintendent Wisbeck sah William mit steigendem Unwillen an. »Frech auch noch, wie? Ich kann fliegen, sagte der Verurteilte, als er aufgehängt wurde. – Ich finde es jedenfalls reichlich merkwürdig, daß Sie am gleichen Tag die Stellung gewechselt haben, an dem Lord Ashborne verschwand.«

William nickte. »Das ist in der Tat ein merkwürdiges Zusammentreffen. Hätte ich dem Lord nicht zugetraut. Oder es ist so, daß er beseitigt wurde? Etwa von mir? Das wäre doch eine Erklärung, Superintendent? Erwarten Sie nicht ein entsprechendes Geständnis von mir?«

Wisbeck schlug sein Notizbuch zu und stand auf. Langsam kam er mit rotem Kopf auf William zu. Jetzt vergreift er sich an mir, dachte William. Aber Superintendent Wisbeck blieb drei Schritte vor ihm stehen und schüttelte nur den Kopf.

»Sie werden schon sehen, wohin Sie sich mit Ihrer Rederei noch bringen. Mir scheint, Sie sind sich über Ihre Situation nicht im klaren. Ich nehme Sie jedenfalls vorläufig mit. Machen Sie sich fertig. Erwiesen ist für mich, daß Sie nie bei Lord Ashborne angestellt waren.«

Aber da geschah etwas, das sich William nie hätte träumen lassen. Loretta kam ihm zu Hilfe. Sie brachte einen Brief zum Vorschein und überreichte ihn Wisbeck zur Einsichtnahme.

»Das verstehe ich nicht«, meinte sie dabei. »Hier, diesen Brief schrieb Lord Ashborne meinem Butler, bevor Flip seine Stellung bei mir antrat.«

Mit deutlicher Skepsis las Wisbeck das Schreiben und wollte es dann gleich einstecken, wobei er sagte: »Sicherlich eine Fälschung, Mylady. Das werden wir rasch feststellen. Es ist doch höchst zweifelhaft, daß der Lord einen Mann, den er so preist, ohne weiteres ziehen ließ. All das stimmt doch einfach hinten und vorne nicht.«

»Lord Ashborne tat oft das Unerwartete«, meinte Loretta. »Überraschungen waren bei ihm die Regel, nicht die Ausnahme.«

Sie sah nun, was sie mit ihrer Anzeige angerichtet hatte, von der die Maschinerie des Beamtenapparates in Bewegung gesetzt worden war. Ich brauche ihm nur zu sagen, daß Flip Lord Ashborne ist, und alles ist gut, dachte sie. Aber wie stehe ich dann da? William soll doch nicht wissen, daß ich ihn inzwischen – ob ich will oder nicht – ganz gern mag. Ich will ihm den Triumph lassen, mich zu erobern. Man soll es den Männern eigentlich immer erlauben, sich in süßen Illusionen zu wiegen – sie kommen sich dann äußerst stark vor; dabei sind sie in Wirklichkeit nur zahme Teddybären.

»Ich hätte mit Ihnen allein zu sprechen, Superintendent«, sagte sie.

Erstaunt sah Wisbeck sie an, aber dann winkte er einem Beamten, und William wurde abgeführt. Auf dem Flur traf William den dort auf seine Vernehmung wartenden Percy, der ihm selig mitteilte: »Flip, alter Freund, stell' dir vor, Bebsy hat sich mit mir soeben verlobt.«

»Gratuliere. Meinen Blumenstrauß wirst du dir allerdings aus meiner Zelle im Gefängnis abholen müssen.«

Aber dazu sollte es nicht kommen, denn kaum war William aus dem Zimmer, sagte Loretta: »Ich bitte Sie, Superintendent, meine Anzeige nicht mehr länger zu verfolgen, jedenfalls nicht mehr in meinem Hause hier. Ich bin nämlich davon überzeugt, daß Sie bei mir keinen Verdächtigen finden, und ich bitte Sie deshalb auch, von der Festnahme Flips abzusehen. Ich verbürge mich dafür, daß er hier jederzeit erreichbar ist. Er wird Ihnen zur Verfügung stehen, falls Sie ihn noch einmal brauchen sollten.«

Superintendent Wisbeck zuckte überrascht und resigniert die Achseln.

»Wie Sie wünschen, Mylady. Dann habe ich hier nichts mehr zu suchen. Wir müssen uns aber auf Ihre Garantie verlassen können. Sie haften uns für den Mann.«

Loretta hob die Hand. »Ganz gewiß. Und noch etwas: Sagen Sie bitte Mr. Flip nichts von meiner Verwendung bei Ihnen für ihn.«

Wisbeck verbeugte sich und sagte noch einmal: »Wie Sie wünschen, Mylady. Auf Wiedersehen.«

Aus Frauen soll man klug werden, dachte er beim Hinausgehen. Erst machen sie die Polizei rebellisch, dann blasen sie wieder alles ab und halten ihre schützende Hand über ein undurchsichtiges Subjekt. Warum wohl? Das wissen sie wahrscheinlich selbst nicht. Der Teufel hole doch die langhaarigen Geschöpfe! Wie sehr liebe ich mir dagegen doch meine Pferde!

Mißmutig ging er draußen an William und Percy vorbei, drehte sich aber nach wenigen Schritten um und sagte zu William: »Ich habe es mir anders überlegt, Flip. Ich lasse Sie laufen, vorläufig jedenfalls, aber glauben Sie nicht, daß Sie nicht scharf beobachtet werden. Beim nächsten verdächtigen Schritt sitzen Sie mit Sicherheit hinter Schloß und Riegel.«

Staunend sah ihm William nach und wandte sich an Percy: »Verstehst du das, alter Junge? Eben noch verhaftet – und jetzt schon wieder frei?«

»Ein Rätsel! Oder ein Wunder!« Percy sah dem Beamten nach, der den Flur entlangging und vom Butler Stoke aus dem Haus geleitet wurde. »Es scheint, daß man uns nichts nachweisen kann.«

»Hm.«

»Und was nun?«

Diese Frage war berechtigt. Und nicht nur Percy stellte sie, sondern auch Sie, lieber Leser, werden wissen wollen: Wo führt das hin? Ist ja alles ganz gut und schön, aber wenn das in diesem Tempo weitergeht, haben sich nach fünf Seiten die beiden Liebenden, und das Happy-End ist da. Küßchen, kleine Verlobung im Familienkreis, Ohnmachtsanfall Tante Marys und Schlußarie der Loretta: »In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht –«

Zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen sagen, daß Sie sich da im Irrtum befinden, denn William – ich schwöre Ihnen, ich schreibe nur, wie es gewesen ist – begann an diesem Abend, Loretta im Gesang näherzukommen. Wie er auf diese Idee verfiel, ist unerfindlich – er tat es jedenfalls und erntete einen Lohn, der ihm wiederum rätselhaft blieb.

Es hatte damit angefangen, daß Percy von Dr. More einen Brief erhalten hatte, in dem der Nervenarzt mitteilte, er habe McFladden entlassen, weil er keine Möglichkeit sehe, einen gesunden Menschen noch länger festzuhalten. Dieser Brief war schon gut fünf Tage alt, und Percy hatte ihn William vorenthalten, um diesen vor unnötigen Aufregungen zu bewahren. Durch die sich überstürzenden Ereignisse hatte er den Brief inzwischen gänzlich vergessen und dachte überhaupt nicht mehr daran, daß es auch noch einen Mann des Namens McFladden gab.

Das war ein großer Fehler, denn McFladden, der als Schotte nicht versäumte auszurechnen, wieviel ihm die an ihm begangene Freiheitsberaubung an barer Münze schon eingebracht hatte und vielleicht noch einbringen würde, trat nun mit ins Spiel und mischte die Karten auf seine Art.

William kam ihm dabei entgegen, indem er sich nachts unter den Fliederstrauch vor Lorettas Fenster stellte und eine Gitarre zu zupfen begann. Und zusätzlich erfolgte etwas, das allgemein überraschen mußte: William sang. Und er sang nicht einmal schlecht, ein wenig laut zwar, aber mit Gefühl. Sein Tenor klang einschmeichelnd und hell und wurde an den lyrischen Stellen sogar weich und zeigte Ansätze eines natürlichen Belcanto.

Als Loretta die ersten Töne der Gitarre unter ihrem Fenster vernahm, schaute sie erstaunt auf und lauschte. Eine nette Melodie, dachte sie, eine Romanze in Moll, schwermütig und voll Sehnsucht. Und dann setzte die Stimme ein. Still saß Loretta auf ihrem Stuhl am Fenster und war entzückt. Er singt, dachte sie glücklich. Und er hat eine schöne Stimme. Es ist sein Lied, er hat es für mich gedichtet und vertont.

Auf einer kleinen Blumenwiese.
da lag ich einst und dacht' an dich …

Draußen war es tiefe Nacht. Der Duft der Blumen strömte ins Zimmer und verwob sich mit den Tönen zu einem harmonischen, betörenden Ganzen. Wenn man die Augen schloß, war es, als träumte man einen Traum, in dem das Rauschen der Bäume, der Blütenduft, die zarten Gitarrenklänge und der schöne Gesang dieser hellen Männerstimme zusammenwirkten. Ich muß ihm sagen, daß ich alles weiß, dachte Loretta. Warum soll ich ihn noch länger seiner unerfüllten Sehnsucht überlassen, nachdem ich ihn doch auch schon längst liebe.

Als der Gesang zu Ende war und auch die Gitarre mit einem lauten Akkord abschloß, wollte Loretta gerade aufstehen, um William zuzuwinken, als sie vor dem Fenster einen leisen Wortwechsel hörte. Diesem folgte ein mehrmaliges Klatschen, ein dumpfer Fall, und eine dunkle Gestalt rannte zwischen den Büschen des Parks davon.

Unter dem Fenster, vor dem Fliederbusch, lag regungslos ein Mensch.

Mit entsetzensgeweiteten Augen sah Loretta auf den Körper unter ihrem Fenster, dann gellte ihr lauter Schrei durch das schlafende Haus und den stillen Park.

Im Gesindehaus wurde Licht gemacht, Butler Stoke rannte über den Hof, ihm folgte Percy, der recht verschlafen aussah, dann wirbelte Bebsy mit aufgelösten Haaren aus dem Haus und hastete den beiden Männern nach. Als sie Loretta an ihrem Fenster stehen sahen, gegen den Fensterrahmen gelehnt, als müsse sie jeden Augenblick zusammenbrechen, eilten sie herbei und stießen dabei auf den leblosen Körper beim Fliederbusch.

»Flip!« schrie Percy und warf sich neben William auf den Boden. »Flip, was ist denn, was hast du?« Er drehte ihn um und sah, wie aus einer Platzwunde am Kopf Blut sickerte. »Verbandszeug!« brüllte er. »Er ist bewußtlos!«

Stoke hastete ins Haus, während Bebsy sich inzwischen oben bei Loretta eingefunden hatte und nicht wußte, was sie tun sollte. Jammernd lief sie herum, bis Loretta sie aus dem Zimmer jagte und selbst auch hinunter in den Garten eilte. Dort verband Percy schon kunstgerecht die Wunde seines Freundes und faßte den Ohnmächtigen unter beiden Armen. Andere packten die Beine. Vorsichtig hoben sie den schweren Körper auf.

»Zu mir ins Haus!« befahl Loretta. »Ich werde sofort einen Arzt rufen. Legt ihn ins Gästebett!« Sie eilte den Männern voraus und rief Professor Selznik an, der versprach, sofort zu kommen.

Zum Glück zeigte sich, daß die Wunde schlimmer aussah, als sie in Wirklichkeit war. Es handelte sich, wie erwähnt, um eine Platzwunde, hervorgerufen durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand.

Benommen lag William in den Kissen und betrachtete mit ziemlich dummen Augen seine Umgebung. Loretta, Percy und die weinende Bebsy standen an seinem Bett – was war denn bloß los? Als er sich aufrichten wollte, sprang Loretta hinzu und drückte ihn in die Kissen zurück. Das tat ihm gut. Sein Schädel brummte. Durst quälte ihn, und er bat um ein Glas Wasser. Langsam erinnerte er sich an das, was vorgefallen war.

Er war dagestanden und hatte gesungen. Da war aus den Büschen ein Mann getreten und hatte ihm zugehört. Was will der neugierige, dumme Percy hier, dachte William und sang weiter. Als er fertig war und sich umdrehen wollte, stand Percy schon neben ihm, und da entdeckte William, daß es gar nicht Percy war, sondern ein Fremder, den er noch nie gesehen hatte.

»Ich danke Ihnen«, sagte der Fremde mit falscher Freundlichkeit.

»O bitte, keine Ursache«, antwortete William. »Ich habe nicht für Sie gesungen.«

»Trotzdem möchte ich Ihnen meinen ganz speziellen Dank abstatten.«

Zugleich hob der Fremde völlig unkavaliersmäßig einen dicken, alten Gummiknüppel und hieb William damit ein paarmal wuchtig über den Schädel. Ein besonders harter Schlag verursachte die Platzwunde. Daß William dadurch die Besinnung verlor, war nicht verwunderlich.

Dieser Überfall versetzte Loretta in große Aufregung. Wer mochte der Täter sein? Ob sie Anzeige bei der Polizei erstatten sollte? Wer hatte ein Interesse daran, William Ashborne niederzuschlagen?

Der einzige, der sich dies denken konnte, war Percy, als William die Sache erzählt hatte. Aber Percy schwieg. Ich hätte McFladden doch nicht einsperren lassen sollen, dachte er. Jetzt schleicht der Kerl hier herum und will sich rächen. Armer William – der Schlag sollte mir gelten.

Doch der Aufregungen waren es noch nicht genug. Am nächsten Tag stand in allen Zeitungen – spaltenlang, mit riesigen Überschriften:

Lord Ashborne verschwunden! – Ist Lord Ashborne ermordet worden? – Scotland Yard ratlos über Verschwinden Lord Ashbornes! – Polizei auf der Suche nach der Leiche Lord Ashbornes!

Die Presse und die ganze britische Öffentlichkeit standen kopf. Ein Mann aus einer der besten Familien des Landes verschwand über Nacht. Niemand fand eine Spur. War das nicht aufregend?

Ein Feuilleton-Redakteur in London entdeckte plötzlich, daß Lord Ashborne auch gedichtet hatte. Er setzte sich mit Silvester Holyhead in Verbindung, und schon standen in seinem Blatt tagelang Geschichten und Gedichte von William Ashborne. Ganz England war ergriffen von der Lyrik des Lords und der tiefen Seele, die aus seinen Versen sprach.

Williams Bücher fanden plötzlich reißenden Absatz. Sie wurden die reinsten Bestseller. Holyhead rieb sich die Hände und legte die Werke zum zweitenmal auf. Dann kam die dritte Auflage. Der Absatz riß nicht ab. Der Name Ashborne wurde in der literarischen Welt bekannt. Schon sang Richard Standon die Romanzen Williams im Rundfunk. Das Bankkonto Williams schwoll sprunghaft an. Verleger Holyhead kaufte sich ein Chalet in der Schweiz. Viele Leute entdeckten in sich das Zeug zum Spürhund, denn man hatte tausend Pfund ausgesetzt, tausend Pfund für einen Fingerzeig, der half, Lord Ashborne zu finden – lebend oder tot.

»O Percy«, sagte William, als er einmal, im Bett sitzend, mit dem Freund allein war, »wenn ich das alles geahnt hätte, wäre ich nie Mr. Flip geworden. Aber jetzt kann ich nicht mehr zurück. Stell' dir das vor – wenn das herauskäme! Dieser Skandal! Ich muß für immer verschwunden bleiben. Ich bin also wahrhaftig tot.«

Percy Bishop kratzte sich am Kopf und sah William sinnend an.

»Kommt Zeit, kommt Rat«, sagte er dann optimistisch. »Vielleicht entwickelt sich alles anders, als es momentan aussieht, und dann ist es immer gut, so zu tun, als ob alles von vornherein einkalkuliert gewesen sei.«

»Und wenn das nicht der Fall sein wird, Percy? Was dann?«

Bishop zuckte die Achseln.

»Dann wird man in der Welt wenigstens einmal kräftig lachen. Glaub mir, das tut allen gut. Man weint ohnehin viel zuviel in diesem Jammertal.«