DIE ELFEN

Gerade als ich dachte, nun würde ich Bescheid wissen, über Vampire und Gestaltwandler und überhaupt, stand plötzlich alles noch einmal kopf in meiner Welt.

Ich fand heraus, dass es auch Elfen wirklich gibt; und nein, ich meine nicht irgendwelche überirdisch schönen, elfenhaften Models, sondern Elfen – genau, diese Wesen mit den spitzen Ohren. Sie sehen tatsächlich ziemlich genauso aus wie in ›Der Herr der Ringe‹. Aber tut mir leid, Tolkien hat sie völlig falsch verstanden. Einem echten Elfen will man nicht wirklich begegnen. Sie können einem mit einem Biss die ganze Hand abreißen.

Anders als Vampire und Gestaltwandler stammen die Elfen nicht aus der Welt, die wir kennen. Sie kommen aus einer Welt, die unserer verdammt nahe, aber durch eine magische Barriere von ihr getrennt ist – so habe ich es zumindest verstanden. Diese Welt wird einfach Elfenwelt genannt, und alle … nun, all die Geschöpfe, die darin leben, gehören zum Elfenvolk. Die Elfen sind nur eine Art des Elfenvolks, aber sie sind die bekanntesten und von der Gestalt her den Menschen am ähnlichsten.

Ich bin schon Elfen, Dämonen und Kobolden begegnet. Aber eigentlich will man sie gar nicht kennenlernen, auch wenn der Halbdämon Mr Cataliades, ein Rechtsanwalt, ziemlich okay ist.

Warum ich mich dann für die Elfen überhaupt interessiere? Weil ich herausgefunden habe, dass mein Bruder und ich zum Teil selbst Elfen sind. Mein Urgroßvater Niall Brigant hat mich eines Tages aus dem Nichts heraus zum Abendessen in Shreveport eingeladen. Er erzählte mir, dass einer seiner Söhne, der ein halber Mensch war, mein Großvater sei und dass er mich nun besser kennenlernen wolle; letztendlich seien wir doch eine Familie. Na, immerhin dürfte das wohl erklären, warum ich Gedanken lesen kann.

Doch Niall war nicht der erste Elf, dem ich begegnet bin. Das war Claudine Crane, die nicht nur 1,80 Meter groß und umwerfend schön war, sondern auch mein Schutzengel, wie sich herausstellte. Sie war keine Elfe der Sorte, wie sie in Kindermärchen vorkommt – also keine von diesen kleinen geflügelten Dingern, die immer kichern und herumflitzen wie ein durchgedrehter Leuchtkäfer. Nein, so eine war Claudine nicht. Sie hatte etwas Magisches und auch Sexappeal, den einzusetzen sie nicht zögerte. Es gab nicht ein Auge, ob männlich oder weiblich, das nicht aufsah und sie bemerkte, wenn sie einen Raum betrat. Niall hatte sie geschickt, auch wenn sie mir das nie erzählt hat. Claudine war eine vollblütige Elfe, und sie war meine Cousine.

Magie ist ein Teil des Wesens des Elfenvolks, und auch wenn ihnen allen die Magie zu eigen ist, kann sie sich bei den verschiedenen Arten doch unterschiedlich ausprägen. So wie wir Menschen alle ähnliche Körper haben, aber äußerst verschiedene Begabungen und Fähigkeiten. Ich frage mich gerade, ob ich überhaupt noch »wir« sagen sollte. Kann ich mich noch zu den Menschen zählen, da ich doch einen Anteil Elfenblut habe? Darüber muss ich wirklich mal nachdenken.

Claudine sagte, dass die Angehörigen des Elfenvolks sehr lange leben, aber sie sind nicht unsterblich; sie altern nur nicht so schnell wie die Menschen. Ich glaube, das habe ich gar nicht richtig begriffen, bis ich meinen Urgroßvater traf. Er sieht nicht älter aus als Ende fünfzig oder Anfang sechzig, aber er lebt schon seit Jahrhunderten, vielleicht sogar Jahrtausenden. Mit der Zeit nehmen es die Elfen nicht so genau.

Nicht viele des Elfenvolks leben über längere Zeit in unserer Welt. Die meisten kommen gar nicht erst wegen des Eisens; das Material ist für sie das Gleiche wie Kryptonit für Superman. Und komischerweise vertragen sie auch keinen Zitronensaft. Ich bin keine Wissenschaftlerin, aber diese Allergie finde ich doch etwas seltsam. Andererseits, ich bin mit Leuten zur Schule gegangen, die gegen Sachen wie Eier und Erdnüsse allergisch waren, warum also nicht? Außerdem bedeutet das natürlich, dass eine Wasserpistole voll Zitronensaft eine wirksame Waffe ist gegen sie.

Ob ich die Elfenwelt wohl für einen Besuch aufsuchen könnte? Ich bezweifle, dass ich dort sehr willkommen wäre. Die meisten, die in der Elfenwelt leben, betrachten die Menschen als eine Beleidigung ihrer eigenen Großartigkeit. Aber einige des Elfenvolks haben sich entschieden, unter den Menschen zu leben, da diese voller Energie und Gefühle sind, die sie nirgendwo anders empfinden können. Claudines Zwillingsbruder lebt noch unter uns, so wie auch Claudine bis zu ihrem Tod.

Manche Elfen suchen sich gern einen Partner unter den Menschen. Diese Beziehungen führen nur selten zu einer Schwangerschaft, aber manchmal eben doch. Und die daraus hervorgehenden Kinder haben meistens eine faszinierende Begabung und manchmal auch seltsame Fähigkeiten. Und auch wenn mir nicht ganz wohl dabei ist, mir die Liebesbeziehung meiner Granny Adele mit einem Elfen vorzustellen, bin ich doch froh, dass sie meinen Vater und meine Tante Linda bekommen hat.

An einigen Orten der Welt gibt es verborgene Tore, oder Portale, in die Elfenwelt, und diese werden eifersüchtig bewacht. Ich kann anhand von Dingen, die mein Urgroßvater und Claudine gesagt haben, einige allgemeine Vermutungen darüber anstellen, wo diese Portale sich befinden. Das Elfenvolk mag zum Beispiel keine extremen Temperaturen, deshalb bezweifle ich, dass es irgendwelche Portale in Sibirien oder in Mittelamerika gibt.

Ich weiß allerdings, dass es ein kleines Portal im Wald hinter meinem Haus gibt.

Die größte Gefahr für Elfen, die in der Welt der Menschen leben, sind – abgesehen von Eisen und Zitronensaft – die Vampire. Die finden schon die schiere Anwesenheit eines Elfen berauschend, und wenn sie Gelegenheit haben, das Blut eines Elfen zu trinken, kommt das gefühlsmäßig einer Orgie gleich für den Vampir. Es ist also nicht immer nur amüsant, sie in einem Raum zusammen zu sehen. Zum Glück bin ich noch nie gezwungen gewesen, mich zwischen den Vampiren, die ich kenne, und meinen Elfenverwandten zu entscheiden.

Und dazu wird’s auch nie kommen, so Gott will.