Nein! Nein! Nein!!!« Vigdís schüttelte den Kopf und wich vor dem Koffer zurück. Der Geruch war überwältigend. Sie hielt das nicht länger aus. Es war, als wollte sich irgendetwas, irgendeine Erinnerung in ihren Kopf drängen. Wessen Hand hatte sie hierhin geführt?
»Was nein, sollen wir ihn nicht aufmachen?« Jóhanna hatte offenbar nichts Seltsames bemerkt. Sofort machte sie sich an den Schnallen zu schaffen. Erstaunt sah sie in das völlig verängstigte Gesicht ihrer Cousine.
»Hast du wirklich Angst? Das ist doch nur altes Zeug. Bist du nicht neugierig?«
»Schon, aber … Ach, irgendwie ist das komisch. Irgendetwas ist hier oben, merkst du das nicht?«
»Nein, du Dummkopf, jetzt hör auf damit. Was sollte hier schon sein?«
»Ich weiß nicht, ich hatte das Gefühl, dass …« Das klang wirklich dumm … Wovor hatte sie eigentlich Angst?
Vigdís lächelte entschuldigend. »Na los, gucken wir rein.«
Das ließ Jóhanna sich nicht zweimal sagen. Sie machte sich mit voller Konzentration über den Koffer her. Vigdís hockte sich auf den Rand des alten Sessels und guckte zu, wie Jóhanna die Lederriemen öffnete. Obwohl sie so alt und steif waren, ließen sie sich ganz leicht lösen.
Aber dann …
»Oh nein!!«
Sie stöhnten gleichzeitig auf. Unter den Riemen waren Schnappschlösser, für die man einen Schlüssel brauchte.
»Komm, wir gucken in Omas Schlüsselschublade!«
Sie liefen runter in die Küche und ruckelten eine Schublade der alten Anrichte auf. Was für eine Sammlung: alte und neue Schlüssel aller möglichen Größen und Arten.
»Puh, lass uns einfach die ganze Schublade mitnehmen!«, schlug Jóhanna vor und zog schon wie wild an dem alten Stück.
»Immer mit der Ruhe!« Vigdís musste über den Eifer ihrer Cousine lachen. »Es reicht doch, die kleinsten mitzunehmen. Tun wir sie einfach in eine alte Eisbox.«
Die kleinen Schlüssel herauszusuchen und in der Box zu sammeln, war eine schnelle Sache.
Wieder oben staunten sie nicht schlecht. Die Tür war nicht nur zu, sondern auch fest verschlossen. Und kein Schlüssel weit und breit!
»Hast du den Schlüssel mitgenommen?«, fragte Jóhanna.
»Nein, natürlich nicht. Merkwürdig … Ob es unten einen Ersatzschlüssel gibt?«
»Ich hab’s doch gesagt, wir hätten gleich die ganze Schublade mitnehmen sollen!!«
Wieder nach unten. Diesmal achtete Vigdís sehr darauf, nicht in den großen Spiegel zu gucken.
»Puh«, stöhnte Jóhanna, als sie durch die Tür in den Dachraum stolperten. Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, den richtigen Schlüssel zu finden.
»Hast du das Licht ausgemacht, als wir nach unten gegangen sind?«, fragte Vigdís und sah sich verwundert in der Dunkelheit um. Sie wirkte noch dichter als vorhin, aber es war auch schon Nachmittag, draußen dämmerte es bereits.
»Nö, aber ich weiß ja, wo es wieder angeht.« Jóhanna störte sich offenbar nicht an der Tür, die sich von alleine verschlossen hatte, am Schlüssel, der verschwunden war, und am Licht, das ausgegangen war, ohne dass eine Menschenhand in seine Nähe gekommen war.
Vielleicht hätte Vigdís das unter normalen Umständen auch nicht getan …
»Na dann, an die nächste Schlüsselsuche!«
Ohne Jóhanna hätte Vigdís schon längst aufgegeben. Sie hatte wirklich ein bisschen Angst. Aber … irgendetwas trieb sie an. Irgendeine Neugier juckte sie.
Diesmal kamen viel weniger Schlüssel infrage. Vigdís stand hinter Jóhanna, die auf dem Boden kniete und den dritten Schlüssel ausprobierte.
Plötzlich hatte sie wieder diesen Geruch in der Nase, er wurde immer stärker, ließ sie nicht in Ruhe. Wie von etwas Altbekanntem, das sie vermisste, ohne genau zu wissen, was es war … etwas Weiches … Lachen …
Dann roch es noch stärker und gleichzeitig schmiegte sich eine kleine Hand in die von Vigdís. Wieder. Doch bevor es ihr so richtig bewusst wurde oder sie nachgucken konnte, war die Hand schon wieder verschwunden.
Dafür lag ein kleiner Schlüssel in Vigdís’ Hand.
Woher zum Teufel war denn der gekommen?
»Jetzt versuche ich mal«, sagte Vigdís und kniete sich neben Jóhanna. Und tatsächlich: Der Schlüssel passte und die Schlösser sprangen mit einem lauten Schnappen auf.
Zusammengelegte Kleider.
Ein großes gerahmtes Bild.
Ein kleiner Stapel loser Fotos.
Plötzlich kam Bewegung in den Inhalt des Koffers. Der Bilderrahmen rutschte heraus, die losen Bilder verteilten sich über den ganzen Boden und aus den Kleidern erhob sich ein kleines Mädchen.
Es hatte blondes Haar und ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen. Es war, als triumphierte es.
Es streckte Vigdís die kleinen Hände entgegen und sagte mit zärtlichem Stimmchen: »Liebste Vigdís, endlich bist du da …«
Dann wurde alles schwarz.