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Da standen sie nun, zu einer Reihe aufgefahren und sauber ausgerichtet: dreißig Kolosse auf drei Achsen mit je sechs Doppelrädern; also pro Wagen zwölf breite, hohe Reifen. Die Ladeklappen waren heruntergelassen und gaben den Blick frei auf die in besonders abgefederten Gerüsten hängenden Kunststoffbecken. Neben den Becken befanden sich in einer Art Kabine, abgetrennt durch einen Vorhang, jeweils zwei Betten, ein Tisch, zwei Stühle, ein schmaler Schrank, ein Eisbereiter und ein Fernsehgerät, alles fest eingebaut. Diese Kabinen dienten als Aufenthaltsraum für die beiden Aufsichtspersonen pro Wagen.
Der Leiter des Transportes, ein ehemaliger Captain der US-Army, hatte Dr. Rawlings an der Einfahrt zur Forschungsstation begrüßt und die Kolonne fast militärisch gemeldet. »Dreißig klimatisierte Spezialtrucks zur Stelle!« hatte er gesagt. Jetzt meinte er: »Delphin müßte man sein, Sir. Zwei Mann Betreuung, geheiztes Wasser, keine Eßsorgen, liebevolle Pflege – auf dieser Welt scheint sich jetzt alles verkehrt herum zu entwickeln.«
»Nicht nur das!« lachte Rawlings und sah freudestrahlend auf die dreißig Riesenlaster im großen Innenhof vor dem Delphin-Bassin. »Es gehören auch zwei eigene Ärzte dazu und neun Psychologen.«
»Verdammt! Da haben wir beim Ausbau etwas vergessen!« rief der ehemalige Captain.
»Mein Gott, was denn?«
»Die Couches für die Psychiater! Wo sollen sich denn die nervenkranken Delphine hinlegen, wenn sie seelisch behandelt werden?«
Nach diesen Frotzeleien begannen die Vorarbeiten für den Abtransport. Man hatte bereits lange dicke Schläuche, wie sie auch die Feuerwehr benutzt, von den Wagen bis an den Strand verlegt und pumpte nun das gegenwärtig 23 Grad warme Meerwasser in die Kunststoffbecken. Dort richteten sich sofort die feinen Thermostate darauf ein; sie würden diese Temperatur bis nach San Diego konstant festhalten. Dr. Finley, Dr. Clark und sechs andere Wissenschaftler hockten oder saßen an dem großen Bassin und hatten ihre ›Kompanien‹ zusammengerufen.
Die Delphine waren unruhig. Obwohl man in den letzten Tagen das Verladen schon mehrfach simuliert hatte, sahen, hörten und spürten sie, daß es nun ernst wurde. Was bisher ihre Heimat gewesen war, die Bay, die Riffe, die Korallen, das Bassin, die Übungstürme, die gesamte vertraute Umgebung, das sollte nun aufgegeben werden. Das Unbekannte, dem sie entgegenfahren mußten, erregte sie sehr. Ihr feines Nervensystem vibrierte. Ihre Betreuer sprachen ihnen beruhigend zu, aber trotz allen Drills der vergangenen Monate, ja sogar Jahre blieb die Nervosität. Vor allem John hob immer wieder den Kopf aus dem Wasser, schnellte hoch, drehte sich in der Luft und blickte um sich: Er suchte Helen.
Aber Helen war nicht da. Sie blieb in ihrem Bungalow, hatte die Jalousien heruntergelassen, saß im Wohnzimmer, hatte den Plattenspieler auf laut gestellt und hörte sich eine Sinfonie von Mozart an. Eine vergebliche Flucht, ein sinnloses Vergraben – während die Musik sie umrauschte, dachte sie immer nur daran, was jetzt da draußen geschah. Zweimal war Finley an ihre Tür gekommen, hatte geklingelt, mit der Faust geklopft und sie gerufen. Aber sie hatte nicht geöffnet. »Laßt mich in Ruhe!« hatte sie zuletzt geschrien. »Geht weg! Ich gehöre ja nicht mehr zu euch!«
Finley war daraufhin zu Rawlings gelaufen und hatte gesagt: »Steve, du mußt etwas unternehmen. Helen dreht sonst durch. Sie versteckt sich hinter Mozart.«
»Mozart ist gut.« Rawlings hatte müde gegrinst. »Mozart ist fröhlich. Bei Gustav Mahler wäre es bedenklicher.«
»Du hast vielleicht Nerven!« hatte Finley geschrien.
»Eben. Einer muß ja welche haben. Ihr benehmt euch alle, als hättet ihr euer Gehirn zur Überholung abgegeben.«
Aber auch Rawlings war an diesem Tag verändert. Er war einsilbig, und wenn er doch mal etwas sprach, war er grob; ein Beweis, daß auch seine Nerven nicht mehr die besten waren.
»Gut! Gut!« keifte er Finley an. »Ich gehe später zu Helen und tröste sie. Vielleicht hilft's, wenn ich ihr Mozart vorsinge: ›In diesen heil'gen Hallen …‹.«
»Idiot!« brüllte Finley und stürmte davon zum Bassin, wo der Delphin John immer wieder aus dem Wasser schnellte und helle Kreischtöne ausstieß. Er rief nach Helen.
Nun also wurde das Meerwasser in die Transportbecken gepumpt. Die neunzig Fahrer – man wollte ja in drei Schichten durchfahren, Tag und Nacht – standen indessen im Kasino herum, tranken Fruchtsäfte (mit einem Schuß Wodka, was aber niemand aussprach!), Tee, Kaffee oder Coca und hörten sich lustlos einen Vortrag an, den Dr. Pimperl, ein geborener Wiener, über die Probleme beim Transport von Delphinen hielt. Für diese Fahrer war der ganze Aufwand sowieso ein Blödsinn. Delphine gab es gerade im Pazifik genug, warum mußte man da vom Atlantik welche herüberbringen? Und diese Vorsicht. Nun gut, es waren vielleicht gut trainierte Artisten, man hatte ja oft genug Vorführungen in Miami besucht und vor Begeisterung in die Hände geklatscht – aber Tier bleibt Tier, und wenn man dafür mehr Geld zur Verfügung stellt, als eine Familie mit drei Kindern in einem ganzen Jahr ausgeben kann, dann muß man da schon von einem schiefen Denken sprechen.
Gegen Mittag rief sogar Admiral Bouwie an. »Wie geht's voran?« fragte er besorgt.
»Die Transportbecken sind vollgepumpt, die I. Kompanie wird gerade verladen. Die Burschen benehmen sich diszipliniert, wenn sie auch nervös sind.« Rawlings blickte kurz auf seine Armbanduhr. »Wenn alles gut geht, können wir am Abend abfahren. Ich melde mich dann, Sir.«
»Was soll denn nicht gut gehen?« fragte Bouwie.
»Noch haben wir Johns Kompanie nicht in den Becken … Ich will ihn als letzten nehmen.«
»Und wenn er große Schwierigkeiten macht?«
»Auch daran habe ich gedacht. Wir werden ihn mit Medikamenten ruhigstellen.«
»Dann viel Glück, Dr. Rawlings«, sagte Bouwie voll Sorge. »Bitte, rufen Sie sofort an, wenn alles klar ist – aber auch, wenn es unklar ist. Wirklich unglaublich – ich habe mich doch wirklich an die Viecher so gewöhnt! Ich denke an sie mehr, als ich an meine Frau gedacht habe …«
Das Umladen in die Riesenwagen ging genauso vor sich wie sonst das Herüberheben auf die Trainingsschiffe. In Plastikwannen wurden die Delphine einzeln aus dem Becken gehoben und mit einem Spezialkran zu den fahrbaren Bassins gebracht. Dort rutschten sie in das für sie heimatliche Meerwasser. Dennoch blieb ihre Nervosität, denn alles um sie herum – blieb bis auf das Wasser – fremd: Der Himmel war zusammengeschrumpft zu einem gläsernen Viereck. Es gab nicht mehr die herrliche Weite. Man roch den Wind nicht mehr, nicht mehr die Blumen auf den Rabatten rund um das Bassin. Man sah die Sonne nicht mehr und die Wolken, die vor dem unendlichen Blau dahinsegelten. Das einzige, was die Delphine tröstete, war die Gegenwart der Trainer, ihre Stimmen und das Streicheln ihrer Hände. Ohne die Trainer hätten sie im Wasser getobt und verzweifelt versucht, sich aus den Kunststoffbecken zu schnellen.
Finley kam mit seiner Kompanie als letzter an die Reihe. Ruhig schwamm John in dem nun leeren Bassin herum, und seine zehn Delphine folgten ihm in Kiellinie, wie sie es gelernt hatten. Rawlings und Clark waren ebenfalls an den Beckenrand getreten und beobachteten den unnatürlich stillen und friedlichen John.
»Er wartet auf Helen«, sagte Finley mit gepreßter Stimme. »Ohne sie geschieht hier jetzt nichts mehr.«
»Auch wenn es John, dein Genie, ist, James – ich lasse mich doch nicht von einem Delphin terrorisieren!« rief Rawlings aufgebracht. »Er hat gelernt, Befehlen zu gehorchen. Fängt er an, sich zu weigern, verzichte ich auf ihn.«
»Das heißt: auf die ganze Kompanie verzichten, Steve.«
»Ronny ließ sich ohne Komplikationen transportieren.«
»Ronny ist auch nicht in Helen verliebt.« Finley hob die Schultern. »Verleugnen wir jetzt nicht unsere eigenen Forschungen! Wir wissen doch, daß Delphine zu Gefühlsregungen fähig sind.«
Die Transportwanne wurde an dem Kran zu Wasser gelassen. Finley winkte zu John hin. »Komm her«, sagte er. »Junge, mach keinen Scheiß! Es ist doch nicht zu ändern. Uns allen ist das Herz schwer … nun komm, mein Junge. Komm …«
John hob den Kopf, rauschte heran, umkreiste die Transportwanne, stieß ein paar quietschende Laute aus, aber er schwamm nicht in die Wanne, um sich hochziehen zu lassen. Seine Kompanie wartete abseits auf das, was ihr Chef tun würde.
»Geh zu Helen und hol sie«, sagte Rawlings rauh zu Finley.
»Sie wird nicht kommen.«
»Erklär ihr, was hier los ist.«
»Das weiß sie.«
»Verdammt! Hier ist kein Platz für Hysterie! Sie soll John überreden. Von mir aus kann sie dann hinterher eine Woche lang Mozart hören. James, versuch es …«
Finley nickte, drehte sich um und ging. Im gleichen Augenblick schnellte sich John hoch aus dem Wasser und gab einen fast menschlichen, schrillen Schrei von sich. Sogar Clark und Rawlings zuckten bei diesem Ton zusammen. Finley zog den Kopf in die Schultern, als hagle es, und rannte hinüber zu Helens Bungalow.
Schon unter der überdachten Veranda schlug ihm die Musik entgegen. Jetzt war es Beethoven. Die III. Sinfonie. Helen hatte auf volle Lautstärke gedreht. Drinnen im Zimmer mußte es fast unerträglich sein.
Finley hieb mit beiden Fäusten gegen die Tür. Es ging nicht anders. Das Klingeln hätte Helen nie gehört. Trotzdem dauerte es noch lange Minuten, bis sie sich meldete.
»Hör auf, James!« rief sie. Ohne zu fragen, wußte sie genau, wer da klopfte. In ihrer Stimme schwang größte Verzweiflung. »Fahrt doch endlich ab!«
»Genau das geht nicht. John weigert sich. Du mußt kommen. Helen, ich bitte dich.«
»Ich kann nicht mehr, James!«
»Nur noch diese eine Hilfe! Helen, Steve ist stocksauer. Er kriegt es fertig, John und die ganze Kompanie hier zu lassen und nach Miami ins Marineland zu bringen. Als Zirkusdelphin! Helen!«
»Ihr habt immer darüber hinweggesehen und bei der Arbeit fast vergessen, daß ich eine Frau bin«, sagte sie mit schwankender Stimme. »Jetzt bin ich eine! James, ihr verlangt zuviel von mir.« Die Tür öffnete sich einen Spalt, Helens Hand erschien und hielt Finley den goldenen Badeanzug hin, den sie immer getragen hatte, wenn sie mit John im Bassin geschwommen war. »Vielleicht hilft das. Versucht es …«
»Ich soll deinen Badeanzug anziehen?«
»Idiot! Du sollst ihn John zeigen, weiter nichts. Vielleicht wird er dann ruhiger.«
Finley nahm ihr den Badeanzug ab, aber bevor er ihre Hand ergreifen konnte, warf sie die Tür wieder zu und drehte den Schlüssel herum.
»Helen!« rief er verzweifelt. »Komm doch heraus!«
Sie antwortete nicht mehr, und Finley wußte, daß es nur vergeudete Zeit sein würde, weiter auf sie einzureden. Er lief zum Bassin zurück und hatte den goldenen Badeanzug unter den Arm geklemmt. Rawlings starrte ihn entgeistert an.
»James! Du solltest Helen nicht vergewaltigen, sondern hierher bringen.«
»Das ist ihre einzige Hilfe.« Finley zog den zerknüllten Badeanzug auseinander. »Wenn John darauf reagiert, ist er menschlicher, als wir je gedacht haben. Die Mehrzahl der Menschen besteht – ohne daß sie es weiß – aus Fetischisten. Psychologisch gesehen ist ja jedes Foto, das man macht, ein Fetisch. Man fotografiert, was man gern hat, um es für alle Zeiten bei sich zu haben.«
»Ich will keine psychologischen Vorträge«, schrie Rawlings, »ich will John im Transporter sehen!«
Finley trat an das Bassin und hielt Helens Badeanzug hoch. John hob sofort den Kopf aus dem Wasser und musterte den goldenen, in der Abendsonne glitzernden Gegenstand. Er erkannte ihn sofort, gab pfeifende, zärtliche Laute von sich und schwamm nahe an Finley heran.
»Ja, er ist es, alter Junge!« sagte Finley mit bebender Stimme. »Es ist Helens Badeanzug. Sie läßt dich grüßen. Du sollst vernünftig sein, sagt sie. Das Leben geht doch weiter, John …«
John schwamm dreimal um die heruntergelassene Transportwanne herum, immer den Blick auf den goldenen Anzug gerichtet. Dann bog er ab und glitt langsam in die Mitte der Wanne.
»Hoch!« rief Rawlings. Auch seine Stimme schwankte bedenklich. »Hoch mit der Wanne! Schlaft ihr denn?«
Der Kran ruckte an. John blieb in der Wanne, schnellte sich nicht wieder mit einem mächtigen Satz heraus … er lag fast unbeweglich im Wasser, den Blick immer auf Finley gerichtet. Wären diese lebenden Augen nicht gewesen, man hätte meinen können, John sei plötzlich an einem Herzschlag gestorben.
»Du sollst ihn immer bei dir haben«, sagte Finley und warf den goldenen Badeanzug in die Wanne. »Ich kann dir nachfühlen, wie dir zumute ist, alter Junge.«
Sofort ergriff John den Badeanzug Helens mit der Schnauze, drückte ihn unter Wasser und lag dann wieder unbeweglich, den goldenen Stoff mit seinem großen, glänzenden schönen Leib schützend. So wurde er auch hinübergefahren zu seinem fahrbaren Bassin und dort heruntergelassen. Er rutschte ins Wasser, nahm den Badeanzug zwischen die Zähne und war so still wie nie in seinem Leben.
Von da ab vollzog sich das Einladen seiner Kompanie ohne Schwierigkeiten. Die zehn Delphine gehorchten jedem Befehl, wurden zu ihren Becken gefahren und bewegten sich dann ruhig und gelassen in dem beengten Raum.
Dr. Clark wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein schwarzes Gesicht glänzte wie poliertes Ebenholz. »Geschafft!« sagte er. »Und um eine neue Erkenntnis bin ich reicher: Delphine sind absolut menschlich! Habt ihr gesehen, wie John mit dem Badeanzug umging? Welche Zärtlichkeit er da zeigte? Er hat einen Teil von Helen bei sich, das macht ihn glücklich. Wenn ich das in einem Artikel veröffentliche, hält man mich für einen Spinner! Das nimmt keine seriöse Zeitschrift an. Aber wir haben es ja mit eigenen Augen gesehen: Delphine können Fetischisten sein. – James, das war eine epochale Leistung von dir.«
»Von Helen!« verbesserte Finley mit müder Stimme. »Sie hatte die Idee. Ich sage euch eins: Es ist eine hundsgemeine Schande, auf Helen zu verzichten.«
»Beleidige nicht die Hunde!« Clark wischte sich wieder den Schweiß aus dem Gesicht. »Es ist eine menschengemeine Schande.«
Rawlings, dem diese Worte galten, schwieg und wandte sich ab. Finley und Clark sahen ihm nach. Er ging etwas nach vorn gebückt, als schleppe er etwas Schweres auf seinen Schultern.
»Er kann ja auch nichts dafür«, sagte Finley stockend. »Er hat Anweisungen von der Admiralität – und außerdem die volle Verantwortung für das ›Unternehmen Delphin‹. Er kann nicht immer, wie er will …«
Eine Stunde später fuhr die Kolonne der dreißig Monsterwagen durch das große Tor von Biscayne Bay. Der Transportleiter, der ehemalige Captain, hatte anhand einer großen Autokarte noch einmal Rawlings die Fahrtroute erklärt: »Von hier geht es über die Nummer 41 bis Tampa. Dort setzen wir uns auf den Free Limited-Access Highway Nummer 75 und fahren bis Lake City. Nördlich davon erreichen wir den Highway Nummer 10, der uns dann durch die Staaten Alabama, Mississippi, Louisiana, Texas und New Mexico führt, bis wir in Arizona bei Eloy auf den Highway Nummer 8 stoßen, auf dem wir durch Kalifornien, immer an der mexikanischen Grenze entlang, bis San Diego fahren.«
»Wenn man die Strecke auf der Karte betrachtet, können einem die Haare zu Berge stehen!« sagte Rawlings. »Mit Sechsundsechzig Delphinen eine solche Affentour …«
»Es war Ihr Vorschlag, Sir.« Der ehemalige Captain faltete die große Karte wieder säuberlich zusammen. »Mir ist das sowieso rätselhaft. Können Sie mir erklären, warum man wegen ein paar Delphinen einen solchen Aufwand macht?«
»Nein!« antwortete Rawlings knapp.
»Anscheinend hat man irgendwo zuviel Geld, das anderswo dringend fehlt!«
»So wird's sein.«
»Immer dasselbe!« Der Transportleiter winkte geringschätzig ab. »In den Slums suchen sie die Mülltonnen nach etwas Eßbarem durch, und hier gehen die Millionen buchstäblich ins Wasser. Ob bei dieser Regierung oder einer anderen – es ist immer dasselbe. Wen soll man eigentlich noch wählen?«
»Die Vernunft, mein Lieber.«
»Gern – aber wo ist sie? Wer hat sie? Die hat man doch versteckt, damit keiner sie kennenlernt.«
Dr. Rawlings verließ seine Forschungsstation als letzter. Fast sieben Jahre hatte er hier verbracht, anfangs mit einem kleinen Becken und zwei Häusern, die zuletzt zu dieser perfekten, geheimen kleinen Stadt geworden waren. Noch einmal ging er herum, stand sinnend an dem nun leeren Bassin – die neuen Delphine und ein neues Team trafen erst morgen ein – und wandte sich dann Helens Bungalow zu. Aus dem Inneren dröhnte Wagner. Der Walkürenritt. Rawlings klopfte. Sein altes Erkennungszeichen: dreimal lang, zweimal kurz, zweimal lang. Der Walkürenritt wurde leiser.
»Was willst du?« fragte Helen durch die Tür.
»Ich fahre jetzt. Die anderen sind alle weg … Ich möchte mich verabschieden, Helen.«
»Gute Fahrt, Steve.«
»Ist das alles?«
»Was erwartest du mehr?«
»Ich soll dich von James, David Abraham und all den anderen grüßen. Sie werden dir alle schreiben.«
»Die Post wird zurückgehen. Ich bin dann nicht mehr hier.«
»Helen! Mach keinen Blödsinn! Wo willst du hin? Was willst du tun?«
»Das ist meine Sache, Steve.«
»Bitte, mach die Tür auf!«
»Nein.«
»Verdammt, ich trete sie ein!«
»Das gäbe Komplikationen. Ich schieße, Steve. Ich schwöre dir, ich schieße sofort – und es wird Notwehr sein! Nimm das ernst, Steve! Hau endlich ab und kümmere dich nicht mehr um mich.«
»Ich rufe dich jeden Tag an, Helen, und erzähle dir, was wir machen, was John macht. – Du wirst am Telefon dabei sein …«
»Nein! Ich werde nicht mehr hier sein, Steve.«
»Wo kann ich dich erreichen?«
»Nirgendwo. Streich mich aus deinem Gedächtnis, Steve. Die Welt ist groß, und irgendwo werde ich sein.«
»Helen!« Rawlings lehnte sich gegen die Tür. »Wollen wir nach all den Jahren so auseinandergehen? Gib mir nicht die Schuld an dieser Entwicklung.«
»Habe ich sie?« schrie Helen hinter der Tür. »Darf ich mich nicht verlieben? Darf ich keine Frau sein?«
»Fisher war ein Spion.«
»Das stand nicht auf seiner Stirn geschrieben! O Steve, keine weiteren Worte mehr! Hau ab! Leb wohl. Und viel Erfolg mit unseren Delphinen. Ja, noch eins: Sag James, er sei ein guter Kerl, und er soll, wenn er sich in San Diego verliebt, aufpassen, daß er keiner in die Hände fällt, die ihn ausnimmt. Er ist Frauen gegenüber so hilflos.«
»Darüber hättest du mit Finley früher sprechen sollen, Helen!«
»Ach Gott! Hau ab, Steve! Es ist schrecklich. Fahr doch endlich los.«
Sie lief von der Tür weg, und der letzte Rest des Walkürenrittes dröhnte wieder mit voller Lautstärke durch das Haus. Rawlings schüttelte den Kopf, ging hinüber zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr schnell, ohne in den Rückspiegel zu blicken, aus dem Tor und hinauf auf die Straße.
Schluß, dachte er. Nicht nach hinten sehen. Nur nicht sentimental werden. Man muß im Leben Abschied nehmen und sich losreißen können. Auch wenn es bis ins tiefste Herz weh tut. Das Leben nimmt keine Rücksicht.
Halt den Kopf hoch, Helen!
Hinter der heruntergelassenen Jalousie beobachtete Helen durch einen Spalt die Abfahrt Rawlings'. Als er das Gelände der Station verlassen hatte, drehte sie den Plattenspieler ab und setzte sich, die Hände im Schoß gefaltet, auf ihre Couch. An der Tür standen ihre gepackten Koffer, und nun war klar, warum sie sich geweigert hatte, weder Finley noch Rawlings hereinzulassen: In den vergangenen Stunden hatte sie das ganze Haus ›übergabereif‹ gemacht: Die Schränke waren leer, das Geschirr gespült, die Flaschen in der kleinen Hausbar zusammengestellt, am Kühlschrank hing ein Zettel: ›Alles, was noch drin ist, kann aufgebraucht werden. Guten Appetit.‹ Und ein anderer Zettel, auf dem Couchtisch, enthielt die Anweisung: ›Es werden noch drei Magazine im Abonnement kommen. Lest sie. Ab nächsten Monat ist alles abbestellt.‹
Es war jetzt auffällig still nach dem stundenlangen brüllenden Konzert. Helen hockte geduldig auf der Couch und blickte auf die Uhr. Ab und zu schloß sie die Augen und verfolgte im Geist, wie vor einem Film, die Fahrt der langen Lastwagenkolonne auf dem Highway Nummer 41 nach Tampa durch den versinkenden Abend. Dreißig Kolosse und neun Privatautos. Vorweg fuhr Dr. Rawlings in seinem silbergrauen Chrysler. Als letzter Finley im Transporter 30, am Beckenrand bei John sitzend.
Fahrt langsam, Jungs, dachte Helen. Nicht mehr als 50 Kilometer pro Stunde, trotz Spezialfederung und Aufhängung der Becken – es schwankt zu sehr! Delphine sind empfindlich, sie stoßen sich leicht. Man hat euch das bestimmt gesagt, und ihr habt heimlich gegrinst. Fische mit blauen Flecken; diese Wissenschaftler haben einen Stich! Wenn ihr wüßtet, welch eine Fracht ihr da habt. Wieviel Millionen ihr da transportiert. Welch militärisches Geheimnis da auf Rädern durch halb Amerika rollt. Euch würde kalt werden bei aller Hitze.
Nach zwei Stunden erhob sie sich, ging ins Badezimmer, wusch sich noch einmal und schminkte sich. In der dritten Stunde schleppte sie ihre Koffer zu dem Rabbit, verstaute alles im Kofferraum und auf den Rücksitzen und tat dann das gleiche, was Rawlings und alle Mitarbeiter getan hatten: Sie ging noch einmal langsam durch die nun stille Station, stand an dem großen Bassin, in dem nun kein Delphin mehr war, ging hinunter zum Meer und blickte hinüber zu den Riffen und zu den Übungsbooten, setzte sich auf eine der Bänke im Innenhof und sah zu, wie der Tag im Meer versank, wie das glutende Rot der sterbenden Sonne verblich und die Nacht ihr Dunkel über Wasser und Land breitete.
Helen blickte auf die Uhr. Drei Stunden waren vergangen seit der Abfahrt der Kolonne. Das war der Abstand, den sie sich ausgerechnet hatte, um ungestört hinterher fahren zu können.
Sie stieg in ihren Rabbit, atmete ein paarmal tief durch und ließ dann den Starter rattern. Langsam – fahrt nicht schneller als 50, Jungs, dachte sie wieder – fuhr sie aus der Station, passierte ohne Aufenthalt die Kontrolle, denn an der Windschutzscheibe klebte ja das Erkennungsschild der Forschungsgruppe, und erreichte die Straße zum Highway. Der Weg, den die Kolonne bis San Diego nehmen würde, war ihr klar. Es war auch ihr Weg – nur immer drei Stunden zurück.
Ich werde euer langer Schatten sein, dachte sie. Wenn ihr denkt, eine Helen Morero könnt ihr zurücklassen, dann kennt ihr sie noch nicht gut genug!
Wie werdet ihr staunen, wenn ich in San Diego am Bassin stehe und mit John spiele! Auf eure Gesichter freue ich mich. Und du, James, du liebes Rindvieh, wirst dann vielleicht endlich deine Hemmungen verlieren. Nein, so emanzipiert bin ich noch nicht, um dir zuerst um den Hals zu fallen! Da mußt du schon was tun, und wenn's nur ein Wink ist …
Aber ich bin da, und das ist die Hauptsache.
Fahrt schön langsam, Jungs! Jedes Schlagloch ist gefährlich.
Ich bin drei Stunden hinter euch … Ich lass' euch doch nicht allein in dieses große Abenteuer ziehen …
Hinter Fort Myers drehte sie das Autoradio an. Musik vom Broadway. Das Musical Oklahoma.
Helen legte den Kopf zurück und sang mit. Eine verzweifelte Freude war in ihr; und der Stolz, so mutig zu sein, hinter ihren Delphinen herzufahren und nicht aufzugeben …
Eine halbe Stunde nach Abmarsch der Kolonne von Biscayne Bay läutete bei Oberst Ischlinski in der sowjetischen Botschaft von Washington das Telefon. Jurij Valentinowitsch hatte gerade seine Arbeit vollendet und freute sich auf den Abend, der mit einem Dinner im Restaurant ›Luculi français‹ beginnen und im Bett einer Villa am Potomac enden sollte. Er hatte sich mit einer Dame verabredet, die als reiche Witwe in der Washingtoner Gesellschaft eine angesehene Rolle spielte. Sie galt als sehr prüde; aber das konnte Jurij Valentinowitsch nicht bestätigen – ihm war es nämlich gelungen, die schöne, etwas üppige Maureen schon am zweiten Abend davon zu überzeugen, daß Witwe sein nicht bedeutete, an den kleinen und großen Freuden des Lebens vorbeizugehen. Hinzu kam, daß der bissige Ischlinski in gewissen Situationen auch einen Charme versprühen konnte, der zusammen mit der immer durchscheinenden moskowiter Barschheit ausgesprochen verführerisch wirkte und Frauen anscheinend so ans Gemüt ging, daß sie ohne Zögern Moral zu einem unverständlichen Fremdwort erklärten. Bei Maureen wirkte sich die seelische Verwirrung so aus, daß sie Ischlinski ihre schloßartige Villa als sein Eigentum anbot, sobald seine bärenhafte Liebe nur ihr allein gelten werde.
Jurij Valentinowitsch wollte gerade das Zimmer verlassen und war schon an der Tür, als ihn das Telefon zurückholte.
»Sie fahren«, sagte eine tiefe Baßstimme, »Richtung Tampa. Ganz langsam und vorsichtig bewegen sie sich. An der Spitze fährt ein Patrolwagen. Sie haben tatsächlich Delphine an Bord.«
»Und dann die Polizei voraus!« schnaubte Ischlinski. »Hält man uns für Hohlköpfe? Seit wann begleitet die Polizei Delphine, na? Da schaukelt etwas anderes durch die Gegend.«
»Was sollen wir tun?« fragte die Stimme.
»Dranbleiben!« Ischlinski dachte an Maureen und ihre weißhäutige Üppigkeit und fügte hinzu: »Nicht locker lassen. Festhalten!« Er schnaufte, schüttelte über sich selbst den Kopf und sagte hart: »Sie erhalten weitere Anweisungen. Melden Sie sich morgen früh wieder.«
»Um welche Zeit?«
»Um zehn. Nein, um elf!« Ischlinski kannte Maureen. Nach dem Morgenkaffee wurde sie nochmal zärtlich. Bis um zehn war das nicht zu schaffen. »Ende!«
Jurij Valentinowitsch blickte düster vor sich hin. Dreißig Spezialwagen mit unbekannter Ladung, getarnt durch Delphine, waren auf dem Weg. Wohin? Was transportierten sie? Was hatte Fisher gewußt und warum mußte er sterben? Wer hatte ihn umgebracht, wenn nicht das CIA? Wie heiß war das alles?!
Ischlinski seufzte, schloß sein Büro ab und verließ die Botschaft durch den Hintereingang. Die Freude auf Maureen war etwas säuerlich geworden. Auch das vortreffliche Dinner heiterte ihn nicht auf, und Maureens verzehrende Leidenschaft empfand er an diesem Abend als eine Belästigung. Etwas brüsk verabschiedete er sich von ihr, ließ eine fassungslose Geliebte im breiten italienischen Renaissancebett zurück und fuhr zur sowjetischen Botschaft.
Auf dem Tonband, das alle für ihn bestimmte Gespräche speicherte, waren inzwischen drei Meldungen aus Florida angekommen.
Die geheimnisvolle Transportkolonne bewegte sich demnach über Tampa hinaus in Richtung Gainesville, und es schien so, als wolle sie den großen Highway Nummer 10 erreichen. Die letzte Meldung gab dann Klarheit: Nummer 10 erreicht, aber nicht Weiterfahrt in Richtung Jacksonville, sondern nach Osten, in die allgemeine Richtung New Orleans.
»Ich folge ihnen noch«, sagte die tiefe Stimme über Telefon. »Aber lange geht das nicht mehr. Ich schlafe am Steuer ein. Sie fahren mit dreifacher Besatzung, aber ich bin allein. Bis Pensacola hoffe ich noch durchzuhalten, aber dann müßte der Wagen allein laufen. Was soll ich tun? Erwarte gegen 3 Uhr morgens Ihren Anruf im Drive-in von Tallahassee. Ende.«
Ischlinski sah auf die Uhr. Noch eine Stunde Zeit. Aus dem Regal holte er eine große Karte vom Süden Amerikas und starrte auf die breite Linie den Highway Nummer 10. Wohin wollen sie, dachte er. Nach New Orleans? Da gibt es keine geheimen militärischen Einrichtungen. Fahren sie weiter bis nach New Mexico? Dann müßten sie dort abschwenken nach Los Alamos. Das wäre eine Erklärung. Eine Fracht für das Atomzentrum Los Alamos. Dort wurde die erste Atombombe entwickelt, und dort geschehen heute noch Dinge, die man in Moskau mit großer Unruhe beobachtet.
Aber warum nehmen sie dann den langen Landweg und nicht den kurzen, der Beobachtung entzogenen Luftweg? Und was soll die dämliche Tarnung mit den Delphinen? Das alles paßt in keine Logik.
Ischlinski setzte sich in einen Sessel, rauchte eine Zigarette und grübelte. Sie werden Tag und Nacht fahren, in drei Schichten, wie Paco meldet. Also werden auch wir ihnen Tag und Nacht folgen. Wir werden sie weiterreichen von Station zu Station und sie nicht aus den Augen lassen.
Aus dem Panzerschrank holte er die verschlüsselte Liste aller Männer, Frauen und Organisationen, die er im Laufe der Jahre angeworben hatte. Über die ganzen USA verstreut, mit Schwerpunkten, an denen besonders ausgebildete Agentenführer saßen, hatte Ischlinski ein engmaschiges Netz von V-Männern ausgebreitet. Da gab es Straßenkehrer, die für ihn arbeiteten, genau so wie angesehene Geschäftsleute oder Lehrer, Ingenieure oder Architekten, Regierungs- und Distriktbeamte oder Polizeioffiziere, Wissenschaftler oder Barbesitzer, Bordellwirte oder Offiziere, Flugschulen oder Autowerkstätten.
Eine Stunde lang stellte Ischlinski eine Liste zusammen; er setzte den Hubschrauber einer Flugschule ein, den niemand verdächtigen würde; einen Truck, der leere Flaschen laden würde; einen Bäcker, der mit vier Freunden eine Urlaubsreise in einem Wohnmobil unternahm, und sechs Privatleute, die der geheimnisvollen Kolonne als harmlose Geschäftsreisende folgen sollten.
Bis New Mexico, mit dem Ziel Los Alamos, setzte Ischlinski zunächst listenmäßig seine Leute ein und griff dann zum Telefon, um Paco in Tallahassee anzurufen. Es war genau drei Uhr morgens.
Im Drive-in schien Paco neben dem Telefon gesessen zu haben. Nach wenigen Sekunden war er am Apparat.
»Sie sind hier vor einer halben Stunde durch«, sagte Paco mit müder Stimme. »Vorweg Polizei, am Schluß Polizei. In Drifton ist noch ein Jeep der US Army dazugekommen und fährt jetzt in der Mitte. Sie fahren ohne Pause, nur zum Tanken haben sie einmal angehalten. Sir, ich falle vor Erschöpfung gleich vom Stuhl.«
»Sie werden in Pensacola abgelöst. Ein Lieferwagen mit leeren Flaschen übernimmt den Konvoi. Der Fahrer wird Sie um Feuer für seine Zigarette bitten. Schaffen Sie es noch bis Pensacola?«
»Wenn ich mir die Lider mit Heftpflaster hochpappe, vielleicht.«
»Wie alt sind Sie, Paco?« fragte Ischlinski, fast angewidert.
»Fünfundzwanzig, Sir.«
»Mit fünfundzwanzig sind unsere Leute bei der Schlacht um Kursk fünf Tage und fünf Nächte marschiert und haben dann noch die Deutschen besiegt. O Jammer, welch eine schlappe Generation wächst da heran!«
»Ich hätte nie den Ehrgeiz, eine Schlacht zu gewinnen, Sir«, sagte Paco, und Ischlinski hörte ihn breit und laut gähnen. »Diskutieren wir nicht darüber, das macht nur noch müder. Ich werde bis Pensacola durchhalten und die Delphine an die leeren Flaschen übergeben.« Paco gähnte wieder. »Wissen Sie, was einen so auf den Boden drückt? Diese Kolonne schleicht über den Highway. Da hinterher zu fahren, immer mit Abstand – da fallen einem die Augen automatisch zu. Sind Sie schon mal über 500 Kilometer permanent über die Straße geschlichen? Mörderisch, Sir … Noch Aufträge?«
»Ja!« sagte Ischlinski grob. »Legen Sie sich ins Bett und beruhigen Sie Ihre degenerierten Nerven. Sie bekommen morgen neue Order.«
Jurij Valentinowitsch legte auf und begann dann, anhand seiner Liste die Bewachung des Delphintransportes zu alarmieren. Gegen fünf Uhr früh hatte er es geschafft – die Kontrolle über den Konvoi war lückenlos. Bis New Mexico – falls sie diesen Weg einschlugen – würden die dreißig Spezialwagen und alle anderen Begleitfahrzeuge nicht einen Augenblick ohne Überwachung sein.
Ischlinski genehmigte sich einen Trunk aus Orangensaft mit 30 Gramm Wodka, streckte, im Sessel mehr liegend als sitzend, die Beine weit von sich und war mit sich zufrieden. Nur der Ärger, nicht zu wissen, was da transportiert wurde, nagte in ihm. Auch das werden wir erfahren, dachte er. Die Zeit ist knapp, sie fahren ohne Aufenthalt durch – aber das ist auch die Gefahr, die nicht berechnet werden kann. Irgend etwas wird auf der langen Strecke passieren, sei es eine Reifenpanne, ein Schaden am Motor, ein Unfall. Es könnte zum Beispiel jemand von der Seite kommen und einen der Wagen rammen. Schon immer war der Zufall der Verbündete der Russen. Außerdem – Ischlinski trank mit einem Lächeln seinen Wodka-Orange leer – kann man Zufälle konstruieren. Wer sieht einem dusseligen Autofahrer, der die Vorfahrt mißachtet, an, daß er in Diensten der Sowjets steht?
Als über Washington die Sonne aufging, lag Ischlinski in seinem Sessel und schlief mit einem zufriedenen Lächeln um die Lippen. So traf ihn bei Dienstantritt seine Sekretärin an und stieß einen leisen Schrei aus.
Jurij Valentinowitsch straffte sich, sprang auf und sagte streng: »Benehmen Sie sich, Anne! Warum piepsen Sie? Während Sie im Bett mit Ihrem Frank die Augen verdrehen, geht hier die Weltpolitik weiter. Los, bewegen Sie sich – machen Sie mir einen starken Kaffee!«
Neun Stunden hielt es Helen hinter dem Steuer ihres Rabbit aus, dann sagte sie sich: Es ist Wahnsinn, Helen Morero! Du siehst kaum noch die Straße, du hörst fast nichts mehr, streckenweise fährst du sogar mit geschlossenen Augen. Wo soll das enden?
Sie hielt an einem Rastplatz des Highway an, studierte die Straßenkarte und entschloß sich, die Kolonne auf einer dem Highway parallel laufenden Straße zu überholen, mit der höchsten erlaubten Geschwindigkeit vorauszufahren und in einem Motel drei oder vier Stunden zu schlafen. Es war dann leicht, den Anschluß – mit drei Stunden Zwischenraum – wieder herzustellen.
An der nächsten Kreuzung bog sie ab, gab Gas und knatterte mit ihrem Rabbit durch die helle Nacht. So fuhr sie, alle Energie sammelnd, zwei Stunden durch einsame schlafende Dörfer und Kleinstädte, bis sie nach ihrer Berechnung die Delphinkolonne überholt hatte, und bremste vor einem kleinen Motel, an dem nur zwei Wagen parkten.
Ein schläfriger Farbiger saß im Office und las in einem Sex-Magazin. Jeder hat seine eigene Methode, die Müdigkeit zu vertreiben. Der Portier grinste Helen an und blickte abwartend zum Eingang, wo denn der dazu gehörende Begleiter bliebe. Da niemand nachkam, wandte er sich mit einem erstaunten Blick wieder Helen zu.
»Was kann ich für Sie tun, Madam?« fragte er.
»Ein Zimmer.«
»Natürlich. Wir haben drei Kategorien zu …«
»Irgendein Zimmer!« unterbrach ihn Helen. »Ich will nur schlafen. Ganz gleich, was es kostet.«
Der Portier wies Helen das teuerste Zimmer zum Garten hin zu, kassierte den Preis im voraus, wartete, bis sie gegangen war, und widmete sich dann wieder seinem Sex-Magazin. Ein uninteressanter Gast, völlig normal. Um diese Zeit konnte man nichts anderes mehr erwarten und ohne Bedenken das Zimmer vermieten, das neben dem Spiegel ein Loch in der Wand hatte, umrahmt von einem Kranz Strohblumen – ein Loch, durch welches bei Bedarf das Geschehen im und rund um das Bett zu beobachten war.
Helen schlief fünf Stunden, ließ sich von ihrem Reisewecker aufschrecken, frühstückte im Stehen ein Sandwich und zwei Tassen bitteren Kaffee und setzte sich dann wieder in ihren Rabbit.
Der Delphin-Konvoi hatte inzwischen einen Vorsprung von sieben Stunden. Es war kein Problem, diese Zeit auf dem Free-Limited-Access Highway Nummer 10 aufzuholen, bis der Abstand wieder drei Stunden betrug.
Als sie an einer Tankstelle anhielt, bediente sie ein junger Tankwart, der noch völlig begeistert war von dem Erlebnis der vergangenen Nacht. »Das hätten Sie sehen müssen, Miß«, sagte er. »Dreißig Riesentrucks, alle mit Delphinen in großen Plastikwannen. Das war für mich das Geschäft des Jahres. Randvoll haben sie gezapft. So'n Glück hat man nur einmal. Sie haben mich in einen Wagen hineinblicken lassen – waren das Kerle von Fischen!«
»Delphine sind keine Fische«, sagte Helen.
»Was denn sonst, Miß?«
»Eine Untergattung der Wale.«
»Und ein Wal ist kein Fisch?«
»Nein. Ein Säugetier. Wie Sie.«
Der Tankwart starrte Helen an, als habe sie einen superscharfen Witz erzählt, verzichtete auf eine weitere Unterhaltung, zapfte stumm zu Ende, kassierte das Geld, tippte doppeldeutig beim Abschied an die Stirn und sah ihr dann kopfschüttelnd nach. Typen gibt's! Sah so nett und vernünftig aus und hat doch 'ne Macke.
Keine zehn Minuten später hielt ein Oldsmobile an der Tanksäule, und ein Mann fragte:
»Ist hier 'n Delphintransport durchgekommen?«
»Ja, Sir.« Der Tankwart grinste breit. »Säugetiere wie Sie …«
»Mach den Tank voll und halt's Maul«, sagte der Mann grob.
Er steckte sich eine Zigarette an, schlenkerte Arme und Beine und lockerte die Gelenke, ging zur Toilette, kam heraus und gähnte herzhaft.
Dann fuhr der Mann, den Ischlinski Paco genannt hatte, schnell den Highway hinunter und überholte nach knapp vierzig Minuten Helens hellblauen Rabbit, ohne ihn mehr zu beachten als alle anderen Wagen.